Inklusionsorientierter Deutschunterricht - Kirsten Diehl - E-Book

Inklusionsorientierter Deutschunterricht E-Book

Kirsten Diehl

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Beschreibung

Die Reihe "Handlungsmöglichkeiten Schulische Inklusion" behandelt die Grundlagen für die Gestaltung einer inklusiven Schule: die Strukturierung von Förderaktivitäten innerhalb der Schule, eine definierte Arbeitsteilung zwischen Grundschul- und Sonderpädagogen, klare Auswahlkriterien für Handlungskonzepte und Unterrichts- und Fördermaterialien und eine Lernverlaufsdiagnostik, die es erlaubt, zielführende Förderentscheidungen zu treffen. Dieser Band behandelt die zentralen Inhalte der ersten Schuljahre im Deutschunterricht. Diese umfassen die Lesefertigkeit, das sinnverstehende Lesen sowie die Rechtschreibung. Vor dem Hintergrund theoretischer Modelle zum Schriftspracherwerb werden konkrete Handlungsempfehlungen mit einem erfolgreich erprobten präventiven und inklusiven Beschulungskonzept verbunden.

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Die Autorinnen und der Autor

Dr. Kirsten Diehl ist Professorin für Inklusion und Heterogenität am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Flensburg.

Prof. Dr. Kathrin Mahlau hält den Lehrstuhl für Sonderpädagogik und Inklusion an der Universität Greifswald.

Prof. Dr. Bodo Hartke lehrt mit dem Schwerpunkt Sonderpädagogik des Lernens am Institut für Sonderpädagogische Entwicklungsförderung und Rehabilitation an der Universität Rostock.

Kirsten Diehl, Bodo Hartke, Kathrin Mahlau

Inklusionsorientierter Deutschunterricht

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034733-5

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-034734-2

epub:   ISBN 978-3-17-034735-9

mobi:   ISBN 978-3-17-034736-6

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

1 Kinder mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb

1.1 Begriffe zur Beschreibung der Kinder mit Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht

1.2 Zur Häufigkeit von Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht

1.3 Zur Entwicklung der Lesefertigkeit

1.4 Zur Entwicklung des Leseverständnisses und der Lesekompetenz

1.5 Zur Entwicklung der Rechtschreibkompetenz

1.6 Zusammenfassung

2 Fachdidaktisch hochwertiger Anfangsunterricht im Bereich Lesen

2.1 Förderung der phonologischen Bewusstheit

2.2 Buchstaben, lautgetreue Silben, Wörter und einfache Sätze sicher lesen

2.3 Morpheme und orthografische Regeln beim Lesen nutzen

2.4 Leseflüssigkeit steigern

2.5 Erkennen von Schwierigkeiten im Anfangs- unterricht im Bereich Lesefertigkeit und die Passung der Förderung (mit einer Übersicht zu Materialien für den Anfangsunterricht)

2.6 Zusammenfassung

3 Leseverständnis, Lesemotivation und Viellesen – Lesekompetenz und Literalität fördern

3.1 Zum Zusammenhang von Lesefertigkeit und Leseverständnis, Lesemotivation und Viellesen

3.2 Erkennen von Schülerinnen und Schülern mit einem Förderbedarf im Bereich des Leseverständnisses

3.3 Lesestrategien vermitteln

3.4 Kooperative Lernformen

3.5 Lesemotivation und Viellesen fördern – Schaffen einer lesemotivierenden Lernumwelt

3.6 Zusammenfassung

4 Fachdidaktisch hochwertiger Rechtschreibunterricht

4.1 Vermittlung und Förderung von Buchstaben-Laut-Zuordnungen unter Berücksichtigung von Schwierigkeitsstufen in der Phonem-Graphem-Zuordnung

4.2 Vermittlung und Förderung des basalen lautgetreuen Schreibens

4.3 Vermittlung und Förderung des lautgetreuen Schreibens bei Mehrfachkonsonanz und Anwendung der phonologischen Strategie

4.4 Vermittlung und Förderung morphologischer Rechtschreibstrategien

4.5 Vermittlung erster orthografischer Regeln

4.6 Vermittlung zentraler orthografischer Regeln und Prinzipien

4.7 Aufbau eines rechtschreiblichen Mindestwortschatzes

4.8 Grammatische Strategie und Arbeitstechniken

4.9 Übersicht zu hochwertigen Materialien zur Förderung der Rechtschreibung

4.10 Zusammenfassung

5 Inklusionsorientierter Deutschunterricht im Rügener Inklusionsmodell

 

1          Kinder mit Lernschwierigkeiten beim Schriftspracherwerb

 

