Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber - Robert C. Marley - E-Book

Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber E-Book

Robert C. Marley

5,0

Beschreibung

London 1895. Im Garten eines Hauses im vornehmen Londoner Stadtteil South Norwood werden zwei Leichen gefunden. Offenbar wurden die Opfer zunächst erdrosselt und anschließend auf ihrem eigenen Grund und Boden in Särgen bestattet. Wer hatte ein Motiv, das in der Nachbarschaft als sonderlich geltende Geschwisterpaar zu ermorden? Und warum sind sämtliche Schuhe aus dem Haus verschwunden? Die Spuren führen Chief Inspector Swanson und sein Team schließlich zu einem berüchtigten Pub in Colnbrook. Verbirgt sich der Mörder womöglich hier unter den zahlreichen Gästen?

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber
Ein viktorianischer Krimi von Robert C. Marley

Inhaltsverzeichnis

Inspector Swanson und das Geheimnis der zwei Gräber

Vorbemerkung

Prolog

Erster Teil

KAPITEL 1

Zweiter Teil

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

Dritter Teil

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

Vierter Teil

KAPITEL 10

KAPITEL 11

Fünfter Teil

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

Sechster Teil

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

Siebter Teil

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

Epilog

Personen & Begriffe

Danksagung

Impressum

Orientierungsmarken

Cover

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Textbeginn

Für Liesel,die mit dem letzten Opfer der Jarmans den Nachnamen teilt
»Ein Bierzapf ist ein gutes Gewerbe.«
William Shakespeare
»Ein alter Wandrer mit müdem Schritt kam des Weges gegangen. Sein Rücken ist krumm und müde sein Blick. Er hat eine Sünde begangen.«
Renate Hagemann geb. Richert (1938 – 2003)

