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Ins Dunkel ist Screwball-Komödie und Melodram, Tragödie und Romanze in einem: ein Roman als Film, glamourös und hochpolitisch. In raffinierten Rückblenden, mit Tempo und Timing verhandelt er das Verhältnis von Literatur, Film und Macht in Zeiten inszenierter Wirklichkeiten.
Wir sitzen im Dunkeln. Auf der Leinwand treffen sich Greta Garbo und Erika Mann 1969 in den Schweizer Bergen und erinnern sich. Wie war das noch mit Marlene Dietrich und der gemeinsamen Geliebten? Als der Film den Nerv der Zeit traf und die Deutschen Hollywood und ganz Amerika durcheinanderwirbelten. Mit Erika Manns antifaschistischem Kabarett Die Pfeffermühle, während die ganze Welt ins Dunkel glitt? Mit der Zensur nach 1933 auch in den USA? Ach – und wie gut kannten sich eigentlich Greta Garbo und Marlene Dietrich? Wer traute sich mehr auf der Leinwand? Und im Leben?
Eine Liebeserklärung an das Kino
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2025
Angela Steidele
Ins Dunkel
Roman
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.
Originalausgabe© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025
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Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagmotiv: Stefanie Naumann
eISBN 978-3-518-78356-6
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
[Klosters 1969]
[Berlin 1924]
[Klosters 1969]
[Berlin 1924]
[Klosters 1969]
[Berlin 1925]
[Klosters 1969]
[Los Angeles 1929]
[Los Angeles 1929]
[Klosters 1969]
[Los Angeles 1930]
[Paris]
[Klosters 1969]
[Los Angeles 1931]
[Klosters 1969]
[Los Angeles 1931]
[Berlin 1931]
[Los Angeles 1931]
[Silver Lake 1931]
[1932]
[Los Angeles 1932]
[Los Angeles 1932]
[München 1933]
[1933]
[Los Angeles 1933]
[Paris 1933]
[Klosters 1969]
[Paris 1933]
[Klosters 1969]
[Los Angeles 1933]
[Zürich 1934]
[Davos 1969]
[Los Angeles 1938]
[1941-47]
[Klosters 1969]
[Klosters 1969]
[Klosters 1969]
[Zürich 1969]
[Zürich]
Dank
Informationen zum Buch
Ins Dunkel
Wir sitzen im Dunkeln.
Auf der Leinwand sehen wir einen lichten, verschneiten Wald. Eine schlaksige Gestalt eilt durch das Bild, den Mantel fest gegürtet, die Hose in kniehohen Stiefeln, einen Hut mit breiter Krempe tief ins Gesicht gezogen. Mühelos springt sie über einen Busch, einen Graben hinunter und wieder hinauf. Als sie aus dem Wald heraustritt und auf die Landstraße blickt, wiehert ein Pferd, und ein Motor heult auf. Ein schnittiger weißer Wagen steckt in einer Schneewehe fest, die Hinterräder drehen durch. Eine Dame im Janker, ein Kopftuch unterm Kinn geknüpft, stemmt sich vergeblich gegen den Kofferraum. Die Gestalt aus dem Wald setzt eine Sonnenbrille auf und tritt hinzu. Wortlos schiebt sie mit an, die Räder greifen, und sogleich ist der Wagen wieder auf sicherem Grund. Die Dame mit dem Kopftuch will freudig danken, aber die Gestalt ist schon weitergeeilt. An einem halb zugefrorenen Flüsschen entlang passiert sie das Ortsschild Klosters. Vorbei an verwaisten Tennisplätzen, drei Garagen und einem Pferdestall erreicht sie das schlichte Haus Fliana. Drinnen nimmt die Gestalt auf der knarzenden Holztreppe zwei Stufen auf einmal. Im Obergeschoss klingelt sie bei Viertel und lässt sich, ohne abzuwarten, mit einem Schlüssel selbst ein.
»Salka?«, ruft sie. »Ich bin wieder da.« Ihre Stimme erinnert an ein warmes Cello.
»Greta?« Von etwas weiter weg ertönt eine dünne Kopfstimme. »Bin in der Stube.«
Im Flur sehen wir die Gestalt von der Seite. Ihre Brust hebt und senkt sich noch stark von ihrem raschen Gang. Sie legt den Mantel ab, dann den Hut, zuletzt die Brille. Wir erschrecken, ein wenig. Oder erstaunen. Oder beides.
Greta schüttelt ihre glatten graublonden Haare auf, reibt sich die klammen Hände und öffnet eine Tür. Wir sehen einen Couchtisch, ein Sofa, überladene Bücherregale, eine Kommode, die vielleicht einen Fernseher verbirgt. An den Wänden hängen, dicht an dicht, gerahmte Fotos in Schwarz-Weiß. Charlie Chaplin. Marlene Dietrich. Thomas Mann. Ist das Bert Brecht? Fast alle Fotos ziert eine Widmung. For Salka devotedly oder Unvergesslich, unvergessen.
Tief in einem Sessel versunken sitzt eine alte Dame, die weißen Haare wolkig aufgetürmt. »Hab mir schon fast Sorgen gemacht.« Sie legt ihr Buch auf der Armlehne ab, die Seiten offen nach unten. »Tee?« Mit etwas Mühe schenkt sie ein.
Greta lässt sich aufs Sofa nieder und umschließt die Tasse mit beiden Händen. »Kalt draußen.« Sie genießt den Duft, bevor sie trinkt. »Ah, gut wie immer.« Schelmisch lächelt sie Salka an. »Mit was drin würde er noch besser wärmen.«
»Im Buffet.« Salka deutet mit dem Kopf zur Seite. »Hat mir Orson geschenkt. Er war Silvester mal wieder da.«
Greta erhebt sich und öffnet die Anrichte. In einem verspiegelten Fach steht eine Flasche Whisky. Sie mustert das Etikett. »Er liebt dich immer noch.«
»Er will immer noch einen Film mit dir drehen.«
»Zu schade für den Tee.« Greta bringt auch zwei Gläser mit, schenkt ein und lässt sich ins Sofa zurückfallen. Sie prosten sich stumm zu. »Herrlich, der Schnee.« Greta nippt am Whisky. »Viele Skifahrer sind angereist.«
»Die Erika ist übrigens auch gekommen.«
»Welche Erika?«
»Na, die Mann.«
Greta holt aus der Brusttasche ihres Wollblazers ein schmales Etui und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Da ihr Feuerzeug versagt, hilft sie sich am brennenden Stövchen. Gedankenvoll sieht sie dem Rauch nach. »Ach so, die Mann! Strahlt sie noch so – wie früher?«
»Witzig und charmant wie je. Bisschen dürr. Aber immer noch sportlich-elegant.« Salka legt ein Foto als Lesezeichen in ihr Buch. Kurz sehen wir das Porträt eines Mannes mit gut geschnittenen Gesichtszügen und dunklem Bartschatten. »Ist sie nicht genauso alt wie du? Sie ist übrigens nicht allein eingetroffen.«
»Sondern?«
»Mit einer anderen Frau. Ich hab ihr, also der Erika, von deiner früheren Wohnung hier erzählt, natürlich ohne dich zu nennen.« Salka verdeckt mit ihrem Buch eine abgewetzte Stelle der Armlehne. »Sie hatte mich nach einem buen retiro gefragt.«
»Buen retiro?«
»Sie lebt doch immer noch in Zürich mit ihrer Mutter zusammen. Und ihrem Bruder Golo. Ist so ein Konservativer. Historiker oder was. Haben viel Zores, den Andeutungen nach.«
»Ich wusste gar nicht, dass ihr noch Kontakt habt.« Greta greift zum Aschenbecher.
»Als sie die Briefe ihres Vaters herausgegeben hat, hat sie mich angeschrieben. Ob ich auch noch welche hab. So kam's. Letztes Jahr ist sie mit ihrer Mutter aufgekreuzt. Haben in Davos gekurt, Logis aber lieber hier genommen, wegen des Zauberbergs, du weißt schon. Mit ihrer« – Salka sucht nach einem Wort – »Bekannten ist sie jetzt vorerst im Pardenn abgestiegen.«
»Hm.« Greta nickt. Auf dem Fenstersims entdeckt sie halbwelke Alpenveilchen. Sie steht auf, zupft ein wenig an den Blättern und prüft die Erde. »Du hast wieder zu viel gegossen. An jedem zweiten Tag reicht sprechen.« Neben den Blumen bemerkt sie – einen blinden Handspiegel mit Griff? Greta nimmt ihn, dreht beherzt die Scheibe und blickt durch Sehschlitze. »Ein Lebensrad! Wo hast du denn das her?«
»Hat mir die Helene Weigel geschenkt, letztes Jahr in Berlin. Sie hatte mich zu der Festwoche eingeladen. Brecht wäre doch siebzig geworden.«
Greta kehrt mit dem Lebensrad zurück aufs Sofa und gibt der Scheibe nochmals Schwung. »Als kleiner Junge war ich süchtig nach diesen bewegten Bildern.« Sie lässt das Spielzeug sinken. »Sie haben dich also reingelassen?«
»Ich könnte in Ost-Berlin sogar leben, wenn ich wollte.«
»Eingesperrt hinter diesem ›antifaschistischen Schutzwall‹?«
»Hätte Dubček weitermachen dürfen, hätte der Prager Frühling auch in der DDR blühen dürfen, wäre ich vielleicht fast ins Grübeln gekommen. Aber jetzt, wo die Russen in die ČSSR einmarschiert sind?« Salka setzt ihre Tasse ab, klirrend.