 

Auch im Zeitalter einer zunehmenden Digitalisierung sind Lesen und Schreiben entscheidende Fähigkeiten menschlicher Kommunikation und grundlegende Elemente gesellschaftlichen Lebens. Als zentrale Kulturtechniken bestimmt der Grad ihrer Beherrschung den individuellen Lebensweg und die Teilhabe eines Menschen in der Gesellschaft nachhaltig (Schneider, 2017). Die Lese- und Schreibkompetenz hat einen weitreichenden Einfluss auf die schulischen Leistungen in allen Fächern und damit auf den Schulerfolg und den weiterführenden Bildungs- und Ausbildungsweg. Es ist nicht zu akzeptieren, dass in einer hoch entwickelten, von Wissen, Erkenntnissen und Technologien durchwobenen Gesellschaft die Anzahl der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit deutlichen Schwierigkeiten im Lesen und in der Rechtschreibung sehr hoch ist: Zumindest ein Fünftel aller deutschen Schülerinnen und Schüler weisen erhebliche Schwierigkeiten in der Beherrschung der Schriftsprache auf (Kap. 1.2). Wissenschaft und Bildungssystem haben bisher keine überzeugenden Antworten auf diese Herausforderung gefunden.

Angeregt durch Schulleistungsstudien, die die Lese- und Rechtschreibprobleme an deutschen Schulen sichtbar machen, und die Zielsetzung einer fördernden, unterschiedliche Lernvoraussetzungen berücksichtigenden inklusiven Schule, steigt gegenwärtig in der Praxis und in der Bildungspolitik das Interesse

•  an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Grundlagen des Schriftspracherwerbs und

•  daraus resultierendem Wissen über die Früherkennung von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und frühe Hilfen sowie

•  an nachweislich erfolgreichen Förderstrukturen, -systemen und -materialien.

In diesem Buch geht es neben der Darstellung zentraler Ergebnisse der Forschung über die Entwicklung der Lesefertigkeit, des Leseverständnisses und der Rechtschreibung um das frühe Erkennen von im Hinblick auf ihren Schulerfolg im Schriftspracherwerb gefährdeten Schülerinnen und Schülern sowie ihrer individuellen Lernausgangslage und um wirksame Fördermöglichkeiten. Diese Erkenntnisse werden im Zusammenhang mit einem wissenschaftlich gut bewährten, anpassungsfähigen Fördersystem dargestellt. Denn dieses gewährleistet erst die systematische Nutzung aktuellen Wissens in der Praxis.

Als robustes, an heterogene Lernausgangslagen anpassungsfähiges Fördersystem hat sich im angelsächsischen Sprachraum (insbesondere in den USA und Kanada) der Response-to-Intervention-Ansatz (RTI-Ansatz) bewährt (Blumenthal, 2017; Hartke, 2017a;b; Hartke & Diehl, 2013; Grosche & Volpe, 2013; Huber & Grosche, 2012; Voß, Blumenthal, Mahlau, Marten, Diehl, Sikora & Hartke, 2016). Hierbei handelt es sich um ein pädagogisches Rahmenkonzept mit dem Ziel bestmöglicher Fördererfolge (Response) aufgrund einer passgenauen Förderung innerhalb des Unterrichts und durch zusätzliche Maßnahmen (Intervention). Innerhalb dieses Ansatzes ist die Arbeit auf mehreren Förderebenen eines der zentralen Elemente. Es findet Förderung innerhalb des Unterrichts statt (Förderebene I). Im erfolgreichen schulischen Lernen gefährdete Schülerinnen und Schüler erhalten einen zusätzlichen, auf ihre Förderbedarfe abgestimmten (spezifischen) Förderunterricht (Förderebene II). Bei deutlichen Schulschwierigkeiten, trotz Förderung auf den Förderebenen I und II, werden die Schülerinnen und Schüler durch hoch spezialisierte Fachkräfte intensiv gefördert (Förderebene III).

Diese Mehrebenenarbeit bzw. Mehrebenenprävention ermöglicht eine genaue Zuordnung von Kindern mit unterschiedlichen Förderbedarfen zu geeigneten Fördermethoden auf der Basis einer wissenschaftlichen Diagnostik. Die Mehrebenenstruktur des Fördersystems RTI ist das »Vehikel« für eine systematische Implementation von geeigneten Interventionen für jeweils unterschiedliche Kinder und Jugendliche.

