Inspektor Jury besucht alte Damen - Martha Grimes - E-Book

Inspektor Jury besucht alte Damen E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Mit Schirm, Charme und viel Spannung

Der Antiquitätenhändler Marshall Trueblood entdeckt in einem wunderschönen antiken Sekretär zu seinem Entsetzen eine sorgfältig zerlegte Leiche. Inspektor Jury eilt an den Ort des grausigen Fundes, ein herrschaftliches Anwesen auf dem Land – und sticht dort mit seinen Ermittlungen in ein wahres Wespennest: Offensichtlich hatte der Tote weit mehr Feinde als Freunde. An Verdächtigen herrscht zumindest kein Mangel. Als kurz darauf ein Mord in den Londoner Docklands geschieht, erkennt Jury einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen. Doch der geheimnisvolle Mörder scheint Inspektor Jury und seinem getreuen Helfer Sergeant Wiggins immer einen Schritt voraus zu sein ...

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Martha Grimes

Inspektor Jury besucht alte Damen

Roman

Deutsch

Buch

Der Antiquitätenhändler Marshall Trueblood ist fassungslos: In einem wunderschönen antiken Sekretär entdeckt er eine sorgfältig zerlegte Leiche. Inspektor Jury eilt an den Ort des grausigen Fundes, ein herrschaftliches Anwesen auf dem Land. Und an diesem scheinbar so friedlichen Ort sticht er mit seinen Ermittlungen in ein wahres Wespennest: Offensichtlich hatte der Tote, der unsympathische und habgierige Simon Lean, weit mehr Feinde als Freunde. An Verdächtigen herrscht zumindest kein Mangel. Als kurz darauf ein Mord in den Londoner Docklands geschieht, erkennt Jury einen Zusammenhang zwischen dem bizarren Verbrechen auf dem Lande und der Toten, die in einem Ruderboot auf der Themse treibt. Doch der geheimnisvolle Mörder scheint Inspektor Jury und seinem getreuen Helfer Sergeant Wiggins immer einen Schritt voraus zu sein.

Autorin

Die Originalausgabe erschien 1987 unter dem Titel »The Five Bells and Bladebone« bei Little, Brown and Company, Boston/Toronto

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Taschenbuchausgabe März 2002 Copyright © der Originalausgabe 1987 by Martha Grimes By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 551 Fifth Avenue, Suite 1613 New York, NY 10176–0187 USA Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte an der deutschen Übersetzung bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Umschlaggestaltung: Design Team München

Für meinen Lektor Ray Roberts,der aufpasst, dass Jury nicht auf die schiefe Bahn gerät;

und für Kit Potter Ward,

Orangen und Mandarinen, Klingt’s von St. Katharinen. Steine aus der Ziegelei, Klingt’s von St. Giles. Heller und Dukaten, Klingt’s von St. Martin. Zwei Taler, zwei Äppel, klingt’s von Whitechapel. Willst du mich prellen? Klingt’s von St. Helen. Willst du nicht, dann zahl sie, Klingt’s von Old Bailey. Ich mach den Fitsch, Klingt’s von Shoreditch. Sag, schaffen wir’s nie?

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungErster Teil - Zwei Taler, zwei Äppel, Klingt’s von Whitechapel
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14
Zweiter Teil - Willst du mich prellen? Klingt’s von St. Helen
Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27
Dritter Teil - Willst du nicht, dann zahl sie, Klingt’s von Old Bailey
Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37
Vierter Teil - Ich mach den Fitsch, Klingt’s von Shoreditch
Kapitel 38 - EINE WOCHE SPÄTER.
DANK

ERSTER TEIL

ZWEI TALER, ZWEI ÄPPEL,

1

Wenn man sich hier nicht darauf gefasst machte, dass man gleich die Kehle durchgeschnitten kriegte, wo dann?

Whitechapel, Shadwell, der Ratcliffe Highway: Bilder vom blutigen East End schossen Sadie Diver jedes Mal durch den Kopf wie Messer, wenn sie auf ihrem nächtlichen Weg von Limehouse Schritte hinter sich hörte. Sie musste immer noch daran denken, als ihre Absätze schon das feuchte, von Nebel verschleierte Pflaster von Wapping entlangklapperten. Und geschnappt hatten sie ihn auch nicht, oder? Nicht weit her mit der Polizei.