Vorbemerkung

Pubs sind etwas Wunderbares. Gäbe es sie nicht, sie müssten zwingend erfunden werden. Nichts geht über den Besuch eines Pubs, nach einem anstrengenden Tag, einem erfolgreichen Geschäft, oder einfach, wenn es darum geht, sich ausgelassen und zwanglos mit ein paar Freunden zu treffen. Pubs sind herrliche Gleichmacher; sie bringen Leute aus allen Gesellschaftsschichten zusammen. Am Tresen stehen Bänker und Bäcker einfach als Menschen nebeneinander.
Im Ostrich Inn, jener Schänke, die im vorliegenden Roman eine wesentliche Rolle spielt, ist es ebenso. Für die Gäste und Wirte vergangener Zeiten kann ich mich nicht verbürgen. Aber ich möchte ausdrücklich feststellen, dass ich bei meinen Besuchen dort niemanden angetroffen habe, der auch nur im Entferntesten den Eindruck auf mich gemacht hätte, er könne ein Verbrecher oder gar Mörder sein.
Die Beschreibung des Pubs entspricht im Wesentlichen den Gegebenheiten, wie man sie im ausgehenden 19. Jahrhundert dort vorfand. Und auch die Hintergrundgeschichte um den Mord an einem Reisenden namens Cole im 17. Jahrhundert, entspricht, soweit man das sagen kann, den Tatsachen.
R.C.M.
33 Park Street, Mayfair, London 1895
Adolphus Abercrombie war ein kleiner, rund­licher Mann mit Halbglatze und Nickelbrille, der fest mit seinem Schreibtisch verwachsen zu sein schien. Vor ihm auf dem Tisch und rings um ihn herum in den Regalen und Aktenschränken, die in seinem Büro kaum Platz zum Treten ließen, stapelten sich die Papiere jener Leute, mit deren Leben er täglichen Umgang hatte.
Wenn es nach ihm ginge, blieben sie alle gesund, stieß ihnen niemals ein Unheil zu, lebten sie glücklich, wohlhabend und zufrieden, bis der Herr sie eines fernen Tages auf natürliche Weise und im höchstmöglichen Alter zu sich rief.
Menschen, so konnte man den Eindruck gewinnen, lagen Mr Abercrombie außerordentlich am Herzen. Und auf eine gewisse Weise taten sie das auch, wenngleich er keinerlei Wert darauf legte, ihnen mehr als einmal im Leben zu begegnen. Seine ausgenommene Freundlichkeit, seine Gastfreundschaft und die Tugendhaftigkeit seines zuvorkommenden Wesens, die jeder seiner Kunden genossen hatte, beschränkte sich auf eben diese eine Stunde ihres einzigen Besuchs.
Abercrombie, Geschäftsführer und Inhaber der Agentur Abercrombie Vermögensverwaltung & Versicherungen – und Arbeitgeber für seine einzige Angestellte, seine Nichte Bertha, die ihm den Schriftverkehr führte –, war so ungemein freundlich und zuvorkommend, wie alle Versicherungsmakler es sind, wenn es darum geht, eine neue Police zu unterzeichnen.
Benjamin Garrick, der blonde junge Mann, der Abercrombie in diesem Moment gegenübersaß, war sich dieser Tatsache selbstverständlich bewusst, denn er war ganz und gar nicht auf den Kopf gefallen. Im Gegenteil. Er war ein heller Bursche mit ausgezeichneten Manieren und einer guten kaufmännischen Ausbildung. Unglückliche Umstände hatten es jedoch bislang verhindert, dass er in beruflicher Hinsicht festen Boden unter den Füßen erlangte.
Nach seiner Ausbildung in einem Teekontor, wo er für den Import der Waren zuständig gewesen war, hatte er eine neue Stelle mit vielversprechenden Aufstiegsmöglichkeiten in einem aufstrebenden Unternehmen in Mayfair angetreten. Er hatte geheiratet und auf Kredit ein kleines Haus gekauft. Doch das Geschäft, in dem er bis vor wenigen Monaten angestellt gewesen war, hatte, bereits kurz nach der Geburt seines ersten Kindes, einer Tochter namens Ethel Pauline, einen raschen aber vollkommenen Niedergang erfahren. Und Garrick war, wie die übrigen Angestellten auch, von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt worden.
»Wenn Sie hier bitte unterzeichnen wollen«, sagte Abercrombie mit einem warmherzigen Lächeln. Er reichte Garrick den Federhalter und tippte mit dem Zeigefinger auf die fragliche Stelle. »Ich gehe davon aus, dass Sie mit den Modalitäten der Versicherungs-Police vertraut und einverstanden sind?«
»Das bin ich, ja«, entgegnete Garrick.
»Ich frage nur, weil ja alles seine Richtigkeit haben muss.«
Garrick nickte. Er war etwas nervös. Er spürte, wie ihm plötzlich ganz warm im Gesicht wurde. Und er begann am Rücken und an den Handflächen zu schwitzen. Nach einigem Zögern nahm er den Federhalter jedoch und schrieb in kantigen, exakten Buchstaben seinen Namen auf die dafür vorgesehene Linie.
»So«, sagte er und atmete erleichtert aus. Er legte den Federhalter auf die Schreibtischunterlage.
»Sehen Sie, das war es auch schon.« Abercrombie lächelte noch immer, als er das Vertragsformular wieder an sich nahm. Er klappte eine flache rote Ledermappe auf und legte das Schriftstück sorgsam hinein. Dann klappte er die Mappe wieder zu. Die linke Hand sanft daraufgelegt, wie ein Priester, der eines seiner Schäfchen segnet, sah er Garrick milde an. »Eine Versicherung über 5000 Pfund. Das ist eine große Ehre, die Sie da genießen, Mr Garrick. Und eine mächtige Verantwortung. Seien Sie sich dessen stets bewusst.«
