Ins Land der Sagas und Geysire - Ethel Brilliana Tweedie - E-Book

Ins Land der Sagas und Geysire E-Book

Ethel Brilliana Tweedie

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Beschreibung

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Schweiz ein bevorzugtes Reiseziel der mondänen, englischen Oberschicht. Halb London weilt in Sils Maria und St. Moritz. Mittendrin: Ethel Tweedie. Doch der 24-Jährigen werden die Alpen auf Dauer zu langweilig. Den scherzhaften Vorschlag eines Freundes, einfach mal "ans Ende der Welt" zu reisen, nimmt Tweedie ernst. Am 31. Juli 1886 bricht sie zusammen mit ihrem Bruder und einer Gruppe von jungen Leuten auf einem Schiff der "Icelandic Steamship Company" nach Island auf. Ein abenteuerliches Unternehmen! Denn dieses Island gilt als unwirtliche "terra incognita". Angetan mit einem viktorianischen Sergekleid und einem dicken Pelzmantel reitet sie wie die Männer (nicht im Damensitz – welch Affront gegen die guten Sitten!) quer über die Insel. Sie macht Bekanntschaft mit einheimischen Schriftstellern und Philosophen, aber auch mit einfachen Leuten, bejubelt die "fantastische wilde Landschaft", die Vulkane, die schneebedeckten Berge, die Geysire. Was die ungestümen Abenteurer auf der Insel im hohen Norden und im Reich der Elfen und Wikinger erleben und entdecken, hält Ethel Tweedie in ihrem Tagebuch fest. Zwei Jahre später lässt sie es veröffentlichen. Ein Publikumserfolg!

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Ethel Brilliana Tweedie wurde am 1. Januar 1862 in London geboren. Ihr Vater, George Harley, gab ihr den Namen »Brilliana« nach einer im Jahr 1598 geborenen Ahnin, der »einzigen Frau namens Harley, die mit ihrem Schreiben den Ruhm der Familie mehrte«. Auch Ethel mehrte den Ruhm. Sie schrieb für Tageszeitungen und Magazine, wurde eine der beliebtesten Reiseschriftstellerinnen ihrer Zeit. Tweedie machte sich auch als Fotografin und Malerin einen Namen. Sie war eine entschiedene Verfechterin des Frauenwahlrechts und plädierte für die Gleichberechtigung. Am 15. April 1940 starb sie in London.

Ebba D. Drolshagen hat in Frankfurt/Main, Chicago und Oslo studiert und seither zahlreiche Romane und Sachbücher aus dem Englischen und Norwegischen übersetzt. Daneben ist sie Autorin mehrerer Sachbücher, darunter »Wie man sich allein auf See einen Zahn zieht« (Corso 2015) und »Gebrauchsanweisung für Norwegen« (Piper 2014).

Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie lebt und arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist die Herausgeberin der Reihe DIE KÜHNE REISENDE.

Ethel B. Tweedie

Ins Land derSagas und Geysire

Ein wilder Ritt durch Island

Aus dem Englischen und mit einem Vorwortvon Ebba D. Drolshagen

Ethel B. Tweedie (1867–1970)

»Prächtig und erhaben strahlte Islands Zeugnis,Licht des Nordens in tiefer Finsternis rundum.«

James Montgomery

INHALT

DAS LEBEN DER ETHEL B. TWEEDIEVORWORT VON EBBA D. DROLSHAGEN

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGEVON ETHEL B. TWEEDIE

I.UNSER AUFBRUCH

II.AUF SEE

III.LAND IN SICHT

IV.AKUREYRI

V.ANMERKUNGEN ZUR GESCHICHTE

VI.SAUĐÁRKRÓKUR – REITEN

VII.REYKIR

VIII.REYKJAVÍK

IX.THINGVELLIR

X.DIE GEYSIRE

XI.EIN BAUERNHAUS

XII.VULKANE

Sonnenschein ist der Gesundheit förderlicherals Pillen und Elixier,und Reisen in fremde Länder sind einmentales Tonikum:sie mögen die Taschen leeren,doch sie nähren den Geist.