Vor ihr schimmerte die Leuchttafel des Fisch- und Aalgeschäftes kränklich gelb durch den dichten Dunst. LEBENDE AALE. GEKOCHTE AALE. AAL IN SUELTZE. In den letzten beiden Monaten hatte sich Sadie Diver mehr mit Schreiben und Lesen beschäftigt als in den ganzen achtundzwanzig Jahren zuvor. Sie wusste, dass dort Ü statt UE hätte stehen müssen und dass das T in dem Wort nichts zu suchen hatte. Bin wahrscheinlich die Einzige, die in Wapping auf Achse ist und das weiß, dachte sie. Von der Wohnung in Limehouse bis zum »Stadt Ramsgate« waren es zu Fuß zwanzig Minuten, und sie war verärgert, dass er sie zu einer so genannten »Kostümprobe« dorthin bestellt hatte. Mein Gott, als ob sie das nicht schon ewig und drei Tage durchgekaut hätten! Und dass Tommy morgen Abend auf Besuch kam, das hatte sie ihm vorsichtshalber gar nicht erzählt. Er hätte sie glatt umgebracht.

Als Sadie auf gleicher Höhe mit dem Fischgeschäft war, kamen sie einfach auf sie zu: Sie waren nur zu dritt, aber sie schafften es, wie eine ganze Mauer von Punks zu wirken, als sie aus den Schatten der Seitengasse neben dem Laden auftauchten; einer spuckte in die Gosse, einer lächelte irre, einer machte ein steinernes Gesicht.

Das übliche »Hallo Süße«, die üblichen Zoten, während sie ihr wie festgewurzelt den Weg versperrten. Alles, was in ihrem Rücken geschah, machte sie nervös; mit dem, was vor ihr war, konnte sie fertig werden. Darin hatte Sadie Übung. Tatsache war, sie hatte darin so viel Übung, dass ihre Hand automatisch in die Umhängetasche fuhr und mit einem Schnappmesser wieder zum Vorschein kam. So unvermutet blitzte es im wässrigen Schein der Leuchttafel auf, dass sie auseinander fuhren, ihr noch etwas über die Schulter zuriefen und sich hinter dem Nebelvorhang in die Seitengasse davonmachten.

Im rauchig wirkenden Schein einer Straßenlaterne blieb sie stehen und warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie vergrub die Hände in den Taschen des alten Regenmantels, ein Fetzen, den sie normalerweise nicht ums Verrecken angezogen hätte, und tastete im Weitergehen nach dem Messergriff. Er hatte gewollt, dass sie trug, was sie bei all ihren Treffen getragen hatte und was sie auch an jenem letzten Tag tragen würde. Jedenfalls betrachtete sie diesen Tag gerne als den letzten Tag ihres alten Lebens. In diesem Fetzen und ohne Make-up, wie hatten die Typen sie da nur anmachen können?

Solche dicken Nebelschwaden hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Und dabei hatten sie den 1. Mai. Frühling. Kalt wie Klostermauern; kalt wie eine Nonne … Sie stellte den Kragen hoch und lächelte bei dem Gedanken an die Barmherzigen Schwestern. Sie hielt sich für eine gute Katholikin, aber eine noch bessere hatte sie eben nicht werden wollen. Sie und Nonne. Zum Totlachen.

Sie bog nach links ab und dann nach rechts, schlug die schmale Straße am Fluss ein. Wieso hatte er sich bei Wapping Old Stairs mit ihr treffen wollen und wieso ausgerechnet jetzt, wo der Pub schon zu hatte? Eine Wand aus Speichern türmte sich in der Dunkelheit vor ihr auf und hüllte sich in die Nebelschleier, die von der Themse herüberwehten. Es war ihr, als müsste sie sie wie Spinnweben beiseite wischen, doch sie klebten an ihr. Als sie an der Hauptwache von Wapping vorbeikam, musste sie lächeln. Die Wache war hell erleuchtet und nach elf Uhr ungefähr das einzige Zeichen von Leben hier.