»Das bin ich, Sir. Das bin ich durchaus.«
»Schön. Hoffen wir beide, dass es niemals zum Äußersten kommt, nicht wahr?«
»O ja«, beeilte Garrick sich zu sagen. »Das hoffe ich. Das hoffe ich sogar sehr.« Er sah den Versicherungsmakler an, der noch immer freundlich lächelte, und fragte sich, ob der Mann vielleicht etwas ahnte.
»Zwischen Ihnen und – nun, nennen wir sie die andere Partei – bestehen keine familiären Verbindungen; gehe ich da recht in der Annahme?«
»Das stimmt, Mr Abercrombie.« Seine Kehle fühlte sich mit einem Mal so trocken an, als habe er eine Schaufel Saharasand verschluckt. Er räusperte sich. »Ich kann mir vorstellen, wie ungewöhnlich Ihnen das vorkommen muss.«
»Hm, nicht ganz so ungewöhnlich wie Sie vielleicht denken mögen, Mr Garrick. Bei Alleinstehenden kommt es durchaus häufiger vor, dass jemand Fremdes –« Er malte mit beiden Händen Anführungszeichen in die Luft. »– als Nutznießer eingesetzt wird.«
»Das beruhigt mich etwas«, meinte Garrick mit einem kleinen, schüchternen Lächeln. »Ich hatte schon befürchtet, es könne den Eindruck machen, als wolle ich mich auf ungebührliche Weise bereichern.«
»Mein lieber Mr Garrick, wo denken Sie hin?« Abercrombie winkte ab. »Das zu denken wäre auch äußerst dumm, finden Sie nicht? Sie profitieren zwar von der Police, das ist richtig; allerdings erst, wenn beide verstorben sind. Und die Wahrscheinlichkeit, dass beide kurz hintereinander versterben oder gar auf unnatürliche Weise«, setzte er hinzu, »ist doch sehr gering.«
»Das stimmt wohl.«
»Sehen Sie? Sie dürfen also ganz unbesorgt sein. Solange niemand etwas Böses im Schilde führt – und davon gehe ich selbstredend aus – ist es für beide Seiten ein ausgezeichneter Handel.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht. Ich dachte nur, es könne unter Umständen einen merkwürdigen Eindruck machen«, meinte Garrick und nickte bekräftigend. »Unter keinen Umständen möchte ich als so etwas wie ein Erbschleicher gelten.«
»Wie gesagt, es ist ein Handel auf Gegenseitigkeit. Es ist ja immer gut, jemanden zu haben, der sich im Alter um alles kümmert, wenn die Familie fehlt. Und wenn wir mal ehrlich sind, ist doch manch freundschaftliche Verbindung oft weitaus beglückender, als die zur buckligen Verwandtschaft, habe ich Recht? Blut ist dicker als Wasser und so weiter – ich habe nie sonderlich viel davon gehalten.«
»Es ist im Grunde nichts weiter als eine Gefälligkeit, wissen Sie?«, sagte Garrick, um das leidige Thema ein für alle Mal abzuschließen.
»Dessen bin ich sicher. Sie sind ein patenter junger Mann mit einem ehrlichen Gesicht. Die Wahl hätte kaum auf einen Besseren fallen können.«
Garrick spürte, wie ihm das Blut in die Wangen zu steigen begann. »Ich bemühe mich redlich«, entgegnete er.
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
»Danke, Sir.«
»Haben Sie Familie, Mr Garrick?«
»Oh ja.«
»Glücklich verheiratet?«
»Gewiss«, entgegnete Garrick. »Außerordentlich glücklich sogar, darf ich sagen. Wir haben im letzten Jahr erst geheiratet.« Bei dem Gedanken an seine junge Familie musste er grinsen und seine Selbstsicherheit kehrte zurück. Er entspannte sich wieder. Die Nervosität verschwand allmählich. »Vor einem halben Jahr wurde dann unsere Tochter geboren.«
»Hach!« Abercrombie lachte ungezwungen. »Es gibt nichts Schöneres, als ein Leben in diese Welt zu setzen. Sie müssen der glücklichste Mensch der Welt sein.«
»Das bin ich.«
»Wie heißt denn die Kleine?«
»Ethel Pauline. Ethel nach der Mutter meiner Frau«, sagte Mr Garrick. »Und Pauline – nun, ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.« Er strahlte über das ganze Gesicht. »Ich nehme an, meine Frau fand wohl, dass der Name gutbürgerlich klingt.«
»Das tut er«, versicherte Abercrombie. »Das tut er in der Tat.« Für einen Moment zog ein Schatten über das Gesicht des Versicherungsmaklers. »Ich selbst hatte leider nie dieses Glück.«
»Das tut mir leid«, sagte Garrick aufrichtig.
Doch Abercrombie winkte ab. »Früher hätte ich gern eine Frau gehabt. Und Kinder. Jetzt bin ich froh, nur für mich und meine Nichte sorgen zu müssen. Die Verantwortung«, setzte er vielsagend hinzu.
»Da sagen Sie was«, meinte Garrick. »Es ist manchmal wahrhaftig eine riesige Verantwortung.« Er dachte an die Geldsorgen. Und daran, wie verzweifelt Constance jedes Mal war, wenn er wieder von einem Bewerbungsgespräch zurückgekehrt war und eine abschlägige Antwort erhalten hatte. »Jedenfalls ist es nicht immer ganz leicht, das kann ich Ihnen sagen.«