Ethel Brilliana Tweedie

DAS LEBEN DER ETHEL B. TWEEDIE: REGELN BEFOLGEN UND (ZUGLEICH) GEGEN SIE VERSTOSSEN

Eine Reise von England nach Island ist 1886 ein Abenteuer – zumal, wenn die Reisenden junge Frauen wie Ethel und ihre Freundin sind. Doch selbst für sie war es damals kein großes Abenteuer mehr und schon gar kein Wagnis, denn sie reisten in Gesellschaft von drei jungen Männern. Aber eine solche Unternehmung war gerade ungewöhnlich genug, um aufregend zu sein und in der Londoner High Society für Aufsehen zu sorgen: Ferien in Island, das war etwas ganz Neues und darum sehr chic.

So steht denn am Anfang der Reise die schwerwiegende Frage, wohin die kleine Freundesschar nach der turbulenten Londoner Saison fahren könnte. Selbstverständlich würden sie verreisen, alle verreisten im Herbst, doch die üblichen Ziele schienen den jungen Wilden sterbenslangweilig. Sollten doch die gesetzten Damen und Herren wie jedes Jahr in die Schweiz oder nach Deutschland fahren, die vierundzwanzig Jahre alte Ethel Brilliana Harley war schon oft auf dem Kontinent gewesen, sie hatte sogar in Deutschland die Schule besucht. Sie, ihr Bruder und ihre Freunde wollten etwas mehr Aufregung.

Dass Ethel den scherzhaft gemeinten Vorschlag einer Island-Tour aufgriff, beweist Mut, Unternehmungsgeist und leises Aufbegehren, wie sie ihn in die Tat umsetzt, zeigt, dass sie die Konventionen und Verhaltensregeln ihrer Herkunft keine Sekunde in Frage stellt: Eine junge Frau ihres Standes verbringt den Herbst keinesfalls in London, aber sie will nicht mehr nach Bad Homburg oder Sils Maria, schon gar nicht in Begleitung ihrer Eltern. Sie will praktisch ans Ende der Welt, aber als Unverheiratete selbstverständlich nicht allein, sondern in sittsamer Begleitung ihres Bruders. Doch außer ihm und einer Freundin sind noch zwei junge, ledige Männer dabei, mit denen sie nicht verwandt ist. Das war durchaus ein wenig risqué. Und dann war da noch die skandalöse Sache mit dem Reiten, auf die wir später zu sprechen kommen werden. Die erstaunliche Kunst, vorgegebene Regeln strikt zu befolgen und zugleich gegen sie zu verstoßen, sollte zu einem Kennzeichen ihres Lebens werden.

Über ihre Reisegefährten, die beiden Männer sowie die offenbar gleichaltrige Freundin, erfahren wir erstaunlicherweise so gut wie nichts. Dabei war vor allem der »A. L. T.« genannte Mitreisende nicht irgendwer: Alec Leslie Tweedie, dreizehn Jahre älter als Ethel, hatte ihr seit Jahren unermüdlich Heiratsanträge gemacht, aber sie wollte ihn nicht. So war sie verständlicherweise außer sich vor Empörung, als er bei Beginn der Reise unangemeldet am Kai in Leith auftauchte, um sich – gegen Ethels Willen – der Gruppe anzuschließen. Sie drohte, nicht an Bord zu gehen, falls er mitführe, er gab sein Ehrenwort, sein Werben für die Dauer der Reise auszusetzen. Wie immer das konkret ausgesehen haben mag – sie schreibt: »Er war immer da, wenn ich ihn da haben wollte, und nie, wenn ich das nicht wollte«: Sechs Wochen nach der Rückkehr aus Island waren sie verlobt, weitere sechs Wochen später verheiratet. Ihre dreimonatige Hochzeitsreise führte sie, konventioneller war es damals kaum möglich, durch Frankreich, die Schweiz, Italien und Deutschland, danach war Ethel, wie sie viel Jahre später schrieb, eine »beschützte, verwöhnte, gut gekleidete junge Ehefrau, die nur dem Vergnügen lebte«.