Als sie den Pub »Stadt Ramsgate« erreichte, hörte sie schon wieder Schritte hinter sich. Die Gleichen konnten es nicht sein, die hatte sie doch schon beim Fischgeschäft abgehängt. Trotzdem war sie fast erleichtert, als sie die Straße verlassen und in den Schatten von Wapping Old Stairs untertauchen konnte. Diese bestanden aus zwei Reihen von Stufen, die ganz alten waren moosbedeckt; am Ende befanden sich eine kleine Helling und ein altes Boot mit einem geteerten Segeltuch darüber.

Dumpfe Schritte über ihr; sie reckte den Hals, sah aber weiter nichts, als den diesigen Schein einer Lampe, die an einem Bauwagen hing. Sie ging ein, zwei Stufen hinunter und blieb jäh stehen, als sie Holz auf Stein knirschen hörte und das Quietschen der Ruder auf Metall. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Gestalt in dem kleinen Boot entdeckte. Der lange Mantel und der schwarze Hintergrund der Themse machten es unmöglich, etwas Genaues zu erkennen. Es musste ein Ruderboot oder eine Jolle sein, an der wohl jemand arbeitete; sie konnte es nicht ausmachen, hatte aber auch nicht die Absicht, auf den Stufen auszuharren, nur um das herauszufinden.

Sadie begann, die Stufen hinaufzusteigen, rutschte jedoch auf dem nassen Stein aus, blieb mit dem Absatz hängen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Gab es denn da wirklich nichts zum Festhalten? Im Rutschen bekam sie gerade noch die glitschigen, kalten, bemoosten Stufen zu fassen, die so abgetreten waren, dass sie diesen Namen kaum noch verdienten.

Die Gestalt aus dem Boot stand jetzt eine Stufe unter ihr und sah sie an.

Sadie wollte ihren Augen nicht trauen.

Eine Hand kam aus dem langen schwarzen Mantel hervor und hielt etwas, dessen Klinge weitaus gemeiner aussah als das, was Sadie bei sich trug. Falls sie versuchen würde, die Treppe hoch zu fliehen, bekäme sie die Klinge in den Rücken.

Also warf sie sich zu Boden, und während die Gestalt über ihr herumwirbelte, ließ sie sich die Treppe hinunter- und auf halbem Weg in die Themse gleiten. Das lange Messer durchschnitt die dicke, faulige Luft und verfehlte sie um Haaresbreite. Sadie konnte es herabzischen hören.

Sie zog ihrerseits das Messer aus der Tasche und kletterte ins Boot. Sie kannte sich mit Booten aus, genau wie Tommy. Draußen zog ein schwarzer Schiffsrumpf vorbei, wahrscheinlich ein Frachtkahn auf dem Weg zu den Ziegeleien in Essex. Noch weiter draußen sprenkelten ein paar Leichter das Wasser. Zitternd vor Angst griff sie nach den Rudern, denn die Gestalt setzte ihr nach. Das Schnappmesser entglitt Sadies Händen und fiel in das Bilgenwasser, das sich im Boot gesammelt hatte.

Sie tastete danach, und als sich ihre Finger darum schlossen, sah sie die weißen Hände, die an der Bordwand zerrten. Tommy Diver stand auf dem Dock und schaute zu den Leuchttürmen von Gravesend und Galleon’s Reach hinüber. Ein schartiger Lichtstrom von Rot und Orange ließ den Nebel über der Flussmündung leuchten, als hätte man Kanonen abgefeuert. Meilenweit erstreckten sich die Docks, Werften und Speicher längs der Themse, bis zur London Bridge und zur Isle of Dogs. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren an die achthundert Schiffe gleichzeitig unterwegs zum Londoner Hafen gewesen; jetzt fuhr kaum eins mehr weiter als bis Tilbury.

