Zeitreisen - Angela Steidele - E-Book

Zeitreisen E-Book

Angela Steidele

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Beschreibung

1840 reisten die Engländerinnen Anne Lister und Ann Walker im Pferdeschlitten auf der zugefrorenen Wolga bis zum Kaspischen Meer und weiter über den Großen Kaukasus nach Tbilissi und Baku. Anne Lister starb völlig unerwartet auf einer Bergtour in Georgien. Ihre Gefährtin Ann Walker benötigte sieben Monate, um den Sarg mit der Leiche der Geliebten zurück nach Halifax zu bringen. Nach dem Entschluss, eine Biografie über die freizügige Tagebuchautorin und verwegene Reisende Anne Lister zu schreiben, begibt sich Angela Steidele auf die Spuren des außergewöhnlichen Paars, begleitet von ihrer Russisch radebrechenden Frau. Hilft ihre Reise, die Abenteuer von Anne und Ann zu würdigen? Was erzählen die Orte, Landschaften und Menschen heute von fernen Zeiten? Kann man überhaupt in die Vergangenheit reisen? Welche Vergangenheit? Zeitreisen erlaubt einen so anschaulichen wie vergnüglichen Blick in die Werkstatt einer Biografin und bildet den zweiten Teil einer Trilogie von Angela Steidele zu biografischem Schreiben, die mit Anne Lister. Eine erotische Biographie (2017) begonnen hat und mit einer Poetik der Biographie 2019 schließen wird.

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ANGELA STEIDELE

Zeitreisen

VIER FRAUENZWEI JAHRHUNDERTEEIN WEG

Wie viel Sie auf Ihren Reisen gesehen und gedacht haben!Mehr als alle Frauen und viele Männer, die vorIhnen erröten müssen. Ich erwarte von Ihnen nichts wenigerals ein philosophisches Buch über das Reisen.

Vere Cameron an Anne Lister, 13. Februar 1840

Sie geht der Vergangenheit nach, als wäresie nicht zu verändern.

Elias Canetti, 1975

Inhalt

Georgien 1840

Yorkshire 2014

Vergeblichkeit

Anne und Ann

Susette und Angela

In der Pferdekutsche

Visum

Fußstapfen

Schwulenmorde und Song Contest

Einreise

Sankt Petersburg

Peter I. und Alexander Newski

Eisenstein und Alexander Newski

Tourismus

Empfehlungsschreiben

Seite an Seite

Abfahrt

Nowgorod

Nach Moskau

Der Kreml

Roter Platz und Kitai Gorod

Orthodoxie

Russinnen

Schlittenfahren

Eisenbahn

Andrej Rubljow

Nischni

Die Wolga

Kasan

Geschichtsfreizeitpark Bolgar

Fotografieren und Zeichnen

Wolgadeutsche

Auszeit

Kalmücken

Der Kaukasus

Die Georgische Heerstraße

Zauberberg

Kreuzpass

Roadtrip

Mzcheta

Tbilissi

Die Bäder

Paris oder Berlin

17. Mai

Frauenreisen

Schlafwagen

Baku

Der lächelnde Diktator

Naphta

Feuer

Blicke

Scheki

Mieder

Stalins Heimat

Bücher und Wirklichkeit

Kunst und Natur

Kutaissi

In die Antike

Der kolchische Wald

Wein

Nach Ratscha

Bekenntnisse

Patriarchat

Uzera

Gletscher

Gewalt

Zeitsprünge

Im Fluss

Verlorenes

Mingrelien

Sugdidi

In den Tod

Dichtung

Wahrheit

Rückreise

Scheitern

Dank

Bibliographie

Anmerkungen

Georgien 1840

Seit über einem Jahr waren Anne Lister und Ann Walker bereits auf Reisen, als sie über die Gebirgszüge und durch die dicht bewaldeten Täler des Großen Kaukasus ritten. Am 11. August schlugen die beiden Engländerinnen ihr Lager in einer kleinen Maisscheune auf, und Anne Lister schrieb wie an jedem Abend in den letzten 36 Jahren in ihr Tagebuch; jetzt, um 8:25 Uhr, habe ich gerade die letzten 19 Zeilen geschrieben. Im Norden Berge, davor bewaldete Bergrücken, hier und da kleine bewaldete konische Gipfel. Die Hügel an den Seiten eingekerbt, kleine konische Gipfel auf den seitlichen Bergrücken. Tee usw. jetzt um 8:25 Uhr. Legen uns um 9:30 Uhr hin.1 Deuten die Wiederholungen der konischen Berge und der Uhrzeit auf eine Konzentrationsschwäche hin? Anne Lister sollte nie wieder Tagebuch schreiben. Sie erkrankte am heißen Fieber und starb sechs Wochen später.

Anne Listers unersättliche Reiselust hatte die beiden Frauen an diesen Ort geführt, Tausende Kilometer von ihrer englischen Heimat entfernt. Ann Walker hatte nie hierherkommen wollen, in diese ihrem Verständnis nach äußerst abgelegene Weltgegend, Monate Reisezeit von allem entfernt, was sie als Zivilisation empfand. Jetzt war sie hier allein. Wie wir hören, wurden die sterblichen Überreste dieser bemerkenswerten Dame einbalsamiert. Ihre Freundin und Gefährtin, Miss Walker, wird sie … nach Hause überführen, um sie in der Familiengruft bestatten zu lassen,2 berichtete daheim der Halifax Guardian in der Todesanzeige von Anne Lister.

Mit der Leiche nahm Ann Walker denselben Weg zurück, den sie gekommen waren, über Tbilissi und Moskau nach Yorkshire. Den Großen Kaukasus überquerte sie auf der sogenannten Georgischen Heerstraße, die über den Kreuzpass (2 379 m) am sagenumwobenen Kasbek (5 047 m) vorbeiführt. Der Saumpfad war an vielen Stellen so schmal, dass Wanderer sich kaum ausweichen konnten; neben dem Pfad gähnte bisweilen ein kilometertiefer Abgrund. Im April jenes Jahres war Anne Lister stellenweise zu Fuß gegangen; Ann Walker hatte sich geweigert, aus dem kleinen russischen Wagen zu steigen, vor Angst gelähmt, von einem Weinkrampf geschüttelt. Jetzt musste sie diese steile Wand wieder hinauf. Und Anne lag im Sarg.

Wie brachte man 1840 einen Sarg über den Großen Kaukasus? Stelle ich mir Ann Walkers Rückreise vor, kommt mir der Flussdampfer in den Sinn, der in Werner Herzogs Fitzcarraldo über einen Bergrücken gezogen wird, oder Das Piano von Jane Campion in den Wäldern Neuseelands. Auf dem Hinweg hatten Anne und Ann allein für ihr Gepäck 17 Träger angeheuert. Kam der Sarg jetzt zu den Kofferkisten? Wurde er von vier Männern getragen oder auf einem Leiterwagen mühsam Stück für Stück den holprigen Gebirgspfad hochgezerrt? Wie schwer war das Ding überhaupt, mit einer mageren mittelgroßen Frau darin, die man vermutlich in Sägespäne gebettet hatte? Ich lese mir an, dass man auch früher schon Zinksärge verwendete, um Leichen über weite Strecken zu transportieren. Sie sind vergleichsweise leicht, von bakterienhemmender Wirkung und, wenn verlötet, tropfdicht; die eilige Präparation von Anne Listers Leiche mag die Verwesung nicht vollständig unterbunden haben. Aber war 1840 in Georgien ein Zinksarg zu haben?

