Inspector Swanson und die Hexe von Bray - Robert C. Marley - E-Book

Inspector Swanson und die Hexe von Bray E-Book

Robert C. Marley

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Beschreibung

London 1896 – Im Crystal Palace Park stirbt eine Frau unter den Rädern einer neuartigen Motordroschke – ein tragischer Unfall, wie es scheint. Doch Chief Inspector Swanson schöpft Verdacht, denn der Bruder der Toten ist kurz zuvor spurlos und unter mysteriösen Umständen aus dem Gefängnis in Wicklow verschwunden. Als dann unweit der Haftanstalt – in dem kleinen irischen Küstenstädtchen Bray – die verstümmelte Leiche eines seit Monaten vermissten Mannes inmitten okkulter Symbole gefunden wird, haben selbst die irischen Behörden nur eine Erklärung: Die berüchtigte Hexe von Bray sucht sich nach zwanzig Jahren abermals ihre Opfer. Inspector Swanson und sein Team werden nach Irland geschickt, um dem Spuk ein Ende zu bereiten ...

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Inhalt

Inhalt

Vorbemerkung

PROLOG

ERSTER TEILMrs Driscoll

Zweiter TEILSpurensuche

Dritter TEILMit Haut und Haaren

Vierter TEILHexenwerk

Fünfter TEILShannon

SECHSTER TEILDer Kessel

Siebter TEILDie Hexe von Bray

EPILOG

Personen & Begriffe

Danksagung

Für Suzanne,

die dort war.

Und in Erinnerung an

Detective Superintendent

Gerard ›Gerry‹ McCarrick,

gest. 05. Oktober 2006,

der ebenfalls dort war.

»Doppelt plagt euch, mengt und mischt!

Kessel brodelt, Feuer zischt.«

William Shakespeare

»Ganz gewiss hat es auf dieser Welt niemals

Hexen gegeben; aber ebenso unleugbar haben

zu allen Zeiten die Leute an Betrüger geglaubt,

die das Talent besaßen, als Zauberer aufzutreten.«

Giacomo Casanova

Vorbemerkung

Die Idee, die hinter der Geschichte in diesem Roman steht, kam mir bereits vor vielen Jahren in meinem Elternhaus, als ich als Jugendlicher ein Buch über Wahrsagerei und Hexenverfolgung las. Doch ich musste erst über ein zweites historisches Ereignis stolpern, ehe sich alles zu einem Gesamtbild zusammenfügte – den ersten Verkehrsunfall mit einem motorisierten Fahrzeug, bei dem ein Fußgänger zu Tode kam.

Die historischen Fakten, den Unfall betreffend, habe ich so wiedergegeben, wie sie 1896 in London geschahen. Den Kriminalfall und die anschließenden Geschehnisse in Irland, die in diesem Roman damit verknüpft sind, habe ich mir dagegen – abgesehen von den Ortsbeschreibungen – samt und sonders ausgedacht.

Meine Darstellung der Iren und einiger ihrer Eigentümlichkeiten, bitte ich wohlwollend als das zu betrachten, was sie ist: ein liebevoller und humorvoller Blick auf ein abergläubisches, aber stets gut gelauntes Völkchen von fiedelnden Bierliebhabern, das ich sehr mag.

Also, kommen Sie, setzen Sie Ihre Zeitreisebrille auf und folgen Sie mir ins viktorianische Irland.

R. C. M.

PROLOG

» Magie ist eine große verborgene Weißheit

Verstand ist eine große offene Torheit. «

Paracelsus (1493–1541)

Gefängnis Reading, Zelle C.3.3.

Oscar Wilde saß am Tisch und dachte über die vergangenen Monate nach. Die ersten sechs nach seiner Inhaftierung hatte er in Pentonville und Wandsworth eingesessen, ehe man ihn nach Reading gebracht hatte. Mit dem Zug und ohne ihn von der schaulustig kreischenden Menge abzuschirmen. Auf dem Bahnsteig von Clapham Junction war er bepöbelt und angespuckt worden, ohne dass die Beamten, in deren Gewahrsam er sich befand, etwas dagegen getan hatten.

Das ewige Einerlei des Tages, der Wochen, der Monate hatte ihn mürbe gemacht. Wenn er sich im Spiegel ansah, blickte er in das Gesicht eines alten Mannes mit bleichen eingefallenen Wangen und kurz geschorenem Haar. Er war grauer geworden. Doch war es nicht das Grau des Alters, sondern das der Scham, der Resignation, der Hoffnungslosigkeit. Jene Spielart des Grau, die sich nicht auf das Haar beschränkte. Jene Spielart des Grau, die sich auf der Haut niederschlug und in die Seele brannte.

Die ersten Monate waren die Schlimmsten gewesen. Von früh bis spät war er damit beschäftigt gewesen, Bruchsteine von einem mächtigen Haufen abzutragen und sie auf die andere Seite des Gefängnishofs zu schleppen.

Schwere Zwangsarbeit.

Als er noch nichts davon wusste, hatte er in seiner unsäglichen Naivität angenommen, körperliche Arbeit könne der Gesundheit zuträglich sein, würde seine Muskeln stärken und ihn ein paar Kilo verlieren lassen. Doch es war keine solche Arbeit. Er entsann sich noch genau des schrecklichen Gefühls der Überraschung und des Entsetzens, das ihn übermannt hatte, als er beinahe euphorisch den letzten Stein packte, um ihn zu den anderen zu tragen, und der Wärter ihn mit kalter Stimme anwies, ihn liegen zu lassen.

»Warum?«, hatte er ihn fragen wollen. Allein die Kraft hatte ihm gefehlt, den Mund aufzutun.