Er konnte sich gut vorstellen, wie es zu Zeiten des Indien- und Osthandels ausgesehen hatte: überall lackierte Bugspriete und rostrote Segel wie ein blutunterlaufenes, finsteres Wolkengebilde. Als er seinem Freund Sid gesagt hatte, dass er sich so den Schiffsverkehr in Venedig vorstellte, hatte der nur gelacht. Sei nicht so romantisch, Junge. Sid war in Venedig gewesen und hatte lauter Orte gesehen, die Tommy nur vom Hörensagen kannte. Venedig ist erfüllt von Gold- und Blautönen wie ein juwelenbesetzter Drache. Aber das Schiff da (und dabei zeigte er auf eins, das vor Anker lag) ist nur ein alter Kettenhund, der in einem Torweg von Gravesend schläft.

Tommy spürte plötzlich Gewissensbisse, weil er Tante Glad und Onkel John angelogen hatte; aber sie hätten ihn nie nach London gelassen, nicht mal für zwei Tage. Er fand, er müsse diese Gelegenheit, Sadie zu besuchen, unbedingt nutzen, ganz gleich was sie von ihr hielten. Sid würde ihn decken. Er kuschelte sich noch tiefer in die schwarze Lederjacke, die er sich im Secondhandladen von Oxfam von einem Teil des Geldes gekauft hatte, das ihm seine Schwester geschickt hatte. Sie war ihm zu groß, aber echtes Leder, nicht dieses billige, steife Zeugs, das bei jeder Bewegung knatschte. Wenn man mit der Hand darüber fuhr, fühlte es sich daunenweich an.

Wapping lag keine dreißig Meilen entfernt, Flusslauf und Luftlinie gerechnet. Er kannte den Lauf der Themse in- und auswendig – Tilbury, Greenhithe, Rotterhithe, Bermondsey, Deptford. Er wusste, dass ihm der Fluss und seine Arbeit mit Sid auf dem Schlepper fehlen würden, auch wenn es nur für zwei Tage war.

Sie hatte gesagt, vielleicht könnte er eines Tages sogar nach Limehouse kommen und bei ihr wohnen, wenn sie erst eine größere Wohnung hätte. Aber diesen Satz kannte er zur Genüge – die Schule, wenn du mit der Schule fertig bist. Tommy versuchte, das quälende Gefühl loszuwerden, dass sie ihn gar nicht wirklich bei sich haben wollte, nicht mal jetzt. Und doch hatte sie ihm das Geld geschickt. Noch nie im Leben hatte er fünfundsiebzig Pfund auf einem Haufen gesehen.

Von Galleon’s Reach kam der trostlose Warnton einer Glockenboje. Ein Schlepper auf dem Weg zu einem schwarzen Schiffsrumpf weiter draußen in der Mündung fiel schwermütig ein. Er war noch nicht mal fort, und schon hatte er Heimweh. Er spürte den bedrückenden Schatten des vorbeifahrenden Schleppers und überlegte, wie viele Becher starken Tees er schon vom Maschinenraum an Deck getragen hatte. Er liebte den Fluss, aber Sadie liebte er auch, und nie im Leben war er so traurig gewesen wie an dem Tag, als sie von Gravesend nach London gegangen war. Die Erinnerung an sie veränderte sich ständig, war fast wie ein Traum, sodass er manchmal meinte, er hätte sich das alles nur ausgedacht. Aber er hatte doch noch so viele Kleinigkeiten aus ihrer Kindheit so klar vor Augen. Na gut, eher aus seiner Kindheit. Sie war zwölf Jahre älter, aber er glaubte sich zu erinnern, dass sie ihn immer mitgehen ließ, ihm beim Zeitungshändler Süßigkeiten kaufte, auf dem Gehsteig mit Kreide Käsekästchen für ihn aufzeichnete und mit ihm im Kinderhaus spielte.

Zwei weitere Schlepper zogen vorbei, färbten sich im letzten Schein des Sonnenuntergangs auf dem Wasser blutig braun, eine Fläche, auf der die fahle Sonne erst zu schweben und dann unterzugehen schien. Weit draußen konnte er die winzigen schwarzen Gestalten der Schleppercrew sehen, wie sie auf die Leichter kletterten, sie auseinander zogen und am Schlepper vertäuten, sodass man sie zur Werft schleppen konnte.