Den Hinweg hatte Anne Lister ausführlich in ihrem Tagebuch beschrieben. Über den Rückweg ist kaum etwas bekannt. Nur so viel ist sicher: Ann Walker erreichte Moskau vermutlich zu Beginn des Winters und ließ ihre Gefährtin provisorisch bestatten. Im Frühjahr fuhr sie mit dem Sarg nach Yorkshire zurück. Am 29. April 1841 wurde Anne Lister in der Familiengruft in der Halifax Parish Church beigesetzt. Ann Walker war sieben Monate und rund 5 000 Kilometer mit einer Leiche unterwegs gewesen.

Yorkshire 2014

Meine Frau und ich betrachten in Shibden Hall Anne Listers Reisewagen, den Ann Walker von Moskau zurückbrachte. Recherchen für eine Biographie über Anne Lister verhelfen uns zu Ferien in Yorkshire, das wir lieben, ohne je dort gewesen zu sein; als Kinder schauten wir beide Der Doktor und das liebe Vieh. Drei Wochen bewegen wir uns zu Fuß und auf dem Tandem in den Moors, den Valleys, den Wolds und auf dem Pennine. Zu Anne Listers und Ann Walkers Zeit war die industrielle Revolution in vollem Schwung; in Halifax wuchs die Zahl der rauchenden Kaminschlote so schnell wie das Elend der Arbeiterinnen. Heute verrotten die Mills; geblieben ist nur die Verwüstung der Natur. Wir werden in Halifax so überrascht begrüßt wie Engländerinnen, die in Gelsenkirchen Urlaub machen. Vor einer Woche hätten wir kommen sollen, da war was los! Die Tour de France, hier, in der Heimat von Chris Froome! Susette zieht ihr neues T-Shirt nicht mehr aus: »Release your inner cyclist.«

Shibden Hall, Anne Listers Landsitz, liegt auf dem Berg oberhalb von Halifax. Hier glaubt man, die Zeit sei stehengeblieben. Old England. Der alte Gutshof wurde in ein Museum verwandelt. Man kann Anne Listers Esstisch mustern, ihr Schreibzeug und ihre falschen Haarlocken. Hier lebte sie mit Ann Walker. Und doch trügt der Schein: Anne Lister hat dieses Haus nie so gesehen. Nachdem sie umfangreiche Veränderungen angeordnet hatte, floh sie vor der Baustelle. Ich fühle mich in Shibden Hall wie bei Anne Lister zu Hause; aber sie selbst würde ihr Heim kaum wiedererkennen.

Im Stadtarchiv in Halifax blättere ich in Anne Listers Tagebüchern. Sie gehören mittlerweile dem Weltdokumentenerbe der UNESCO an. Zu einer Zeit, in der Jane Austen und die Brontë-Schwestern ihre Romanheldinnen auf den richtigen Mann warten ließen, schrieb Anne Lister unverblümt von ihrer Lust mit anderen Frauen. Helena Whitbread und Jill Liddington haben die geheimschriftlichen Passagen entziffert und herausgegeben. Unveröffentlicht blieben die Arbeiten von Phyllis Ramsden und Vivien Ingham, beide lange schon verstorben; ihre Studien für ein Buch über Anne Listers Reisen ruhen ebenfalls hier im Archiv. Susette fotografiert rund zweitausend Schreibmaschinenseiten für mich und erstellt ebenso viele Fotokopien. »Hast du dir deinen Sommerurlaub so vorgestellt?«

Vergeblichkeit

Während ich Anne Lister. Eine erotische Biographie schreibe, stehen zwei Postkarten aus Shibden Hall auf meinem Schreibtisch: eine Ansicht des Hauses und Anne Listers Porträt. Über ihre Tagebücher und Briefe versuche ich, ihr nahezukommen und mir ihre Lebenswelt vorzustellen. Auf Landkarten markiere ich alle »ihre« Orte mit Leuchtmarker. Verdeutliche mir, wie sich die heutigen Verkehrswege aus den damaligen entwickelt haben. Reise in Gedanken und auf dem Papier an ihrer Seite durch Yorkshire, nach Frankreich, von Schottland bis Norditalien. Freue mich, die meisten Orte und Landschaften aus eigener Anschauung zu kennen. Nur in Russland und im Kaukasus war ich noch nicht. Bücher, Reiseführer, historische Reisebeschreibungen oder gar Google Earth können den persönlichen Eindruck nicht ersetzen. Keine Frage: Um die Biographie schreiben zu können, muss ich dorthin, wo Anne Lister gestorben ist.

Leider weiß ich schon im Vorhinein: Es ist vergeblich. Wer in die Vergangenheit reisen möchte, kommt nie an. Muss aber dennoch aufbrechen, in der größten Gewissheit, das Reiseziel zu verfehlen. Historische Darstellungen wären noch unvollkommener, als sie es ohnehin sind, versuchte man sich nicht an einer solchen Zeitreise. Wer sich an die Tafel der Vergangenheit setzen möchte, kann nur hoffen, im Stolpern das Tischtuch zu greifen und gewitzt die Scherben aufzuklauben.

Anne und Ann

Als Anne Lister und Ann Walker 1839 zu ihrer großen Reise aufbrachen, waren sie seit fünf oder sieben Jahren ein Paar – je nachdem, ob man ihre Affäre im Herbst 1832 mitzählt. Ann Walker (1803–1854) hatte sich in die androgyne Anne Lister verliebt, die nur Schwarz trug und beim Flirten mit ihrer Uhrkette spielte. Anne Lister (1791–1840) hatte damals nach mehreren langjährigen, parallel geführten Liebesbeziehungen und zahlreichen Abenteuern Abschied von ihrem Lebenstraum nehmen müssen: Die schöne, junge, reiche und hochadelige Frau, die zu ihr aufsah und bereit war, mit ihr zu leben, würde sie nicht mehr finden. Also verführte sie ihre Nachbarin Ann Walker, die zwar nicht schön und auch nicht von Adel war, aber immerhin zwölf Jahre jünger und wohlhabend. Doch schon 1833 trennten sie sich wieder. Anne Lister reiste nach Kopenhagen, von wo sie weiter nach Russland wollte; wer St. Petersburg nicht gesehen hat, hat gar nichts gesehen,3 hatte ihr jemand gesagt. Wegen einer lebensbedrohlichen Erkrankung ihrer geliebten Patentante brach sie die Reise jedoch ab und kehrte nach Halifax zurück. Die Tante überlebte, Anne Lister und Ann Walker nahmen ihre Affäre wieder auf, und am 10. Februar 1834 begingen sie schließlich heimlich ihren Hochzeitstag. Anne trug fortan einen goldenen Reif, Anns Trauring dagegen war mit einem Onyx besetzt, dessen Schwarz an Anne erinnern sollte. Ihre Flitterwochen verbrachten sie in Paris und in den Alpen, wo sie den Mont Blanc umrundeten. Anschließend zog Ann Walker zu Anne Lister nach Shibden Hall.