In diesem Band dargestellte Inhalte, Methoden und Verfahren bieten Erklärungen für unterschiedliche Förderbedarfe innerhalb der Entwicklung von Lese- und Rechtschreibkompetenz. Zudem werden Handlungsmöglichkeiten auf jeder der genannten Förderebenen bzw. für unterschiedliche Zielgruppen innerhalb eines inklusiven Deutschunterrichts in der Grundschule vorgestellt. Viele der genannten Handlungsmöglichkeiten eignen sich auch für sich anschließende Klassenstufen der Sekundarstufe I (zumindest für die Klassen 5 und 6).

Infobox 1: Kurzbeschreibung des Response-to-Intervention-Ansatzes (RTI-Ansatz)

Zusammenfassend lässt sich der RTI-Ansatz folgendermaßen beschreiben:

•  Es findet eine Förderung auf mehreren Förderebenen (bzw. -stufen) statt. In der Praxis kommen vor allem dreistufige Fördersysteme vor. Mit jeder zunehmenden Förderebene steigt der Grad an Intensität und Spezifität der Förderung.

•  Mithilfe regelmäßig durchgeführter Screeningverfahren (meist mehrfach im Schuljahr einsetzbare standardisierte und normierte Tests) wird die Lernausgangslage aller Schülerinnen und Schüler erfasst. Die Ergebnisse werden zuallererst für die Förderebenenzuordnung genutzt.

•  Der Erfolg und damit die Wirksamkeit von Unterricht und Förderung wird in kurzen Abständen überprüft. Hierzu dienen in der Regel wöchentlich bis monatlich einsetzbare Kurztests. Diese dauern meist ein bis drei Minuten und führen zu einer Lernverlaufsdokumentation, an der abzulesen ist, ob Lernfortschritte vorhanden sind und wie stark sie ausfallen. Diese Kurztests heißen curriculumbasierte Messverfahren (CBM).

•  Die Ergebnisse der Screenings und der CBM sowie von Beobachtungen oder Dokumentenanalysen bilden die Grundlage für die Unterrichts- und Förderplanung (einschließlich der Förderebenenzuordnung).

•  Die auf den unterschiedlichen Förderebenen angebotenen Maßnahmen bzw. die dort verwendeten diagnostischen Verfahren, Förderprogramme und Materialien wurden nach ihrem wissenschaftlichen Bewährungsgrad ausgewählt.

•  Falls im Einzelfall bisherige Maßnahmen nicht ausreichen, erfolgt eine Intensivierung und Spezifizierung von Diagnostik und Förderung auf der nächsthöheren Förderebene.

•  RTI als Rahmenkonzeption für eine systematische inklusive Förderung zielt auf möglichst zeitnahe Hilfen bei entstehenden Schulleistungsrückständen (»Förderung von Anfang an«), kontinuierliche Förderung und ein Mindern von Leistungsrückständen (»No child left behind«) ab. In Einzelfällen kann die Förderung die gesamte Schulzeit umfassen, wobei die Intensität und Spezifität der Förderung zeitlich stark wechseln kann. Bei einer Vielzahl von Schülerinnen und Schülern soll die Förderung nur temporär sein.

•  Es finden regelmäßige Teambesprechungen aller in Bezug auf eine Schülerinnen- und Schülergruppe beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen zwecks Abstimmung von Förderzielen, Methoden und Arbeitsteilung statt.

Die in der Infobox 1 im Überblick skizzierten zentralen Elemente von RTI als Rahmenkonzeption für eine gelingende schulische Förderung werden ausführlich in Hartke (2017a) erläutert. Erste positive Evaluationsergebnisse im deutschsprachigen Raum finden sich bei Voß et al. (2016). In dem hier vorliegenden Buch werden eine Vielzahl an Handlungsmöglichkeiten eines inklusiven Deutschunterrichts aufgezeigt, die sich zentralen Elementen des RTI-Ansatzes zuordnen lassen. Dies ist beabsichtigt, denn nach jetzigem Erkenntnisstand stellt dieser Ansatz gegenwärtig eine der wenigen erfolgsversprechenden Möglichkeiten dar, das aktuelle Bildungssystem so zu reformieren, dass ein gemeinsamer Unterricht trotz deutlicher Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten einer Vielzahl von Schülerinnen und Schülern gelingt.