Nach Sonnenuntergang bekamen die verlassenen Gebäude, die vernagelten Fenster der Speicher etwas Trostloses, Unbehaustes. Er sah zu, wie der Schlepper zur Werft zurücktuckerte, in seinem Schlepptau die Leichter.

Wie komisch es war, dass er morgen in einen Zug steigen würde, um in eine Stadt zu fahren, die nur ein paar Meilen stromaufwärts lag und unendlich viel einfacher über den Fluss erreicht werden konnte; er brauchte nur bei Wapping Old Stairs oder Pelican Stairs von Bord eines Schiffes zu gehen oder von einem Schlepper herunterzuklettern und könnte dort sein Glück machen. Aber das war sicher nicht das Glück, das Marco Polo erwartet hatte.

Die Schüssel war leer; niemand rief.

Die weiße Katze wanderte auf leisen Pfoten um die ausgetrockneten Wasserbecken herum und den kiesbedeckten Pfad durch die sorgfältig angelegten Gärten entlang. Einen Augenblick blieb sie ganz still sitzen und rührte sich nicht, dann schob sie sich durch eine Schneeballhecke. Unter einem Rosenbusch hielt sie erneut inne. Weiße Blütenblätter rieselten herab, als die weiße Katze einen Satz nach einem grauen Schatten machte, der auf dem Kiesweg vorbeihuschte. Sie jagte eine Feldmaus. Doch die Feldmaus verschmolz mit dem Grau und Braun von Kies und Stein, so wie die weiße Katze mit einer Einfassung aus weißen Sommerblumen verschmolz, als wären sie beide nicht wesenhaft, ein Schemen, der einem Schemen nachjagt.

Jetzt hockte die weiße Katze in einem abgeschiedenen Garten neben der Steinfigur einer jungen Frau, die eine geborstene, vom Regen gefüllte Schale hielt. Hier ließen sich zuweilen Finken und Zaunkönige nieder. Die Katze saß im Morgenlicht, blickte an der rosenüberrankten Pergola vorbei und spitzte die Ohren. Es schien, als könnte sie über dem Getriller und Geschmetter der Vögel die Maus hören, die beinahe geräuschlos durch Eibenhecken und Bodendecker huschte. Licht sickerte durch die Kletterpflanzen und legte sich in perlenartigen Streifen über das Fell der Katze.

Die Nebelschleier über dem Gras lösten sich in der Sonne auf, Tautropfen fielen von den Kletterpflanzen und Rosenblüten, welche die Pergola überrankten. Die weiße Katze beobachtete, wie sich ein Tropfen am Rand eines Blütenkelchs bildete, ein blauer Punkt in einer kristallenen Fassung, der herabfiel und zersprang, ehe sie ihn mit der Pfote auffangen konnte. Sie gähnte, blinzelte und döste im Sitzen ein.

Ein Laut, eine Witterung; sie öffnete die Augen und spitzte die Ohren. Ihr Blick wanderte nach oben; auf einem Rhododendron hatte ein Rotkehlchen gesessen, das jetzt aufflog. Die Katze verließ den abgeschiedenen Garten und wanderte zum Ufer des nahe gelegenen Flüsschens. Hier duckte sie sich und beobachtete einen Zaunkönig bei seinem Bad im Staub. Bevor sie sich auf ihn stürzen konnte, war der Zaunkönig fort und strich dicht übers Wasser dahin. Die Katze starrte in den Wasserlauf, als wäre der Vogel hineingefallen. Tief unten flitzten Schatten vorbei, verharrten, jagten dann zurück. Die Katze schlug nach dem Wasser und versuchte, die vorbeihuschenden Schatten mit der Pfote festzuhalten.

Sie gähnte noch einmal, leckte sich die Pfote und spazierte über die kleine Brücke. Auf der anderen Seite blickte sie sich um. Nichts rührte sich. Die Sonne war inzwischen über dem Horizont aufgetaucht, überzog den kleinen See jäh mit einem Gespinst aus Gold und ließ die Fenster des Sommerhauses erglänzen.