Das war nun nichts Neues. Sie war auch vorher »beschützt, verwöhnt und gut gekleidet« gewesen, denn sie wurde 1862 mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren und verbrachte ihre Kindheit und Jugend in einer Welt, die man sich vermutlich wie eine großbürgerliche Variante von Downton Abbeyvorstellen darf: Sehr wohlhabend, sehr formell, sehr gebildet, sehr elegant. 1906 erinnerte sich eine ehemalige Lehrerin an die junge Ethel: »Ich dachte damals, dass Du Dich nur für den Sitz der entzückenden Schürzen über Deinen schwarzen Seidenkleidern interessiertest, mit engem Mieder und winziger Taille. Wie alt warst Du? – 14 – 16, glaube ich, und die wunderbarste Figur, die ich je gesehen habe. Überaus unartig, unaufmerksam und eitel (dachte ich), mit sehr kleinen Füßen in winzigen, eleganten Schuhen unter dem kurzen Rock des schwarzen Seidenkleids.« Die »wunderbare Figur« verdankte sich auch dem Umstand, dass sie mit ihren ein Meter zweiundsiebzig für eine Frau außerordentlich groß und zudem sehr sportlich war. Sie ritt seit ihrem siebten Lebensjahr allmorgendlich mit ihrem Vater durch den Hyde Park und lief als Jungverheiratete in Norwegen mit großem Vergnügen Ski, da wusste in London noch kein Mensch, was Skier waren.

In ihrem Elternhaus verkehrten neben der Londoner Gesellschaft auch namhafte ausländische Besucher. Ethels Patenonkel beispielsweise war der deutsche Chemiker Justus von Liebig, »der seine berühmte Suppe erfand, um das Leben meiner Mutter zu retten«. Was nach ziemlicher Angabe klingt, ist (ziemlich) wahr. 1853 war »Emma Muspratt, die Tochter eines englischen Freundes, bei von Liebig in München zu Besuch und erkrankte an schwerem Typhus. Sie wurde täglich schwach und schwächer, da sie nicht in der Lage war, Nahrung aufzunehmen.

Liebig wusste, dass es bei dieser Krankheit kaum eine geeignete normale Nahrung gab, weil der Patient das Essen im Darm nicht verarbeiten konnte. In dieser Situation kam ihm der Gedanke, er könne Emma vielleicht mit einer Fleischbrühe stärken, wie er sie vor Jahren bei der Untersuchung des Fleisches hergestellt und beschrieben hatte. So nahm er frisches Hühnerfleisch, hackte es klein und legte es acht bis zwölf Stunden in stark verdünnte Salzsäure. Dann filtrierte er das Fleisch ab, neutralisierte die Flüssigkeit und flößte diese der Kranken langsam ein. Sein Bemühen hatte vollen Erfolg. Emma wurde von Tag zu Tag kräftiger und nach zwei Wochen wieder gesund.«

Diese Emma heiratete den erfolgreichen englischen Mediziner George Harley, der in Gießen bei von Liebig studiert hatte. Das Paar bekam drei Söhne und zwei Töchter. Für Ethel, die ältere der beiden, hatte der Vater offenbar konkrete Träume, denn er gab ihr den Namen Brilliana, nach einer im Jahr 1598 geborenen Ahnin, der »einzigen Frau namens Harley, die mit ihrem Schreiben den Ruhm der Familie mehrte. Schreibende Männer hatten wir im Übermaß, aber nur eine Frau. Es erstaunt also nicht, dass ich wollte, dass unsere Tochter den Namen weiterführt.«

Diesen Erwartungen schien Ethel nicht entsprechen zu wollen. Sie besuchte zwar das Queen’s College (das erste College, das Mädchen besuchen durften), und ging auch in Deutschland zur Schule, aber sie war eine schlechte Schülerin, die sich nur für Literatur und Geschichte interessierte und gern zeichnete und malte (was sie ihr Leben lang tun sollte, später begann sie auch, ernsthaft zu fotografieren). Es scheint, als habe sie dem Ideal ihrer Zeit von einem wohlerzogenen jungen Mädchen ohne ernsthafte intellektuelle Interessen perfekt entsprochen, und doch sagte sie später, sie habe schon als Kind eine »Arbeiterin« in sich gespürt, die »vage versuchte, aus dem Kokon der schützenden Konventionen zu schlüpfen; etwas in mir suchte ein Ventil, ein Mittel des Selbstausdrucks.« Dieses Ventil wurde das Schreiben.