»Hast du von dem Studenten gehört, der sich vor zwei Wochen mitten in Prag angezündet hat?«
Sorgenvoll nicken sich die beiden zu. Dann schenkt Greta Whisky nach und lehnt sich wieder zurück. »Soso, die Erika. Wie ist sie denn zu Fuß?«
»Bis zu ihrem Auto schafft sie's noch.«
Greta verengt nachdenklich die Augen. »Und die andere?«
»Ist wohl jünger. Sollen wir sie heute Abend treffen? In der Grischuna? Ich könnte den runden Tisch bestellen.«
Greta spitzt die Lippen. »Warum nicht. Und ich zahl auch, keine Sorge. Also für dich und mich.«
»Mein Vorschuss ist halt schon aufgebraucht.«
»Was macht denn dein Buch?«
»Es soll jetzt tatsächlich erscheinen. Im April. Ich hab mich für The Kindness of Strangers als Titel entschieden.«
»The Kindness of Strangers?« Greta sieht Salka perplex an. »Welche Fremden waren denn je nett zu dir?«
»Komm, doch, schon.«
»Und wer ist je nett zu Fremden?«
Salkas Blick streift die Fotos an der Wand. »Als ich nach dem Krieg, dem Ersten, die Buben von Wychylówka nach Dresden zu ihrem Vater gebracht habe, damit ich im Hamburger Schauspielhaus als Medea gastieren konnte, ist mir schon bald der Proviant und dann das Geld ausgegangen. Wir mussten viermal umsteigen, in Przemyśl, in Krakau, in Brünn und in Prag, jedes Mal hab ich neue Fahrkarten gebraucht, und da uns die Inflation vorausgereist ist, sind wir schließlich im Nirgendwo gestrandet. Da hat mir eine Frau einfach Geld zugesteckt. Und im Zug hat eine Bäuerin den ausgehungerten Buben dicke Scheiben von einem Laib Brot abgeschnitten und so viel Himbeermarmelade draufgelöffelt, dass sie wie Vampire im Blutrausch aussahen. So steht es um die Güte von Fremden, ich will und werde an sie glauben bis an mein Lebensende. – Du musst übrigens keine Angst haben. Was dich betrifft, bleibt alles so, wie du es das letzte Mal abgesegnet hast.«
Greta drückt die Zigarette aus. »Hm hm. Die Erika. Gott, ist das lange her.« Sie hält das Lebensrad noch einmal an die Augen und dreht die Scheibe. »Das war nach der Deutschland-Premiere von Gösta Berling. Ich war mit Moje eigens nach Berlin gefahren. Meine erste Auslandsreise. Was war ich aufgeregt. Ich war ja erst« – Greta rechnet – »achtzehn.«
Nacht in einer großstädtischen Straße. Eckige Automobile mit hellen Kugelscheinwerfern fahren vorüber, von links, von rechts. Eines hält vor einem Ecklokal. Silhouette leuchtet über dem Eingang und an den beiden Seiten. Wir hören Tanzmusik. Charleston. Ein Schriftzug blendet auf: Berlin, August 1924.
Aus dem Auto steigt – ja, das ist sie, die junge Greta. Erstaunt, fast ein wenig erschrocken weicht die robuste Türsteherin vor ihr zurück. Sie zieht sogar ihr Lederkäppi und winkt Greta beflissen durch, nicht ohne irritiert den großen schlanken Herrn neben ihr wahrzunehmen. Das muss dann wohl dieser Moje sein. Er bietet Greta den Arm und hält ihr die Tür auf.
Im schmalen Saal tost der Lärm und swingt die Musik. Die tanzenden Paare stoßen mit den Rücken aneinander. Moje reckt sich und weist Greta ein Tischchen, das auf einer Galerie frei wird. Er schiebt sie vor sich, und sie bahnt ihnen den Weg. Wer Greta erblickt, macht ihnen Platz, betört oder bestürzt, das ist nicht so genau zu sagen. Sie dankt mit niedergeschlagenen Augen. Fünf Stufen hoch, und sie nehmen den Tisch gleich an der Balustrade ein. Greta streift ihr Abendjäckchen ab, Moje seine Ballonmütze in Pfeffer und Salz. Seine Schläfen schimmern grau.
Die Kapelle wechselt zu einem Tango mit rhythmischer Ziehharmonika. Greta beobachtet die Tanzenden. Ihr fällt eine Frau mit dunklem Bubikopf auf, die, übers ganze Gesicht strahlend, nach einer mit Helmfrisur greift. Hüfte an Hüfte tanzen sie bis zu Gretas Platz an der Balustrade, drehen zackig die Köpfe, schlingen die Beine umeinander, wenden und schreiten wieder in die Menge. Greta wirft Moje einen Blick zu, halb überrascht, halb fragend. Er antwortet mit einem Lächeln. Als Greta den beiden weiter zusehen will, haben sich andere Paare vor sie geschoben.
»Na, zum ersten Mal hier?« Ein junger Mann grinst vom Nachbartisch herüber. Er trägt eine blaue Russenbluse, bis zum Hals geschlossen. Sein Gesicht ist weiß gepudert, lila Lidschatten betont seine Augen.
Moje rührt kaum den Kopf. »Guten Abend.«
»War's im Eldorado zu etabliert? Nicht, hier ist es gemütlicher. Mehr en famille.«
Ohne auf die Rede von nebenan zu achten, gibt Moje dem Kellner ein Zeichen.
»Klaus Mann, Schriftsteller.« Der mit der Russenbluse hält Moje die Hand hin. Moje betrachtet wie Greta die Tanzenden. Oder tut so. Klaus verharrt, bemerkt Mojes gut sitzenden Dreiteiler aus feinstem Tuch und reißt dann die Hand ganz hoch. »Frau Schwesting, Erika!« Fröhlich winkt er. »Pamela! Huhu!«
Vom Parkett grüßen die beiden Tangotänzerinnen zurück, die wieder aufgetaucht sind. Greta blickt rasch hin und her. Die Nase der Frau mit dem dunklen Bubikopf springt ähnlich vor wie die von Klaus. Dann ist sie Frau Schwesting Erika? Sie wirbelt Pamela mit der Helmfrisur herum und schmiegt sich im Takt lasziv an ihren Rücken.
Klaus stützt sich auf seinen Ellbogen und spricht gedämpft abermals Moje an. »Möchten Sie einen meiner Lyrik-Zyklen hören? Vielleicht die kesse Romanze vom schönen Jüngling Sündebab?« Klaus schiebt die Zunge in die Wange. »Oder meine Visionen der Unzucht, die sich gewaschen haben?«
Da tritt eine blonde Frau an Klaus' Tisch. Die Augenbrauen hat sie sich zu einem dünnen Strich gezupft. »Darf ich?« Noch ehe Klaus antworten kann, nimmt sie auf einem der beiden freien Stühle Platz. Sie scheint sich für das Orchester zu interessieren, schielt jedoch zu Greta. Wie wenn sie überlegen würde, woher sie sich kennen.
Klaus wirft ihr einen indignierten Blick zu und verrückt seinen Stuhl etwas, um Moje nochmals anzusprechen. »Von meinen Romanen und Novellen will ich nur Die Jungen erwähnen, und zwar wegen der darin ergreifend ausgedrückten, bitteren Wonne des Sich-selbst-Erniedrigens.«
»Wie bitte?« Die mit den Augenbrauenstrichen dreht sich zu Klaus um. »Du Jungchen? Romane? – In der Obersekunda?«
Klaus reckt etwas gekränkt die Schultern in der Russenbluse. »Die Schule kann mir nichts mehr beibringen. Ich habe diesen lästigen Umweg abgebrochen, um direkt ans Ziel zu kommen.«
»Sieh an. Und der wäre?«
»Der berühmteste deutsche Schriftsteller zu werden.«
»Na denn man zu.« So belustigt wie angetan reicht sie ihm die Hand. »Dietrich, Marlene. Angenehm.«
Ach – so jung haben wir sie gar nicht erkannt!
Klaus stellt sich gleichfalls vor.