Mit der Hand auf dem Griff des Schlagstocks an seinem Gürtel hatte der Wärter ihn angesehen, derweil der Hauch von Häme dessen Lippen zu kräuseln schien. Und dann hatte er die fünf erbarmungslosen Wörter gesagt: »Und nun alle wieder zurück.«

Von früh bis spät, tagaus tagein, Woche für Woche, Monat um Monat.

Arbeit, die einen auszehrte in ihrer Sinnlosigkeit, die, anstatt die Muskeln zu stählen, nach und nach die Kraft aus ihnen saugte.

Vom Gang vor seiner Zelle drangen die Rufe der Wärter, das Rasseln der Schlüssel und das Klirren der Türen. Draußen auf dem Hof zog die Prozession der Narren ihre Runde. Eine halbe Stunde Hofgang in Wechselschichten.

Schlimmer noch als die Steine waren die Dienste auf der Tretmühle – dem Rad, wie es hier genannt wurde. Vier Mann in einer Reihe, je zwei Griffe für die Hände, und dann stundenlang Stufe um Stufe erklimmen, das Rad in sinnloser Bewegung halten, bis man entweder abgelöst wurde oder ohnmächtig zusammenbrach. Die, die zu oft Schwäche gezeigt hatten, oder sich schreiend zur Wehr setzen wollten, wurden erbarmungslos niedergeknüppelt und mit Handschellen an die Griffe gekettet. Viele brachen sich Arme und Beine, und nicht wenige starben an purer Erschöpfung.

Er hatte überlebt – bislang.

Wilde strich sich mit der rechten Hand über die kurz geschorenen Haare. Man hatte ihm heute Morgen drei Bögen Schreibpapier und einen Bleistift zugestanden. Etwas, um das er anfangs noch beharrlich gekämpft und später nur noch verzweifelt gebettelt hatte. Ein Jahr lang hatte ihm die Gefängnisleitung dieses kostbare Gut verwehrt. Mehr aus Hass, wie er annahm, als dass man wirklich besorgt darum gewesen wäre, er könne sich mit dem Stift ernstlich verletzen, ja ihn womöglich dazu benutzen, Selbstmord zu begehen. Hätte er das gewollt, so hätte er bei der Plackerei auf der Tretmühle reichlich Gelegenheit dazu gehabt.

Jetzt, da er beides hatte, fühlte er sich nicht mehr in der Lage, auch nur ein Wort aufs Papier zu bringen.

Er legte den Bleistift aus der Hand und stand auf.

Die beiden vergitterten Rechtecke der trübegeschmirgelten Fenster lagen so hoch, dass er sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um hinunter in den Hof zu sehen. Er erkannte bloß Schemen. Die Hände um die Eisenstäbe geschlossen, blickte er lediglich in die Vorstellung eines wolkenverhangenen Himmels jenseits der Gefängnismauern.

Mehr als ein Jahr war seit seiner Inhaftierung bereits vergangen.

Amelia Dyer, die, wenn es stimmte, was man auf den Gängen flüstern hörte, nicht weniger als vierhundert Kleinkinder ermordet hatte, war hingerichtet worden. Und draußen sah er manchmal den Mann, der seine Verlobte getötet hatte, unter der Aufsicht der Schließer, wie die Wachleute hier genannt wurden, stumm seine Kreisbahnen ziehen.

Besuch bekam er nur selten. Frederick Greenland machte sich gelegentlich auf die Reise, um ihn zu sehen. Der hatte ihm einen Zeitungsausschnitt gezeigt, in dem er, Oscar, in einer geräumigen Zelle am Schreibtisch saß, das wallende Haar beinahe schulterlang. Nichts hätte der Wirklichkeit ferner sein können. Unter anderen Umständen hätten sie beide wahrscheinlich herzlich darüber gelacht. Doch so, wie die Dinge lagen, war es auf beiden Seiten bloß ein trauriges Grinsen gewesen.

Constance hatte ihn bloß einmal besucht. Er wusste nicht, was sie davon abhielt, wiederzukommen, doch er konnte es sich denken. An ihrer Haltung ihm gegenüber lag es nicht, dessen war er sich sicher. Es war vermutlich ihre Familie, die sie zwang, sich von ihm abzuwenden. Die Schande musste für Constance und die Kinder weit schlimmer zu ertragen sein als für ihn. Er saß hier hinter dicken Mauern – unsichtbar für die gemeine Welt da draußen. Doch sie? Sie hatten all die Schmach und Schande um sich. Sein gesamter Besitz war im Mai letzten Jahres versteigert worden, um die Gerichts- und Anwaltskosten zu decken. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen viel geblieben war.

Trotz allem kein böses Wort von Constance. Nicht eine Vorhaltung. Aber auch nicht eine geschriebene Zeile mehr.

Nichts, dachte er, ist so unergründlich wie der Geist einer Frau.

Schlüsselrasseln.

Dann öffnete sich die Luke in seiner Zellentür mit einem schabend kreischenden Geräusch, das ihm durch Mark und Bein fuhr. »An die Wand!« Die Stimme des Wärters war laut und aggressiv. Die Schlüssel rasselten wieder, ehe die Zellentür aufschwang. »Raustreten!«

Schichtwechsel für die Prozession der Narren.

Wicklow Gaol County Wicklow, Dublin

Ein anderes Gefängnis.

In einem anderen Land.

»Flannagan!« Die Stimme von Direktor William P. Cobley hallte, wie der erste Hahnenschrei des Tages, durch die morgendliche Kühle des Gefängnistraktes.

Es war gerade fünf Uhr durch. Die Sonne, in deren Strahlen der Staub der Ewigkeit tanzte, schien zu den hohen Fenstern am Ende des Gebäudetraktes herein und malte ein Netz aus Gitterrauten auf die jenseitige Wand. Doch hier drin war es grabeskalt, ob Sommer oder Winter. Und ein feuchter, leicht metallischer Geruch lag in der Luft.

