Inspektor Jury geht übers Moor - Martha Grimes - E-Book

Inspektor Jury geht übers Moor E-Book

Martha Grimes

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Beschreibung

Als Richard Jury die schöne, schweigsame Frau zum ersten Mal sieht, erscheint sie ihm wie eine tragische Königinnengestalt aus einem Shakespeare-Drama. Am selben Abend erschießt die Unbekannte in der Lounge eines vornehmen Country Hotels vor Jurys Augen ihren Mann. Der Fall scheint klar, jedenfalls für die örtliche Polizei. Doch Superintendent Jury macht sich auf die Suche nach dem Motiv und findet bald heraus, dass der Tote nicht der Ehrenmann war, den alle Welt in ihm sah …

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Seitenzahl: 618

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Martha Grimes

Inspektor Jury geht übers Moor

Roman

Buch

Der Fall scheint glasklar zu sein: Inspektor Jury ist nämlich im selben Raum, als die geheimnisvolle Nell Healey in der Lounge eines mondänen Country Hotels in Yorkshire ihren Ehemann erschießt. Für die örtliche Polizei steht die Mörderin fest und es bleiben keine Fragen offen. Für Superintendent Richard Jury dafür aber umso mehr, denn er möchte das Geheimnis dieser betörend schönen, schweigsamen Dame lüften, die eine unerklärliche Faszination auf ihn ausübt. Die Fäden, die ihn zu dem Tatmotiv führen, sind jedoch derartig verworren, dass Jury alleine nicht weiterkommt: Deshalb greift er auf seinen bewährten Freund und Hobby-Ermittler, Melrose Plant, zurück. Die beiden finden heraus, dass Nell Healeys zwölfjähriger Stiefsohn vor acht Jahren entführt, aber nie gefunden wurde. Und dass die schöne Mörderin damals eine Lösegeldforderung ablehnte …

Autorin

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »The Old Silent« bei Little, Brown and Company, Boston/Toronto/London

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1. Auflage Taschenbuchausgabe Mai 2008 Copyright © der Originalausgabe 1989 by Martha Grimes By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc. 551 Fifth Avenue, Suite 1613 New York, NY 10176-0187 USA Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle Rechte der deutschen Übersetzung bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für Kathy Grimes, Roy Buchanan und meine Katzen Felix und Emily,

Was kümmert ihn Sturm und die eisigste Nacht, Es muss um ihn kalt sein, dann schlummert er sacht. »So lasse dich warnen, sonst wirst du nicht alt: Bleib kalt, junger Obsthain, leb wohl und bleib kalt, Denn Wärme im Winter ist schlimmer als Frost.« Ich geh und komm wieder, wenn alles hier sprosst.

Robert Frost

          Once born you’re addicted

Dank

Wenn mich jemand fragt, woher ich meine Eingebung bekomme, dann frage ich zurück: »Eingebung?« Dieses Mal jedoch war es anders.

Ich möchte einigen Menschen danken, denen ich nie begegnet bin:

John Coltrane, Miles Davis, Edward Van Halen, Steve Vai, Jeff Beck, Joe Satriani, Ry Cooder, Mark Knopfler, Otis Redding, Eric Clapton, Jimmy Page, James Taylor, Yngwie J. Malmsteen, Elvis Presley, Lester Bangs, Greil Marcus, Jimi Hendrix, John McLaughlin, Stevie Ray Vaughan, Tommy Petty und Frank Zappa.

Dank auch ein paar Menschen, denen ich tatsächlich begegnet bin:

Elise Kress und der New Saint George Band; Chief Superintendent Roger E. Sandell von der Polizei in Norfolk; Tony Walton vom Hammersmith Odeon; dem Gitarristen Andrew Moffitt und Kent Holland, der sich nach Karten für das Lou-Reed-Konzert die Beine in den Bauch gestanden hat.

Melrose Plant möchte an dieser Stelle ganz besonders Lou Reed danken.

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorinCopyrightWidmungDankErster Teil - Leb wohl und bleib kalt
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17
Zweiter Teil - Der Sommerkönig
Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26
Dritter Teil - Das Reich der Lichter
Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39
Vierter Teil - Wie Alaska
Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44

Erster Teil

Leb wohl

1

Er hatte sie heute schon einmal gesehen, im Museum hinter dem Pfarrhaus. Mittlerweile war es zehn Uhr abends, und da für ihn festgestanden hatte, dass sich ihre Wege nie wieder kreuzen würden, konnte Jury nicht anders, er musste immer wieder über den Rand der Lokalzeitung schielen und sich vergewissern, ob sie nicht wenigstens jetzt merkte, dass sie beobachtet wurde.