Nebenan bestellt Moje eine Flasche Champagner. An Klaus' Tisch räumt der Kellner die Gläser ab und erkundigt sich nach weiteren Wünschen. Klaus zögert. »Dasselbe«, sagt er dann und schickt einen Luftkuss zu Moje. Im Gewimmel sucht er Erika und Pamela. Die beiden streiten sich, offenbar ist eine der anderen auf den Fuß getreten, wie Greta nicht entgangen ist. Klaus beordert sie eilig zu sich und trinkt pantomimisch ein Glas leer. Dann richtet er sich wieder an Marlene. »Mein jüngstes Drama, Anja und Esther, habe ich meiner Frau Schwesting und ihrer Freundin Pamela auf den Leib geschrieben.« Mit einer charmanten Geste deutet er auf die beiden, die soeben am Tisch eintreffen und verwundert einen Platz besetzt vorfinden. Klaus greift zu dem leeren Stuhl an Mojes Tisch. »Noch frei?« Er tippt mit der Zungenspitze an seine Oberlippe. Da entdecken Erika und Pamela Greta und verharren verblüfft. Greta wendet die Augen von Erika ab und verfolgt rasch wieder das Treiben im Raum.
Klaus rückt den Stuhl heran, die Hinzugekommenen setzen sich. Erika schüttelt Marlenes Hand. »Heiße Frau Motzknödel, bin Leberknödler, wohnhaft zu Breznhausen im Senftal.« Sie genießt die Verwirrung, dann lacht sie auf. »Mann, Erika. Und das ist Pamela Wedekind.« Stolz berührt sie deren Arm.
»Wedekind? Der Wedekind?«, wiederholt Marlene. »Ich hab mal in der Büchse der Pandora deines Vaters gespielt.«
»Ach, du hast die Lulu gespielt?« Pamela hält sich sehr gerade und spricht sehr deutlich, geradezu überprononciert. Passt zu ihrer Helmfrisur.
»Nee, nur die Steinherz, drei Sätze im zweiten Akt. War aber nicht schlecht, weil ich am selben Abend noch in Der Widerspenstigen Zähmung auftreten konnte. Kein Text, aber neben Elisabeth Bergner!«
Pamela und die Geschwister machen »Oho«.
»Vom Großen Schauspielhaus brauch ich nur sechs Minuten zu den Kammerspielen und schminke mich dabei um!«
Man lacht, anerkennend.
»Meine Frau Schwesting«, sagt Klaus, »wird demnächst die Hauptrolle in der Sensation der Saison spielen. Shaws Heilige Johanna, zum ersten Mal in deutscher Sprache.«
»Ach, und du kriegst die Hauptrolle?« Marlene macht große Augen.
»Also noch studiere ich ja nur. Bei Max Reinhardt. Und spiele vorerst nur garstig kleine Röllülein, aber immerhin.«
»Hast du denn die Aufnahmeprüfung bestanden?«
»Ich nehme Sprech- und Stimmunterricht.«
Marlene lächelt dünn. »Ich bin auch durchgefallen. Aber nur nich' unterkriegen lassen, wa?«
Der Kellner kommt zurück und lässt erst an Mojes, dann an Klaus' Tisch den Champagnerkorken ploppen.
»Haste denn auch schon was veröffentlicht?«, fragt Marlene Klaus, als sie mit ihm anstößt.
»Ja! Einen Artikel über das Landerziehungsheim im 8 Uhr-Abendblatt. Dort bin ich soeben auch als zweiter Theaterkritiker angestellt worden. Deshalb benötige ich jetzt dringend eine bezahlbare Wohnung. – Weißt du was?«
»Eine Wohnung in Berlin? Und auch noch bezahlbar? Machst du Witze?« Marlene seufzt zur Decke. »Frag besser mal in deiner Redaktion, wimmelt's da nicht vor dicken Fischen?«
»Meine erste Rezension habe ich tatsächlich unter den Augen von Berthold Viertel höchstselbst verfasst.«
»Berthold Viertel? Der mit seiner Truppe? Die sind mir zu radikal.« Marlene zieht eine Grimasse. »Moderner Popanz. Ich bin ja mit Goethe groß geworden, er hat mich alles gelehrt, was ich weiß, und ich kriege immer noch Gänsehaut bei Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten –«
»Nein, nein, das ist vorbei!«, unterbricht Pamela. »Das Theater muss avantgardistisch sein. Es ist ja immer noch in biederen Stricken gefangen.« Sie spricht jedes T stark gehaucht.
»Aber wir brechen das Theater auf! Die Bühne hat ihre wahre Zukunft erst noch vor sich!« Erika strahlt ihren Bruder an. »Anja und Esther – dein bester Ausdach!« Schmeichelnd sieht sie zu Pamela, findet aber ihren Blick nicht, weil die gerade verstohlen zum Nachbartisch späht. Greta und Moje betrachten die Tanzenden und wechseln nur sporadisch ein Wort, das wir nicht hören können.
Die Musik wechselt zu orientalischen Klängen. Im Saal hält man inne und spendet Applaus. Auf einer Bühne erscheint eine hagere Bauchtänzerin. Knöchellanger Rock, der Gürtel mit Strass und Glitzer übersät. Mehr als ein Bustier aus dem gleichen Material trägt sie obenrum nicht. Bauch, Arme und Schultern sind nackt. Fast widerwillig richtet Marlene ihre Aufmerksamkeit weg von Gretas Wangenlinien und ihren langen Wimpern hin zu –
»Max Waldon. Der berühmte Damenimitator«, raunt Klaus Moje zu.
Marlene reckt den Hals, um seinen dreistufigen Kopfputz zu studieren sowie die langen Ohrringe. Ein Amulett hängt ihm in die Stirn, und drei Schnüre Perlen winden sich um seinen Hals.
»Was will der denn darstellen«, fragt Erika. »Eine altägyptische Tänzerin?«
»Eine der mageren Kühe Pharaos?«
Bis auf Marlene prusten alle los. Sie wirkt wie hypnotisiert.
»Was will man nur? Ist das Kultur,
dass jeder Mensch verpönt ist«,
singt Max Waldon mit unverstellt männlicher Stimme,
»der klug und gut, jedoch mit Blut
von eig'ner Art durchströmt ist?«
Als das Lied den Refrain erreicht, fallen fast alle ein.
»Wir sind nun einmal anders als die Andern,
die nur im Gleichschritt der Moral geliebt,«
Erika will mit Pamela singen, aber deren Augen weilen wieder bei Greta. Da hakt sich Klaus bei seiner Schwester ein.
»Wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist,
weil wir ja anders als die Andern sind.«
Im Rhythmus der Musik lässt der Damenimitator aufreizend die Hüften kreisen. Am Ende seiner nächsten Strophe feuert er das Publikum an, nochmals mitzusingen. Man brüllt fast.
»Bald haben wir das gleiche Recht erstritten,
wir leiden nicht mehr, sondern sind gelitten!«
Beifallsumtost geht Max Waldon ab.
»Also sündiger und widerlicher kann nichts mehr sein, oder?« Klaus zwinkert Moje zu.
Der streicht sich nachdenklich über sein Schnurrbärtchen. »Verzeihen Sie, aber Ihr Gespräch vorhin hat eine so bemerkenswerte Wendung genommen.« Moje spricht recht gut Deutsch, allerdings mit merkwürdigem Akzent. »Das Theater ist Geschichte. Die Zukunft ist der Film.«
»Der Film?« Klaus, Erika und Pamela entrüsten sich gleichermaßen. »Sie meinen, das Kino?«
»Ja, das Kino. Die Lichtspiele, wie Sie so schön auf Deutsch sagen.« Moje schlägt ein Bein über das andere.
»Ins Kino gehen wir doch nur zum Knutschen.« Jedes K knallt aus Pamelas Mund.
»Wir? Wer soll das jetzt sein?«, wundert sich Erika.
Pamela deutet ins Irgendwo. »Also ich bitte Sie. Der Film, dieses armselige Jahrmarktsflittersensatiönchen, kann doch mit dem Theater nicht mithalten! Das Schönste, das Edelste, das Erhabenste des Dramas wie der Dichtung geht dem Film nun einmal ab: die Sprache!«
»Wenn Sie die hörbare Sprache meinen: Nur noch ein wenig Geduld, bald ist die Tonspur da. Doch eigentlich irren Sie sich: Denn –«, Moje betrachtet die vier vom Nachbartisch leicht überlegen. »Nun, Sie waren ja noch gar nicht auf der Welt, als die Bilder laufen lernten. In Paris und hier in Berlin übrigens zur selben –«
»Eins der allerersten Filmtheater auf deutschem Boden wurde im Haus meines Onkels Willibald Felsing eröffnet, Unter den Linden 21«, fällt Marlene ein, stolz.