Die Katze mochte das Sommerhaus; es war kühl und dämmrig. Es hatte angenehm durchgesessene Stühle, und eine Wolldecke lag über dem Sessel, der dem Kamin am nächsten stand. Dort lag die weiße Katze am liebsten. Sie schlief ein, zwei Tage darin und tat sich an allem gütlich, was sich an Kleingetier in den dunklen Ecken regte. Pfiffe und Rufe von draußen überhörte sie; schließlich ging sie wieder, spazierte über den weitläufigen Rasen und durch die ausgedehnten Gärten und untersuchte ihre Schüssel auf der Terrasse.

Ein Weilchen saß sie reglos wie die Statue im Garten, blinzelte und betrachtete den Fußboden neben der gläsernen Terrassentür. In einer Ecke erspähte sie einen Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste und an der Fußleiste entlanghuschte.

Die weiße Katze zitterte, duckte sich, glitt die Fußleiste entlang und zwängte sich in den engen Spalt zwischen einem großen secrétaire und dem Fußboden.

Binnen einer Minute hatte sie sich wieder herausgewunden, saß da und leckte sich das Blut von der Pfote. Dann wanderte sie durch die geöffnete Terrassentür, einen kurzen Pfad hinunter zu einem kleinen Anleger. Dort blieb sie sitzen, schaute über den See und gähnte.

2

In der »Hammerschmiede« werkelte Dick Scroggs derart herum, dass er kaum Zeit fand, seinem einzigen Gast ein Bier und einen Strammen Max vorzusetzen.

»Hier hat sich im letzten Monat ja mehr getan als in all den Jahren zuvor«, sagte Melrose Plant. »Sie machen sich wohl auf jede Menge Touristen gefasst, wie?«

»Man muss mit der Zeit gehen, M’lord«, sagte Scroggs zwischen den Nägeln in seinem Mund hindurch und über das Geklopfe des Hammers in seiner Hand hinweg.

Melrose dachte bei sich, dass er wohl eher mit dem »Blauen Papagei« mithalten wollte, einem umbenannten und umgestrichenen Pub etwas abseits der Straße von Dorking Dean nach Northampton. Gewiss, der Name war entlehnt, sozusagen bei Sydney Greenstreet stibitzt, obwohl nicht zu vermuten stand, dass die Kundschaft einer marokkanischen Kneipe – noch dazu einer erfundenen – nun karawanengleich über den Matschweg zum neuen »Blauen Papagei« ziehen würde.

Melroses Blick verfolgte die auf seinem Teller herumkugelnde Gewürzgurke, während er mit Mühe Dicks Bier Marke Donnerschlag hinunterbrachte. Dann fragte er: »Wie sind Sie denn an die versnobte Trennwand da gekommen?« Sein Blick wanderte die Bar entlang zu einer Reihe wunderschön geätzter, facettierter Glasscheiben.

»Trueblood, Sir. Hält für mich die Augen nach so was offen.« Dick, den man gewöhnlich in der »Hammerschmiede« über seine Zeitung gebeugt antraf, die Hände in die Hüften gestemmt, fuhr sich mit dem schweren Arm über die Stirn. »Dachte so bei mir, es würde den Laden ein bisschen aufmöbeln. Hat doch sonst niemand in der Gegend«, setzte er in bedeutsamem Ton hinzu.

»Ja, das ist sicher wahr.« Melrose rückte die goldgefasste Brille zurecht und machte sich bereit, es mit dem Kreuzworträtsel der Times aufzunehmen. Selbige stand an seinen Rimbaud gelehnt, welcher seinerseits auf Polly Praeds neuestem Thriller, Fünf falsche Verteidiger, lag. Das Kreuzworträtsel glich in etwa einem Salatblatt, mit dem er seine Geschmacksnerven zwischen Poesie und Polly zu beruhigen pflegte. Er möbelte es etwas auf, indem er neue Wörter erfand, die auch in die Kästchen passten.