»Das denke ich mir«, sagte Abercrombie. »Und so verhält es sich auch mit dem Vertrag, den Sie gerade unterzeichnet haben. Gehen Sie mit dieser neuen Verantwortung genauso um, wie Sie es mit Ihrer Familie tun.«
»Das werde ich.« Die Nervosität kehrte schlagartig zurück. Mr Garrick spürte, wie ihm das Lächeln des Versicherungsmaklers zuzusetzen begann. Niemand, dachte er bei sich, lächelt während einer Unterhaltung die ganze Zeit. Das taten bloß Schwachsinnige oder Menschen, die deutlich mehr wussten als man selbst.
»Nun denn, Mr Garrick –« Der Versicherungsmakler erhob sich nicht, als er dem jungen Kaufmann nun zum Abschied die Hand reichte. »Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute.«
»Danke, Sir.«
»Meine Empfehlung an Ihre Frau Gemahlin.«
»Danke, Mr Abercrombie.« Er nahm die Hand des Versicherungsmaklers und schüttelte sie kräftig. »Ich werde es ausrichten. Ihnen weiterhin gute Geschäfte.«
»Wenn sich noch Fragen ergeben sollten, schicken Sie einfach ein Telegramm.«
»Das werde ich.«
»Sie finden den Weg selbst hinaus?«
»Natürlich.«
Und damit verließ Garrick das Büro, marschierte erleichtert die drei Treppen hinunter und trat auf die Park Street hinaus.
*
In seinem Büro rief Abercrombie nach seiner Nichte.
Wenige Sekunden darauf öffnete sich die Tür und sie streckte den Kopf ins Zimmer.
»Bertha«, sagte er. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Mit sorgenvoller Miene sah er von der roten Ledermappe auf, auf der nach wie vor seine linke Hand ruhte. »Tu mir doch einen kleinen Gefallen, Liebes, ja? Mach eine kurze Notiz und lege sie diesem Vertrag hier bei.« Er reichte ihr die Mappe.
»Selbstverständlich, Onkel Adolphus«, entgegnete sie eilfertig und nahm die Mappe entgegen.
»Den jungen Mr Garrick sollten wir im Gedächtnis behalten. Ich habe da so ein unbestimmtes Gefühl, das mich zwickt, obwohl er ein netter Bursche zu sein scheint. Mir sind zwar die Hände gebunden, und ich kann nichts weiter tun, denn alles ist mit rechten Dingen zugegangen, aber mache trotzdem eine Notiz – für alle Fälle.«
»Gern.« Sie presste die Mappe an ihre flache Brust. »Was soll ich schreiben?«
Abercrombie schob nachdenklich die Unterlippe vor und schnalzte ein paar Mal mit der Zunge. »Schreib«, sagte er dann, »schreib, Mr Benjamin Garricks Hände haben geschwitzt.«
*
Zahllose Fuhrwerke, Droschken und Mietkutschen quälten sich rasselnd und lärmend in beide Richtungen die Straße hinauf, derweil Benjamin Garrick mit einem glücklichen breiten Grinsen auf dem Gesicht, den Gehsteig entlang nach Norden in Richtung Paddington Bahnhof spazierte.
Das Schlimmste war überstanden.
Das Leben meinte es endlich wieder gut mit ihm. Soeben hatte er das Geschäft des Jahrhunderts abgeschlossen; ach was, das Geschäft der Geschäfte. Wenn er es richtig anstellte, war die Zukunft seiner kleinen Familie von nun an gesichert. Keine Sorgen mehr wegen der hohen Kosten für das Haus, dass er auf Constances Drängen hin vor einem halben Jahr gekauft hatte; keine schlaflosen Nächte mehr wegen der Schulden, die er bei seiner Bank hatte; keine Gedanken mehr darüber, wie er für die Gehälter der wachsenden Zahl ihrer Hausangestellten würde aufkommen können.
Er hatte die Versicherungs-Police unterzeichnet. Von jetzt an, würde alles wieder ruhiger werden.
Die Streitereien mit seiner Frau, die ihm ständig wegen der unbezahlten Lebensmittelrechnungen in den Ohren lag, wären nun ebenfalls vorbei. Sie waren wirklich schlimm gewesen. Keinem seiner Freunde hätte er davon erzählen können, ohne Gefahr zu laufen, sein Gesicht zu verlieren.
Ihre fürchterliche Geldnot war während der letzten Monate dermaßen drückend und übermächtig gewesen, dass sie sich wie ein schwarzer Schleier aus Trauerspitze über ihre Ehe gelegt hatte.
Doch diese Zeiten waren von nun an vorbei. Worum er sich jetzt nur noch zu kümmern brauchte, war sein Alibi. Die Karten dafür hatte er bereits in der Tasche – eine Überfahrt nach Dieppe. Vier Wochen unbeschwerter Ferien in Frankreich würden Constance gefallen, dessen war er sich sicher. Und vielleicht, ganz vielleicht, würde sie abermals guter Hoffnung sein, wenn sie nach England zurückkehrten.
Er trat an den Rinnstein, hob die Hand und winkte einer Droschke. Bereits die zweite hielt an.
Das musste sein Glückstag sein.
»South Norwood«, rief er zum Kutschbock hinauf, klappte den Wagenschlag zu und ließ sich in die Polster zurücksinken.
Das hier wird ein radikaler Neuanfang sein, dachte er zufrieden, während die opulenten Häuserfronten von Mayfair an ihm vorüberzogen.
Trotz der Streitigkeiten liebte er Constance mehr denn je. Und endlich würde er ihr das auch beweisen können.
Benjamin Garrick war mehr als zufrieden mit sich.
Er war der glücklichste Mensch der Welt.
Und in etwas mehr als einem Monat, wäre er tot.