Der hier favorisierte RTI-Ansatz kann leicht missverstanden werden. So werden die innerhalb des Ansatzes besonders wichtigen CBM fälschlicherweise als summative Evaluationen des Leistungsstandes aufgefasst, die einer möglichst präzisen Leistungsbeurteilung dienen. Die zentrale Funktion der CBM ist hingegen die formative Evaluation (Hattie, 2013) des bisherigen pädagogischen Handelns! Die Erfassung des Lernerfolgs dient als Hinweis für die Einschätzung der Qualität der Passung von Unterricht und Förderung und Lernausgangslage der jeweiligen Schülerin oder des jeweiligen Schülers. CBM dienen also als Informationsquelle zur Beantwortung von Fragen, wie bspw. »Ist mein pädagogisches Handeln für dieses Kind angemessen?« oder »Muss ich mein Handeln ändern?« – Fragen, die sich Lehrkräfte tagtäglich stellen. Letztlich beinhaltet RTI als Rahmenkonzeption für einen inklusiven Umgang mit Heterogenität Methoden zugunsten der Lösung elementarer schulpädagogischer Herausforderungen: Früherkennung von Schulleistungsrückständen, Früherkennung von besonderen Risiken in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen, emotional soziale und sprachliche Entwicklung, angemessene Förderung bei einem Förderbedarf in einem Schulleistungsbereich oder einem Entwicklungsbereich, differenziertes Erkennen und Verstehen von Lern-, Sprach- und emotional sozialen Entwicklungs- und Verhaltensschwierigkeiten, professionelle Arbeitsteilung und Teamarbeit von Lehrkräften allgemeiner Schulen, Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen, Integrations-/Inklusionsfachkräften sowie Schulpsychologinnen und -psychologen.

Wie jedes Fördersystem verlangt das Rahmenkonzept RTI von seinen Anwendern mehr als Konzept- und Methodenkenntnisse. Ohne den Willen alle Kinder einer Schule optimal zu fördern, kann kein Fördersystem erfolgreich sein. Guter Unterricht steht und fällt mit der Haltung und der professionellen Kompetenz der Lehrkräfte (Hattie, 2013; Pant, 2016), dieses gilt umso mehr für den inklusiven Unterricht. Ohne eine inklusionsorientierte Haltung, die sich als fester Wille, für alle Kinder einer Klasse, Schule oder Region von Beginn der Schulzeit an gemeinsame und angemessene Lern- und Entwicklungsbedingungen zu schaffen, beschreiben lässt, gelingt kein gesellschaftlich akzeptiertes inklusives Schulsystem. Die im Weiteren dargestellten Forschungsergebnisse, Modelle, Konzepte, diagnostischen Verfahren, Förderprogramme und Materialien können erst in Verbindung mit einer inklusionspädagogischen Haltung und Förderstrukturen in Anlehnung an den RTI-Ansatz zu einem erfolgreichen gemeinsamen Unterricht führen. Die Ergebnisse des auf dem RTI-Ansatz beruhenden Rügener Inklusionsmodells (Voß et al., 2016; Hartke, 2017b) sprechen für das skizzierte Vorgehen, das nachfolgend für den Deutschunterricht konkretisiert wird (Kap. 5). Die folgende Abbildung stellt den RTI-Ansatz als robustes Rahmenmodell für eine inklusive Förderung von Anfang an dar.

Abb. 1: Mehrebenenprävention im RTI-Ansatz (Blumenthal, Y., Kuhlmann, K. & Hartke, B. (2014). Diagnostik und Prävention von Lernschwierigkeiten im Aptitude Treatment Interaction-(ATI) und Response to Intervention-(RTI-)Ansatz. In M. Hasselhorn, W. Schneider & U. Trautwein (Hrsg.), Lernverlaufsdiagnostik (Tests & Trends, NF Bd. 12, S. 61–82, hier S. 71). Göttingen: Hogrefe. Erläuterung: Die Pfeile kennzeichnen mögliche Förderebenenzuweisungen

1.1       Begriffe zur Beschreibung der Kinder mit Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht

Aus inklusionspädagogischer Perspektive sind definitorische Auseinandersetzungen über Begriffe wie Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, isolierte Rechtschreibschwierigkeiten, isolierte Rechtschreibschwäche, isolierte Rechtschreibstörung, kombinierte Schulleistungsschwierigkeiten, kombinierte Schulleistungsschwäche, kombinierte Schulleistungsstörung, Legasthenie, Beeinträchtigungen im Lesen, Beeinträchtigungen im Rechtschreiben oder sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen u. v. m. aufgrund einer eher geringen Förderrelevanz damit assoziierter Gruppenbildungen auf den ersten Blick wenig hilfreich. Denn für die direkte Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geringer Lese- und Rechtschreibkompetenz bringt eine Klassifikation der Problematik auf der Basis trennscharfer Begriffe wenig. Im schlimmsten Fall führen sie zu einer undifferenzierten oder sogar stigmatisierenden Betrachtung Betroffener. Hilfreicher sind genaue handlungsrelevante Beschreibungen von Lernausgangslagen, von z. B. Buchstabenverbindungen, Wörtern, Sätzen, Texten, welche die jeweilige Schülerin oder der jeweilige Schüler sicher flüssig lesen und verstehen kann, um zu erkennen, welche Fehler vorkommen, welche Lesestrategien genutzt werden und welche nicht. In Verbindung mit Modellvorstellungen über den Erwerbsprozess von Lesefertigkeit, Leseverständnis und Rechtschreibung sind vor allem präzise beschreibende Angaben entscheidend für eine gelingende Förderung. Diese Überlegungen sind im Hinblick auf die konkrete Arbeit im Einzelfall zutreffend. Hier sind ein differenziertes Sehen und Verstehen der aktuellen Lernausgangslage und der aktuell stattfindenden Lernprozesse entscheidend.