Paul Flannagan stand hastig von dem kleinen Tisch auf, an dem er eben sein mageres Frühstück aus Tee, hart gekochtem Ei und gebuttertem Brot einnahm. Wenn Direktor Cobley brüllte, war das kein gutes Zeichen. Dann ließ man besser alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg, wollte man nicht seinen Unmut auf sich ziehen. Vielleicht war Cobley wegen der Revision so aufgebracht, die in drei Tagen stattfinden würde. Jedes Mal, wenn die Gefängnisaufsicht sich für ihren jährlichen Besuch ankündigte und die Delegation wie Besucher eines Zoos durch die Anstalt trampelte, war der Direktor schon Tage im Voraus nervös und ungenießbar und ließ das am Personal aus.

Ihn fröstelte.

Vorhin, als er aus seinem Nachtquartier gekommen und über den Hof gegangen war, war er kurz stehen geblieben und hatte die Sonne genossen. Hatte sie mit jeder Pore seines Körpers in sich aufgesogen, um für die Kälte der alten Gefängnismauern gewappnet zu sein. Die Kälte und der Geruch waren etwas, woran man sich wohl niemals gewöhnte.

Flannagan nahm noch rasch einen Schluck Tee. Dann schnappte er sich die Dienstmütze von der Stuhllehne und schob sie sich auf dem Kopf zurecht.

Direktor Cobley war ein strenger Mann und ebenso humorlos wie die meisten Engländer, die Flannagan kannte. Ausgenommen vielleicht Dr. Gregory, der Gefängnisarzt und Brian Rendle, der den Gemischtwarenladen unten in Wicklow betrieb. Sie waren die hehren Ausnahmen in einer immer protestantischer werdenden Welt.

»Flannagan!«

Er sah den Gefängnisleiter in der offenen Tür zur Eisentreppe stehen, die zu seinem Büro hinaufführte – groß, breitschultrig auf seinen Spazierstock gestützt. Die personifizierte Autorität in seinem dunklen Anzug und den polierten Schuhen – die andre Hand noch auf der Klinke. Fahrig wischte Flannagan sich mit dem Hemdsärmel über den Mund und knöpfte sich die Uniformjacke zu, während er den Gang hinunter und die Stufen hinauf hinter ihm hereilte. Vor Cobleys Bürotür blieb er stehen. »Guten Morgen, Sir!«

»Das wird sich noch herausstellen.« Cobley winkte ihn mit einer großen Geste herein. Die Tür ließ er offen.

»Natürlich, Sir.« Er nahm die Mütze ab und klemmte sie sich in die Armbeuge.

»Für mich sollte es ein guter Morgen sein, denn ich werde wie jedes Jahr um diese Zeit in die Ferien fahren. Ist es ein guter Morgen für Sie, Flannagan?« Cobley sprach mit milder Stimme, lächelte, doch der kalte, bohrende Blick seiner Augen strafte dieses Lächeln Lügen.

»Ja, Sir. Ich denke schon.«

»Wie schön.« Der Direktor legte ihm die rechte Hand auf die Schulter und begann, sie mit wachsendem Druck zu massieren. Er roch nach Tabak und Rasierwasser. Sein Kopf ruckte in Richtung Tür. »Bringen Sie mir Swift her.«

»Swift?« Flannagan war irritiert. Es gab nur zwei Gründe, aus dem der Direktor einen der Gefangenen in sein Büro zitierte. Entweder um ihm die Entlassungspapiere auszuhändigen, oder er hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Doch auf Patrick Swift traf beides nicht zu. Er war wegen Hehlerei verurteilt worden und hatte noch mindestens vier Jahre abzusitzen. Und er war ein Musterbeispiel an guter Führung. »Hat er denn etwas ausgefressen?«

Cobley lächelte noch immer. Er nahm die Hand von Flannagans Schulter, lehnte den Stock an die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sprechen wir dieselbe Sprache, Mr Flannagan?«

»Das tun wir, Sir.«

»Warum gehen Sie dann nicht und tun, was ich Ihnen aufgetragen habe?«

»Ja, Sir.« Bildete er sich das ein, oder war da ein böses Funkeln in den Augen des Direktors gewesen? »Bitte entschuldigen Sie, Sir.«

Er wandte sich um, die Mütze noch immer unter dem Arm, und begab sich auf seine Etage. Zügig ging er den Gang hinunter, der wie eine eiserne Balustrade im Rechteck vor den Zellen verlief. Für gewöhnlich war Cobley milder, wenn sein Urlaub anstand. Nicht so heute. Dafür musste es einen triftigen Grund geben.

Unten in der großen Halle sah er Sean Dunne mit Dr. Gregory, dem Gefängnisarzt, reden und fragte sich, warum der Wärter nicht hier oben war, wo er hingehörte. »An die Wand!«, rief Flannagan, nahm den Schlüsselring aus der Halterung an seinem Gürtel und schloss die Zellentür auf.

Die Zelle war leer.

Das Blut schoss ihm in die Wangen. Hunderte von Gedanken wirbelten ihm gleichzeitig durch den Kopf. Auf dem sorgfältig gemachten Bett sah er einen geflochtenen Kranz aus Margeriten liegen, wie ihn die Mädchen manchmal im Sommer trugen. Und darin, ein aus dünnen Zweigen geflochtenes Pentagramm – das Zeichen des Teufels.

Er wandte sich um, um Cobley Meldung zu machen und stand unmittelbar vor dem Direktor, der ihm gefolgt sein musste.

Flannagan schluckte. »Er ist nicht da, Sir«, sagte er kleinlaut.