KAPITEL 1

South Norwood, London, 1895
Der Regen klatschte den Männern in der Dunkelheit ins Gesicht und ließ den Schlamm, in dem sie knöcheltief standen, an ihren Stiefeln und Regenmänteln empor spritzen.
Der ehemals gepflegte Rasen sah im Licht der rings um am Boden aufgestellten Öllampen wie ein verdammter Kartoffelacker aus, in dem eine verzweifelte Horde hungriger Iren gewühlt hatte, dachte Police Inspector Walter Hughes.
Er stand im Dunkeln, in seinen wetterfesten Macintosh gehüllt, unter einem der alten Apfelbäume im verwilderten Garten des Hauses Nummer 27 Tennison Road, South Norwood und sah den beiden fluchenden Constables beim Graben zu. Seinen Schirm hatte er bereits in die Zweige gehängt. Der nützte ihm bei diesem Wetter ohnehin nichts. Der Regen schien aus allen Richtungen zu kommen.
Er hätte es gleich wissen müssen, dass dieser Tag kein gutes Ende nähme. Seine Frau war beim Frühstück schon zu freundlich gewesen. Und die plärrende Kinderschar der Nachbarn hatte um halb sechs am Morgen, als er sich aus dem Bett ins Bad gequält hatte, nicht wie sonst angeschlagen, wie eine Meute scharfer Hunde. Selbst als er sich an den Küchentisch gesetzt hatte, um die Zeitung zu lesen, war es nebenan mucksmäuschen still gewesen.
Wenn er an Mr Dawson, den kleinen aufgeregten Mann, dachte, der mittags auf der Wache aufgetaucht war und etwas von verschwundenen Nachbarn gefaselt hatte, stieg ihm jedes Mal eine Woge Magensäure wie Magma seine Speiseröhre hinauf.
An jedem anderen Morgen hätte Hughes den Mann und dessen verschwundene Nachbarn vermutlich an Police Sergeant Upright verwiesen, der sowieso viel besser darin war, als er, den mitfühlenden Dorfpolizisten zu spielen. So jedoch war er seiner guten Stimmung wegen nicht auf Zack gewesen. Statt Upright zu rufen, der irgendwo Aktennotizen verglich und sortierte – eine von Hughes Lieblingstätigkeiten – hatte er dem kleinen nervösen Mann einen Tee eingeschenkt und sich seine Geschichte angehört: Sein Name sei Dawson. Und es gäbe da ein Haus in der Tennison Road. Er mache sich um den Verbleib der Eigentümer sorgen. Sie seien verschwunden. Nur zwei Erdhügel seien übriggeblieben. Und die sähen wie Gräber aus.
Der Mann hatte sich weder beruhigen noch abwimmeln lassen. Und obwohl Inspector Hughes sicher war, dass nichts dahintersteckte, war er letzten Endes doch mit dem Mann in die Tennison Road gefahren und hatte sich das Haus und die vermeintlichen Gräber im Garten zeigen lassen.
*
Die beiden Erdhaufen lagen im weitläufigen, dicht bewachsenen Garten des Anwesens auf dem einzigen freien Flecken, der nicht mit Obstbäumen oder Strauchwerk bewachsen war, einer Art Lichtung. Das Haus selbst schien verlassen.
Doch von außen wies nichts darauf hin, dass hier etwas Kriminelles vor sich gegangen war. Die Hintertür, die auf eine kleine, überdachte Veranda führte, war ordnungsgemäß verschlossen. Ebenso die Haustür. Und sämtliche Fenster waren ebenfalls geschlossen und augenscheinlich unversehrt.
Die beiden Erdhaufen jedoch waren ungewöhnlich, das musste Hughes dem Mann lassen.
»Wer sind die Leute, die hier wohnen?« Hughes rieb sich seinen vom Hochstarren schmerzenden Nacken.
»Meine Nachbarn, das habe ich Ihnen doch bereits auf dem Revier erklärt.« Der Mann zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf, so als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind.
Hughes ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen. Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und sagte: »Der Name?«
»Dawson«, antwortete Mr Dawson.
»Nicht Ihrer, Mann!« Hughes schloss die Augen. »Der der Nachbarn.«
»Ah, ja. O’Hanlon.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter«, sagte Mr Dawson. »Einfach O’Hanlon.«
»Sind Ihnen die Vornamen nicht bekannt?«
»Doch, doch. Sicher.« Er nickte.
Hughes sog hörbar die Luft ein und schnaufte. »Und, Mr Dawson, wie lauten sie?«
»Nun, Sarah und Michael natürlich. Das ist das Haus von Sarah und Michael O’Hanlon. Das habe ich doch alles schon auf dem Revier erzählt.« Wieder zog er die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf.
»Alter?«
»Schwer zu sagen.« Mr Dawson sog die Unterlippe ein, derweil er nachdachte. »Beide älter jedenfalls.«
Hughes ließ den Schreibblock sinken. Wenn sie so weiter machten, würden Sie noch morgen hier stehen. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich Ihnen nicht alles aus der Nase ziehen müsste, Sir.«
»Nun, ich kann doch nicht wissen, was Sie so alles interessiert.«
»Welchen Wein Sie zum Braten bevorzugen und mit welcher Handarbeit Ihre Frau die Abendstunden zubringt können Sie auslassen«, knurrte Hughes. »Wann wurden die fraglichen Personen zuletzt gesehen? Seit wann lebten sie hier? Wer war die letzte Person, die Kontakt zu ihnen hatte? Und: Was macht Sie so sicher, dass sie nicht einfach für eine Weile verreist sind? Das Mr Dawson sind einige der Dinge, die mich interessieren.«
»Ich wohne gleich drüben auf der anderen Straßenseite«, begann Mr Dawson und wies grob in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Die O’Hanlons sind meistens für sich. Leben hier ganz allein. Seit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren.«
»Irgendwelche Bediensteten? Jemand, der sich um das Haus kümmert?«
»Sie hatten mal eine Zugehfrau, soweit ich sagen kann. Aber die kommt seit etwa einem Monat auch nicht mehr her. Jedenfalls habe ich sie nicht gesehen seitdem. Und die O’Hanlons auch nicht. Seit drei Tagen nicht mehr – beide nicht. Und sie sind ganz bestimmt nicht plötzlich verreist.«
»Was macht Sie da so sicher?«