Auf der Ebene der Planung und Gestaltung eines Fördersystems einer Schule oder einer Region sind aussagekräftige Arbeitsbegriffe über Zielgruppen in verschiedener Hinsicht hilfreich:

•  Erst mithilfe von klaren Begriffen für Zielgruppen lassen sich Erfahrungswerte über die Häufigkeit von unterschiedlichen Förderbedarfen gewinnen. Angaben zur Häufigkeit unterschiedlicher Förderbedarfe sind wesentliche Planungsgesichtspunkte eines schulweiten, regionalen oder überregionalen Fördersystems. Erst solche Angaben erlauben eine Abschätzung von personellen und damit verbundenen räumlichen und materialbezogenen Voraussetzungen von Förderung.

•  Geklärte deskriptive Begriffssysteme erleichtern die Kommunikation in pädagogischen Teams und die Zuordnung von Ressourcen/Personal zu spezifischen Förderangeboten. Innerhalb von Mehrebenenpräventionskonzepten unterstützen klare Zielgruppenbeschreibungen die Zuordnung von Kindern mit Förderbedarf zu Förderebenen und damit die bewusste Arbeitsteilung in pädagogischen Teams. Stehen beispielsweise einer Schule personelle Ressourcen an freiwilligen Helfern (z. B. »Lese-Buddies« oder Hausaufgabenhilfen), Integrationsfachkräften, Lehrerwochenstunden für Förderung oder sonderpädagogische Förderung zur Verfügung, stellt sich die Frage einer passenden Zuordnung von personellen Ressourcen für förderbedürftige Schülerinnen und Schüler. So kann für leseschwache Kinder eine regelmäßige Hausaufgabenhilfe und ein häufiges Üben des Lesens mit einem »Lese-Buddy« ausreichen, für ein Kind mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibstörung ist hingegen ein individualisierter, durch einen Förderplan unterlegter Förderunterricht einer Lehrkraft mit einer Zusatzqualifikation für LRS-Förderung notwendig.

•  Ein Erfahrungswissen über unterschiedliche Zielgruppen innerhalb der Gesamtgruppe von förderbedürftigen Schülerinnen und Schülern beinhaltet Erkenntnisse über die voraussichtliche Dauer der Förderung. Bei der Planung der Förderung ist deren vermutete zeitliche Dauer ein wesentlicher Aspekt, der sowohl die Ressourcenbindung als auch emotional-soziale Aspekte der Förderung berührt. Gerade Kinder mit emotional-sozialen Problemen bedürfen kontinuierlicher vertrauensvoller Beziehungen, um unsichere Bindungsmuster zu überwinden (Julius, 2010). So sollte ein Kind mit einer isolierten Rechtschreibstörung und einem emotional-sozialen Förderbedarf mit einer langfristig zur Verfügung stehenden Lehrperson zusammenarbeiten, während bei einem emotional-sozial stabilen Kind Förderlehrkräfte eher wechseln können.

•  Neben Angaben zur Häufigkeit beinhalten Erkenntnisse über Zielgruppen auch Angaben über das gemeinsame Auftreten von Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben als auch im Rechnen, emotional-sozialen Schwierigkeiten sowie Aufmerksamkeits- und Sprachproblemen. Dieses Hintergrundwissen kann bei der Gestaltung eines Fördersystems genutzt werden, indem bspw. als Schwerpunkt einer Fördergruppe eine parallele Unterstützung von Lese- und Rechtschreibkompetenz in Verbindung mit Aufmerksamkeitsförderung konzipiert wird.

Der Begriff Lernschwierigkeiten wird vorwiegend als Sammelbegriff verwendet, der auf das Nichterreichen oder nur sehr knappe Erreichen schulischer Mindestlernziele verweist. Lernschwierigkeiten bzw. Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten können in jeder Klassenstufe und in jeder Schulart auftreten. Die Art und das Ausmaß der mit dem Begriff bezeichneten Problematik müssen daher weiter erläutert werden, durch die Angabe der betroffenen Bereiche, der Klassenstufe und der Schulart, durch eine qualitative Beschreibung der Schwierigkeiten und schließlich durch ein Testergebnis in einem standardisierten und normierten Test.