1888 machte sie aus den Tagebuchnotizen der Islandreise ein Buch, das sie mit eigenen Zeichnungen illustrierte. Es wurde ein Erfolg und erlebte mehrere Auflagen. 1896, im neunten Jahr ihrer Ehe, hatte sie bereits eine Reihe Zeitungsartikel sowie fünf Bücher veröffentlicht, und zwar zu so unterschiedlichen Themen wie die Oberammergauer Passionsspiele, die Butterherstellung in England und Dänemark und eine Winterreise nach Norwegen.

1896 war auch das Jahr, in dem ihr beschütztes und luxuriöses Leben abrupt endete: Alec Tweedies Firma geriet aufgrund unglücklicher Umstände in finanzielle Schwierigkeiten und obwohl er und Ethel sofort drastische Sparmaßnahmen ergriffen – drei Dienstboten wurden entlassen, Kutsche und Pferde verkauft –, verlor er sein gesamtes Vermögen, ein halbes Jahr später starb er im Schlaf.

Kurz darauf starb auch ihr Vater. Unklar ist, ob von den fünf Geschwistern nur sie nichts bekam oder ob es nichts mehr zu erben gab, sicher ist, dass sie leer ausging. Mit vierunddreißig Jahren war sie plötzlich völlig mittellos und musste umgehend einen Weg finden, sich und ihre Söhne zu ernähren, die damals sechs und acht Jahre alt waren.

Bislang hatte sie die Einkünfte aus ihren Veröffentlichungen gespendet, jetzt wurde das Schreiben von einem halbernsten Zeitvertreib zu ihrer einzigen Erwerbsquelle, und es ist keineswegs selbstverständlich, dass sie sich nie wieder in die (vermeintliche) Sicherheit und Respektabilität einer neuen Ehe begab. Stattdessen schrieb sie für Zeitungen und Zeitschriften, sie schrieb unermüdlich, vier, fünf, sechs Artikel pro Woche, und über alles: Über Stechmücken ebenso wie über Frauen in Uniform, über Souvenirs wie über Stühle im Park. Sie schrieb tausende von Artikeln, »Seriöses für die Magazine, Aktuelles für die Tageszeitungen, Mist für die trivialen Blätter« und verhandelte hart um die Höhe ihrer Honorare. Sie wurde eine beliebte Reiseschriftstellerin, die in Artikeln und Büchern über damals exotische Ziele wie Finnland, Mexiko, Neuseeland schrieb, einmal fuhr sie durch Sibirien nach China. So konnte sie nicht nur sich und die Kinder ernähren, sondern auch das Haus zurückkaufen, das sie nach Alecs Tod hatte aufgeben müssen. Vermutlich waren es auch diese Erfahrungen, die sie zu einer entschiedenen Kämpferin für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung der Geschlechter werden ließen; sie fordert, dass Töchter und Söhne in allem, nicht zuletzt in Finanziellem, völlig gleich behandelt werden.

Sie legte in London wie auf Reisen den allergrößten Wert auf den Umgang mit den ›richtigen‹ Leuten, in ihren Lebenserinnerungen wimmelt es von Namen, die damals bedeutend waren (und es zum Teil heute noch sind). Wenn sie nicht auf Reisen war, kultivierte sie die Kunst der eleganten Abendeinladungen, wie in ihrem Elternhaus, verkehrte offenbar auch bei ihr – die sich konsequent Mrs. Alec Tweedie nannte – ausnahmslos alles, was Rang und Namen hatte. Nach dem Essen bat sie ihre Gäste, ihre Unterschrift auf einen langen Tischläufer zu setzen, die sie dann – sie war eine herausragende Stickerin – in rotem Baumwollgarn nachstickte. Ihre Gäste und die vielen Läufer mit hunderten von Autogrammen beschrieb sie 1916 in My Table-Cloths; A Few Reminiscences.

Gewidmet ist das Buch ihrem jüngeren Sohn Leslie, der unmittelbar vor Erscheinen des Buches in Frankreich gefallen war, wenig später fiel auch ihr zweiter Sohn Harley. Trotz dieser Schicksalsschläge blieb sie bis wenige Jahre vor ihrem Tod im Alter von 72 Jahren jene »Arbeiterin«, die sie als Kind in sich gespürt hatte. Die letzte große Reise führte sie 1937, drei Jahre vor ihrem Tod, nach Neuseeland.