Für Halifax war das ein Skandal, den man jedoch nicht so recht in Worte zu fassen wusste. Über Anne Lister war schon immer getuschelt worden. Gewiss verhalte ich mich eigen, nicht besonders männlich, sondern eher wie ein sanfter Kavalier. Ich weiß, wie man Frauen gefällt.4 Ihre Familie und ihre Bekannten wussten, dass sie sich nach einer Frau an ihrer Seite sehnte. Über die sexuelle Natur dieser Sonderlichkeiten,5 wie Anne Lister selbst sagte, schwieg sich die bessere Gesellschaft aus. Einfachere Leute nahmen kein Blatt vor den Mund. Oben an der Cannery Lane sagten drei Männer wie üblich »Das ist ja ein Mann«, und einerfragte: »Steht dein Schwanz?«6 Als Ann Walker ihren eigenen Hausstand auflöste und mit Anne zusammenzog, erschienen im Leeds Mercury, im York Chronicle und im Halifax Guardian Zeitungsenten unter den Hochzeiten von letztem Mittwoch: »Am selben Tag, in der Pfarrkirche von H-x, Captain Tom Lister von Shibden Hall mit Miss Ann Walker, wohnhaft in Lidgate nahebei.« Das bloßgestellte Brautpaar erhielt anonyme Glückwünsche »zu ihrer glücklichen Vereinigung.«7 Andere setzten Geschichten über Adny und mich in die Welt, wie ich sie austrickse und sie um all ihr Geld betrüge.8

Anne Lister und Ann »Adny« Walker trotzten solchen Anfeindungen und nahmen beim Gottesdienst nebeneinander in der ersten Reihe Platz. Anne Listers Adel und Ann Walkers Vermögen schützten sie vor der gesellschaftlichen Ächtung, aber sie bewegten sich auf einem schmalen Grat. Glücklich wurden sie nicht miteinander. Ihre feindselige Umgebung hatte gewiss einen Anteil daran; schwerer wogen die wechselseitigen Enttäuschungen. Ann Walker wollte Liebe, Anne Lister Geld. Von Ann Walkers Erbe kaufte sie Grundstücke, legte zwei Kohleminen an, ließ ein Stadthaus in ein Hotel umbauen und Shibden Hall bedeutend erweitern. Zwistigkeiten bestimmten den Alltag der anlehnungsbedürftigen Ann und der durchsetzungsstarken Anne.

Am besten verstanden sie sich auf Reisen. Anne Lister reiste leidenschaftlich gern und hatte ganz Großbritannien erkundet, Belgien und die Niederlande, Norditalien und Frankreich. In den Pyrenäen bestieg sie 1830 den Monte Perdido (3 355 m); mit Schlaufen band sie den Saum ihres Kleids und ihrer Unterröcke bis zu den Knien hoch, um die Hände frei zu haben für Wanderstock und Eispickel. Auch Ann Walker war gut in Form; sie bestieg mit Anne 1838 in den Pyrenäen den Pimené (2 801 m) und den Pic du Midi d’Osseau (2 884 m). Ihre Besonnenheit hielt sie jedoch von Gefahren ab, die ihre Partnerin reizten: Anne Lister bezwang auf dieser Reise den Vignemale (3 298 m), den zuvor nur ihre Bergführer bestiegen hatten.

Zurück in Halifax stritten sich die beiden Frauen im Winter 1838/39 wieder bitterlich. Anne Listers Investitionen warfen kein Geld ab. Ann Walker hatte ohne Ehefrau besser und komfortabler gelebt; mehrfach versuchte sie, sich von ihr zu trennen. Doch Anne konnte sich eine Trennung nicht leisten und umschmeichelte Ann erfolgreich. Da Shibden Hall eine ungemütliche Baustelle geworden war und zudem gesellschaftliche und finanzielle Probleme sie bedrängten, ließ sich Ann schließlich auf Annes Vorschlag ein, gemeinsam eine große Reise zu unternehmen. Die 36-jährige Ann Walker glaubte, es gehe in einem weiten Bogen über Skandinavien bis nach Moskau und wieder zurück. Die 48-jährige Anne Lister betrachtete Moskau als erste Etappe auf dem Weg nach Teheran, ja Bagdad. Davon erzählte sie ihrer Gefährtin vorerst jedoch nichts.

Susette und Angela

Susette ist so alt wie Anne, als wir uns auf den Weg machen, und ich muss ein so beklemmendes wie idiotisches Gefühl bekämpfen, ihr könne deshalb etwas zustoßen und ich, die um zwei Jahre Jüngere, würde Witwe werden und sie nach Hause überführen müssen. Ein Paar sind wir schon viel länger als Anne und Ann. Keine von uns hat die andere nur wegen ihres Geldes gewollt. Glaube ich. Auch wir leben zusammen in einem Haus, doch haben wir keine heimliche Zeremonie unter vier Augen vollzogen, sondern unsere Lebenspartnerschaft auf dem Standesamt eintragen lassen. Susette muss mit auf die Reise, denn sie spricht und versteht »Osteuropäisch«. Sie ist Richterin und begleitete die Erneuerung des bulgarischen Prozessrechts in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, damit Bulgarien der EU beitreten konnte. Während der zwei Jahre in Sofia hat Susette »Gastarbeiter-Bulgarisch« gelernt, wie sie sagt. Sie kommt damit überall in Osteuropa durch, sei es in der Loipe im Böhmerwald oder an der Tankstelle in Zopot. Ich weide mich stets am Gesichtsausdruck ihrer Gesprächspartner: Wo hat die bloß so komisches Russisch gelernt?

Zur Einstimmung auf unsere Reise hören wir Musik (»Kosaken hey! hey! hey! werft die Gläser weg! Natascha ha! ha! ha! du bist schön!«) und nehmen aus der Kölner Stadtbibliothek alle Filme mit, die uns russisch erscheinen. John Hustons Der Brief an den Kreml (1970) ist nur wegen einer Nebenepisode bemerkenswert: Ein Sowjet wird mit Filmsequenzen gefoltert, die seine Tochter zeigen, wie sie von einer dämonischen Lesbe verführt wird. Dem hartgesottenen Russen kommen die Tränen, er schwitzt und flucht und verzweifelt; hätte ihn der gefilmte Mord an seiner Tochter weniger geschmerzt als ihre Lust mit einer Frau? Auch in Liebesgrüße aus Moskau (1963) tritt eine böse russische Lesbe auf. Die alte Lotte Lenya darf noch vor Sean Connery das Bond-Girl befummeln. »Weißt du noch, ich hab dir mal eine Postkarte von der Lenya geschickt, das tolle Jugendporträt mit Zigarette.« »Sind böse Russinnen in westlichen Filmen eigentlich immer lesbisch?«

Wir schauen uns russische Originalproduktionen an. Oktober (1928) von Sergej Eisenstein zeigt den Sturz der bürgerlichen Regierung Kerenski, die im Sinne der seinen Film finanzierenden Sowjets als erbärmlich und verdorben dargestellt wird: Die Kamera schwelgt in Bildern von dem berühmten Frauenbataillon, das den Winterpalast verteidigt. Die besseren Soldatinnen werden beim Anblick von Rodins Skulptur Der Kuss – man befindet sich in den Kunstsammlungen der Éremitage – nachdenklich, sehnen sich nach einem Mann und geben auf. Die Verruchten dagegen bleiben und schmachten sich gegenseitig an. Blicke werden getauscht, Brüste heben sich. »Vielleicht ist die böse russische Lesbe gar kein Hollywoodklischee, sondern historisch verbürgte Wahrheit?«