Von einer Lernschwäche bzw. einer Lese-Rechtschreibschwäche, isolierten Lese- oder Rechtschreibschwäche oder kombinierten Schwäche schulischer Leistungen (ebenfalls schwache Leistungen im Rechnen) wird gesprochen, wenn die jeweilige Schulleistung unterhalb der alters- und klassentypischen Durchschnittsleistung liegt. Es gilt hier das sogenannte einfache Diskrepanzkriterium. Dies gilt als erfüllt, wenn die jeweilige Schulleistung mindestens eine Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts eines zuverlässigen und gültigen Schulleistungstests liegt. Operational ausgedrückt bedeutet dies, dass der ermittelte T-Wert kleiner als T=40 und der ermittelte Prozentrang kleiner als 16 (PR < 16) sind.

Die ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert im individuellen Leistungsprofil besonders schwerwiegende Lernschwächen als Lernstörungen (umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, häufig auch als Teilleistungsstörungen bezeichnet), wenn die Leistungen einer Person im Lesen, Rechnen oder im schriftlichen Ausdruck bei individuell durchgeführten Tests unter den Leistungen liegen, die aufgrund der Altersstufe, der Schulbildung und des Intelligenzniveaus zu erwarten wären. Die Lernprobleme sind hierbei so stark ausgeprägt, dass sie die schulischen Leistungen oder die Aktivitäten des täglichen Lebens, bei denen Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeiten benötigt werden, deutlich beeinträchtigen. Eine Störung im Bereich der schriftsprachlichen Fähigkeiten wird also dann festgestellt, wenn neben dem ersten Diskrepanzkriterium (siehe oben: Testergebnisse T-Werte < 40 bzw. PR < 16) auch eine zweite Diskrepanz (=doppeltes Diskrepanzkriterium) gegeben ist: Die schwache Schulleistung weicht von der aufgrund des Intelligenzniveaus erwarteten Schulleistung deutlich negativ ab. Diese zweite Diskrepanz wird operational durch den Vergleich des Ergebnisses des jeweiligen Schulleistungstests mit dem Ergebnis des Intelligenztests ermittelt. Zugunsten der Vergleichbarkeit werden beide Testergebnisse in T-Werten dargestellt. Bei einem deutlichen Unterschied ist das zweite Diskrepanzkriterium erfüllt und es wird von einer Lernstörung gesprochen. In der Fachliteratur ist die Höhe der Diskrepanz zwischen dem T-Wert für die Intelligenz und dem T-Wert der Schulleistung allerdings strittig. Die ICD-10 verlangt zwei Standardabweichungen Unterschied, was 20 T-Wert-Punkten Unterschied entspricht. In der Forschung und in der Praxis werden hingegen Diskrepanzen zwischen einer und 1,5-Standardabweichung verwendet (also zwischen 10- und 15-T-Wert-Punkten). Bei der förmlichen Feststellung einer Schulleistungsstörung werden in der Praxis in der Regel mindestens 1,2 Standardabweichungen Diskrepanz verlangt (also mindestens 12 T-Wert-Punkte höhere Intelligenzwerte). Die ICD-10 setzt mindestens einen IQ ≥ 70 für die Diagnose einer Lernstörung voraus, in der Praxis kommt die Diagnose einer Lernstörung bei einem IQ < 85 selten vor.

Bei der Bestimmung einer Störung im schriftsprachlichen Bereich sind mehrere Diagnosen möglich. Man spricht von einer Lese-Rechtschreibstörung, wenn das doppelte Diskrepanzkriterium sowohl im Bereich Lesen als auch Rechtschreibung erfüllt wird oder mindestens in einem der beiden Leistungsbereiche bei gleichzeitig schwachen Leistungen im anderen Bereich. Eine isolierte Lese- oder Rechtschreibstörung wird attestiert, wenn der jeweils besser ausgeprägte Leistungsbereich zumindest im Durchschnittsbereich liegt.

Eine kombinierte Störung schulischer Leistungen liegt vor, wenn das doppelte Diskrepanzkriterium nicht nur im schriftsprachlichen Bereich mindestens einmal erfüllt ist, sondern auch im Rechnen.