Beim Erscheinen des Island-Buches fünfzig Jahre zuvor hatte ein Reporter im Magazin The Young Woman geschrieben, »Der Geist des Abenteuers scheint Mrs. Alec Tweedie im Blut zu liegen«. Dieser Satz verrät nicht nur Menschenkenntnis, er zeigt auch, was 1888 für eine Frau als Abenteuer galt: Ethel hatte sich aus freien Stücken weit außerhalb vertrauter geographischer Grenzen bewegt und dabei Unerhörtes getan: Sie hatte den Damensattel verschmäht und sich mit gespreizten Beinen auf ein Pferd gesetzt.

Als sie davon berichtete – mit dem Schreiben des Island-Buches hatte sie sich »die langen Stunden verkürzt, die ich vor der Geburt unseres ersten Kindes auf dem Sofa verbrachte« – war es ihr sehr wichtig, genauestens zu rechtfertigen, warum der schockierende Tabubruch zwingend gewesen war. Mindestens ebenso wichtig aber war es, keinen Zweifel daran zu lassen, dass diese Art des Reitens vertretbar, elegant und – vor allem! – immer schicklich gewesen sei, weil der lange Rock auf beiden Seiten des Pferdes in dichten Falten herabfiel. Sie und ihre Freundin hatten – anders als eine von Ethel verhöhnte Schiffsmitreisende in braunem Seidenkleid – nur getan, was in einer solchen Situation vernünftig war: Für eine Frau, die die Welt sehen wollte, mussten (für die Dauer der Reise) andere Regeln gelten als für eine, die ihren Salon nur verließ, um einen kleinen Ritt durch den nahen Park zu machen.

Diese Missachtung vermeintlich unumstößlicher Anstandsregeln sorgte, wie sie im Vorwort anschaulich schildert, einerseits für einen deftigen Skandal, andererseits verwandelte sie Ethel in den Augen ihrer Umwelt – möglicherweise auch ihren eigenen – von einer bloßen Touristin zur wagemutigen Avantgardistin. Das funktionierte, weil sie instinktiv wusste, dass eine Reiseschriftstellerin bei ihren Zeitgenossen nur Erfolg haben konnte, wenn sie das herrschende Bild von Weiblichkeit nicht ankratzte: »Um eine Leserschaft zu erreichen, musste eine Frau einen Stoff bieten, der genügend Aufregung bot, um die Leserschaft zu halten, musste sie eine Lady bleiben.«

Wir, die wir Ethel Brilliana Tweedies Bericht heute lesen, erkennen deutlicher als jene Zeitgenossen, mit welchen Mitteln sie das erreichte, und wir können uns auch darüber amüsieren, mit welcher Selbstverständlichkeit sie und ihre Mitreisenden ihre Londoner Umgangsformen in die isländische Einöde transportieren, indem sie beispielsweise die aus England mitgebrachten Konservendosen in einer heißen Quelle erhitzen, um dann in einem Zelt neben den Geysiren ein mehrgängiges Dinner zu zelebrieren, das sie sich von den einheimischen Führern servieren lassen. Vor allem aber staunen wir darüber, wie weit dieses Island vor einhundertdreißig Jahren in Infrastruktur und Alltag vom Lebensstandard des damaligen Mitteleuropa entfernt war, und wie wenig sich in dieser langen, ereignisreichen Zeit Islands Natur verändert hat, deren Wucht die Besucher heute genauso überwältigt wie damals.

Übrigens: Sollten Sie den Versuch machen, sich in Island mit Tweedies Übersetzungshilfen zu verständigen, würden wir uns über einen Erfahrungsbericht sehr freuen.

Ebba D. Drolshagen

Zur vorliegenden Edition

Ethel Brilliana Tweedie hat für ihr Buch gründlich recherchiert, dennoch sind einige Angaben falsch. Manches hat sie unrichtig zitiert oder falsch verstanden, manches, was 1886 der letzte Stand der Wissenschaft war, ist heute überholt.

Das ist nicht schlimm, denn wir haben eine große Zahl aktueller Reiseführer und natürlich das Internet, die uns mit den aktuellen Zahlen und Fakten versorgen. Etwas schwieriger ist es mit dem leidigen Thema der Transkription von Wörtern und Ortsnamen, denn wer die Landessprache nicht beherrscht, missversteht vieles. Wo möglich, haben wir Tweedies Schreibung aktualisiert, einige Orte, die sie erwähnt, konnten wir leider nicht identifizieren.