»Ich weiß das«, sagte Cobley und stieß Flannagan die Spitze seines Stockes so heftig vor die Brust, dass der zurück in die Zelle taumelte. Die Stimme des Direktors klang wie das Zischen eines Dampfkessels. »Und jetzt, da Sie es auch wissen, erklären Sie mir, wo, verdammt noch mal, er geblieben ist!«

ERSTER TEIL

Mrs Driscoll

» Wir sind eine elende Familie

und sollten ausgerottet werden. «

Charles Darwin (1809–1882)

KAPITEL 1

Crystal Palace Park, Sydenham, London 17. August 1896

Arthur James Edsall polierte den rechten hinteren Kotflügel der vierrädrigen Motordroschke mit einem weichen Tuch, bis das schwarze Blech wie Onyx in der Sonne glänzte, und betrachtete das Schmuckstück.

Hinter ihm ragte die mächtige Glas- und Eisenkonstruktion des Crystal Palace in den beinahe wolkenlosen Nachmittagshimmel. Ursprünglich war er in den Fünfzigern für die Weltausstellung im Hyde Park geschaffen und danach in Sydenham wiederaufgebaut worden.

Der Roger-Benz, eine von vier Motordroschken, die an diesem Tag auf dem Platz vor dem Palace eine Vorführung gaben, war eine hochmoderne Konstruktion der Anglo-French Motor Carriage Company und brachte es mit seinem eingebauten Verbrennungsmotor auf eine Geschwindigkeit von vier Meilen pro Stunde, bergab vielleicht auf sechs. Das war langsamer, als jede Pferdedroschke fuhr. Und dennoch. Dieser Wagen war die Zukunft, dessen war Edsall sich sicher. Auch wenn gegenwärtig lediglich fünf oder sechs im ganzen Königreich existierten, spätestens in zehn Jahren würden es Hunderte sein. Dafür würden er und seine Kollegen schon sorgen.

Wären nur all die Steine nicht, die man ihnen dabei in den Weg legte. Wie, zum Teufel, sollte er denn einem potenziellen Kunden den Roger-Benz schmackhaft machen, wenn der zu Fuß zügiger ans Ziel gelangte?

Noch bis vor einigen Monaten hatte ein Mann dem Wagen mit einer roten Flagge vorausgehen und Warnungen ausrufen müssen.

Edsall schüttelte den Kopf. Er nahm die große Ölkanne aus der Halterung neben der Bremse und ging damit um den Wagen herum. Die Lager der Speichenräder mussten gut geölt sein, dann ließ sich auf gerader Strecke unter Umständen eine halbe Meile mehr machen.

Immerhin – nach langem Hin und Her hatte das Parlament vor zwei Wochen endlich beschlossen, die Geschwindigkeitsbegrenzung für motorbetriebene Fahrzeuge teilweise aufzuheben und sie auf fünfzehn Meilen pro Stunde zu erhöhen. Selbst die Deutschen, dieses penible, kleinkrämerische Volk von Angsthasen, das für jede Eventualität eine Regel aufstellte, kannte solcherlei Einschränkungen nicht. Sie durften aus den neuen Maschinen herausholen, was herauszuholen war.

Edsall hatte versucht, den Werkstattleiter davon zu überzeugen, den Motor für die heutige Vorführung im Park zu modifizieren, um seine volle Leistung zu zeigen, doch der hatte abgelehnt. Zu gefährlich, hatte er gesagt.

Dass er nicht lachte!

Er ölte hingebungsvoll die Lager der Räder und stellte die Kanne an ihren Platz zurück.

Erst eine Handvoll neugieriger Gentlemen hatte er von einer Probefahrt überzeugen können, und die meisten von ihnen hatten nicht so ausgesehen, als würden sie sich dieses Prachtstück leisten können. Wenn das so weiterginge, käme er am Ende der Woche nicht zu seiner Prämie. Und das bedeutete, er würde wieder zurück in die Werkstatt gehen und weiterhin Pferdekarren und Droschken reparieren müssen.

Petersen, einer der drei anderen Fahrer, die mit ihm diese Werbekampagne veranstalteten, lenkte seinen Roger-Benz an ihm vorbei auf die Straße. Der Gentleman auf dem Rücksitz stank förmlich nach Geld. Er konnte Petersen nicht ausstehen. Der Mann hatte mehr Glück als Verstand. Und er war ein miserabler Fahrer.

Edsall entschied, dass es an der Zeit war, etwas zu ändern. Bloß am Wagen herumzustehen und zu warten, bis man ihn ansprach, war nichts für ihn. Er musste aggressiver vorgehen, die Herrschaften selbst ansprechen, den Wagen anpreisen, so, wie die Zeitungsjungen auf der Straße es taten.

»Entschuldigen Sie, meine Damen!« Edsall winkte zwei jungen Frauen, die Arm in Arm an ihm und dem Roger-Benz vorbeigingen. »Darf ich Sie zu einer Spazierfahrt einladen?«

Kichern.

Edsall wischte sich die öligen Hände an dem Tuch ab, warf es auf den Fahrersitz des Wagens und ging auf die beiden Damen zu. »Das ist eine einmalige Gelegenheit, glauben Sie mir. Und kostenlos obendrein.«

Sie blieben stehen, hielten sich aneinander fest und sahen ihn verstohlen an. »Wer sind Sie überhaupt, dass Sie fremde Damen ansprechen?«, fragte die kleinere der beiden keck.

»Das gehört sich nicht«, gluckste die andere. Und beide kicherten hinter vorgehaltener Hand. »Wenn ich meinem Verlobten davon erzähle, wird er nicht begeistert sein.«

»Meine Damen«, sagte Edsall, ergriff sein Revers mit beiden Händen und streckte sich zu voller Größe. »Ihr Verlobter wird sich im Gegenteil bei Ihnen bedanken, wenn sie ihm von der Fahrt mit dem Motorwagen erzählen. Hier, ich gebe Ihnen meine Karte für ihn mit, Miss ...«

»Ashmore.« Sie nahm das Stück Karton und steckte es in ihre Handtasche. Ein gutes Zeichen, fand Edsall. »Ist das denn nicht sehr gefährlich, Sir?«, fragte sie dann.