Dicks Geschäftigkeit reizte ihn ein wenig. Um diese Tageszeit sollte hier eigentlich nichts anderes zu hören sein als das Ticken der Uhr und Mrs. Withersbys Schnarchen. Jetzt hörte Scroggs auf zu hämmern und eilte mit einem Eimer Farbe an ihm vorbei, um die türkisfarbene Zierleiste aufzufrischen, die um die Fassade der »Hammerschmiede« herumlief. Scroggs hatte sich sogar aufs Bierbrauen verlegt und produzierte ein Gebräu, das indes bewies (Melrose hatte den Geschmack des Donnerschlags noch auf der Zunge), wie wenig er mit den Schwierigkeiten des Herstellungsprozesses vertraut war.

Inmitten all dieser Geschäftigkeit wäre Melrose sich wie ein Faultier vorgekommen, wäre er nicht ein vernünftiger Mensch gewesen, der sich schon vor etlichen Jahren gewisse Prioritäten gesetzt hatte. Nachdem er mit seinen Titeln, wie dem des Earl of Caverness, des fünften Viscount Ardry und was der Dinge mehr waren, aufgeräumt hatte, konnte er es sich nunmehr auf seinem vom Mief der Vergangenheit befreiten Familiensitz Ardry End gemütlich machen und sein Vermögen genießen.

Es ist wirklich Frühling!, dachte er. Schon allein diese Luft …

Zu seinem Leidwesen ließ Scroggs, als er die Tür öffnete, nicht nur die linde Frühlingsluft herein, sondern auch Melroses Tante, die demonstrativ mit ihren Krücken herumfuchtelte. Diese wurden zunächst hier, dann dort angelehnt, während Agatha sich zu der chintzgepolsterten Bank hinüberquälte. Wenn Melrose ihr nur ein klitzekleines bisschen zur Hilfe eilte, dann nicht etwa, weil er kein Gentleman war, sondern weil er wusste, dass der verbundene Knöchel der reinste Schwindel war, zu dem sie den Dorfarzt unter großem bitterlichen und bemühten Geseufze überredet hatte. »Ich habe bei dir angerufen. Du warst nicht zu Hause«, sagte sie und ließ sich mit einem gekonnten Aufstöhnen auf den Platz neben ihm plumpsen.

»Nein, dass du das aber auch gemerkt hast, Agatha«, sagte er und setzte T-R-A-M-P-E-L ein, wo eigentlich T-R-O-M-M-E-L hätte stehen müssen. Das machte Spaß.

»Wenn mich nicht alles täuscht, hast du gesagt, er käme heute.«

»Jury? Tut er auch.«

Wenn einer auf die Bedürfnisse anderer keine Rücksicht nahm, dann Lady Ardry; sie stellte das Fensterchen hinter sich auf, wobei ein Schauer aus Blütenblättern von den Kletterrosen herabrieselte, und verlangte mit lauter Stimme ihr Sherryzielwasser von Dick Scroggs.

»Ist doch nicht einzusehen, wieso der Mensch sich nicht ums Geschäft kümmert; stattdessen klatscht er ein so ekelhaftes Blau an die Wand.«

Ein Wort mit vier Buchstaben statt R-U-T-E. Melrose grübelte. »Na ja, seit der ›Blaue Papagei‹ solch ein Bombengeschäft macht, hat Scroggs Angst, dass man ihm dort die ganzen Touristen vor der Nase wegschnappt.«

»Welche Touristen? Genau aus dem Grund gefällt es uns doch hier: keine Amok laufenden Fremden, die mit dem Papier von Eis am Stiel um sich schmeißen, keine kreischenden Bälger. Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«

Melrose blickte fragend hoch.

»Superintendent Jury.« Schwer von Begriff, besagte ihr Seufzer.

Du dumme Pute, dachte Melrose.

Ah! Jetzt hatte er’s, freute er sich, während er den Füller über dem Kreuzworträtsel gezückt hielt. »Er hat einen Platten gehabt«, log er und setzte P-U-T-E ein. Da sie ohnehin zu glauben schien, er habe ein Radargerät eingebaut, welches jede von Richard Jurys Bewegungen überwachte, würde diese Bemerkung sie erst recht zu Spekulationen über Jurys Ankunftszeit reizen.