Während ich Flüge und Zimmer buche, bestellt Susette bei einem Berliner Hinterhofladen zwei Häkelbärte; einen aus schwarzer Wolle für sich, einen braunen für mich. Sitzt dank Mundschlitz und zwei Gummibändern perfekt. Die passenden Kopfbedeckungen aus Fell hat Susette schon früher aus Bulgarien mitgebracht. »Warum hast du die in die Karnevalskiste gesteckt?« Aus zwei alten Gürteln bastelt sie sich einen kaukasischen Patronengurt, über der Brust gekreuzt. Als Patronen nimmt sie Tampons. Die Idee ist geklaut. Joana Vasconcelos hat vor Jahren Versailles mit feministischen Kunstwerken hinreißend klug und komisch kommentiert; die Skulptur »A Noiva«, ein riesiger Kronleuchter, bestand aus 25 000 Tampons. Für Susettes kaukasischen Patronengurt reicht eine 64er-Packung. Mit Geduld, ruhiger Hand und Sekundenkleber befestigt sie die Tampons parallel nebeneinander auf den Gürteln. Ich wickele mir einen Schal um den Bauch und ergreife das Plastikschwert, mit dem ich früher immer meinen Bruder totgestochen habe. Kaukasus, wir kommen.

In der Pferdekutsche

Anne Lister und Ann Walker brachen am 20. Juni 1839 von Halifax auf, in der Kutsche, von Pferden gezogen. Nur zu Wasser hatte das Dampfzeitalter schon Fahrt aufgenommen; zu Lande vergingen noch zwei, drei Jahrzehnte, bis in England und auf dem Kontinent ein nennenswertes Eisenbahnnetz ausgebaut war. Anne Lister und Ann Walker gehörten der letzten Generation an, die in der Pferdekutsche reiste. Viele Überlandstraßen waren in England und Frankreich mittlerweile chaussiert, d. h. sie waren auf einem erhöhten Damm angelegt, entwässert und mit unterschiedlichen Schichten Schotter befestigt. Je weiter man jedoch in die Provinz, vor allem aber nach Osten kam, desto schlechter wurden die Straßen; das fing schon in den deutschen Ländern an. Doch auch hier waren an den Hauptverkehrswegen die Posthaltereien gut eingerichtet, bei denen man die Pferde wechseln und wo man einkehren und übernachten konnte. Die alten Hotels »Zur Post« erinnern noch an diese Zeit.

In England wie in Deutschland fuhr man üblicherweise »mit der Post« oder mit einer Diligence, einem Eilwagen. Anne Lister und Ann Walker benutzten jedoch keine öffentlichen Verkehrsmittel, sondern ihren eigenen Reisewagen, der sich schon auf vielen tausend Kilometern bewährt hatte. Fuhr man mit der Post, saß man eng gedrängt zwischen den anderen Reisenden und musste ihr Geschwätz, ihr Schnarchen und ihre Ausdünstungen ertragen. Die eigene Kutsche schenkte nicht nur Privatsphäre; sie erlaubte auch, viel Gepäck mitzunehmen, sich bequem auf der Fahrt einzurichten und Pausen einzulegen, wann immer man wollte. Dennoch nutzten Anne und Ann die Routen der Postkutschen, hatten sie doch keine eigenen Pferde dabei: Das wäre viel teurer und auch langsamer gewesen, weil die Tiere hätten ausruhen müssen. So mieteten sie an jeder Posthalterei frische Pferde für die nächste Strecke und kamen rasch voran.

Für die Betreuung und Instandhaltung der Kutsche, die Sorge um das Gepäck und alle gröberen Arbeiten benötigten Anne und Ann einen männlichen Diener. Fürs Ankleiden und Frisieren, für das Waschen ihrer Wäsche, das Ausbessern der Kleider usw. war ihnen die Hilfe einer Kammerjungfer unverzichtbar. Auf ihren Reisen hatten Anne und Ann schlechte Erfahrungen mit englischen Dienstboten gemacht, die mangels Sprachkenntnissen im Ausland kaum zurechtkamen. Per Annonce fanden sie für ihre große Reise das Ehepaar Groß. Sie war zwar Engländerin, er aber war Deutscher. Deutsch wurde damals im Norden eher verstanden als Englisch oder Französisch, das die beiden Damen als einzige Fremdsprache beherrschten, Anne besser, Ann schlechter.

Ihre Ausrüstung stellten sie gemäß ihrer früheren Erfahrungen zusammen. Sie packten Kleidung, Schuhe und Hüte sowohl für Fußmärsche ein als auch für festliche Gelegenheiten, für Sommerhitze und Winterkälte. Bücher kamen in eine eigene Holzkiste, eine andere enthielt einen Spirituskocher, einen Kochtopf, etwas Geschirr und Besteck. Für das Tagebuch- und Briefeschreiben unterwegs besaß Anne einen eigenen Reiseschreibtisch, der Papier, Tinte und Sandbüchse, Briefmesser und Lineal bereithielt sowie eine Uhr und ein Thermometer. Die beiden Messgeräte waren für sie unverzichtbar. Seit vielen Jahren maß Anne Lister bei all ihren Tätigkeiten die Zeit, beim Kirchgang wie beim Sex. Jeden Tagebucheintrag begann sie mit der Schilderung des Vorabends: wann genau und wie oft sie und ihre Partnerin sich geliebt hatten (mit Ann hieß es allerdings oft: Kein Kuss9). Danach maß sie die Außentemperatur und notierte, wie am Morgen das Wetter war.

Von Halifax fuhren Anne und Ann zunächst nach London, wo sie ihre Ausrüstung noch um einen Kompass, ein kleines Fernrohr und einen besonders präzisen watch-chronometer ergänzten. Diese Uhr sollte auf der ganzen Reise stets die Greenwich-Zeit anzeigen. Ihre Alltagsuhr stellte Anne Lister während der Reise auf die jeweils lokale Zeit ein, die noch überall dem Sonnenstand folgte; erst im Eisenbahnzeitalter wurde die Uhrzeit in den Territorialstaaten vereinheitlicht. Anne Lister unternahm daher buchstäblich eine Zeit-Reise: Die hingebungsvolle Sorgfalt, mit der sie einerseits die Greenwich-Zeit hütete und andererseits die lokale Zeit maß, machte ihre Reise zu einem unentwegten Abgleich zweier Zeiten.

In London führte Anne Lister bei Hammersley an der Pall Mall ein Konto. Das große Bankhaus stellte ihnen Kreditbriefe im Wert von je 25 £ aus, die von Banken in größeren Städten in die lokale Währung umgetauscht werden konnten. Ihre Bank in Halifax war angewiesen, Annes Londoner Konto regelmäßig auszugleichen. Hammersley besorgte ihnen auch einen Reisepass. Das war damals noch kein 32-seitiges Büchlein »Für alle Länder«, sondern ein loses Blatt, vom Foreign Office ausgestellt für Anne Lister, meine Nichte, Mademoiselle Ann Walker10 und ihre Diener, und galt nur für diese Reise und die Länder des Nordens und Russland.11 Dieses Blatt wurde von einem Mitarbeiter der Bank den jeweiligen Botschaften in London vorgelegt, die mit einem visé die Einreise erlaubten. Diese »Sichtvermerke« kosteten die Reisenden am wenigsten Zeit und Einsatz.