»Oh, nein, Madam. Es ist absolut sicher.«

Sie sah enttäuscht aus. »Es kommt mir reichlich komisch vor, dass kein Pferd angespannt ist.«

»Wir benötigen keine Pferde mehr«, sagte Edsall.

»Wie schade. Sie sahen immer so hübsch aus«, sagte die Dame in ihrer Begleitung.

»Und wie ist Ihr werter Name, Madam?«

»Standing«, sagte sie schüchtern. »Alice Standing.«

Er zog ein weiteres Kärtchen aus der Jackentasche. »Darf ich Ihnen auch ein Präsent für Ihren Verlobten mitgeben? Oder ist es der Ehegatte?«

Sie errötete leicht. »Ich bin nicht verheiratet, Sir.«

»Umso besser«, sagte Edsall. »Dann darf ich Sie vielleicht zu meiner ganz persönlichen Freude auf eine Fahrt einladen. Ich versichere Ihnen, es ist vollkommen ungefährlich. Aber äußerst aufregend«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Ich weiß nicht recht«, sagte Miss Standing. »Was meinst du, Florence?«

»Sie haben ja keine Ahnung, was Sie verpassen, wenn Sie nein sagen«, meinte er. »Normalerweise machen sie nicht mehr als vier oder fünf Meilen. Aber diesen hier habe ich eigenhändig modifiziert. Er schafft ganze fünfzehn. Die fährt sonst keiner auf der Welt.« Alles Lügen, aber er hoffte, die Damen damit beeindrucken zu können.

»Na schön, warum eigentlich nicht?« Miss Ashmore lächelte breit. »Machen wir es, Alice. Der schnellste Motorwagen der Welt! Es ist vielleicht das Aufregendste, was wir heute erleben werden.«

»Eine hervorragende Einstellung, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, Madam«, sagte er. Und mit einer ausladenden Bewegung deutete er auf den Roger-Benz. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen beim Aufsteigen.«

Nachdem die beiden jungen Damen sicher in ihren Sitzen saßen, ging Edsall zum vorderen Teil der Motordroschke, drehte schwungvoll die kleine Kurbel und der Motor sprang puffend und rumpelnd an. Nach einer Weile schnurrte der Roger-Benz wie eine große Katze.

Edsall kletterte auf den Fahrersitz, setzte sich seinen Zylinderhut auf und löste die Bremse.

Der Wagen rollte los.

»Ich weiß nicht, Elsie – das Wetter ist einen Hauch zu warm für diese Jahreszeit, findest du nicht?« Mrs Bridget Driscoll blinzelte zwischen den Baumwipfeln der Lärchen hindurch in den Himmel, derweil sie mit ihrer Freundin und ihrer sechzehnjährigen Tochter May über die weite sanft abfallende Rasenfläche schritt, und tupfte sich mit einem weißen Taschentuch die Stirn.

»Ich weiß nicht, was du erwartest, Bridget«, entgegnete Elizabeth Murphy. Sie trug einen modischen Sonnenhut und schwenkte fröhlich den kleinen Schirm an ihrem Arm wie eine Handtasche. »Es ist August. Man kann schon froh sein, dass überhaupt noch die Sonne scheint.«

May hüpfte von einem Bein auf das andere. »Ich finde es herrlich, Ma.«

»Ach, ihr müsst aber auch immer anderer Meinung sein als ich. Schon in dieser netten kleinen Boutique musstet ihr mir diesen zauberhaften Hut ausreden.«

»Es war nur zu deinem Besten. Ich fand, er passte nicht zu deiner Nase. Er ließ sie zu groß erscheinen.«

Mrs Driscoll zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Es ist mir einerlei, was andere denken. Mir ist es zu heiß.«

May bückte sich, pflückte ein Gänseblümchen und drehte es zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Wir könnten zu den kleinen Teichen dort drüben gehen und die Füße ins Wasser halten.«

»May, ich bitte dich«, sagte Mrs Driscoll schroff und sog scharf die Luft ein. »Sei nicht so ungezogen. Du weißt, das schickt sich nicht.«

»Was ist so schlimm daran, Ma?«

Mrs Driscoll blieb stehen und sah ihre Tochter ernst an. »Was für eine Frage!« Sie schüttelte indigniert den Kopf. Eine weitere Erklärung erübrigte sich.

»Was ist so schlimm daran, Ma«, beharrte May, die nicht bereit war, sich so leicht abwimmeln zu lassen.

»Jemand könnte deine Füße sehen.«

May begann zu grinsen. »Was ist so schlimm daran, Ma?«

»Grins nicht so frech. Es ist einfach ungehörig.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. »Und jetzt sei still und sieh dir die schönen Blumen an.«

May schien mit der Antwort noch immer nicht zufrieden zu sein. »Ich verstehe nicht, warum es ungehörig ist, seine Füße zu zeigen. Ich habe sehr schöne Füße.«

»Jetzt wirst du wirklich schamlos, Liebes«, fühlte sich Mrs Murphy berufen, zu bemerken. Sie hakte das Mädchen unter und meinte: »Niemand zeigt in der Öffentlichkeit seine Füße.«

»Warum nicht, Tante Elsie?«

»Jetzt langt es mir aber, May!« Mrs Driscoll hatte genug gehört. Sie hatte nicht all die Jahre der Erziehung und der Entbehrungen auf sich genommen, um schließlich festzustellen, dass alles vergebens gewesen war und sie unter ihrem Dach eine Suffragette aufgezogen hatte. »Du bekommst Falten um den Mund, wenn du so viel fragst. Und was glaubst du, wer dich dann wohl noch heiraten will, hm?«

»Deine Mutter hat recht, Schätzchen«, sagte Mrs Murphy mit sanfter Stimme und richtete ihren Hut. »Kein Mann will eine Frau haben, die immerzu Fragen stellt. Und eine mit Falten schon überhaupt nicht. Wir beantworten Fragen, Schätzchen. Wir stellen sie doch nicht.«

»Das ist ungerecht. Ich weiß gar nicht, ob ich einmal heiraten möchte.« May verzog angewidert das Gesicht. »Männer sind eklig.«

Mrs Murphy stieß ein glucksendes Lachen hervor. »Das sind sie nicht. Hast du denn noch nie für einen Jungen geschwärmt?« Auf ihrem Gesicht erschien ein verträumtes Lächeln.