»Felsing?«, fragt Erika nach. »Der berühmte Uhrmacher?«
»Und Juwelier. Genau der.«
Erika schürzt die Lippen und nickt unmerklich Klaus zu.
Gretas Lider flackern für einen Moment nervös, wie Marlene auffällt. »So wie andere Kinder ins Kasperletheater bin ich ins Kino gerannt«, fährt sie fort. »Und ich spiel ja nicht nur Theater, sondern auch Geige. Im Ufa-Orchester in dem großen Kino am Nollendorfplatz war ich sogar mal Konzertmeisterin. Henny Porten liebe ich über alles. Sie ist die größte Filmschauspielerin aller Zeiten! Ich hab sie schon vor ihrem Haus abgepasst, hab ihr Rosen geschenkt, Cremeschnitten für sie gebacken und ein Gobelinkissen gestickt.«
»Cremeschnitten und Gobelinkissen?« Erika ist baff. »Echt jetzt?«
»Echter als in echt«, macht Moje weiter, »haben die ersten Fotografien in Bewegung auf die Zuschauer gewirkt. Sie –«
»Das stimmt!«, ruft Marlene. »Mein Onkel Willibald hat immer gern erzählt, wie am Anfang die Leute aus dem Saal gerannt sind vor Schreck, wenn auf der Leinwand eine Lokomotive frontal auf sie draufgefahren ist.«
Moje pflichtet ihr freundlich bei. »Mittlerweile haben wir jedoch gelernt, die Perspektiven zu wechseln. Es macht einen kolossalen Unterschied, ob Sie jemanden von vorne oder von hinten, über die Schulter oder von unten aufnehmen.« Leicht befremdet beobachtet er, wie Pamela aus der Handtasche einen Zettel holt, zwei Zeilen schreibt und dem vorbeieilenden Kellner zusteckt. »Und seitdem man Edisons perforierte Zelluloidstreifen schneidet und verschiedene Einstellungen aneinanderklebt, hat man eine spezifische Filmsprache entwickelt, liebes Fräulein Pamela. Und so wurde die Kamera zum Erzähler und die schöpferische Montage der Einstellungen zur filmischen Kunst.«
Klaus verschränkt die Arme vor der Brust. »Verzeihen Sie, aber mit Kunst hat der Film nun wirklich nichts zu schaffen.« Er sucht und erhält den stummen Beifall seiner Schwester.
»Ich versteh nur Bahnhof«, sagt Pamela.
»Nein, das ist ganz einfach«, erläutert ihr Marlene. »Stell dir vor, du willst zeigen, wie ein Paar einen Nachtclub besucht. Erst baust du die Kamera draußen vor dem Eingang auf.«
Moje nickt ihr aufmunternd zu. »Wir sagen dazu Panorama oder Totale. So beginnt man immer eine Szene. Wie im richtigen Leben nähert man sich dem Geschehen von weitem.«
Marlene hält seinen Blick. »Dann setzen sich die beiden an einen Tisch und kommen vielleicht mit anderen Gästen ins Gespräch. Das filmt man aber von näher dran.«
»Am besten mit mehreren Kameras in der Halbtotalen.«
»Und dann die Darsteller abwechselnd, während sie reden, stimmt's?«
»Schuss und Gegenschuss, ganz recht. Und zusätzlich kann die Kamera in Nahaufnahme zeigen, wovon gerade nicht die Rede ist. Füßeln zwischen den beiden Tischen zum Beispiel.« Moje blickt Klaus tief in die Augen. »Und wenn die Kamera schwenkt oder auf Gleisen oder gar auf einem Kran fährt, zeigt sie uns, was zuvor verborgen war. Etwa, wie Fräulein Erika Fräulein Pamela den Rücken streichelt.«
Erika hält inne, wie erwischt. Pamela schüttelt mit einem Schulterzucken ihre Hand ab.
»Aber, aber –« Klaus sucht noch nach Worten, als am Eingang Unruhe entsteht. Eine Traube Menschen drängt herein, manche rückwärts. Sie umgeben in ihrer Mitte ein Paar. »Anita Berber! Ich sterbe!« Klaus springt auf. Das Orchester wechselt den Song. »Und jetzt auch noch der Morphium-Walzer«, ruft er erregt. Flink klettert er über die Balustrade und beginnt zu tanzen. So wild wedelt er mit den Armen, schüttelt er die Beine, dass man vor ihm zurückweicht und wir diese Anita Berber sehen können, im Frack. Kurz betrachtet sie Klaus' Faxen durch ihr Monokel, während sie ihre Glacéhandschuhe auszieht und in ihrem Zylinder ablegt. Marlene beobachtet genau, wie sie ihrer Begleiterin den Arm bietet und sie in ein Separee führt.
Da überreicht der Kellner Greta ein großes Bukett roter Rosen.
»Nein, wie schön!«, ruft Marlene.
Selig kehrt Klaus an den Tisch zurück. »Keine tanzt wie Anita Berber. Ekstase pur.« Erschöpft lässt er sich auf seinen Stuhl plumpsen.
»Hör jetzt mal auf«, zischt Pamela und rückt von Erika ab.
Moje wendet sich erneut an Klaus. »Beschäftigen Sie sich mit der Ästhetik des Films, junger Freund, Sie werden viel für Ihre Theaterstücke lernen. So wie umgekehrt der große David Wark Griffith viel aus der Literatur gelernt hat.« Den Namen spricht Moje hinten mit t aus. »Etwa, wie man zwei Geschichten gleichzeitig erzählt.« Zwei gut gebaute Matrosen, die das Lokal verlassen, lenken ihn kurz ab. »Im Film sprechen wir von einer Parallelmontage.«
Erika und Pamela reden flüsternd, aber heftig aufeinander ein. Greta schnuppert an den Rosen und blickt sich, ohne den Kopf zu bewegen, im ganzen Lokal um.
Moje leert sein Glas, enttäuscht, dass sich niemand für seine Ausführungen interessiert. »Nun, um es mit Ihrem Abgott Goethe zu sagen, liebes Fräulein Marlene: Zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit entsteht eine ganz neue Kunstform, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen.«
Das junge Volk schweigt, jetzt doch ein bisschen ergriffen.
»Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr?« Klaus wirkt wider Willen beeindruckt.
»Stiller ist mein Name. Mauritz Stiller. Filmregisseur aus Stockholm. Diese bezaubernde junge Dame hier ist Greta Garbo. Sie hat die Aufnahmeprüfung an unserer Königlichen Schauspiel-Akademie nicht nur bestanden, sondern erhält sogar eines der wenigen Stipendien. Sie hat in meinem jüngsten Film mitgespielt, Gösta Berling, nach dem Roman von Selma Lagerlöf. Wir sind zur Deutschlandpremiere nach Berlin gekommen.«
»Hab ich's mir doch gedacht!« Marlene schlägt sich vor die Stirn. »Ich war gestern im Mozartpalast! Die Schlittenfahrt über das Eis, von den Wölfen gejagt! Ich hab ins Taschentuch gebissen vor Angst um Sie!« Marlene sieht Greta freudestrahlend an, erntet aber nur ein Stirnflimmern. Hat Greta sie überhaupt verstanden? Marlene ist sich nicht sicher.
»Aber – warum haben Sie denn einen Roman verfilmt?«, fragt Klaus entgeistert. »Warum Worte in Bilder verwandeln?«
»Man will ja auch nicht umgekehrt einen Film als Roman aufschreiben«, ergänzt Erika.
Marlene wundert sich über die beiden. »Aber die Besprechungen von Gösta Berling sind doch hymnisch! – Ich will übrigens auch zum Film.«
»Du?« Pamela zieht das u lang. »So ein Quatsch. Mach lieber was aus deiner Geige!« Sie versucht, Gretas Blick zu fangen, und weist mit den Augenbrauen auf die Rosen.
»Aber, darf ich nun meinerseits fragen«, hakt Moje nach und richtet sich an Klaus. »Sie haben sich vorhin mit dem Namen ›Mann‹ vorgestellt. Doch nicht –?«
»Doch, genau der. Also der jüngere. Thomas, nicht Heinrich.«
»Wie?« Marlene schaut Klaus, aber auch Erika groß an. »Mann, Mann, ich hab mir vorhin gar nichts dabei gedacht. Ihr seid die Kinder von Thomas Mann? Ich liebe die Buddenbrooks.«
Greta scheint zuzuhören, beobachtet aber weiter den Saal. Sie entdeckt die Türsteherin, die von weitem schüchtern mit dem Lederkäppi grüßt.
»Und –« Moje deutet nonchalant auf das ganze Ambiente um sie herum. »Der Tod in Venedig –?«
»Alles Tarnung!«, sagt Klaus. »Unser Vater würde liebend gern ebenfalls hier sitzen, wird sich das aber nie trauen. Mit eisernem Willen, geschlossenen Augen und Phantasien von dem Zwillingsbruder unserer Mutter hat unser Vater sechs Kinder gezeugt. Wir sind die beiden ältesten.« Erika und Klaus wiehern laut los. Die anderen wissen nicht recht, wie sie gucken sollen.