Literatur:

Ethel B. Tweedie:

Thirteen Years of a Busy Woman’s Life (1912)

My Table-Cloths; A Few Reminiscences (1916)

Die Geschichte über Emma Muspratt stammt aus:

Günther Klaus Judel, Die Geschichte von Liebigs Fleischextrakt. Zur populärsten Erfindung des berühmten Chemikers. In: Spiegel der Forschung, 20. Jg./Nr. 1; Oktober 2003. [http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2004/1381/pdf/SdF-2003-1_2b.pdf – abgerufen am 10. 01. 2017]

Das Zitat über die Reiseschriftstellerin, die Lady bleiben muss, findet sich in:

Kristi Siegel, Intersections: Women’s Travel and Theory, zitiert in: Kathryn Walchester, ›My Petticoat Encumbrances. The ›female adventurer‹ and the North‹. Nordlit: Tidsskrift i litteratur og kultur. 2014;0(32):161–176.

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Als dieses Büchlein (mein Debüt) vor fünf Jahren erschien, löste es, ohne dass dies meine Absicht gewesen wäre, eine hitzige Kontroverse aus, die sich um folgende Frage drehte: »Darf eine Frau im Herrensitz reiten?«

Welch erstaunliche Feuerbrunst ein kleiner Funken auslösen kann. Schnell entstand ein Krieg über ein, wie sich zeigte, schwieriges Problem, und wie zornig wurde er geführt! Die illustrierten Gazetten brachten klug bebilderte Artikel, mit pro und contra; in manchen Familien war zeitweise der Frieden gestört, weil die Mitglieder unterschiedlicher Meinung waren, beide Seiten sprachen in bitterem Ton über eine Sache, die im Grunde ganz einfach und harmlos ist. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde das »Pro«-Lager gewinnen, doch dann obsiegte die Sittsamkeit und Frauen ritten weiterhin im Damensattel. Dabei tragen die vielen Reiterinnen, die in den letzten Jahren auf ein Fahrrad gestiegen sind, eben jene Knickerbocker und kurzen Röcke, die ich für Ausritte in rauem Gelände empfohlen habe. (Tatsächlich sind diese Röcke noch um einiges kürzer.)

Fast vier Jahre ist es her, seit ich aus einem Hotelfenster in Kopenhagen zum ersten Mal eine Frau auf einem Fahrrad sah! Ich war unbeschreiblich überrascht. Wie fremd das wirkte! Paris folgte dem Beispiel, heute gibt es in dieser schönen Hauptstadt eine wahre Armee von Fahrradfahrerinnen; nach einer Phase gebührenden Zögerns gab auch England seine Vorbehalte auf und gestattet es nun seinen Töchtern, nahezu ohne Murren, sich rittlings auf ein Fahrrad zu setzen, um so Landschaften zu durchstreifen und die frische Luft zu genießen.

Wenn Frauen so bekleidet einen Drahtesel besteigen dürfen, sollten sie doch in ähnlicher Kleidung und ebenfalls im Herrensitz reiten dürfen.

In früheren Zeiten ritten Frauen in jeder denkbaren Haltung und jeder vorstellbaren Garderobe. Sie saßen entweder links oder rechts im Damensitz auf einem Pferd, oder rittlings im Herrensitz (wie es die Mexikaner, Indianer, Tartaren, Rumänen, Isländer und andere auch heute tun), ja sogar hinter einem Reiter auf der Kruppe des Pferdes. Königin Elisabeth beispielsweise saß bei öffentlichen Auftritten hinter dem Earl of Leicester, mit ausladendem Reifrock, tief dekolletiertem Mieder und üppigen Volants. Bei der Jagd allerdings verzichtete sie selbst im reifen Alter von sechsundsiebzig Jahren auf einen Kavalier.

Im Mittelalter saßen in unserem Land Frauen bei Treib- und Beizjagden sowie Turnieren grundsätzlich rittlings auf dem Pferd, der Damensattel war offiziellen Auftritten vorbehalten. Alte Abbildungen zeigen, dass Damen in großer Ballgarderobe auf das Pferd stiegen, in fließenden Röcken und mit einem Kopfschmuck aus langen Schleiern (Zeit von Eduard II.), oft trugen sie Hüte mit riesigen Federn.