Visum

Ein Visum für Russland sei nur schwer zu bekommen, warnen verschiedene Online-Reiseagenturen. Auf der Homepage der Russischen Botschaft lese ich nach, was für ein Touristenvisum verlangt wird:

1. Reisepass

2. Visumantrag (mit Link)

3. Ein Passbild, Format 3,5 × 4,5 cm

4. Krankenreiseversicherungsnachweis

5. Garantie der Rückkehrwilligkeit

6. Einladung bzw. Reisebestätigung des russischen Reiseveranstalters mit folgenden Angaben: Nummer der Reisebestätigung mit der Schreibmaschine oder typographisch lesbar angegeben; Reiseziel und Aufenthaltsort; Adresse des Reiseveranstalters und seine Ref. Nr. gemäß der Liste der touristischen Organisationen, die Reisen nach Russland veranstalten; zusätzliche Angaben. Eine solche Reisebestätigung wird von einem bevollmächtigten Mitarbeiter des Reiseveranstalters unterschrieben und mit einem Stempel dieses Reiseveranstalters versiegelt.

Aha. Deshalb also hat sich ein unseriöser Markt etabliert, der Visa gegen Geld verspricht. Aber jetzt ist mein Ehrgeiz geweckt. Ich möchte ein Visum ohne Zwischenhändler bekommen, direkt vom russischen Generalkonsulat in Bonn. Reisepass und Passbild verstehen sich von selbst. Die Reisekrankenversicherung muss eine Deckung von mindestens 30 000 € haben und wird nur von denjenigen ausländischen Versicherungsunternehmen akzeptiert, die den Rückversicherungsvertrag mit einem russischen Versicherungsunternehmen abgeschlossen haben. Oh. Ich rufe bei meiner Auslandskrankenversicherung an, die ich für 8 € jährlich mitlaufen lasse. Für ein Visum bräuchte ich so einen komischen Nachweis – da unterbricht mich mein Gesprächspartner lachend: »Ja, ja, kennen wir schon, Kuba und Russland! Kein Problem, schicken wir Ihnen zu.«

Als nächstes nehme ich mir die Garantie der Rückkehrwilligkeit vor. Die sind ja lustig. Wie kann ich beweisen, dass ich in Russland weder Sozialhilfe noch Asyl beantragen möchte? Soll ich einen bösen Brief über die simulierte Demokratie Putins schreiben? »Hab dich nicht so. Diese Bestimmungen spiegeln nur, was Deutschland von Russen für ein Visum verlangt; im Diplomatensprech heißt das: Prinzip der Gegenseitigkeit.« Tatsächlich müssen Russen noch viel mehr beibringen. Uns bleibt immerhin erspart, die Finanzierung der Reise nachzuweisen. Nun, den Punkt mit der Rückkehrwilligkeit lasse ich erst einmal offen.

Den Antrag kann man nur online ausfüllen. Und nur auf Englisch. Komisch. Wie macht das die russlanddeutsche Oma? Sorgfältig gebe ich meine Passnummer und alle persönlichen Daten ein, frühere visumpflichtige Auslandsreisen und welche Orte wir in Russland besuchen wollen. Was, wenn wir von der geplanten Route spontan abweichen wollen? Sind wir dann illegal im Land? Ich muss auch angeben, dass ich weder Verwandte in Russland habe noch je aus Russland ausgewiesen worden bin. Tippe ich das eigentlich direkt beim KGB ein? Als unüberwindbar erweist sich der Punkt Einladung/Reisebestätigung des russischen Reiseveranstalters. Wir folgen keiner Einladung und haben keine Wolgakreuzfahrt gebucht. Doch ohne die Reference Nr. und die Confirmation Nr. kann man nicht auf die nächste Seite klicken, kann nicht ausdrucken und unterschreiben. Na toll. Ist das wie in der ehemaligen UdSSR? Kann man gar nicht privat nach Russland reisen?

Das Generalkonsulat in Bonn gibt auf seiner Homepage zwei Telefonnummern an, für Gespräche auf Deutsch bzw. auf Russisch. Unter der ersten Nummer antwortet eine Frau auf Englisch. Ich erkläre ihr mein Problem mit den Kästchen und den Zahlen im Online-Antrag. Sie versteht, was ich sage, nicht aber mein Problem. Schließlich bittet sie mich, in der Leitung zu bleiben, und geht aus dem Raum. Nach fünf Minuten meldet sich ein Mann auf Deutsch. Ich schildere erneut mein Problem mit den Kästchen im Online-Visum-Antrag. »Kommen Sie zu uns.« Ich zögere. Im Konsulat in Bonn zig Stunden warten, um dann mit einem »Njet« abgefertigt zu werden, weil ich nicht die richtige Confirmation Number dabeihabe? Will der Bestechungsgeld von mir, wenn ich erst einmal da bin? »Aber auf der Homepage der Russischen Botschaft steht, dass Termine grundsätzlich nur über die Online-Terminvergabe vereinbart werden können.« Mein Gesprächspartner seufzt. Er begreift, dass er es mit einem schweren Fall zu tun hat, mit einer Deutschen, die sich genau an die Vorschriften halten möchte. »Gehen Sie zu Reisebüro.« »Ins Reisebüro? Welches Reisebüro?« »Egal. Dort bekommen Sie Buchungsnummer.«

Das Generalkonsulat kann mir also auch nicht sagen, wie die Kästchen in dem Online-Antrag auszufüllen sind. Muss ich mich doch an so einen unseriösen Internet-Anbieter wenden? Da fällt mir ein, dass auf meinem Weg zum Schwimmbad »Besch Reisen« liegt: »Ihr Spezialist für die GUS«. Ich rufe dort an. Eine quirlige Frau antwortet freundlich. Ich schildere ihr mein Problem mit den Kästchen. »Kommen Sie einfach zu uns, wir erledigen das für Sie. Wir brauchen nur Pass, Passbild und Reisekrankenversicherung. Kostet 85 €.« Das sind nur 5 Euro mehr als die Russische Botschaft verlangt. »Ja, aber wie ist das mit der Bescheinigung meiner Rückkehrwilligkeit?« Schallendes Gelächter am anderen Ende der Leitung. »Die garantieren wir Ihnen!«

Das Ladenlokal des Reisebüros Besch ist klein. Aus dem Radio plärrt Russen-Pop mit harten, schnellen Beats. Ein älterer Mann sitzt hinter einem Schreibtisch. Er kümmert sich nicht um uns. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Radio leiser zu stellen?« Der Mann blickt uns ausdruckslos an, dann dreht er den Ton ab. Er sagt nichts. »Ich hatte gestern angerufen und, ich glaube, mit Ihrer Kollegin gesprochen«, sage ich und hoffe, die nette Frau vom Telefon gestern könne aus einem hinteren Raum hervortreten. Er sagt nichts. »Wegen dem Visum. Wir wollen nach Russland.« Er sagt immer noch nichts. »Äh, ist es richtig, dass wir hier einen Antrag auf ein Visum stellen können?« Schließlich antwortet er mit hartem russischem Akzent: »Reisepass. Foto. Krankenversicherung.« Wir händigen ihm alles aus. »Wann?« »Wir fliegen am 7. Juni. Die vier Wochen für ein Touristenvisum.« Stumm schreibt er die Daten auf einen gelben Klebezettel. »Und die Bescheinigung unserer Rückkehrwilligkeit?« Er versteht nicht. »Müssen wir keinen Antrag unterschreiben? Ich habe im Internet zwei Antragsformulare für uns angelegt, aber ich komme da nicht weiter, mir fehlt die Confirmation Number. Ich habe die Passwörter dabei, vielleicht könnten wir die Anträge jetzt zusammen ausfüllen?« Er blickt mich an. Dann wählt er eine Telefonnummer und reicht mir den Hörer. Am anderen Ende meldet sich die Frau von gestern, an ihrem freien Tag nicht mehr so nett wie gestern. »Nein, nein, Sie müssen keinen Antrag unterschreiben, wir machen alles. Dauert zwei Wochen.« »Ohne Unterschrift?« »Alles gut so.« Der Mann legt unsere Pässe in einen Aluminiumkoffer. Wir erhaschen einen Blick auf vielleicht einhundert andere weinrote deutsche Pässe dort. Dann stehen wir wieder auf der Straße.