»Sie verreisen nie. Außerdem hat Michael – das ist Mr O’Hanlon – neulich erst zu Mr Conan Doyle gesagt, er wolle ihn diese Woche wegen irgendeiner Sache aufsuchen.«
»Wer ist Mr Conan Doyle?«, fragte Hughes, dem der Name vage bekannt vorkam.
»Arthur Conan Doyle, der berühmte Autor«, sagte Mr Dawson. »Er wohnt nur ein paar Häuser die Straße rauf. Sherlock Holmes und so weiter.«
»Tatsächlich?« Hughes war beeindruckt. »War er mit den O’Hanlons bekannt?«
»Nun, so bekannt, wie wir alle hier, will ich meinen. Wir können uns einer ausgezeichneten Nachbarschaft rühmen, wenn ich das so sagen darf. Und er wars ja auch, der mich gebeten hat, wegen der Sache zur Polizei zu gehen.«
»Warum ist Mr Conan Doyle nicht selbst zu uns gekommen? Warum schickte er Sie, Mr Dawson?« Insgeheim ärgerte er sich darüber.
»Er ist ein vielbeschäftigter Mann, Inspector.«
»Das erklärt es natürlich«, knurrte Hughes. »Sie verfügen über reichlich Zeit, nehme ich an. Ich benötige natürlich Mr Conan Doyles Adresse.« Er würde den berühmten Mann schon noch zu Gesicht bekommen. »Wir werden ihn ebenfalls befragen müs- sen.«
»Wohnt in Nummer 12«, sagte Mr Dawson.
Hughes notierte das, steckte dann Block und Bleistift in seine Uniformjacke und schob sich die Dienstmütze zurecht.
»Was werden Sie jetzt wegen dieser Gräber unternehmen?«, fragte Mr Dawson.
»Augenblicklich sind es für mich nur zwei Erdhügel, Mr Dawson«, sagte Hughes. Doch der kleine blasse Mann hatte Recht. Sie wirkten merkwürdig hier in diesem Garten. Sie würden sie untersuchen müssen.
*
Und genau das taten sie jetzt, viele Stunden später.
Der Regen prasselte noch immer vom Nachthimmel.
Wäre seine Frau doch nur mürrischer gewesen, dachte Hughes. Hätten die Blagen der Barnsleys doch bloß gelärmt wie immer. Ach, hätte er wegen des ungewöhnlich angenehmen Morgens doch nur nicht so verdammt gute Laune gehabt. Dann würde er jetzt gemütlich in seinem Bürostuhl am Schreibtisch sitzen, dem Trommeln des Regens lauschen, wie er aufs Dach und gegen die Fenster prasselte, und in aller Ruhe einen heißen Tee trinken.
Stattdessen stand er nun hier in der Dunkelheit, völlig durchnässt und beaufsichtigte die Constables Bernard und Hutchins dabei, wie sie auf einen einfachen Verdacht hin zwei vermeintliche Leichen ausgruben.
Es wäre komisch gewesen, wenn er die Geschichte von einem seiner Kollegen gehört hätte. So war es einfach nur lächerlich und noch dazu außerordentlich unangenehm.
»Wenn es so weiterregnet, brauchen wir ’ne Pumpe!«, rief Hutchins gegen das Heulen des Windes an. »Sieht aus wie’n verdammter Gartenteich!« Er stand in dem länglichen Loch, an dem er grub, mittlerweile knietief im Wasser. Er warf einen Blick zur Seite, wo Constable Bernard die Schaufel schwang. »Weiß nicht, ob das heute noch was wird, Sir. Das Wasser löst die Erde auf, und der ganze Schlamm läuft wieder in das Loch zurück.«
»Dann hören Sie auf zu klagen, Constable und sehen Sie zu, dass sie schneller Graben.« Hughes konnte das Gejammer nicht leiden. Jammerte er? Nein, das tat er nicht. Obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Derweil seine Kollegen im Regen schwitzten, stand er sich die Beine in den Bauch und fror zum Gotterbarmen. »Wer von euch als erster auf sechs Fuß runter ist, bekommt auf der Wache einen Grog.«
Bernard lachte und warf eine Schaufel Schlamm über die Schulter nach hinten. Sie klatschte gegen den Stamm zweier dicht stehender Apfelbäume. »Es ist gegen die Regeln, im Dienst Alkohol zu trinken, Sir.«
»Wer sagt denn, dass in dem Grog Alkohol drin ist?« Hutchins rammte die Schaufel in den aufgeweichten Boden und stützte sich mit beiden Armen darauf. »Ist Alkohol drin, Sir?«
Hughes blickte ihn an, als sei er schwachsinnig. »Nein«, sagte er kalt.
Er nahm nicht an, dass bei der Graberei viel herauskam. Die Frage war nur, woher die Erde für die Hügel gekommen war. Nirgendwo sonst im Garten gab es Aushebungen. Wenn es sich – und da war er sich absolut sicher – bei diesen Erdhaufen nicht um menschliche Gräber handelte, woher war dann bloß diese ganze Erde gekommen?
»Ich glaub, ich bin da auf was gestoßen!«, rief Hutchins, der, verdreckt, wie er war, aussah, als sei er in letzter Sekunde einem heimtückischen Sumpfloch im Moor entronnen. Er nahm die Schaufel in beide Hände und rammte sie abermals einige Male in den Boden. »Da ist eindeutig ein Widerstand, Sir.«
Hughes verließ seinen Platz unter dem Baum und trat an das ausgehobene Schlammloch heran. »Worauf warten Sie, Mann?«, sagte er. »Graben Sie weiter. Weiter.« Er schickte ein stilles Stoßgebet gen Himmel und hoffte inständig, dass es sich bei dem Widerstand, was immer er sein mochte, nicht um eine Leiche handelte.
Hutchins grub derweil weiter. »Ich hab es gleich, Sir!«, rief er. Schlamm und grobes Erdreich sprenkelten Hughes Stiefel, als Constable Hutchins eine weitere Ladung Abraum aus dem Grab schaufelte.
»Können Sie schon was erkennen?«
»Nein, Sir«, stöhnte Hutchins. »Allerdings scheint es was Größeres zu sein. Und steinhart«, fügte er hinzu. Die Schaufel kratzte kreischend über den vergrabenen Gegenstand. »Könnte eine Metallkiste sein, so wie das klingt.«
Mit einer Metallkiste kann ich leben, dachte Hughes. »Solange Sie mir keine Leiche hier raufbringen, bin ich mit allem zufrieden.« Eine Leiche bedeutete Lauferei und unendlichen Papierkram. Und zu beidem hatte er keine Lust. Hughes hatte sich nicht ohne Grund nach South Norwood versetzen lassen. Hier gab es keine unvorhergesehenen Leichen. Jedenfalls keine, die in sein Ressort fielen. »Und?«