Marlene rückt von den beiden ab. »Sagt mal, wie redet ihr denn über eure Eltern? – Das gehört sich doch nicht!«
Klaus streckt ihr die Zunge heraus.
»Und nichts gegen die Ehe! Ich bin ja auch verheiratet.«
Alle sehen Marlene verblüfft an.
Sie zeigt ihren Trauring vor. »Ich hab mir 'nen Aufnahmeleiter beim Film geschnappt. – Sieh zu, dass du auch einen findest, der dir bei deiner Karriere hilft«, sagt sie zu Erika. »Ohne wird das nüscht. – Mein Rudi hat schon für viele große Produzenten gearbeitet«, teilt sie Moje mit. »Wenn Sie also einen Aufnahmeleiter brauchen – Rudolf Sieber.«
»Besten Dank, wer weiß. Mein nächstes Vorhaben wird tatsächlich von einer Berliner Firma mitproduziert, der Trianon-Film AG. Noch ist jedoch nicht entschieden, ob wir in Babelsberg drehen oder bei uns in Råsunda. Für die Außenaufnahmen reisen wir nach Konstantinopel.«
»Konstantinopel? Menschenskind! Und wie wird der Film heißen?«
»Die Odaliske von Smolny. Greta wird eine adlige Russin darstellen, die vor der Roten Armee aus Odessa flieht, im Getümmel entführt und in einen Harem gezwungen wird. Sie kann sich jedoch nach Konstantinopel retten, wo sie dann ihrem verschollenen Geliebten wiederbegegnet.«
Marlene himmelt Greta fast an. »Das wird dein Durchbruch! – Aber sag, sind deine Wimpern eigentlich echt?«
Die Runde erstarrt. Greta blickt stur auf die Tanzfläche.
Moje räuspert sich. »Die spannendste Frage des Films wird sein, ob Greta ihren Entführer umbringen soll oder darf. Das Problem des Tyrannenmords, nicht wahr?« Er scheint die Knöpfe an Klaus' Russenbluse zu zählen.
»Ich liege Ihnen zu Füßen. Noch lieber würde ich allerdings vor Ihnen knien.« Klaus steht unvermittelt auf und macht vor Moje einen Diener. »Darf ich bitten? Ich kann aber nur folgen.«
Moje zögert kurz, dann nimmt er Klaus am Arm und führt ihn auf die Tanzfläche.
Marlene schaut ihnen nach. »Ist das auch so ein Krafft-Ebingscher?«, fragt sie Greta fassungslos. »Dann kannste deine Karriere vergessen!«
Greta bewegt leicht den Kopf, mehr noch die Augen, und sieht Marlene ins Gesicht.
Die muss schlucken. »Du brauchst – also das nächste Mal gehste ins Romanische Café, gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Dort haben Rudi und ich übrigens geheiratet. – Im Romanischen flanierst du ans Ende des Nichtschwimmerbeckens, setzt dich an den Kükentisch und schielst ins Schwimmerbassin, bis einer mit 'ner dicken Zigarre auf dich aufmerksam wird. Je dicker, je besser, kapiert?« Sie befragt ihre zierliche Armbanduhr. »Jemine, ich muss zur Elektrischen. Die Mädels warten schon auf mich. Charell-Revue. Zehn Beine und ein Takt.« Sie kramt rasch Münzen aus ihrer Börse. »Müsste mein Anteil sein. War schön mit euch!«
Im Aufbruch zieht Marlene eine Rose aus Gretas Bukett. »Darf ich?«
Pamela entgleist das Gesicht, doch Greta lächelt. Wir möchten vor diesem Lächeln in die Knie gehen. Marlene schnuppert an der Rose, beugt sich vor und drückt Greta einen Kuss auf die Lippen. Am Ausgang zieht sie der verdutzten Türsteherin das Lederkäppi vom Kopf.
Hell – dunkel. Hell – dunkel. Wir sehen durch das Fenster eines Fahrstuhls. Es geht nach unten. Im Erdgeschoss öffnet sich die Tür, und wir treten in eine großzügige Hotellobby. Vor uns stehen zwei süße kleine Kinder. Traurig blicken sie zu uns hoch. Sie sehen – eine Frau mit ergrauendem Bubikopf, die sich spontan an den beiden freut. Das ist doch Erika Mann! Gealtert zwar, aber klar zu erkennen. Hinter den Kindern erspäht sie jemanden, die Dame mit dem Kopftuch, die zu Beginn das Auto angeschoben hat. Sie kniet neben einem schwarzen Flügel und spielt mit einem Dackel. Mal legt sie den Kopf auf die eine, mal auf die andere Schulter, stets spiegelt der Hund treuherzig ihre Bewegung. »Du bist ja ein ganz ein Lieber«, sagt die Dame und krault seine langen Schlappohren. »Wem gehörst du denn?« Suchend wendet sie sich um und entdeckt vor dem Fahrstuhl Erika mit den Kindern.
»Signe, stell dir vor, die Mami hat gesagt, der Aufzug sei kaputt und da könne man gar nichts machen!« Erikas Augen blitzen. »Das wollen wir doch mal sehen.« Sie öffnet die Tür und lädt die verlegen begeisterten Kinder ein, mit ihr einzutreten.
»Waldi?«, hört man irgendwo rufen. Der Dackel trollt sich. Die Frau mit dem Kopftuch, die also Signe heißt, steht mühelos auf, zupft ihr schwarz-weiß gewürfeltes Kostüm zurecht und verfolgt die Fahrt des Aufzugs über die Außenanzeige. Nervös sieht sie zur Uhr. Sie trägt Perlen in den Ohrläppchen, aber ihre Augenbrauen sind ungezupft. An einem opulenten Arrangement mit Amaryllis und Tannengrün vorbei schlendert sie zu dem offenen Kamin, in dem ein Feuer brennt. Scheu schielt sie zum Empfangschef. Er brütet über seinen Büchern.
Erika verlässt den Aufzug, ohne die Kinder. »Morgen kaufen wir Seifenblasen und Knetgummi«, ruft sie Signe quer durch die Lobby zu. »Gibt's in diesem Kaff so etwas?«, fragt sie den Empfangschef im Vorübergehen.
»Gewiss, Frau Mann. Probieren Sie's in der Bahnhofstraße. – Ihr Wagen steht bereit. Einen schönen Abend Ihnen beiden.«
Ein Page verbeugt sich, überreicht Erika den Autoschlüssel und öffnet die Tür. Draußen steigen sie in den weißen Wagen, den wir schon kennen.
Erika fährt durch einen kleinen Ort mit locker verstreut liegenden Häusern. Wird wieder dieses Klosters sein. Durch die Windschutzscheibe können wir im Licht der Scheinwerfer sehen, dass die Straße nur gewalzt und mit Steinchen gekiest, aber nicht geräumt ist.
»Ich kann es immer noch nicht fassen«, sagt Signe und schüttelt ungläubig den Kopf. »Ich soll mit Greta Garbo zu Abend essen! Bist du dir ganz sicher? Ich habe jeden ihrer Filme gesehen, als ich alt genug war. Königin Christine bestimmt fünf Mal.«
Erika sieht zärtlich zu ihr hinüber.
»Und sagst du mir noch mal, wer diese Frau Viertel ist?«
»Salka war die gute Seele Hollywoods. Ihr Mann Berthold war dort schon vor 33 Regisseur. In ihrem Haus in Santa Monica hat sie eine Art Salon geführt. Gute Gespräche gab's dort sowie den einzigen anständigen Apfelstrudel von ganz Kalifornien.«
»Pass auf!«, ruft Signe plötzlich.
Erika tritt heftig auf die Bremse. Fast berührt ihre Stirntolle das Lenkrad. Signe muss sich am Handschuhfach abstützen. Schlitternd kommt der Wagen zum Stehen. Erika wettert mit dem Arm. »Kruzitürken noch amol, blink doch, du Doidl! – Entschuldige bitte«, murmelt sie in Signes Richtung und reibt sich mit der Hand die Schläfe. »Ich hab irgendwie Kopfschmerzen heute.« Sie drückt die Kupplung, legt den ersten Gang ein, startet den Motor neu und fährt wieder an. Das dünne Lenkrad, die Innenverkleidung, auch die Sitze schimmern rot, soweit wir das im Licht der Straßenlaternen erkennen können.
»Und wie ist Frau Viertel in Klosters gelandet?«
»Einer ihrer Söhne hat das Skifahren hier für sich entdeckt, dem hat sie sich wohl mangels Alternativen angeschlossen. Aber mittlerweile kommt ja ganz Hollywood im Winter hierher. So trifft sie regelmäßig alte Bekannte. – Da wären wir.« Erika parkt geschickt rückwärts ein.