»Jungen sind auch eklig«, sagte May. Sie machte sich von Mrs Murphy los, riss der kleinen Blume in ihrer Hand die Blüte ab und schnippte sie weg. Mit verschränkten Armen ging sie langsam neben ihrer Tante her.

»Das wird sich ändern, Schätzchen. Warte nur ein, zwei Jahre ab. Und wenn dann der Richtige kommt …« Sie lief beinahe vor eine junge Birke, so sehr hing sie ihren Träumereien von vergangenen Zeiten nach.

May lachte. »Ich werde alleine leben, wenn ich großjährig bin. Und Falten um den Mund werde ich haben, so viele ich will.« Sie spitzte die Lippen und lachte wieder. Dann bückte sie sich und pflückte noch ein Gänseblümchen. »Ich müsste verrückt sein, mir von einem Mann das Fragenstellen verbieten zu lassen.«

Ihre Mutter wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als sie in der Ferne, am oberen Ende der schmalen Straße, die sie jetzt erreichten, ein schreckliches Knallen und Knattern vernahmen.

»Du liebe Güte, was für ein fürchterlicher Lärm«, sagte sie.

Alle drei sahen nach Norden, von wo der Krach herzurühren schien. Und dann erblickten sie die schwarze, in der Nachmittagssonne glänzende Maschine, die langsam über die Kuppe in ihre Richtung fuhr. Sie sah aus wie eine Droschke ohne Verdeck und ohne Pferde.

Elizabeth Murphy konnte drei Passagiere erkennen: zwei Frauen in luftig hellen Sommerkleidern und einen Mann im schwarzen Anzug, der einen Zylinderhut trug. Vermutlich der Wagenlenker, denn er blickte konzentriert geradeaus und drehte an einer Kurbel, um den leicht von rechts nach links schlingernden Wagen auf der Straße zu halten. Die beiden Damen juchzten vor Vergnügen und hielten ihre Hüte auf dem Kopf fest.

»Was ist das, Ma?« May war neben den beiden Frauen mitten auf der Straße stehen geblieben und starrte das seltsame Gefährt mit offenem Mund an.

»Das weiß ich nicht, Liebes.« Mrs Driscoll presste sich ihren Sonnenschirm vor die Brust.

»Eine von diesen neumodernen Motordroschken«, sagte Mrs Murphy. »Ich las davon in der Times.«

»Großer Gott, du liest Zeitung?« Mrs Driscoll war entsetzt.

»Ich muss. Ich habe nicht mehr das Glück, jemanden zu haben, der mich auf dem Laufenden hält.«

»Schickt sich das Zeitunglesen auch nicht, Ma?«

»Ganz gewiss nicht, Liebes.«

Der faszinierende Motorwagen ruckelte Feuer und Qualm in die frische Sommerluft speiend die Straße hinunter. Langsam kam er näher. Nicht schneller als ein eiliger Fußgänger.

Noch war er gut fünfzig Yards entfernt. Es ratterte und knallte, als würden Salutschüsse abgefeuert.

»Es ist nichts Verwerfliches daran, wenn eine verwitwete Frau in der Zeitung liest«, bemerkte Mrs Murphy in Mays Richtung.

»Wie laut die Pferde heutzutage sind«, sagte Mrs Driscoll in scherzhaftem Ton, augenscheinlich um vom Thema abzulenken.

Der Wagen kam näher und wurde noch lauter.

»Aus dem Weg!«, rief der Fahrer der Motordroschke und schlug eine Glocke an. »Aus dem Weg!

Mrs Murphy ergriff sofort Mays Arm und zog sie von der Straße auf den Rasen zurück. »Wir warten besser, bis das Ungetüm vorbeigefahren ist, Schätzchen«, meinte sie.

May folgte ihr und hielt sich die Ohren zu.

Allein Bridget Driscoll blieb auf der Straße stehen.

Noch war der Wagen zehn Yards entfernt.

»Aus dem Weg!«, rief der Fahrer erneut. Lauter diesmal. Doch Mrs Driscoll reagierte nicht. Wie mit der Straße verwachsen stand sie da, ihren Sonnenschirm in der Hand, und starrte überrascht und verwirrt geradeaus auf die andere Seite der Parkanlage. Auf die näherkommende Motordroschke achtete sie nicht mehr.

»Aus dem Weg!«, schrie der Mann mit dem Zylinder jetzt ein viertes Mal über das Knallen der Fehlzündungen hinweg.

Arthur Edsall hatte die beiden Frauen und das Mädchen in ihrer Begleitung schon von der Kuppe aus auf der Straße stehen sehen, sich zunächst jedoch keine Sorgen gemacht. Immerhin hatte er mehr als genug damit zu tun, den Roger-Benz auf Kurs zu halten, was sich bei den Unebenheiten des Straßenbelags äußerst schwierig gestaltete. Wie verrückt kurbelte er an der Lenkstange.

Als er das vierte Mal »Aus dem Weg!« gerufen hatte, hörten Alice Standing und Florence Ashmore, die beiden jungen Damen, die hinter ihm saßen, plötzlich auf zu giggeln und begannen stattdessen hysterisch zu schreien, denn die Frau auf der Straße machte keinerlei Anstalten auszuweichen.

Edsall zog mit aller Kraft an der Bremse.