Aber nein. Sie saß in die Kissen des Stuhls am Kamin gelehnt, neben sich auf dem Tisch ein kaum angerührtes Glas Brandy, das sie mitsamt ihrer Umgebung vergessen zu haben schien. Eine ganze Weile hatte ihre Aufmerksamkeit einer schwarzen Katze gegolten (die ihr an diesem Tag den ersten Anflug eines Lächelns entlockt hatte, jedenfalls so weit Jury das beurteilen konnte). Die Katze hatte den besten Sitzplatz im ganzen Gasthaus mit Beschlag belegt, nämlich einen hohen ledernen Lehnstuhl. Die blinzelnden gelben Augen der Katze und ihr besitzergreifendes Gebaren schienen zu besagen: Gäste kommen und gehen, ich aber bleibe. Sie hatte Rechte.

Die Frau jedoch erweckte den Eindruck, als hätte sie keine. Trotz der erlesenen, maßgeschneiderten Kleidung, des Saphirrings mit Karreeschliff und der perfekt geschnittenen Kurzhaarfrisur hatte sie schon vorhin diesen Eindruck auf ihn gemacht – als habe sie ihrer Position entsagt, sich aller Rechte und Privilegien begeben.

Eine Einbildung, und eine abwegige obendrein, zusammengestoppelt aus ein paar flüchtigen Eindrücken. Fehlte nicht viel, und er dichtete ihr die tragische Geschichte einer zur Abdankung gezwungenen Königin an.

Jury versuchte, sich wieder auf sein Yorkshire-Bitter und die fesselnde Reportage über die Schafversteigerung und die Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten des Brontë-Museums zu konzentrieren.

Ausgerechnet in diesem Museum hatte er sie vorhin zum ersten Mal gesehen, als sie sich über einen der Schaukästen beugte, in denen die Manuskripte verwahrt wurden. Touristisch gesehen war Nebensaison, ein frostiger Tag nach Neujahr.

Außer ihnen waren noch eine schlampig gekleidete Frau, der dazugehörige Mann mit gelichtetem Haar und zwei kleine Kinder im Raum, allesamt dick eingemummt. Das Mädchen und der Junge glichen mit ihren dicken Mänteln und Schals den Teddybären, die sie im Arm hatten. Die Mutter mit ihren Jeans und dem ausgeleierten Pullover wirkte abgespannt, so als hätte sie gerade die Wäsche einer ganzen Woche gewaschen; der Vater, dem der Fotoapparat von der Schulter baumelte, versuchte, Emily Brontës Gedicht vom gefangenen Vogel laut vorzulesen, aber vergebliche Liebesmüh, die Kleinen quengelten. Sie hatten wohl genug von verstaubten Manuskripten, düsteren Porträts, dem Geruch von altem Leder und Bienenwachs und strebten sonnigeren und köstlicher duftenden Gefilden zu, einer der Teestuben am Ort nämlich. Offenbar gehörte es zu den Familienritualen, dass sie nach Museumsbesuchen ›Schoko und Kekse‹ spendiert bekamen, denn das intonierten die beiden einstimmig und in einem fort. Schokoundkekseschokoundkekseschokoundkekse. Ihr beschwörender Singsang wurde immer lauter, und demnächst würde es Gebrüll und Tränen geben. Die Mutter blickte sich peinlich berührt um, und der Vater unternahm erfolglose Beschwichtigungsversuche.

Anscheinend bewirkte das Quengeln und Betteln der Kleinen, dass die Frau im Kaschmirmantel ihre Umgebung plötzlich wahrnahm; wie jemand, der in einem fremden Zimmer aufwacht, in das er nur aus Versehen geraten ist und das eine vage Gefahr zu bergen scheint. Ja, ihre Miene glich irgendwie der von Branwell Brontë auf dem anrührenden Selbstbildnis, wo er sich seine eigene Sterbeszene ausmalt. Sie wirkte schmerzerfüllt.