»Sekunde, Sir.« Eine weitere Schaufel Schlamm flog aus der Grube und rieselte in hohem Bogen in die Büsche. »Ich könnte etwas Licht gebrauchen.«
»Sie kriegen eine Lampe, wenn es tatsächlich was zu sehen gibt«, blaffte Hughes.
Ein enttäuschtes Grummeln, das Hughes nicht einordnen konnte, kam aus der Grube. »Was ist da unten, Constable?«, fragte er.
»Ach – es war wohl doch nichts. Bloß ein großer Stein.« Er warf ihn zur Seite und grub wenig enthusiastisch weiter.
Was Inspector Hughes betraf, so war er mehr als zufrieden damit. »Wie tief sind Sie?«
»Fünf Fuß vielleicht«, gab Hutchins zur Antwort.
»Und bei Ihnen Bernard?«
Constable Bernard, der abgewartet hatte, was Hutchins zu Tage fördern würde, schnappte sich knurrend seine Schaufel und machte sich wieder an die Arbeit. Sein Loch war noch nicht sonderlich tief. »Ist verdammt hart die Erde auf meiner Seite, Sir. Meinen Sie wirklich, das Ganze hat Sinn?«
»Sie graben weiter, bis wir auf sieben Fuß runter sind«, sagte Hughes und schüttelte sich in seinem Macintosh wie ein nasser Hund. »Wenn wir bis dahin nichts gefunden haben, gibt es hier nichts zu finden.«
So vergingen die nächsten anderthalb Stunden.
Es war halb elf in der Nacht – der Regen hatte in all der Zeit nicht einen Augenblick lang aufgehört, war allerdings in ein schwaches Nieseln übergegangen und es war den beiden Constables gelungen, das meiste Wasser aus den Gruben zu entfernen – da stieß Constable Hutchins einen freudigen Schrei aus. »Ich glaube, ich hab da wieder was. Scheint was Richtiges zu sein diesmal!«
Das Loch, in dem er stand, war gut sieben Fuß lang und jetzt so tief, dass bloß noch Hutchins Kopf herausschaute. Und der verschwand jetzt auch hinter der Kante, als er sich hinunter beugte.
»Was haben Sie?« Hughes schnappte sich eine der Lampen und war mit drei Schritten bei ihm. Er spähte in die Tiefe, wo Hutchins auf den Knien liegend mit beiden Händen Schlamm und Erde beiseiteschob. »Ja, was ist da unten?«, fragte Constable Bernard, der aufhörte zu graben und wie ein Maulwurf aus seinem eigenen Loch zu ihnen herüberäugte.
»Fühlt sich an, wie Holz.« Hutchins stand auf und streckte den Arm in die Höhe. »Geben Sie mir doch mal die Lampe, Sir.«
Hughes ging in die Hocke, reichte sie ihm und der Constable tauchte damit abermals in die Grube hinab.
Constable Bernard war mittlerweile aus seinem Loch herausgeklettert und verrenkte sich fast den Hals, als er, neben dem Inspector stehend, in die schwach erleuchtete Grube blickte.
»Verflucht, Sir!« Hutchins klang erschrocken.
»Was?«
»Da ist eine Holzkiste.«
»Sind Sie diesmal sicher?«
»Todsicher, Sir«, erwiderte Hutchins.
»Ist sie groß?«
»Ziemlich groß.«
»Wie sieht sie aus?«
»Kommen Sie runter, Sir, und sehen Sie sich das an.«
Das war ganz und gar nicht nach Hughes Geschmack. Es reichte, dass er hier seit Stunden in der Kälte im Regen stand und die Arbeit der beiden Constables beaufsichtigte. Er war Inspector. Er wurde nicht dafür bezahlt, sich im Dreck zu suhlen. Das war etwas für die Sergeants und Constables.
»Beschreiben Sie mir, was Sie sehen«, sagte Hughes laut und hüstelte pikiert. Dann sah er zu, wie Hutchins die Laterne am Boden abstellte, sich wieder auf die Knie sinken ließ und so gut es ging mit den Handkanten den restlichen Schlamm wegwischte.
Für einen kurzen Augenblick, ehe das braune Wasser es wieder zuschwemmte, blitzte etwas am Boden auf, das im Schein der Laterne golden oder silbern geschimmert hatte.
»Ham Sie das gesehen, Sir?«, fragte Bernard?
»Wischen Sie es ganz weg«, knurrte Hughes. »Gut möglich, dass die alten Leute hier ihre Schätze vergraben haben.« Oder das, was sie dafür hielten, fügte er im Geiste hinzu. Die Menschen waren seltsam. Sie vergruben alles Mögliche im Boden. Die Alten allemal.
»Da wo die hingegangen sind, brauchen sie keine Schätze mehr«, entgegnete Hutchins ernst. Sein Kopf tauchte am Rand des Loches auf. In der Hand hielt er die Öllampe. »Das ist ein Sarg, Sir.«
Hughes glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Was zum Teufel meinen Sie mit: Das ist ein Sarg?«
»Na, so, wie ich es sage.« Er schwenkte die Lampe und verschwand wieder in der Grube. »Hier ist ein Sarg vergraben, Sir.« Hutchins Stimme klang fest und von dem überzeugt, was er sagte. »Die Frage ist nur, wie wir ihn rauskriegen aus dem Loch.«
»Reden Sie keinen Unsinn!«, rief Hughes. Er beugte sich weit über die Kante, um in die Tiefe zu spähen. »Sehen Sie noch Mal genauer hin. Womöglich ist es doch bloß ein größeres Stück Holz.«
»Nein, Sir.« Constable Hutchins Augenbrauen wanderten im Licht der Laterne nach oben, seine Mundwinkel nach unten. »Es ist ein Sarg. Da gibt es kein Vertun. Es sei denn, jemand hat sich einen makabren Scherz erlaubt. Sehen Sie her.« Und er leuchtete mit der Lampe langsam den Boden ab.
Und da sah auch Inspector Hughes das große silberne Kreuz, das in den schwarzen Sargdeckel geprägt war.
Constable Bernard saß mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen neben dem Inspector am Grab. »Wir werden das Loch größer machen müssen, um das Ding zu heben. Sieht nach verdammt viel Arbeit aus.«
Inspector Hughes, dem sich das mit Matsch und Dreck verschmierte Kreuz wie ein Brandzeichen auf die Iris geprägt hatte, stieß Bernard grob mit der flachen Hand gegen die linke Schulter, sodass der der Länge nach in den Dreck fiel.
»Worauf warten Sie, Constable?«, brüllte Hughes. »Halten Sie hier nicht Maulaffen feil. Machen Sie, dass Sie in Ihr Loch kommen, verflucht nochmal. Und sehen Sie zu, dass Sie den verdammten zweiten Sarg auch noch finden.«