Der Roger-Benz schlitterte ein Stück und scherte kurz nach links aus. Dann gab es einen dumpfen Knall, und die Frau verschwand unter dem ausladenden Schutzblech des linken Kotflügels. Der Wagen machte einen Satz und blieb stehen.

Miss Standing und Miss Ashmore schrien noch immer, als Edsall den Motor abstellte und eilig vom Fahrersitz kletterte.

Die Dame am Straßenrand und das Mädchen, das sich an sie presste, gaben keinen Ton von sich.

Als Edsall einen Blick unter den Roger-Benz warf, befiel ihn schieres Entsetzen. Die Frau, die halb unter dem Wagen lag, war tot. Das linke Vorderrad hatte ihren Kopf erwischt und ihn in zwei Teile gespalten.

Überall war Blut.

KAPITEL 2

Scotland Yard, Whitehall London

Chief Inspector Donald Sutherland Swanson hielt den Fahndungsaufruf der Kollegen aus Dublin in Händen, den Sergeant Clarence Penwood ihm vor wenigen Minuten herein­gebracht hatte, und las ihn zum zweiten Mal.

DRINGEND GESUCHT

Patrick Andrew Swift, 31

Der Gesuchte verschwand am 05. August 1896 auf noch ungeklärtem Wege aus dem County Gefängnis in Wicklow.

Da er, soweit wir wissen, über keinerlei Geldmittel verfügt, ist anzunehmen, dass er versuchen wird, Kontakt mit seiner Familie in England aufzunehmen. Leider schlugen sämtliche Versuche fehl, seine Schwester Bridget Driscoll, geb. Swift, wohnhaft 82 Penge Road, Old Town Croydon, Surrey, zu erreichen Der Gesuchte verbüßt eine mehrjährige Haftstrafe wegen Hehlerei und trat in der Vergangenheit nicht als gewaltbereit in Erscheinung. Es ist daher davon auszugehen, dass sich Swift widerstandslos festnehmen lassen wird, sollte er gefunden werden.

Fotografie ist beigefügt.

Wir bitten um dringende Unterstützung bei der Lokalisierung von Mrs Driscoll.

Hochachtungsvoll

Det. Serg. Oisin McBride,

Bray, County Wicklow

Swanson ließ den Fahndungsaufruf sinken und blickte zum Fenster hinaus, wo die graue alte Themse ewig gen Osten floss.

Bridget Driscoll.

Woher nur kannte er diesen Namen? Es war noch nicht lange her, da hatte er ihn schon einmal gelesen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich einfach nicht entsinnen, wo?

Swanson legte den Brief auf den Schreibtisch und verließ sein Büro. Suchte man eine Information, die bereits Einzug in die Akten des Yard gehalten hatte, ganz egal wie klein und unbedeutend sie auch sein mochte, dann war Police Constable Stewart Evans der richtige Mann.

Evans, dessen Büro in einem der oberen Stockwerke lag, verwaltete das umfangreiche Archiv des Yard und es gab niemanden, der eine Information schneller zu beschaffen vermochte, als ihn, selbst wenn die Einsamkeit ihn ein wenig exzentrisch hatte werden lassen. Für gewöhnlich verbrachte Evans seine freie Zeit mit dem Studium der Ripper-Akten. In letzter Zeit jedoch hatte er seine Leidenschaft für den Yoga entdeckt, eine indische Körperertüchtigungskunst, der Evans sich mit Leib und Seele widmete.

Als Swanson ihn an diesem Morgen aufsuchte, rechnete er beinahe damit, Evans wieder einmal im Schneidersitz auf seinem Schreibtisch anzutreffen, umgeben von Räucherkerzen, die beißende, fremdländische Düfte verströmten. Zu Swansons freudiger Überraschung stand der Constable mit aufgekrempelten Hemdsärmeln auf einer Leiter, die an einem der Regale lehnte, und studierte den Inhalt einer aufgeklappten Aktenmappe. Er schien seiner Arbeit nachzugehen. Kein Rauch und keine Tanpura-Musik. Der Berliner Apparat stand ohne Trichter in einem der unteren Regalfächer und machte den Eindruck, als sei er bereits länger nicht benutzt worden.

»Oh, guten Morgen, Sir!« Evans klappte die Mappe zu und schob sie zu den anderen ins Regal zurück. »Es ist doch Morgen?« Wie Charly Stedman, der die forensische Abteilung im Bauch des Yard leitete, arbeitete auch Evans bei künstlichem Licht, denn sämtliche Wände waren bis unter die Decke mit Akten vollgestopft; sogar jene an der schmalen Fensterseite.

»Es ist gleich acht«, entgegnete Swanson. »Ich bin ehrlich erstaunt, dass ich Sie sehen kann, Stewart.« Er lächelte. »Wo sind denn all die Räucherhütchen hin? Und Ihr Namastè zur Begrüßung.«

»Ich fand, dass es klüger sei, meine Asanas lieber in Ruhe zu Hause zu praktizieren, Sir. Zu wenig Platz hier und wegen der Glut der Räucherstäbchen viel zu gefährlich bei all dem Papier.« Er kletterte behände wie ein Äffchen die Leiter herunter. Die indische Körperertüchtigung schien bereits Wirkung zu zeigen. »Was kann ich für Sie tun?«

»Sagt Ihnen der Name Driscoll etwas? Bridget Driscoll?« Er nahm einen Stapel Bücher vom Stuhl, legte sie auf eine freie Stelle am Boden und setzte sich. »Wir haben einen Fahndungsaufruf der irischen Behörden erhalten. Ihr Bruder ist aus dem Bezirksgefängnis in Wicklow entflohen. Und jetzt nehmen sie an, er könne sie aufsuchen wollen.« Swanson zog das fragliche Papier aus der Innentasche seines Jacketts und reichte es Evans.