»Sind wir eigentlich blöd? Wir haben dem großen Schweiger da unsere Reisepässe ausgehändigt und keinen Beleg, nichts dafür bekommen. Wir haben der russischen Mafia einfach so unsere Pässe geschenkt!« »Allerdings haben wir auch keine 85 € bezahlt.« »Vielleicht sollten wir die Polizei rufen? Die ganzen gestohlenen Reisepässe in dem Koffer da?« Susette lacht. »Weißt du was? Wir waren gerade schon in Russland.«

Fußstapfen

Eigentlich hatten Anne Lister und Ann Walker eine Schiffspassage von London nach Hamburg gebucht. Doch als ihre Reisekutsche um Mitternacht des 2. Juli 1839 auf das Dampfschiff gehoben werden sollte, überkam beide Wasserscheu.12 Sie entschieden sich daher für den kürzesten Seeweg, Dover-Calais, der ihnen jedoch einen wesentlich längeren Landweg bescherte. Um den Fehlstart wiedergutzumachen, eilten sie ohne Zwischenhalt durch Nordfrankreich und die Niederlande. Auf der schlechten Straße im Königreich Hannover, dem heutigen Niedersachsen, konnten wir nicht schneller als Schritt fahren. Torf, Heide, Sand, Moor – muss düster und trostlos im Winter aussehen. Sand, Sand, nichts als Sand.13 Über Hamburg erreichten sie am zehnten Tag ihrer Reise Kiel, von wo aus sie in 21 Stunden nach Kopenhagen übersetzten.

Erst in der dänischen Hauptstadt nahmen sie sich Zeit für Besichtigungen. Gewissenhaft beherzigten sie die Empfehlungen eines Buchs, das im April in London frisch veröffentlicht worden war: A Handbook for travellers in Denmark, Norway, Sweden, and Russia, being a guide to the principal routes in those countries, with a minute description of Copenhagen, Stockholm, St. Petersburg, and Moscow. Es war der erste Reiseführer im heutigen Sinn, der diese Gegenden beschrieb. Der Verleger John Murray III. konkurrierte in den kommenden Jahrzehnten mit Karl Baedeker und dessen Handbüchern für Schnellreisende. Dampfschiffe, die auch flussaufwärts fahren konnten, etwas später die Eisenbahn und derlei Handbücher bahnten dem modernen Reisen den Weg. Reise- und Länderbeschreibungen gab es schon in der Antike. Seit der Frühen Neuzeit schilderten die Autoren zumeist eine ganz bestimmte Reise. »T. D. W.« erzählte in Murrays Handbook zwar auch von seinen Erlebnissen, versuchte aber vor allem, anderen Fernwehgeplagten die Planung und Durchführung einer Reise zu erleichtern. Fast genauso viel Raum wie die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten nehmen praktische Hinweise ein: auf Fährverbindungen, auf die Zustände von Straßen und Brücken, auf Unterkünfte, Entfernungen zwischen den Posthaltereien, Reisezeiten, Kosten für Mietpferde, Währungen und Wechselkurse, Münzen und Banknoten. Anne Lister und Ann Walker folgten dem Handbook wie der Bibel und machten auf ihrem Weg durch Skandinavien alle empfohlenen Abstecher, etwa von Göteborg nach Oslo oder eine Tour durch Mittelschweden via Uppsala nach Falun und über Sala zurück nach Stockholm. Willst du unsere Spuren genauer verfolgen, kauf das »Handbook for Northern Europe«, empfahl Anne Lister ihrer langjährigen Geliebten Mariana Lawton. Stell dir alles weniger entbehrungsreich, gefährlich und unannehmlich vor, dann bekommst du einen guten Eindruck von unserem Fortkommen.14

Zur Vorbereitung ihres Aufenthalts in Russland hatte Anne Lister jedes geographische, historische oder politische Werk gelesen, das sie in englischer oder französischer Sprache bekommen konnte, etwa Augustus Bozzi Granvilles umfangreiches Kompendium St. Petersburg (1828) und G. Lecointe de Laveaus ebenfalls zweibändige Description de Moscou (1835). Fleißig fertigte Anne Exzerpte an, um später vor Ort das Wichtigste rasch in ihren eigenen Aufzeichnungen nachschlagen zu können und um ab Moskau, wenn ihre Reise abenteuerlicher werden würde, die schweren Bücher nicht mehr mitschleppen zu müssen.

Ich mache es genauso. Um unsere Reise in Anne Listers Fußstapfen zu planen und nachher vor Ort alles schnell parat zu haben, exzerpiere ich aus ihren Aufzeichnungen Straßennamen, ihre Kommentare zu Sehenswürdigkeiten und alles, was ihr auffiel. Außerdem lese ich die Werke anderer Russlandreisender, um Annes Urteile einordnen und ihre Erfahrungen vergleichen zu können. Ich beginne, etwas unnötig, aber vergnüglich, mit den beiden Urwerken der Russlandkunde, Das alte Russland (Rerum Moscoviticarum commentarii, 1549) von Sigmund von Herberstein, einem Diplomaten in Habsburger Diensten, und der Vermehrten Newen Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse (1656) von Adam Olearius. Auch später waren es vornehmlich Deutsche aus dem Reich und dem Baltikum, die Beschreibungen Russlands vorlegten; das lag an den Zaren, die Gelehrte bevorzugt aus Deutschland an ihren Hof holten (wie auch ihre zukünftigen Ehefrauen). Als Anne Lister und Ann Walker Russland bereisten, wurden die deutschstämmigen Professoren angehalten, endlich auf Russisch zu unterrichten. Im Jahr ihrer Reise war auch der Naturforscher Johann Heinrich Blasius in Russland unterwegs (Reise im Europäischen Rußland in den Jahren 1840 und 1841, veröffentlicht 1844); er sollte später in Braunschweig den Botanischen Garten und das Naturhistorische Museum gründen. Als noch ergiebiger erweisen sich für mich die Publikationen von Karl Heinrich Emil Koch (1809–1879). Der junge Privatdozent an der Universität Jena, zweifach promovierter Arzt und Botaniker, hoffte, durch eine außerordentliche Reise die Meriten für eine wissenschaftliche Karriere zu erwerben. Ausgestattet mit einer Empfehlung seiner russlandstämmigen Landesherrin, Großherzogin Maria Paulowna von Sachsen-Weimar, bereiste er von 1836 bis 1838 Russland und den Kaukasus oft auf denselben Wegen wie Anne Lister und Ann Walker. Schon von unterwegs veröffentlichte er »Briefe, geschrieben auf einer Reise nach dem Kaukasus«. 1842/43 erschien seine Reise durch Rußland nach dem kaukasischen Isthmus in den Jahren 1836, 1837 und 1838 in zwei Bänden, die viele Beobachtungen Anne Listers bestätigen, ergänzen oder aus deutscher oder männlicher Sicht anders bewerten. Dabei glaubte er, die Natur hat auch wirklich Rußland zu stiefmütterlich behandelt, als daß ein Nichtrusse es zur Bestimmung einer Vergnügungsreise wählen könnte. Nur die neu acquirirten Länder, Kaukasien, die Krim, Bessarabien, die Gegenden am Ural und Sibirien besitzen reizende Gegenden und werden gewiß den Naturfreund nicht unbefriedigt scheiden lassen. Ich bin fest überzeugt, daß auch noch die Zeit kommt, wo es den Kaukasus zu bereisen ebenso Mode wird, als jetzt es zum guten Geschmack gehört, die Schweiz oder Italien gesehen zu haben, doch erst muß auch dort die Cultur mehr Wurzel gefaßt haben.15