Wir sehen ein stattliches und doch uriges Gasthaus, zum Teil weiß verputzt, zum Teil mit verwittertem Holz verkleidet, die kleinen Fenster anheimelnd erhellt. Drei Stufen führen zum Eingang hoch. Rechts auf der Terrasse türmt sich der von der Treppe geräumte Schnee. Ein Kellner im schwarzen Anzug begrüßt Erika und Signe und hilft ihnen in der Garderobe beim Ablegen. Unter Signes Kopftuch erscheint noch blondes, glattes Haar, seitlich aus der Stirn gekämmt, am Hinterkopf vertikal eingerollt und festgesteckt. Erika ist ganz in Creme, feine Strickjacke und schmale Hose mit Bügelfalten.
Der Kellner führt sie in das holzvertäfelte Restaurant. Abgeschirmt von einer Pendeluhr und einer mächtigen, wie gedrechselten Säule, entdecken sie Salka mit den wolkig aufgetürmten Haaren, die ihnen erfreut winkt. Sie nickt Greta zu, die ihr gegenüber mit dem Rücken zum Eingang sitzt, jetzt aber aufsteht und Erika die Hand reicht. »Wie schön, Sie wiederzusehen!«
»Miss Garbo!« Erika strahlt. Wie früher. Blinzelnd weicht Greta leicht zurück, doch Erika schüttelt ihr unbeirrt kräftig die Hand. »Die Freude ist ganz meinerseits!« Sie tritt zur Seite. »Darf ich vorstellen: Signe von Scanzoni.« Sie sagt ›Singne‹.
Greta will auch ihr die Hand geben, doch Signe starrt sie nur fassungslos an. Greta lächelt, wissend.
»Aber, Sie – Sie haben uns doch heute Nachmittag geholfen!«, stammelt Signe. »Als wir mit dem Wagen im Schnee stecken geblieben sind!« Mit geweiteten Augen dreht sie sich zu Erika um. »Sie war es, die mitangeschoben hat!«
Erika bedankt sich mit einem spielerischen Kratzfuß. »Die Göttliche!«
»Schöner Wagen«, sagt Greta. »Aber keine Déesse!«
Erika tut empört. »DS – ich fahr doch keinen Citroën! Ein Ford Mustang. Ich nenne ihn das weiße Rauschen.«
»Setzt euch doch!«, ruft Salka. Erika und Signe nehmen sie auf der halbrunden Bank in die Mitte. Greta rückt ihren Stuhl zurecht. »Und Sie heißen Signe?«, spricht sie ihre Sitznachbarin an. »Är ni också svensk?«
»Nein, nein.« Signe fängt sich allmählich. »Kleiner nordischer Einfall meiner Mutter. Die meisten nennen mich Inge, Frau Mann gehört zu den wenigen, die meinen Vornamen dankenswerterweise korrekt aussprechen.« Sie ist mit Abstand die Jüngste, Anfang fünfzig vielleicht.
Der Kellner fragt, ob die Damen einen Aperitif wünschen.
»Champagner natürlich.« Erika legt den Kopf in den Nacken. »Was haben Sie denn da?«
»Dom Pérignon, Henriot, –«
»Haben Sie nichts Besonderes?«
»Wir hätten einen Comtes de Champagne, blanc de blanc, vom Hause Taittinger.«
»Den nehmen wir.« Erika blitzt übermütig in die Runde.
Kleine Verlegenheit, die vier suchen nach dem Anfang der Konversation.
»Haben wir nicht«, richtet sich Erika an Greta, »bei unserem ersten Kennenlernen auch Champagner getrunken? War das nicht in so einem verruchten Berliner Lokal?«
Greta stutzt. »War's nicht eher am Potsdamer Platz, wo Sie mir die erste Verkehrsampel –« Sie unterbricht sich, weil der Kellner den Champagner kredenzt.
»Kommt, lasst uns anstoßen!«
Die Gläser klingen. »Cheers, skål, Wohlsein.«
»Sie waren nach Berlin gekommen, um Ihren ersten Film vorzustellen, Gösta Berling, nicht wahr? Wir fachsimpelten gleich vom Film als dem Medium der Moderne. – Schnitt und Montage erlebte man ja als kongenialen Ausdruck der zersplitterten Gegenwart«, erläutert Erika Signe. Die zieht beeindruckt die Mundwinkel herunter.
»Gösta Berling wurde übrigens hier vor einiger Zeit nachts im Fernsehen gezeigt«, sagt Salka. »Darauf habe ich den Roman zum ersten Mal überhaupt gelesen – und den Film kaum wiedererkannt! Stiller hat die Frauenrollen viel stärker herausgearbeitet, auch deine«, sagt sie zu Greta.
»Ja, ich weiß. Moje fand den Roman ziemlich fad. Er handle nur von abgehalfterten Helden, die sich in Selbstmitleid ergehen.«
»Klingt ganz nach dem Zauberberg«, kichert Signe, etwas aufgedreht.
»Also jedenfalls kam es mir so vor, wie wenn Mauritz Stiller Lagerlöfs Roman schon in den zwanziger Jahren – wie sagt man heute? – feministisch erzählt hätte«, schließt Salka.
»Vergiss nicht«, ergänzt Erika, »es war damals die Hochphase der neuen Frau.« Sie sucht Gretas Augen. »Gott, was waren wir jung!«
Signe späht nach Gretas Spiegelbild in den Bleiglasscheiben, doch findet sie nur das warme Licht des Restaurants.
Der Kellner kommt mit den Speisekarten. Er öffnet jede, bevor er sie mit gemessener Haltung überreicht. »Als Besonderheit hätten wir heute Abend Lobster aus Maine, serviert in einer Orangenkruste mit Ingwer-Orangen-Sauce, karamellisierten Knoblauchmöhrchen und Portulakblüten.«
»Ach Amerika«, seufzt Erika, als er wieder gegangen ist. »Sie wohnen in New York, nicht, Miss Garbo?«
Greta senkt die Lider.
»Ich fahr übrigens auch bald mal wieder hinüber«, sagt Salka rasch. »Zur Premiere meines Buchs.«
»Wie, Salka? Erzähl!« Erika beugt sich erwartungsvoll vor.
Signe betrachtet erst ihr eigenes Gedeck, dann verstohlen das von Greta. Als sie aufblickt, schaut sie direkt in Gretas Augen. Sofort vertieft sie sich in die Speisekarte.
»Ich habe meine Memoiren geschrieben«, erklärt Salka. »The Kindness of Strangers. Der Verlag organisiert eine Buchpremiere, im April in New York.«
»The Kindness of Strangers –? Ach geh. In welcher Welt lebst du denn? Mit dem Titel verkaufst du keine hundert Stück. Inside Hollywood muss das heißen!«
Salka nippt an ihrem Champagner.
»Oder She who knew everybody in Hollywood. Oder« – Erikas Stirn hellt sich auf, und sie grinst Greta an – »Salka Viertel talks.« Erika merkt nicht, dass nur sie lacht.
»Ich möchte aber nichts Reißerisches«, sagt Salka.
»Oder packst du gar nicht aus?«
»Mir gefällt das Humane, Humanistische an dem Titel. Manche Menschen werden tatsächlich freundlicher, wenn man ihnen unterstellt, sie seien nett.« Salka setzt ihre Lesebrille auf.
»Salka Viertel: Hollywoods größtes Herz.« Erika klingt liebevoll ironisch.
»Das wäre eine Anspielung auf Mercedes' Memoiren, und das möchte ich auch vermeiden.« Salka sieht kurz zu Greta.
»Welche Mercedes? Benz?«, fragt Signe arglos.
Salka blättert in der Speisekarte. Greta zieht ihr Etui hervor, aber ihr Feuerzeug zündet wieder nicht.
Erika reicht ihr Feuer. »Also auf jeden Fall Gratulation! Wird das Buch denn auch auf Deutsch erscheinen?«
Salka hebt die Schultern.
»Das muss auf Deutsch erscheinen!«, insistiert Erika. »Die Alt-Nazis müssen wissen, was mit uns geschehen ist. Wen sie aus ihrem Nazideutschland vertrieben haben.«
Signe berührt Erikas Arm. »Nicht so heftig.«
Erika schüttelt Signes Hand ab. »Sei bloß still.«
Betretenes Schweigen.
Der Kellner erscheint wieder. »Haben die Damen gewählt?«
Salka bestellt Tafelspitz, Signe Forelle. Erika nimmt den Lobster. »Aber bleiben Sie mir mit den Knoblauchmöhren weg.«
Greta bittet um Blattsalate. »Dazu geraspelte Möhren, rote und gelbe Paprika. Kein Kohl. Und bitte kein Dressing.«
»Mit einem leichten Kräuterquark vielleicht, Miss Brown?«
»Ja, danke.«
Salka bemerkt, dass Signe sich wundert. »Und was machen Sie so, Frau von Scanzoni?«, fragt sie in verbindlichem Ton, nachdem der Kellner gegangen ist.