Früher stand an jeder Kirchentür und vor jedem Gasthaus ein jumping-on stone, in Kent und anderen südlichen Distrikten heißt er joist stone, in Schottland louping-on stane. Diese Trittsteine waren in den Tagen schwerer Rüstungen unverzichtbar – und auch zu Zeiten, als Frauen im Herrensitz ritten. Männer können heute allein aufsteigen, wobei es überaus erheiternd sein kann, einen kleinen Mann dabei zu beobachten, wie er sich auf ein großes Pferd müht; Frauen aber müssen sich einem anwesenden Mann, egal wie fähig oder unfähig er ist, anvertrauen, damit er ihnen in den Sattel hilft.

Die Mode ist vergänglich. Geschmack und öffentliche Meinung sind nicht in Stein gemeißelt – sie sind nur flüchtige Launen der jeweiligen Generation.

Kleidung ist für eine Frau ohne Frage sehr wichtig, und gut gekleidet sein bedeutet zwangsläufig, dem Anlass entsprechend gekleidet sein. Beim Reiten sind Breeches, hohe Stiefel oder Gamaschen natürlich unverzichtbar. Wird aber darüber ein zweigeteilter Rock getragen, gut knielang und geschickt drapiert, ist der Gesamteindruck alles andere als unelegant. Auf eines können wir blind vertrauen: Sobald die Engländerinnen mutig genug sind, im Herrensitz zu reiten, werden alle Londoner Schneider umgehend kleidsame und praktische geteilte Reitröcke entwerfen.

Ich rate dringend bei ländlichen Ausritten, der Jagd und bei Ritten durch unwegsames Gelände auf den Damensattel zu verzichten, und zwar aus drei Gründen: 1. Sicherheit; 2. Bequemlichkeit; 3. Gesundheit.

1. Unter normalen Umständen ist natürlich nichts einfacher, als an einem Damensattel zu »kleben«, weil man von den Sattelhörnern fast festgehalten wird: gerade das aber birgt viele Gefahren. Stürzt das Pferd, kann sich die Reiterin (auch wenn die heutigen engen Röcke sicher von Vorteil sind) nicht ohne Hilfe befreien. Sie bleibt eingeklemmt zwischen den Hörnern oder hängt im Steigbügel, wird bei einem Unfall mitgeschleift und stirbt einen grauenvollen Tod.1

2. Miss Bird berichtet in ihrem berühmten Reisebuch, wie furchtbar ihr Rücken unter den fordernden Ritten im Seitensitz litt, und wie mühelos sie die gleiche Strecke zurücklegen konnte, als sie, den Konventionen trotzend, zum Herrensitz wechselte.

Die Gattin eines bekannten Generalkonsuls, die in dessen Begleitung von Shanghai durch Sibirien nach St. Petersburg geritten war, hat immer gesagt, dass sie eine solche Großtat keinesfalls in einem Damensattel hätte vollbringen können. Außerdem sitzen in fast allen Ländern die einheimischen Frauen rittlings auf dem Pferd, wie sie es ja auch im England des vierzehnten Jahrhunderts taten.

Die Erfahrungen, die ich selbst im Hinblick auf Bequemlichkeit gemacht habe, werden auf den folgenden Seiten beschrieben, ich kann nur hinzufügen, dass neue Kenntnisse, die ich durch Lektüre erworben habe, mich in meiner Auffassung bestätigt haben.

3. Einige Vertreter des Ärztestandes sind der Ansicht, der Herrensitz sei gesundheitsschädlich, die Mehrheit teilt diese Meinung jedoch nicht.

In einem Gespräch über dieses Thema sagte Sir John Williams – eine der bedeutendsten Koryphäen auf dem Gebiet der Frauenleiden –, »Ich sehe nicht, welchen Schaden es verursachen sollte, wenn Frauen wie Männer reiten. Im Gegenteil. Es ist mir völlig unverständlich, warum der Damensattel jemals erfunden wurde.« Kann es ein stärkeres Argument für den Herrensitz geben?