Problematisch an der doppelten Diskrepanzdefinition bzw. der damit verbundenen Definition einer Lernstörung ist vor allem, dass Kinder, die deutliche Schwächen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen und gleichzeitig eine geminderte Intelligenz aufweisen, innerhalb bisheriger Förderstrukturen keine frühzeitige Förderung und keinen Nachteilsausgleich erhalten. Häufig müssen Kinder mit deutlichen Lernschwächen und unterdurchschnittlicher Intelligenz erst einen langen Leidensweg gehen, bevor eine angemessene Förderung für sie einsetzt. Oftmals endet die ausbleibende Förderung mit der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs mit dem Förderschwerpunkt Lernen (s. u.). Problematisch an der an der ICD-10 orientierten Diagnosepraxis von Lernstörungen ist zudem deren »Timing« für betroffene Schülerinnen und Schüler. In der Regel werden z. B. Lese-Rechtschreibstörungen frühestens im zweiten Schuljahr diagnostiziert und eine intensive Förderung beginnt erst mit dem dritten Schuljahr und damit nach aktuellen Erkenntnissen über wirksame Hilfen bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten zu spät.

Anders als im englischsprachigen Raum wird im deutschsprachigen neben den Gruppen der Kinder mit Lernstörungen im Sinne der ICD-10 auch eine Gruppe mit umfassenden, schwerwiegenden und langanhaltenden Schulleistungsschwächen und niedrigen Intelligenzwerten (IQ-Wertebereich zwischen 70 und 84) gebildet. Sie wurden im 20. Jahrhundert nach der von ihnen besuchten Schulart als »Hilfsschüler« bezeichnet, ab den 60er Jahren als Lernbehinderte. Gegenwärtig wird die Diagnose Sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen gestellt. Hierbei werden in der Regel traditionelle Kriterien der Diagnostik einer Lernbehinderung verwendet:

•  gravierende Schulleistungsrückstände in Deutsch und Mathematik (Testergebnisse mit einem Prozentrang kleiner als 10) trotz

•  einer Klassenwiederholung oder einer Zurückstellung im Schuleingangsbereich,

•  ein IQ-Wert zwischen 70 und 84 (=unterdurchschnittlich) sowie

•  weitere Entwicklungsauffälligkeiten in Bereichen wie Sprache, Gedächtnis, Motorik oder Arbeits- und Sozialverhalten.

Aufgrund einer entsprechenden Befundlage wird prognostiziert, dass ein erfolgreicher Besuch der Grundschule in sechs Jahren nicht möglich sein wird und der Hauptschulabschluss bzw. die Berufsreife nicht erreicht werden kann. Betroffene Schülerinnen und Schüler werden auf der Grundlage eines sonderpädagogischen Förderplans entweder in der allgemeinen Förderschule oder mit zusätzlichen sonderpädagogischen Förderstunden im gemeinsamen Unterricht gefördert. In der folgenden Abbildung werden die bisher erläuterten Zielgruppen inklusiver Förderung als Untergruppen aller Schülerinnen und Schüler mit Schulschwierigkeiten dargestellt. Die gestrichelten Linien sollen sowohl auf den vorläufigen zeitlichen Charakter aller Diagnosen bzw. Zielgruppenbestimmungen hinweisen als auch auf eine hohe Fehleranfälligkeit der Diagnosen im Einzelfall aufgrund der zu beachtenden Messfehler der gängigen Tests.

Abb. 2: Zum Zusammenhang von Lernschwierigkeiten, Lernschwächen, Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen

Inklusionspädagogisch stellt sich die Herausforderung, alle in unterschiedlicher Art und Weise von Lernschwierigkeiten betroffenen Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern. Für den Bereich der Lese- und Rechtschreibförderung stimmt der häufig replizierte Forschungsbefund optimistisch, dass sich die Inhalte und Methodik der Lese- und Rechtschreibförderung für Kinder mit Lernschwächen, Lernstörungen und sonderpädagogischem Förderbedarf nicht grundsätzlich unterscheiden. Die Vermittlungs- und Aneignungslogik der Schriftsprache ist trotz unterschiedlicher Diagnosen grundsätzlich gleich. Unterschiede bestehen in der Intensität und Spezifität der notwendigen Förderung. Hierauf kann durch eine Förderung auf mehreren Förderebenen zielführend eingegangen werden. Während auf Lernschwierigkeiten im Unterricht durch Lernhilfen (Förderebene I: zusätzliche Erläuterungen der Lehrkraft, Lehrerhilfe, tutorielles und kooperatives Lernen, Lernzeitverlängerung) eingegangen werden kann, können Kinder mit Lernschwächen von einer systematischen Lernförderung in der Kleingruppe (Förderebene II) profitieren. Kinder mit einer Lernstörung oder einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erhalten dagegen eine sonderpädagogische Einzelfallhilfe (Förderebene III), ohne dass sie von der Förderung auf den Förderebenen I und II ausgeschlossen werden. Das hier vorgestellte Begriffssystem ordnet dem internationalen Forschungsstand entsprechend Lernstörungen sowie förmlich festgestellten Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen als Arbeitsschwerpunkt der Sonderpädagogik zu, wobei die Förderung aller betroffener Schülerinnen und Schüler eine gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Lehrkräfte in einer inklusiven Schule ist.