»Radio. Beiträge über klassische Musik.«
»Nicht so bescheiden, meine Liebe«, übernimmt Erika. »Signe hat auch schon Bücher geschrieben. Über die Wiener Oper zum Beispiel.«
»Wege und Irrwege lautet der Untertitel.«
»Aber eigentlich und im Herzen ist sie immer noch Sängerin«, sagt Erika. »Tiefer Alt. Eine Erda. Oder die Kastratenpartien von Händel.« Sie zündet sich ebenfalls eine Zigarette an.
»Oper also?«
»Wäre mein Traum gewesen. Eine langwierige Halsentzündung hat sich jedoch als Tuberkulose herausgestellt. In Davos« – Signe deutet mit dem Kinn in eine bestimmte Richtung – »hab ich mehrere Monate gelegen.«
»Aber dann –« Salka scheint Signes Alter zu schätzen. Sie tauscht mit Erika einen Blick.
»Danach war's aus mit der Gesangskarriere, und ich wurde Assistentin von Clemens Krauss –«
»Dem Clemens Krauss«, sagt Erika, zu Salka gewandt.
»Jawohl, dem Clemens Krauss«, bestätigt Signe. »Dem besten Richard-Strauss-Dirigenten dieses Jahrhunderts.«
»Richard Strauss!« Erika bläst den Rauch durch die Nase.
»Du liebst auch immer noch Wagner.«
»Der war 33 schließlich schon lange tot und konnte sich nicht mehr wehren.«
Erika und Signe merken nicht, dass Salka und Greta ihnen interessiert zuhören.
»Strauss war uralt und hat nur noch für sein Werk gelebt«, meint Signe.
»Dein uralter Strauss war noch rüstig genug, um 33 diesen widerlichen Brief der ›Richard-Wagner-Stadt München‹ gegen meinen Vater zu unterzeichnen«, entgegnet Erika lebhaft. »Während wir alles verloren haben, hat er es sich gutgehen lassen und munter weiterkomponiert für die Mörder und Verbrecher, ihnen eine Olympia-Hymne geschenkt und sich huldigen lassen.«
»Ihr habt nicht alles verloren«, widerspricht Signe. »Dein Vater hat noch überall eine feine Villa bezogen.«
»Willst du mir jetzt auch noch vorwerfen, dass wir im Exil nicht zugrunde gegangen sind?« Erika wird fast laut.
Gretas Rücken versteift sich. Sie lauscht, ob sie Aufmerksamkeit an den anderen Tischen erregen. Salka räuspert sich.
Signe wendet sich ihr zu. »Ich habe vor wenigen Jahren in München eine Ausstellung über Richard Strauss kuratiert. Es ging mir darum, die Fragwürdigkeit einer unter hochbrisanten politischen Umständen nur noch werkbezogenen Existenz wenigstens anschaulich zu machen.«
»Die Fragwürdigkeit – anschaulich zu machen?«
»Ja.«
»Aha.«
Schweigen.
»Wie gefällt Ihnen denn die Wohnung?«, erkundigt sich Greta.
»Sehr gut! Nochmals tausend Dank für den Tipp, Salka, Darling.« Erika ist wieder ganz Liebenswürdigkeit. »Das wird wunderbarst. Im Frühling, wenn dieser grässliche Schnee endlich weg ist, werden wir noch einen Pool im Garten ausheben lassen. Ohne Pool kann ich nun mal nicht.«
»Wir lassen gerade noch etwas renovieren«, ergänzt Signe.
»Und einen Gasherd installieren.« Erika streift die Asche ihrer Zigarette ab. »Wer will denn auf Elektro kochen?«
»Ach, wer kocht denn von euch zwei?«, fragt Salka.
Vier Kellner bringen gleichzeitig die Gerichte an den Tisch, die Teller von silbernen Hauben bedeckt.
Ihre Lichtreflexe blenden uns, aber nun stammen sie von einem verkehrsumtosten Uhrenturm. Erst blinken die Ecken blau, dann verlischt eine gelbe Lampe, und es leuchtet eine rote daneben auf. Von links fahren Motorradfahrer mit Lederkappen und Schutzbrillen an, drängeln sich an Automobilen mit Kotflügeln und dünnen Reifen vorbei. In der Gegenrichtung stößt eine Straßenbahn fast mit einem Pferdefuhrwerk zusammen. Ein Passant hechtet zu uns auf den Gehsteig, von wütendem Geklingel mehrerer Radfahrer gejagt.
»Halt!«, brüllt jemand entsetzt und hält eine Frau von hinten am Mantelärmel fest. »Sehen Sie nicht, dass wir Rot haben?«
Empört windet sich die Frau aus dem Griff – es ist die junge Greta Garbo. Ihr Stirnrunzeln weicht einem freundlichen Erkennen. »Oh! Du!«
»Na – das ist aber mal ein Zufall!« Erika glättet Gretas Ärmel, etwas verlegen. Sie deutet auf die Mitte der Kreuzung. »Wir dürfen erst bei Grün gehen.«
Greta bestaunt den Uhrenturm. »So etwas haben wir in Stockholm nicht«, sagt sie, langsam und überlegt.
»Ach – du sprichst ja doch Deutsch!«
»Mimi hat mit mir gelernt. – Meine Freundin«, fügt Greta hinzu.
Wieder zucken zunächst die blauen Signallichter auf, dann schaltet die Ampel auf Gelb. Alle beeilen sich, von der Kreuzung zu kommen. Die Kaltblüter eines Brauereiwagens voller Schultheiss-Fässer sind nicht so schnell. Der Schutzmann oben im Uhrenturm wartet, bevor er das Signal auf Grün stellt. Dann sieht er, wie Greta und Erika zwischen Autos, Motorrädern, Omnibussen und Straßenbahnen die Kreuzung queren.
»Bist du denn schon aus – wo war's? Konstantinopel zurück?« Erika stibitzt von einem entgegenkommenden Handkarren im Rücken des Markthändlers einen Apfel.
»Nein, es hat sich alles verzögert«, antwortet Greta mit ihrer tiefen Stimme. »Ich war bis vorgestern in Schweden.«
»Das war übrigens sehr nett von Herrn Stiller, dass er uns den Champagner da letztens in der Silhouette bezahlt hat.« Erika reibt den Apfel an ihrem Ärmel blank. »Ist er schon vorausgefahren, Drehorte ausfindig machen, Drehgenehmigungen einholen oder was man so machen muss?«
Greta verengt die Augen, dann hat sie verstanden. »Nein, wir fahren morgen alle zusammen, zwölf Personen. Gerade verhandelt Moje noch mit der Trianon und irgendwelchen Geldgebern.«
Erika deutet auf die Zeitung unter ihrem Arm. »Das Tageblatt schreibt, Die Odaliske von Smolny werde die teuerste Produktion des Jahres, mit Herstellungskosten von über 400 000 Reichsmark.«
»Ist das so?« Greta wirkt unglücklich.
Erika bietet ihr den Apfel an, aber Greta lehnt dankend ab. »Die Trianon bekommt für den Film einen Kredit ausgerechnet von der Berliner Wohnstätten GmbH. Statt Mietshäuser zu bauen, investieren die lieber in deinen Film. Klaus hat übrigens immer noch keine Bleibe.«
Greta hält kurz betroffen inne. »Aber dafür kann ich doch nichts! – An meiner Gage kann es nicht liegen. Ich weiß gar nicht, wie ich mir davon bessere Kleider kaufen soll.«
»Verlangen sie das von dir?« Erika beißt in den Apfel.
»Lieber würde ich noch weniger Geld bekommen, aber dafür in einem Sack herumlaufen dürfen.«
Sie lächeln beide über ein zerzaustes Mädchen, dem seine Mutter an einem Hydranten die Hände wäscht.
»Es liegt an dem Streik der Bauarbeiter«, sagt Erika. »Deshalb können die Berliner Wohnstätten gerade gar nicht bauen. Vermutlich parken die ihr Geld nur kurz in deinem Film.«
Greta atmet halb erleichtert auf.
Vor ihnen tritt eine Frau mit einem Eimer in der Hand aus einem Laden für Damenwäsche und spritzt das gesamte Spülwasser schwungvoll auf die Schaufensterscheibe. Greta und Erika machen einen Satz zurück. Mit einem Lappen wischt die Frau nach. Da fällt ihr erst das Plakat auf, das von der Innenseite an das Fenster geklebt ist. Greta und Erika sehen sich die Zeichnung ebenfalls an: Eine Tänzerin präsentiert ihre sehenswerten Beine in von Strapsen gehaltenen Strümpfen.