Schwulenmorde und Song Contest

»Hast du eigentlich Lust, nach Russland zu fahren?« »Du meinst wegen Syrien und Assad, wegen der Ost-Ukraine und der Krim?« »Und der beeinflussten Präsidentschaftswahl in den USA, den Hackerangriffen auf den Bundestag, Putins Unterstützung für Marine Le Pen, wahrscheinlich für die AfD und und und.« »Diktaturen muss man bereisen, solange sie noch stabil sind. Wer weiß, wie lange sich die Leute in Russland noch das jetzige Regime gefallen lassen. Die sind doch auch nicht blöd da.«

Während wir uns für die Reise auf den Spuren von Anne Lister und Ann Walker rüsten, muss sich die Journalistin Jelena Milaschina verstecken. Sie hat in der Nowaja Gaseta, der einzigen noch unabhängigen Zeitung Russlands, berichtet, dass sogenannte »Sicherheitskräfte« in Tschetschenien über hundert Schwule verhaftet und mindestens drei ermordet haben. Ramsan Kadyrow, der von Putin gestützte autoritäre Machthaber der autonomen Republik im Nordkaukasus, verkündet, man könne niemanden verhaften, den es in Tschetschenien nicht gebe. Die staatlich angeordneten Morde an schwulen Tschetschenen nutzen prowestliche Kräfte in der Ukraine, um sich von der russischen Führung zu distanzieren, als im Mai 2017 der Eurovision Song Contest in Kiew stattfindet. Schon der Sieg der Sängerin Jamala im Vorjahr galt als Coup gegen Russland: Ihr Lied »1944« handelte von der Deportation der Krim-Tataren durch Stalin. In diesem Jahr stellt die Ukraine den Wettbewerb unter das Motto Celebrate Diversity: Schwule, die den verstaubten Grand Prix Eurovision de la Chanson als Camp geadelt und verjüngt haben, sollen sich willkommen fühlen. Jemand vom Organisationskomitee hat die famose Idee, den monumentalen Bogen (60 Meter im Durchmesser), der einstmals die russisch-ukrainische Freundschaft feierte, in den Farben des Regenbogens zu bemalen. Die Stadtverwaltung willigt ein und schickt Arbeiter mit Farbtöpfen zu dem Denkmal, unter dem zwei sowjetische Heroen Hand in Hand eine wehende Fahne tragen – der Regenbogen über ihnen macht sie zum schwulen Paar, in ihrem Pathos gar zu Kämpfern für die Homo-Ehe. Doch Schlägertrupps der Kiewer Nationalisten vom »Rechten Sektor« vertreiben die Anstreicher. Kurz vor der Ankunft der internationalen Gäste wird Celebrate Diversity zu einer Zerreißprobe für die Stadt. Der Bürgermeister von Kiew, Ex-Boxweltmeister Witali Klitschko, überrascht mit einem Kompromissvorschlag: Was schon regenbogenbunt ist, soll so bleiben, was noch grau ist, mit traditionellen ukrainischen Stickmustern bemalt werden. Die Nationalisten sind zufrieden. Sagt ihnen keiner, dass ein Regenbogen mit Blümchen noch entschiedener Camp ist? Chapeau, Herr Klitschko, subversiver geht es nicht! Leider klärt ihn jemand auf. Der Regenbogen bleibt unvollendet.

Einreise

Trotz der Visa in ihrem Reisepass benötigten Anne Lister und Ann Walker an jeder Grenze zusätzlich Aus- und Einreisescheine, jeweils gebührenpflichtig: zwischen Dänemark und Schweden und zwischen Schweden und Finnland, das seit 1809 als Großfürstentum zu Russland gehörte. Nach 30 Stunden tapfer ertragener Überfahrt von Stockholm nach Åbo betraten Anne Lister und Ann Walker am Sonntag, den 8. September 1839 um 6:30 Uhr das Reich des Zaren. Inmitten von finnischen Schweden und lutherischen Finnen hatten sie jedoch noch nicht das Gefühl, in Russland angekommen zu sein. Russisch war hier nur die Währung. Unterbrochen von einem zweitägigen Aufenthalt in Helsinki – die bezaubernde neue Hauptstadt16– fuhren sie in gemächlichem Tempo die finnische Südküste entlang. Das Handbook war in allzu halsbrecherischer Eile unterwegs, meinte Anne; wir nahmen uns Zeit, ließen es uns gutgehen und schliefen und aßen à merveille.17 Schließlich erreichten sie das an drei Seiten vom Meer umgebene Wyborg. Hier bekommt man einen ersten Geschmack von den wahren Regularien der russischen Polizei. Man muss persönlich vor dem Polizeihauptmann erscheinen und, eine gemeinsame Sprache vorausgesetzt, die üblichen Fragen beantworten. Wo wurden Sie geboren? Waren Sie schon einmal in Russland? Was haben Sie in Russland vor? Der damals entwickelte Fragenkatalog wird nahezu identisch auch heute noch verwendet. Ob das vom Handbook empfohlene Mittel bei unerklärlichen Schwierigkeiten oder unverhältnismäßigen Wartezeiten auch noch hilft? Bestechung ist gang und gäbe, und man kann einfach und sehr genau vorher den Betrag erfahren, der alle Bedenken eines jeden Beamten in Luft auflösen wird. Anne Listers erster russischer Pass in kyrillischer Schrift mit Datum des julianischen Kalenders, der damals dem gregorianischen um zwölf Tage hinterherhinkte, erlaubte ihnen die Reise bis Sankt Petersburg.