KAPITEL 2

27 Tennison Road, South Norwood, London
Es war etwa gegen acht Uhr am folgenden Morgen, als Chief Inspector Donald Sutherland Swanson vor dem Haus Nummer 27 Tennison Road aus einem Einspänner der Metropolitan Police stieg, der ihn und Sergeant Phelps nach South Norwood gebracht hatte. Er blieb auf dem Gehsteig stehen. Das Gewitter der Nacht war vorüber. Der Himmel war von einem klaren, hellen blau.
Die Adresse war ihm gleich vertraut vorgekommen, und nun wusste er auch warum. Während der Ermittlungen im Fall des berühmten Hope Diamanten waren sie schon einmal hier gewesen. Die Schmuckfabrik von einem der Opfer und das Haus von Arthur Conan Doyle lagen nur ein Stück weit die Straße hinauf.
Nummer 27, ein zweistöckiges Gebäude aus dem letzten Jahrhundert, sah aus, als sei es gut gepflegt worden. Die Fassade war weiß gekälkt und der schmiedeeiserne Zaun, der den mit Blumenrabatten bepflanzten Vorgarten umgab, schien frisch gestrichen zu sein.
Am Tor stand ein junger Constable in Uniform. Die Dienstnummer auf seiner Schulter verriet, dass Norwood nicht sein reguläres Revier war. Er legte zum Gruß die Hand an die Mütze. »Es ist hinten«, sagte er und wies vage in Richtung eines überdachten Durchgangs links vom Haus. »Bitte kommen Sie, Sirs.« Er hielt ihnen das Tor auf. »Ich zeige Ihnen die Gräber.«
Swanson und Phelps folgten ihm den gepflasterten Gartenweg entlang, durchquerten einen schmalen, mit Efeuranken bewachsenen Laubengang und erreichten nach wenigen Metern eine kleine, ebenfalls überdachte Veranda. Zwei Korbstühle standen darauf, und eine alte Holzkiste, die als Tisch fungierte. Alles war mit dunklen Moosflechten bewachsen und sah aus, als sei es Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden.
War Swanson die Front des Hauses noch ausgesprochen gepflegt erschienen, so musste er zu seinem Erstaunen feststellen, dass es der Garten ganz und gar nicht war.
Vor ihm lag ein nahezu undurchdringlicher Dschungel. Ein enger Trampelpfad führte in einen Wald aus toten Apfelbäumen, deren kahle Äste mit grünen Flechten überzogen waren, und dichtem, mannshohen Dornengestrüpp.
Swanson blieb kurz stehen und blickte zur Rückseite des Hauses hinauf. Sie lag im Schatten, war, wie der Laubengang dicht mit Efeu berankt, das bis zum Giebel hinaufreichte, und wirkte so düster, als habe man ihr durch eine Art bösen Zauber einen Großteil des Lichts entzogen.
»Sir?« Der Constable hatte offenbar bemerkt, dass Swanson ihm und Phelps nicht ins Unterholz gefolgt war, und kam zurückgelaufen. Den linken Arm in Richtung des Dickichts ausgestreckt, sagte er: »Es ist dort drüben, Mr Swanson, nicht im Haus.«
Das wusste Swanson bereits aus dem Bericht. Er blickte noch immer zu den dunklen Augenhöhlen der Fenster hinauf, als er sagte: »Es ist ganz anders, als ich erwartet habe. Fällt Ihnen auf, wie dunkel es auf dieser Seite ist?«
»Nun, Sir«, sagte Peter Phelps, der neben dem Constable auftauchte. »Norden ist nicht gerade die Sonnenseite.«
Aber das war nicht der ganze Grund, dachte Swanson. Das Haus erinnerte ihn an ein Judy und Punch Kasperletheater, zu dem ihn sein Vater als Kind einmal mitgenommen hatte.
Von vorn betrachtet war alles bunt bemalt gewesen und die Figuren hatten so echt und lebendig gewirkt, dass er sich noch heute daran erinnerte, wie er mitgefiebert hatte, als das Krokodil die arme Judy gefressen und Punch dafür vom Polizisten die Prügel bezogen hatte. Swansons Vater war damals mit ihm hinter die Bühne gegangen, um dem weinenden, kleinen Donald zu zeigen, wie der Puppenspieler den Kasperl und die übrigen Figuren bewegte, und dass in Wirklichkeit niemandem etwas zugestoßen war.
Noch immer sah Swanson die schmutzig graue Rückseite des Puppentheaters vor sich, den hinter dem Vorhang stehenden alten Mann in abgetragenen Kleidern und die wie tot am Boden liegenden Figuren von Judy und Punch.
So kam ihm auch die Vorderseite dieses Hauses vor – wie eine Fassade. Aufgestellt, um nach außen hin den schönen Schein zu wahren, während seine Bewohner in Wahrheit bereits im Garten von den Würmern gefressen wurden.
»Es sieht unbewohnt aus«, sagte er bloß.
»Das ist mir auch aufgefallen.« Der Constable nickte. »Allerdings hat hier angeblich bis vor einer Woche noch ein Geschwisterpaar gewohnt.«
»Wer sind die Leute?« Alles, was Swanson wusste, war, dass sie vermisst wurden.
»Ein Mann und eine Frau namens O’Hanlon«, entgegnete er. »Sie haben keine bekannten Angehörigen. Ein Nachbar hat sie als vermisst gemeldet.«
»Ich nehme an, Sie haben bereits mit ihm gesprochen.«
»Selbstverständlich, Sir. Sobald ich den Bericht angefertigt habe, bekommen Sie ihn.«
»Vorerst wird es genügen, wenn Sie Sergeant Phelps seine Adresse geben. Dann werden wir ihn falls nötig noch einmal aufsuchen.«
»Selbstverständlich, Sir.«
»Was wissen Sie über die Vermissten?«
»Nicht viel, ehrlich gesagt. Außer, dass sie verschwunden sind, ohne jemandem Bescheid gegeben zu haben.«
»Verstehe.« Im Bericht der Kollegen war von zwei Kisten die Rede gewesen, die sie aufgrund der Vermissten­anzeige ausgegraben hatten. Ihm war nicht ganz klar, was das eine mit dem anderen zu tun hatte. »Was ich nicht verstehe ist, weshalb man uns hinzugezogen hat. Es wäre Aufgabe der örtlichen Beamten gewesen, zunächst den Verbleib der Leute zu klären.«