Dann schob sie den Riemen ihrer Schultertasche höher und ging langsam ins Nebenzimmer. Jury spürte, dass ihr die Brontë-Relikte genauso gleichgültig waren wie den Teddybär-Kindern. Sie beugte sich über eine Vitrine, schob das goldbraune Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war, so als versperrte es ihr den Blick auf Charlottes schmale Stiefeletten, die winzigen Handschuhe und die Nachtmütze. Aber ihr Blick huschte nur flüchtig darüber hin, während ihre Hand geistesabwesend über die Holzkante des Kastens fuhr.

Jury musterte die Tür einer alten Kirchenbank, die bei der Zerstörung der Kirche vom Gestühl übrig geblieben war. Die Aufschrift darauf besagte, dass eine gewisse Lady vom Crook-Haus als erste in der Bank hatte sitzen dürfen. Sieh an, damals hatte man offenbar abwechselnd gesessen.

Wie sie so langsam den Schautisch in Charlottes Zimmer umrundete, mochte das auf ein weniger geschultes Auge als das seine wirken, als sei sie gänzlich in die Schaustücke vertieft. Doch weit gefehlt. Ihre ausdrucksvollen klugen Augen schweiften zwar hierhin und dorthin, zeugten jedoch von Teilnahmslosigkeit und schienen nach etwas anderem Ausschau zu halten. Oder nach jemand anderem. Es schien, als habe sie nichts Besseres zu tun, als schlage sie die Zeit tot.

Ja, genau das war es: Die geistesabwesende Miene und die Art, wie sie immer wieder rasch ein wenig den Kopf drehte, machten deutlich, dass sie lauschte und wartete, als habe sie eigentlich eine Verabredung gehabt.

Ihn hatte sie mit Sicherheit nicht wahrgenommen; ihr Blick hatte sein Gesicht gestreift, als gehörte er zum Brontë-Inventar, zu den Porträts oder Bronzebüsten. Selbst wenn er ihr fünf Minuten früher vorgestellt worden wäre, sie hätte ihn vermutlich kaum wieder erkannt. Nur vor einem Schaukasten blieb sie länger stehen und schien wirklich hinzusehen, nämlich vor einigen Darstellungen von Angria und Gondal, den von den Geschwistern erfundenen Fantasiereichen.

Dann drehte sie sich um und ging zur Treppe.

Na schön, er hatte sowieso gerade gehen wollen (redete Jury sich ein), also folgte er ihr. An der Treppe blieb er stehen und betrachtete das berühmte Porträt der Schwestern, das der Bruder von ihnen gemalt hatte. Immer noch war die einst ausgemalte Stelle, wo sich Branwell aus dem Bild herausgenommen hatte, als verschwommener Umriss zu sehen.

Auch Familie Teddybär war gegangen und strebte über die schmale Straße der Teestube zu, und die Kinder schafften es irgendwie auszuschwärmen, als wären sie zehn statt zwei.

Anfangs dachte er, die Frau wolle vielleicht auch eine Tasse Tee trinken, doch sie stand einfach am Bordstein und zögerte, als wollte sie in London über einen Zebrastreifen gehen. Auf der Kuppe dieses Hügels, den die Brontë-Wallfahrer erklimmen mussten, gab es so gut wie keinen Verkehr, abgesehen von einem Taxi, das beim Fremdenverkehrsamt wartete, und einem Jungen, der ein stures Brauereipferd mit Scheuklappen zum Weitergehen antrieb.

Ein kalter Wind mit einem Vorgeschmack von Regen fegte über das Kopfsteinpflaster, und die Frau schlug den Mantelkragen hoch, sodass ihr Haar darin verschwand. Dann vergrub sie die Hände in den Taschen und ging die Straße entlang. Womöglich strebte sie der verlockenden Heimeligkeit des weiß getünchten Hotels an der Ecke zu, vielleicht (so hoffte Jury, denn er konnte einen Schluck gebrauchen) zum Salon dort, nicht zum öffentlichen Ausschank. Doch sie ging an dem Hotel vorbei und blieb stattdessen vor einem schmalen Haus stehen. »Spielzeugmuseum« stand daran. Sie trat ein.

Jury betrachtete die Fassade und dann das dämmrige Innere, wo sie eine Eintrittskarte löste. Allmählich kam er sich nicht nur albern, sondern wie ein Voyeur vor. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er keinem gutaussehenden weiblichen Wesen mehr nachgelaufen, außer wenn ein Fall, den er bearbeitete, es erforderlich machte, und auch das war schon einige Jahre her, denn diese Art Laufarbeit machten jetzt andere für ihn.