Hinter Wyborg wurde die bislang passable Straße furchtbar. Die Pflastersteine waren von geradezu schreckenerregenden Ausmaßen und überaus uneben. Sie bilden tatsächlich eine Folge von kleinen Hügeln: Jeder Auf- und Abstieg verursacht einen gewaltigen Stoß. Zu beiden Seiten war die Straße ungepflastert, doch der Schlamm war so tief, man kam unmöglich durch.18 Anne Lister schrieb den Lieben zu Hause zur Beruhigung, das Handbook übertreibe hier, doch tatsächlich fühlte sie sich an die Strecke zwischen Hamburg und Lübeck erinnert, ihre bis dato übelste Straßenerfahrung. Nach rund 100 Kilometern erreichten sie schließlich in Bjelo-Ostrow die Zollgrenze. All ihre Kisten, Koffer und Taschen wurden geöffnet, jedes Kleidungs- und Ausrüstungsstück vom Zöllner prüfend in die Hand genommen. Verboten war die Einfuhr von russischen Banknoten (um Falschgeld fernzuhalten), von versiegelten Briefen, Lotteriescheinen, Spielkarten und Büchern, die der Zensur unterlagen. Anne Listers Bücherkiste weckte daher den Argwohn der Zöllner. Zu Unrecht – Anne Lister war konservativ bis ins Mark: Church, King, and Country. Sozialrevolutionäre Schriften führte sie nicht mit. Dennoch ließen die Beamten Anne Lister alle Bücher nur unter Vorbehalt: Sie verlangten von ihr, die Titel auf ein Blatt Papier zu schreiben, das sie zu siegeln hatte. Diese Liste überstellten sie der Zensurbehörde in Sankt Petersburg, bei der Anne innerhalb von sechs Wochen vorstellig werden musste. Stand keines ihrer Bücher auf dem Index, bekam sie die Liste mit Prüfstempel zurück. Führte sie verbotenes Schrifttum mit sich, würde sie es abgeben müssen. Der Vorgang dauerte bis in die Nacht, und sie waren gezwungen, an der Grenze den Morgen abzuwarten.

Ich packe in meinen Koffer lauter Material, das unter den Gay-Propaganda-Paragraphen fallen könnte. Dabei handelt es sich um ein Gesetz der Russischen Föderation, das sogenannte Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen gegenüber Minderjährigen seit dem 30. Juni 2013 unter Strafe stellt. Das Auswärtige Amt warnt in seinen Reisehinweisen: Durch das Gesetz drohen auch Ausländern bei Weitergabe von Informationen, öffentlicher Demonstration und Unterstützung von Homosexualität Geldbußen in Höhe von bis zu 100 000,– Rubel, bis zu 15 Tage Haft und die Ausweisung aus der Russischen Föderation. Hm. Unterstütze ich als Lesbe Homosexualität? Demonstriere ich sie, wenn ich mit meiner Frau einreise? Die Weitergabe von Informationen über Homosexualität ist ein erklärtes Ziel meiner Reise: Ich werde in Sankt Petersburg und Moskau Vorträge über Anne Lister halten. Außerdem habe ich einen Dokumentarfilm der BBC dabei, The real Anne Lister von Sue Perkins, zwei Exemplare meines Romans Rosenstengel (mit einer schwulen und einer lesbischen Liebesgeschichte) und zwei Exemplare meiner Doppelbiographie Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens-Schaaffhausen. Reine Propaganda also. Schenke ich sie einer Minderjährigen, mache ich mich in Russland strafbar. Wie gut sprechen die Zöllner am Flughafen in Sankt Petersburg deutsch? Wurde mein Computer gehackt? Stehe ich schon auf einer Liste von in Russland unerwünschten Personen? Und im Pass dieses dubiose Visum des Reisebüros Besch. »Was, wenn sie mich gar nicht reinlassen?«

Homosexualität ist in Russland nicht strafbar. Jedoch ist die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der russischen Gesellschaft gering, warnt das Auswärtige Amt; gewalttätige Übergriffe, insbesondere bei öffentlichem Zeigen gegenseitiger Zuneigung, sind nicht auszuschließen.19 Am Vorabend unseres Abflugs nach Sankt Petersburg legen wir unsere Trauringe ab. Wir wollen nicht als Paar erkannt werden. Trotz unserer verdächtigen Kurzhaarschnitte. Hinter Annes und Anns ungleichen Trauringen vermutete kein Zeitgenosse einen Bund. Sie reisten als Tante und Nichte. Also verabreden wir: Wenn uns jemand dumm kommt, geben wir uns als Cousinen aus, verwandt über unsere Mütter, daher die unterschiedlichen Nachnamen. Sollten wir nach unseren Männern gefragt werden, wollen wir vorgeben, die seien so furchtbar beschäftigt. »Nicht wahr, Cousinchen?«

Als Tribut an Anne und Ann fliegen wir via Helsinki und genießen den Blick auf die Küstenlinie Finnlands, die die beiden entlangfuhren. Bei der Einreise am Flughafen in Sankt Petersburg läuft alles wie am Schnürchen. Die Grenzbeamtin (türkisfarbener Lidschatten) erwidert hinter dem Panzerglas meinen Gruß und lächelt, als sie mir den Pass mit dem Einreisestempel zurückgibt. Das Visum von Besch-Reisen ist also echt! Bei der Gepäckausgabe kommen unsere Koffer als erste, und beim Zoll interessiert sich niemand für uns. Hinter der Absperrung bei der Ankunft strahlen uns zwei junge Frauen an, in der Hand ein Schildchen mit dem Logo des lesbisch-schwulen Filmfestivals Bok-o-Bok. Die Veranstalterinnen dieses Festivals organisieren einen meiner geplanten Vorträge zu Anne Lister. Julia und Vera sprechen beide sehr gut Englisch und helfen uns, einen Geldautomaten zu finden und die richtige Wahl unter den russischen SIM-Karten zu treffen. Dann rufen sie ein seriöses Taxi. Es ist ein milder, sonniger Abend in den berühmten weißen Nächten von Sankt Petersburg. Wir gehen noch zusammen essen. Vera ist 32 Jahre alt, kommt ursprünglich aus Norilsk in Sibirien und erteilt Privatunterricht in Englisch. Julia ist 22 Jahre alt, stammt aus Uljanowsk an der mittleren Wolga und studiert Internationale Beziehungen. Susette und ich verständigen uns mit Blicken: Sie sind kein Paar. Anne Lister hätte es an dem Abend geschafft, unter Anns Augen mit beiden gleichzeitig zu flirten.

Sankt Petersburg

Nachdem ihr Pass nochmals an der Stadtgrenze kontrolliert worden war, fuhren Anne Lister und Ann Walker am 17. September 1839 um 16:26 Uhr bei strahlendem Sonnenschein auf der Troizki-Brücke über die breite glitzernde Newa. Von der damals noch schwimmenden Brücke auf Pontons hatte (und hat) man einen herrlichen Blick auf die mit Prachtgebäuden bebauten Kais dieser auf mehreren Inseln gelagerten Stadt der Paläste.1 Karl Koch, der Botaniker aus Jena, der drei Jahre vor Anne und Ann hier war, nannte Petersburg die schönste Stadt Europa’s und wohl der ganzen Erde.2

Wie alle englischen Reisenden stiegen Anne Lister und Ann Walker im Hotel von Mrs Wilson ab. Kaum ist man angekommen, wird Ihr Pass dem Polizeibeamten des ›Quartals‹ überstellt und registriert. Das ist bis heute so. Jede Hotelrezeption fertigt sogleich eine Kopie des Passes für die Behörden an. Anderntags bekommt man einen Zettel mit seinen Anmeldedaten, so wichtig wie der Pass, mahnt das Auswärtige Amt. Anne Lister musste sich selbst darum kümmern. Im Fremdenbüro wurden ihr noch einmal dieselben Fragen wie in Wyborg gestellt. Sie erhalten von dem Beamten einen kleinen Zettel, den Sie zu dem Amt am Platz des Großen Theaters bringen, und erhalten dafür einen Aufenthaltsschein mit einer treuen und wahren Beschreibung Ihrer Größe, Gesichtszüge usw., der fünf oder zehn Rubel kostet