Erika pfeift. »Hat Herr Stiller übrigens die Sachen gelesen, die Klaus ihm geschickt hat? Hält er davon etwas für geeignet?« Sie gehen weiter.
»Ich – weiß es nicht. Er hat nichts erzählt. – Aber, haben denn die Proben für Die heilige Johanna schon angefangen?«
»Ja. Nur ohne mich.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Elisabeth Bergner –. Dafür habe ich eine Rolle in Carl Sternheims neuem Stück ergattert, Oskar Wilde. Sein Drama.« Erika weicht einem Einbeinigen aus, der sich mit den Achseln auf Krücken stützt. »Und außerdem bereiten Klaus und ich eine ganze Tournee mit Anja und Esther vor. Die Uraufführung wird kein Geringerer inszenieren als Otto Falckenberg an den Münchner Kammerspielen. Zwei Tage später werden wir in Hamburg debütieren, wo sich ein Nachwuchsgenie in das Stück verliebt hat, Gustaf Gründgens mit Namen.«
Eine burschikose Frau mit Krawatte tritt ihnen in den Weg und zieht aus ihrer Briefträgertasche eine Zeitung. »Schon Mitglied im Bund für Menschenrecht?«
»Danke, wir sind im Gespräch.« Erika will weiter.
Greta zögert. »Bund für –?«
»Menschenrecht, ebent.« Die Burschikose sieht Greta ins Gesicht, macht einen Schritt zurück, wird blass und fängt an zu stammeln. »Also, ähem, dit hier sind die Dings, die Blätter für Menschenrecht, unsere offizielle Monatsschrift. Weil, es is' ja so, es gibt doch, also wir gehören ja alle, also nicht alle, aber wir Mitglieder, dem dritten Geschlecht an. Schon mal gehört? Dr. Magnus Hirschfeld und sein Wissenschaftlich-humanitäres Komitee? Nee? Also der BfM is 'ne echte Massenorganisation, wir ham schon über 40 000 Mitglieder. Aber eins, nee, zweie fehlen uns noch, und die seid ihr. Wenn ihr mir hier schön unterschreibt, dann schenk ick euch –«
»Hausieren und betteln verboten«, sagt Erika und zieht Greta am Arm weiter. Greta folgt ihr, auch weil ein Straßenkehrer gerade den Kehricht in einen eisernen Korb entleert.
Greta wirft noch einmal einen Blick über die Schulter. »Drittes Geschlecht?«
»Kesse Väter und warme Brüder, Urninge und Urninden, Sapphistinnen, Transvestiten, Conträrsexuelle und Homosexuelle, vom anderen Ufer, Garçonnes, Tribaden, alte Griechen – wer will das unterscheiden? Hirschfeld hat für uns ein drittes Geschlecht erfunden, warum nicht?« Erika deutet nach rechts. »Hier im Tiergarten sitzt sein Institut für Sexualwissenschaft.«
Greta sinniert ein bisschen. »Ich wollte immer ein Junge sein. Einmal habe ich heimlich die Hose meines Bruders angezogen und bin zum Schuhmacher am Ende unserer Gasse.« Sie verstellt ihre Stimme. »›Ich bin Gustafssons Jüngster‹, habe ich gesagt und wie der frechste Schlingel gepfiffen. – Ähm«, unterbricht sie sich, »ich heiße ja gar nicht Garbo, das ist der Name, den mir Moje gegeben hat. Alle haben gejohlt, auch der Schuhmacher. Das war der Beginn meiner Schauspielkarriere.«
Erika nickt. »Ich habe mit Klaus und unseren jüngeren Geschwistern Theater gespielt. Wir nannten uns Laienbund Deutscher Mimiker. Unser Vater musste die Kritiken in ein dickes Buch schreiben. – Aber sag, wo willst du eigentlich hin?«
»Zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.«
Erika lächelt. »Ach so. Ins Romanische Café.« Sie schaut sich um. »Da – die 1. Komm, wir steigen ein. Ich begleite dich ein bisschen, wenn ich darf.«
Ein doppelter Kraftomnibus hält. Sie springen hinten auf. Erika löst beim Schaffner zwei Fahrscheine, während Greta schon die steile Außenleiter erklimmt. Sie setzen sich auf zwei freie Plätze nebeneinander. Hier oben ist der Bus offen.
»Du hast auch eine Bande angeführt, wie ich, stimmt's?« Greta stupst Erika mit dem Ellbogen. Sie muss im Fahrtwind ihren Hut tiefer ins Gesicht ziehen.
»Die Herzogparkbande hießen wir. Wir haben es wirklich schlimm getrieben. Geklaut und gelogen. Über honorige Leute die übelsten Sachen erzählt. Frei erfunden. Herrlich! Bis Klaus und ich ins Landerziehungsheim mussten. Zur Besserung.«
Sie lachen beide und sehen sich in die Augen. Greta weicht zuerst aus. »Und was macht eigentlich die Marlene?«
»Die Marlene?« Erika schnaubt verächtlich durch die Nase. »Die macht gar nichts mehr. Ihr Aufnahmeleiter hat ihr 'n dicken Bauch gemacht, und jetzt ist alles vorbei. Zu viel Ehrgeiz, zu wenig Talent. Nach unserem Treffen in der Silhouette hat sie erst Gesangsstunden genommen, weil ja bald der Tonfilm kommt, und dann Englischunterricht, weil sie ja bestimmt bald nach Hollywood geht. – Aber jetzt geht sie nirgendwo mehr hin, mit einem Kind bist du abgemeldet.«
Greta wiegt zweifelnd den Kopf. »Ich mag Kinder. Man kann sehr vernünftig mit ihnen reden.«
»Ich liebe Kinder, natürlich, aber doch keine eigenen!«
Die Gründerzeithäuser mit ihren schnörkeligen Fassaden ziehen vorbei. Neben manchen Torbögen liest man Holz u. Kohle, anderswo Kartoffeln. An einer Eisenbahnbrücke, die sich über die Straße spannt, wirbt Leuchtreklame für Odol. Eine kantige Hochbahn rattert vorbei. Sieht fast wie heute aus. Auch der Bahnhof – wenn das nicht der Nollendorfplatz ist?
Greta betrachtet den behelmten Schutzmann, der hier den Verkehr regelt. »Ich hatte gestern dieses schreckliche Treffen mit einem Mann aus Hollywood. Der sagte zu mir, ich hätte einen dicken Bauch.«
»Wie?«, fragt Erika ungläubig. »Was erzählst du da?«
»Dass ich abnehmen soll. Weil die Amerikaner keine dicken Frauen mögen.«
»Ich versteh nicht.«
»Es ist ja auch nicht wichtig. Moje hat darauf bestanden, dass ich früher anreise, um mich mit Herrn Mayer zu treffen. Also Mejer, er spricht sich englisch aus.«
»Oder jiddisch.«
»Moje und er haben tatsächlich Jiddisch miteinander gesprochen, weil Moje kein Englisch kann und Herr Mayer kein Deutsch. Ich hab nur die Hälfte verstanden.«
»Und die wäre?«
»Na, dass ich zwanzig Pfund abnehmen soll.«
»Zwanzig?« Erika überfliegt Gretas Gestalt. »Aber du bist doch gar nicht zu dick.«
»Und er hat auch gesagt, dass ich mich besser anziehen soll.« Sie stöhnt auf. »Aber ich will ja ohnehin nicht nach Amerika.«
Erika wendet sich ihr ganz zu. »Greta, jetzt erzähl mal von vorne. Wo, wer, wann, was?«
»Moje hat das eingefädelt. Herrn Mayer gehört so ein Studio in Hollywood. Er raucht übrigens sehr dicke Zigarren.«
»Du meinst doch nicht etwa Metro-Goldwyn-Mayer?«
»Doch. In Rom dreht MGM gerade Ben Hur, und weil die Produktionskosten aus–, aus–«
»Ausufern?«
»– ist Herr Mayer nach Europa gekommen, nach dem Rechten zu sehen. Er hat seine Frau und seine beiden Töchter dabei, die sind so alt wie wir.«
»Machen wohl 'ne Grand Tour durch den alten Kontinent.«
»Ah – so? – Nun, Herr Mayer hat Filme von Moje gesehen und will ihm ein Angebot machen. Und so haben wir uns gestern im Adlon getroffen. Die ganze Familie hatte sich vorher Gösta Berling angesehen. Ich bin der Mutter und den Töchtern schon im Fahrstuhl begegnet. Die haben mich ganz pikiert angesehen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Es ist ja auch egal. Ehrlich gesagt glaube ich, Moje verhandelt nur mit Mayer, um bei der Trianon bessere Bedingungen herauszuschlagen. Und einen Anschlussvertrag für weitere Filme hier. Deshalb habe ich in Schweden Deutsch gelernt.«
»Und dein Studium an der Königlichen Schauspiel-Akademie?«