Die kleine Diele, eher ein Vorraum, quoll über von winzigem Spielzeug – Kreisel, Holzfiguren, Süßigkeiten und Souvenirs drängten sich auf den Regalen. Hinter dem Verkaufstisch hockten ein freundlicher junger Mann in einem Dallas-Cowboys-Sweatshirt und eine junge Frau, die anscheinend alle Hoffnung hatte fahren lassen; sie ähnelten – er mit seiner fröhlichen und sie mit ihrer traurigen Miene – der Doppelmaske von Komödie und Tragödie. Das Mädchen konnte es einfach nicht fassen, dass schon wieder jemand, der älter war als zehn, fünfzig Pence für den Eintritt springen ließ und sich das ausgestellte Spielzeug ansehen wollte. Der Mann lächelte beifällig, weil ein Erwachsener noch seinen Spaß daran hatte. Jury erwiderte das Lächeln und reichte ihm das Geld für den Eintritt.

In diesem Augenblick kam ein bleichgesichtiger Junge mit strohiger Igelfrisur aus einem der inneren Räume in den Vorraum; er runzelte die Stirn, als hätte er sein Geld für nichts und wieder nichts ausgegeben. Die junge Frau erbarmte sich; sie merkte, dass etwas nicht stimmte, und erklärte dem Jungen, er solle zurückgehen und den Knopf drücken. Jury wurde von ihr in ähnlicher Weise unterwiesen, für den Fall, dass auch er zu beschränkt war, um die elektrische Eisenbahn in Gang zu bekommen. Und die funktionierte nun einmal nicht, wenn man nicht den Knopf drückte.

Er bedankte sich und folgte dem Jungen ins Museum.

Sie stand am Ende des schmalen Ganges zwischen den von der Decke bis zum Boden verglasten Schränken, die vollgestopft waren mit Überbleibseln aus der Kindheit: Stoffpuppen und Porzellanpuppen; aufwendigen Puppenhäusern; mechanischem Spielzeug und Holzspielzeug.

Er fragte sich, ob der Junge, der ganz hinten neben ihr vor der aufgebauten Eisenbahn stand, das alles wirklich zu würdigen wusste. In gewisser Weise war es ein Museum für Erwachsene. Jury betrachtete die Nachbildung eines Wolkenkratzers aus Stabilbausteinen, und da fiel ihm wieder ein, wie sehr er sich einmal einen solchen Baukasten gewünscht hatte. An der Wand gegenüber stand ein Puppenhaus, so ausgeklügelt, wie er es noch nie gesehen hatte. Nach vier Seiten hatte es möblierte Zimmerchen; vermutlich war es so konstruiert, dass es sich auf einem mechanischen Rad drehte. Es gab sogar ein Billardzimmer, einen grünen Billardtisch mit zwei Spielern. Einer davon hielt sein Queue, während der andere sich über den Tisch beugte.

Und während er diesen Katalog einer Kindheit betrachtete, drang von ferne das leise Summen der Züge in sein Bewusstsein. Der flachshaarige Junge hatte den Mechanismus in Gang gesetzt.

Sie kehrten ihm den Rücken zu, der Junge und die Frau im Kaschmirmantel, standen dort nebeneinander. Hätte der Bengel nicht dringend ein heißes Bad benötigt, wohingegen sie teuer aufgemacht war, man hätte sie für Mutter und Sohn halten können, blass und blond wie sie waren. Die Züge fuhren rundherum, und die beiden standen da in einer Art kameradschaftlichem Schweigen und sahen ihnen zu. Anscheinend bekam es der Junge als erster satt; er kam durch den Gang zurück, drängelte sich an Jury vorbei und trollte sich, noch immer mit gekräuselter Stirn, als stammten die Züge, die winzigen Zubehörteile und Miniaturgebäude und vielleicht auch die Spielzeugmenschen und -tiere für ihn aus der Mottenkiste.

Sie jedoch blieb stehen und drückte noch einmal den Knopf, der die Eisenbahn wieder in Gang setzte. Er konnte nur ihren Rücken und im Glas einen ganz schwachen Abglanz ihres Gesichtes sehen.