1.2       Zur Häufigkeit von Lernschwierigkeiten im Deutschunterricht

Erste Anhaltspunkte für die Abschätzung des Schüleranteils, bei denen eine intensive Lese- und Rechtschreibförderung geboten ist, bieten Studien zur Häufigkeit von Lernstörungen entsprechend des doppelten Diskrepanzkriteriums im Sinne der ICD-10-Definition von »Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten« (Lernstörungen bzw. Teilleistungsstörungen). Plume und Warnke (2007) geben unter Verweis auf die ICD-Kriterien eine Häufigkeit von Lese-Rechtschreibstörungen von 4 % bis 8 % an. Gasteiger-Klicpera und Klicpera (2014) berichten von 4 % bis 7 % lese-rechtschreibschwacher Schülerinnen und Schüler, wohingegen 5 % bis 10 % der Jugendlichen und Erwachsenen das Lesen und Schreiben nicht ausreichend beherrschen, um den Alltag zu meistern. Fischbach et al. (2013) nennen Häufigkeiten von LRS zwischen 3,6 % und 7,3 % nach Durchsicht von neun internationalen Studien aus 20 Jahren. Sie verweisen darauf, dass das Auftreten einer isolierten Lesestörung oder isolierten Rechtschreibstörung vor ihrer eigenen Studie nicht untersucht wurde und lediglich eine Studie über die Häufigkeit von isolierten Lernschwierigkeiten (allerdings ohne Berücksichtigung von Intelligenzwerten) berichtet (isolierte Leseschwierigkeiten 6,4 %; isolierte Rechtschreibschwierigkeiten 7,0 %). Forschungskritisch weisen sie zudem darauf hin, dass je nach Höhe des doppelten Diskrepanzkriteriums bei derselben Stichprobe die ermittelten Prävalenzraten für LRS zwischen 1,4 % und 16,5 % schwanken. Aufgrund dieser und weiterer Schwächen in der bisherigen Prävalenzforschung zu Lernschwächen und Lernstörungen führten sie eine hoch differenzierte, methodisch solide Prävalenzstudie anhand einer deutschen Stichprobe (N=2195) in der Mitte der Grundschulzeit durch, deren Ergebnisse hoch aussagekräftig sind. Hierbei betrachteten sie vor allem Kinder mit mindestens durchschnittlicher Intelligenz (IQ-Werte ≥ 85). Die Gruppe der Kinder mit einer Lernschwäche (T-Wert < 40) im Lesen oder Rechtschreiben teilt sich hiernach wie folgt auf:

•  Lese-Rechtschreibschwäche 3,8 %,

•  isolierte Leseschwäche 4,6 %,

•  isolierte Rechtschreibschwäche 5,7 %,

•  kombinierte Lernschwäche 4,2 %.

Hiernach besteht also in der Gruppe der Kinder mit zumindest durchschnittlicher Intelligenz ein Anteil von 18,3 % mit einem Förderbedarf im Lesen und/oder Rechtschreiben. Zählt man zu der Gruppe der Kinder mit Lernschwächen im Fach Deutsch bei zumindest durchschnittlicher Intelligenz eine konservativ geschätzte Gruppe von Kindern mit Schwächen im Fach Deutsch bei unterdurchschnittlicher Intelligenz von 2,9 % (=Häufigkeit der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen in Deutschland in den zurückliegenden Jahren) hinzu, ergibt sich eine Häufigkeit von zumindest 21,2 % im Lesen und/oder Rechtschreiben förderbedürftiger Schülerinnen und Schüler in der Grundschule.

In der Studie von Fischbach et al. (2013) wurde die Häufigkeit von Lernstörungen (erstes Diskrepanzkriterium Schulleistung kleiner als ein T-Wert von 40; zweites Diskrepanzkriterium zumindest 1,2 Standardabweichungen zwischen IQ und Schulleistung, also mindestens 12 T-Wert-Punkte) im Bereich Deutsch bei mindestens durchschnittlicher Intelligenz wie folgt ermittelt:

•  Lese-Rechtschreibstörung 2,1 %,

•  isolierte Lesestörung 2,6 %,