Wir wissen doch alle, dass viele Mädchen ganz krumm werden, wenn sie reiten lernen, und dann auf der anderen Seite vom Pferd steigen müssen, um dieses Übel zu korrigieren. Ist nicht das allein der Beweis dafür, wie ungesund diese Position ist?

So, wie Frauen heute reiten, ist ein wunder Rücken bei Pferden leider keine Seltenheit. Der Grund für dieses Übel ist ein schlechter Reitstil; doch dergleichen ließe sich durch Herrensättel vermeiden. Sie wiegen weniger als Damensättel und sind einfacher zu tragen, denn das Gewicht des Reiters liegt nicht auf einer Seite, sondern ist gleichmäßig verteilt – was Lenden und Widerrist des Pferdes schont.

Wir alle wissen, dass das Pferd einer Reiterin nach einem harten Tag viel eher erschöpft ist als das eines Reiters, obwohl dieser vermutlich mehr wiegt als sie. Und das aus einem einzigen Grund: weil er im Gleichgewicht sitzt.

Seit dem Erscheinen dieses kleinen Buches sind viele Damen dem Rat gefolgt, »die vulkanreichste Gegend der Erde« zu besuchen, sie haben Islands schneebedeckte Gipfel und seine tief eingeschnittenen Fjorde bewundert, Bekanntschaft mit seinen einfachen Bewohnern geschlossen, sind ihre zotteligen Ponys geritten. Island ist heute im Grunde noch genau wie vor einhundert Jahren. Die Zeit hat keine Spuren hinterlassen, ein Besuch des Landes gleicht einer Rückkehr ins Mittelalter. Von der Hauptstadt abgesehen, sind keinerlei Veränderungen zu erkennen, und selbst in Reykjavík dient der größte Platz der Stadt, der vor der Gouverneursresidenz liegt, zugleich als wichtigste Trockenfläche für Kabeljau. Von dort verbreitet sich Sommer für Sommer der gleiche Gestank, der schon die Reisenden früherer Zeiten begrüßte.

Dank einiger Freunde bin ich aber in der Lage, von Neuerungen zu berichten. Dr. Karl Grossmann, der den Nordwesten der Insel zu geologischen Studien bereiste, überließ mir freundlicherweise seine hervorragenden Fotografien von Islandponys.

Mr. T. J. Jeaffreson, ein Kenner der Insel, möchte, bevor er sich Mr. Frederick Jacksons Polarexpedition anschließen wird, im Winter 1894/95 Island von Ost nach West durchqueren, etwa dem 68. Breitengrad folgend. Dies wird ihn in die bislang nahezu unbekannten Distrikte Storisandur, Sprengisandur und Ódáðahraun führen, der Rückweg ist über den Vatnajökull oder die Große Eiswüste geplant. Er will diese Reise im Winter unternehmen, denn im Sommer wäre sie nur mit Pferden möglich, die aber neben ausreichenden Mengen Proviant und Brennmaterial für die Expedition nicht auch noch ihr eigenes Futter tragen können; zum anderen ließen sich wegen des unwegsamen Geländes und des Gewichts der Lasten nur sehr kurze Tagesetappen zurücklegen.

Wie Dr. Nansen bei seiner Durchquerung Grönlands, wird Mr. T. J. Jeaffreson Skier und kanadische Schneeschuhe benutzen und seinen Schlitten, vor den man normalerweise Hunde oder Pferde spannt, selbst ziehen. Wir dürfen uns auf ein sehr interessantes Werk aus seiner Feder freuen, das sich vor allem Islands Naturgeschichte widmen wird.

Aus der Hauptstadt Reykjavík werden kleine, aber begrüßenswerte Verbesserungen berichtet, an erster Stelle steht der Bau des »Iseland«, ein angenehmes kleines Hotel, das von Halburg geführt wird, der hervorragend Englisch spricht, und dessen Sohn, ehemals Kellner in England, der ein guter Jäger, Fischer und Führer ist. Das Hotel stellt auch Pferde zur Verfügung.

Der wichtigste Fremdenführer Islands ist jetzt Thorgrimmer Goodmanson. Er spricht mehrere Sprachen fließend und ist von Beruf Lehrer für Englisch und Latein, arbeitet aber in den Sommermonaten als Fremdenführer.

Ponys durchqueren einen Fluss.