Dann machte sie eine eigenartige Geste. Sie hob die behandschuhte Hand, legte sie mit gespreizten Fingern aufs Glas und lehnte die Stirn dagegen.

Es war, als betrachte sie etwas, das sie einst so heiß begehrt hatte wie er den Stabilbaukasten.

Auf einmal schämte sich Jury zutiefst, kam sich vor wie ein Störenfried, wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre. Er verließ das Spielzeugmuseum, spürte, dass er sie freigeben musste.

Sie freigeben: Lieber Himmel, wie eigentümlich besitzergreifend, wenn man bedachte, dass er sie gar nicht weiter kannte und kein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte. In Wirklichkeit nicht einmal einen Blick, abgesehen von dem, der ihn flüchtig gestreift, ihn wahrscheinlich aber nicht registriert hatte.

Und er zerpflückte das Ganze in seiner Fantasie wie ein pubertierender Jüngling, kam immer wieder darauf zurück, dass sie sich zusammen an zwei verschiedenen Orten aufgehalten hatten, so als könnte er darin etwas entdecken, das wenigstens für ein flüchtiges Interesse ihrerseits sprach …

Ein weiteres Anzeichen – sein Arzt würde es »Symptom« nennen – dafür, wie unendlich müde er war.

Gegen dieses pubertäre Verlangen, sich noch eine Weile hier herumzutreiben, half nur eins: Er musste zum Parkplatz zurückgehen, seinen Mietwagen abholen und sich auf die Weiterfahrt nach London machen.

Er schaffte es bis hinters Lenkrad des Austin Rover, und während der Motor im Leerlauf summte, starrte er durch die Windschutzscheibe auf den beinahe menschenleeren Parkplatz und die Gartenanlage dahinter, wo sich Kinderschaukeln sacht im Wind wiegten und drehten.

Es war eher ein Witz, eine Schnapsidee gewesen, nach einer im Polizeipräsidium von Leeds verplemperten Woche das kurze Stück nach Haworth zu fahren und dort zu übernachten.

Er ließ sich tiefer auf den Sitz rutschen und fand seinen plötzlichen Entschluss, nach Haus zu fahren, gleichermaßen albern (und symptomatisch, Mr. Jury), denn schließlich hatte er für eine Nacht hierbleiben wollen. Er war einfach zu müde, um die vier, fünf Stunden Fahrt nach London noch zu schaffen. Zum Teil war die Woche in Leeds an seiner Müdigkeit schuld, denn dort hatte er kaum mehr zuwege gebracht, als sich gehässige Blicke einzufangen.

Dieser Drang, sich selbst herunterzumachen, gehörte auch zu seiner Unpässlichkeit. Psychovegetative Dekompensation, Mr. Jury, hatte jedenfalls sein Arzt es in seiner pedantischen Art genannt und die Worte auf der Zunge zergehen lassen wie feines Konfekt. Zum größeren Teil aber leitete sich seine Depression aus der Erkenntnis her, dass er sich diesen Auftrag hatte andrehen lassen, nur um von Victoria Street und New Scotland Yard wegzukommen, wo er in letzter Zeit anscheinend nur noch Pfusch machte, Fehlentscheidungen traf und zu ganz untypischen Wutausbrüchen neigte.

Da saß er nun, sah vor sich den sanft geneigten Hang des schneegesprenkelten Parks, aus dem das Licht wich und die Schaukeln dem Dunkel überließ, und überlegte, was an seinem Verhalten in den letzten Wochen berechtigt und was Überreaktion gewesen war. Nicht, dass sich Dramatisches ereignet hätte, aber Jury hatte die Nase so voll von Chief Superintendent Racers Litanei seiner jeweils neuesten Fehltritte (wie nichtig auch immer), dass er sich erboten hatte, selbst um seine Versetzung einzukommen. Was Jury daran störte, war nicht das Melodramatische dieser Entscheidung, sondern dessen Fehlen; er hatte den Vorschlag ganz emotionslos, nüchtern gemacht und nicht einmal das Dilemma, in das er Racer stürzte, so richtig genießen können.

Psychovegetative Dekompensation. Urlaub, das ist es, was Sie brauchen. Sie sind überarbeitet. Und der Arzt hatte Jury Rezepte hingeschoben, die dieser beim Verlassen der Praxis in die nächste Mülltonne warf.