»Ich wusste, dass was passieren würde. Tut es immer. Das ist nun schon das dritte, nein, das vierte Mal, dass er eigentlich auf Besuch –« Hier brach sie ab und forderte erneut ihr Glas Sherry, denn Dick war mit seinem Farbeimer hereingekommen. Er ging ungerührt weiter.

Melrose wechselte das Thema. »Und was treibst du hier, wo du doch im trauten Heim deinen Fuß hochlegen solltest?«

»Ich muss sichergehen, dass meine Zeugen auch bei der Stange bleiben. Miss Crisp fängt schon an zu schwanken. Und da kommt Vivian, und die ist wahrlich keine Hilfe.«

Vivian Rivington, in ihrem hellroten Kleid wie ein Vorbote des Frühlings, sagte zu Agatha, sie mache sich lächerlich, sie solle lieber vergeben und vergessen. Und Vivian setzte hinzu: »Eigentlich ist es an Mr. Jurvis zu vergeben. Denn Sie, Agatha, machen doch ihm das Leben schwer. Wo ist Superintendent Jury?« Jedes Interesse an Agathas »Fall« erlosch angesichts eines Ereignisses, das sich weniger häufig einstellte als eine Sonnenfinsternis.

»Auf der Strecke geblieben. Nein, nicht er, sein Auto. Hat einen Platten auf dem M-1. Er hat mich von einer Raststätte aus angerufen.« Er freute sich diebisch, dass ihm noch ein Wort eingefallen war: S-C-H-A-F. Dazu konnte er das A von T-R-A-M-P-E-L verwenden. Vielleicht besaß er ja noch eine bislang unentdeckte Begabung, nämlich die, sich Kreuzworträtsel für die Times auszudenken. Emsig füllte er die Kästchen aus und konzentrierte sich auf die nächste Herausforderung.

Diese schien durch das Erscheinen Marshall Truebloods gegeben, glich dieser doch einem Pfingstochsen. Heute hatte er einen flammendroten Schal dergestalt in den Halsausschnitt eines teerosenfarbenen Hemdes drapiert, dass die Enden wie Luftschlangen hinter ihm herflatterten.

Für Agatha, bereits pikiert darüber, dass ihre missliche Lage Vivian so gänzlich ungerührt ließ, war das Auftauchen ihres Erzfeindes anscheinend mehr, als der Mensch ertragen konnte. »Wenn die Sache vor Gericht kommt, wird sich ja zeigen, wen man zu seinen Freunden zählen kann.« Mit geübter Duldermiene griff sie zu ihren Krücken.

»Ganz meine Meinung, altes Haus«, sagte Trueblood. »Sollte mir zu Ohren kommen, dass dieser garstige Buchhändler mich wieder mal anschwärzt, verklage ich ihn, und Sie dürfen ihn alsdann mit Ihrer Krücke zu Tode prügeln. Und wo ist Richard Jury? Mittlerweile müsste er hier eingetrudelt sein, oder?« Ohne von seiner Zeitung aufzublicken, sagte Melrose: »Er hat einen Platten auf dem M-1 gehabt und hat angerufen, dass es später werden könnte, weil er ja warten muss, bis die Werkstatt den Reifen geflickt hat.« (Für K-A-M-E-L ließ sich das M von T-R-A-M-P-E-L prächtig verwenden.) »Hat einen alten Kumpel getroffen, hat er gesagt, muss sich erst mal richtig ausquatschen.«

Vivian fragte argwöhnisch: »Einen alten Kumpel? Wie geartet?«

»Weiblich. Er hat sie zum Tee in die Raststätte bei der Abfahrt Woburn eingeladen.«

Melrose lächelte in die Runde und widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel.

3

Und hier war Jury, nur war er nicht gerade mit einem Teeplausch in einer Raststätte am M-1 fertig, sondern versuchte in seiner Wohnung in Islington mit seiner Packerei fertig zu werden. Mit der Packerei und der Streiterei. Während er Socken und Hemden in einen Kleidersack stopfte, bemühte er sich, der Mieterin von oben ihr neuestes, hirnrissiges Projekt auszureden.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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