Der Constable nahm es. »Driscoll ist nicht gerade ein ausgesprochen irischer Name, Sir.«

»Sie lebt offenbar in London. Verheiratet mit einem Briten, nehme ich an.«

Evans nickte, die Nase im Papier. »Hm. Wenn Sie mich fragen, sehr unwahrscheinlich, dass er in England ist.« Er reichte Swanson den Brief zurück.

»Wie kommen Sie darauf, Evans?«

»Wenn dieser Swift kein Geld hat, wie soll er seine Schwester dann in London aufsuchen? Wie kam er her? Ist er geschwommen?«

»Offenkundig gehen die irischen Kollegen davon aus, er habe es irgendwie geschafft«, sagte Swanson. »Ich habe den Namen Driscoll in letzter Zeit schon einmal irgendwo gehört. Dummerweise erinnere ich mich nicht mehr daran, in welchem Zusammenhang.«

»Ich weiß, woher Sie ihn kennen, Sir«, sagte Evans geheimnisvoll. »Wäre allerdings ein komischer Zufall, wenn es sich dabei um dieselbe Frau handeln würde.« Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und begann, darin zu wühlen.

»Ich glaube nicht an komische Zufälle, Evans. Haben wir sie in den Akten?«

»Nein, Sir. Warten Sie, ich muss es hier irgendwo haben.« Er schloss die Schublade wieder und öffnete eine andere. »Ich habe es mir aufgehoben, das weiß ich genau, weil es ein solch historisches Ereignis war.«

Ein historisches Ereignis? Swanson fragte sich mittlerweile, was Evans wohl Bedeutendes aus dieser Schublade zaubern würde.

Evans schob auch diese Schublade zu. Dann machte er sich an einem kleinen Regal rechts hinter dem Schreibtisch zu schaffen. Nach schier endlosem Sortieren schien er endlich gefunden zu haben, wonach er suchte. »Ah, hier habe ich ihn, Sir.« Er hielt ein graues Stück Papier in die Höhe, das er Swanson reichte.

Es handelte sich um einen Zeitungsausschnitt aus dem Guardian vom 26. August.

Er las:

Tödlicher Unfall mit Motordroschke –

Geschworene fällen Urteil

Gestern hielt Coroner Percy Morrison die Leichenschau im Falle Bridget Driscoll ab, der Frau eines Arbeiters aus Croydon, die am Montag dieser Woche am Crystal Palace von einer Motordroschke überfahren und getötet wurde. Die Geschworenen besichtigten den Ort des Unfalls, und sahen den Roger-Benz Motorwagen in Betrieb.

Ellen Standing aus Forest Hill gab an, eine von zwei Passagierinnen des Fahrzeugs gewesen zu sein, das Mrs Driscoll überrollte. Sie hörte den Fahrer »Aus dem Weg!« rufen und sah drei Personen vor dem Fahrzeug stehen. Sie bemerkte, dass der Wagen kurz schwankte und zwei der Personen sprangen nach rechts. Mrs Driscoll zögerte, und das Gefährt traf sie. Der Fahrer hatte vollkommene Kontrolle über den Wagen. Die Zeugin gab an, nicht gesehen zu haben, dass Mrs Driscoll ihren Schirm gehoben habe. Das Fahrzeug auf dem Sie saß, fuhr viel schneller als die anderen. Der Fahrer habe das gesagt.

John Wood, der Sprecher der Mechaniker sagte aus, es sei seine Aufgabe gewesen, Warnschilder auf der Strecke anzubringen. Er versicherte, es habe genügend davon gegeben. Er glaube nicht, der Motorwagen sei in der Lage gewesen schneller als vier Meilen pro Stunde zu fahren. Jedes Fahrzeug sei entweder mit einer Klingel oder einer Hupe ausgestattet gewesen. Er habe die Fahrer häufig die Hupen betätigen hören.

Arthur James Edsall, der Fahrer des Wagens, sagte unter Eid aus, er habe den Wagen an belebten Tagen langsam gefahren. Zum Zeitpunkt des Unfalls sei er nicht schneller als vier Meilen pro Stunde gewesen. Das glaube er zumindest. Er habe nicht ausweichen können. Die Frau auf der Straße habe verwirrt gewirkt und sei nicht zur Seite getreten. Er sei den Wagen seit drei Wochen am Crystal Palace gefahren. Zuvor sei er als Mechaniker beschäftigt gewesen. Man habe ihm keine Anweisungen bezüglich der Straßenseite gegeben, auf der er fahren solle. Der Motorwagen habe stets problemlos funktioniert. Er habe zu keinem Zeitpunkt Schwierigkeiten gehabt, den Wagen geradeaus zu lenken. Der Zeuge war nicht in der Lage, die Zeugin Standing als eine seiner Passagierinnen zu identifizieren. Er habe nie behauptet, der Motorwagen könne schneller fahren als vier Meilen pro Stunde.

Die Geschworenen befanden auf Tod durch Unfall.

Evans blickte Swanson abwartend an. »Können Sie etwas damit anfangen?«

»Ich denke schon.« Er faltete den Zeitungsausschnitt zusammen und steckte ihn ein. »Können Sie mir zusätzlich den Unfallbericht herbeischaffen, Evans?«

»Selbstverständlich, Sir.«

»Wie schnell geht das?«

»In einer Stunde ist kein Problem, Sir.«

»Danke. Sie sind der Beste. Ich gebe Ihnen drei.« Swanson stand auf und legte die Handflächen aneinander. »Ach, und Evans?«

»Ja, Sir?«

»Om Shanti.« Und mit einer leichten Verbeugung verabschiedete er sich.

Evans starrte ihm so verdutzt nach, als habe er eine Erscheinung gehabt.

Constable Frederick Porter Wensley, der jüngste Neuzu­gang in Chief Inspector Donald Swansons Abteilung machte seinem Namen alle Ehre; er war ehrlich und stark wie englisches Porter und streng aber beliebt wie Wensleydale Käse.