Psychovegetative Dekompensation. Das Wort ist nicht besser und nicht schlechter als andere auch (dachte Jury, wenn er um drei Uhr morgens wach lag, was neuerdings die Regel war); vielleicht beschrieb es mit seinem fremdartigen Klang diesen Zustand ja besser als seine Muttersprache, die dazu offenbar zu armselig war. Unpässlichkeit eignete sich nicht so gut, obwohl er das Wort vorzog, da es sich nach etwas Vorübergehendem anhörte, nach etwas, das man sich beim Sonnenbaden am Strand von Amalfi zuziehen und dort wie einen Sonnenbrand zurücklassen konnte.

Bei sich nannte er es schlicht und einfach Depression. Irgendwie hatte der Begriff etwas Tröstliches, da alle Welt darunter litt oder meinte, ab und zu darunter zu leiden. Nur dass Jury spürte, sie würde nicht einfach vorübergehen wie ein Sonnenbrand. Eigentlich verwunderte es ihn, dass jedermann Depressionen für einen Zustand zu halten schien, bei dem man sich lediglich dumpf und stumpf vorkam und kein Interesse für das Tagesgeschehen aufbrachte, wo es in Wahrheit eher das genaue Gegenteil war. Es war ein aktiver Zustand, denn die widerstrebenden Empfindungen und die fieberhafte Grübelei über die eigene Arbeit, über das Leben und die Erwartungen, die man erfüllen sollte und die an sich schon widersprüchlich und undurchsichtig waren, kamen einer Folter gleich. Er wusste natürlich, dass er von Natur aus kein zufriedener Mensch war. Aber er war ein Meister darin, äußerliche Gelassenheit vorzutäuschen. Eine derartige Fassade mochte durchaus hilfreich und vielleicht auch nötig sein, um als Polizist einwandfrei zu funktionieren. Doch wenn er nachts wach lag und zur Decke starrte, dann merkte er, dass der Lack Risse bekam.

Jetzt, in dem muffigen Auto, ging ihm auf, dass er diesen kleinen Abstecher wohl nur gemacht hatte, um ein, zwei Tage Anonymität zu genießen. Dieses Gefühl von Ziellosigkeit, von vagen Aussichten und ungeformten Stunden, war das der Grund, weshalb er in der Frau im Museum eine Art Geistesverwandte sah? Sie schien sich genauso treiben zu lassen wie er.

Er schloss das Auto wieder ab und machte sich mit seinen Siebensachen zum Fremdenverkehrsamt auf. Dabei ärgerte er sich über sich selbst, weil er wieder einmal einer Laune nachgegeben hatte, was sich für einen Mann, dessen Leben nur dem Sichten von Tatsachen und, ja, gelegentlichen Ratespielen gewidmet war, ganz und gar nicht gehörte.

Leeds vermutete ihn in London, London vermutete ihn in Leeds. Irgendwie konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er und diese Frau auf Stippvisite im Niemandsland waren.

Und darum verwunderte es ihn auch kaum, sondern kam ihm eher selbstverständlich vor, dass er sie im Speiseraum des Gasthauses »Zum großen Schweigen« entdeckte, wo er ein Zimmer genommen hatte.

Sie saß an einem Ecktisch und war, abgesehen von ihm, der einzige Gast. Beim Essen las sie ein Buch, und sie hob auch nicht den Blick, als Jury eintrat und sich setzte.

Auch er hatte ein Buch dabei. Vielleicht war es symptomatisch, Mr. Jury, dass er häufiger allein mit einem Buch beim Essen saß als zusammen mit anderen Menschen. Erfundene Charaktere waren, wie er in letzter Zeit immer wieder feststellte, im Allgemeinen bessere Gesellschafter bei Tisch als solche aus Fleisch und Blut. Noch am vergangenen Abend hatte er ein Essen im Haus eines Inspektors vom Polizeipräsidium in Wakefield durchstehen müssen. Die Gastgeberin schien, wie ein Werbemanager, jedes Schweigen bei Tisch als gefahrvoll für ihr Produkt zu empfinden. Das Wetter, die Grundstückswerte im Norden und im Süden, London, das Theater, New Scotland Yard – ewig die gleichen Fragen und Antworten, die mit der Suppe abebbten und mit dem Nachtisch zurückgeflutet kamen.

Da saßen sie nun beide im stillen Speisesaal, lasen schweigend in ihren Büchern, tranken einen Schluck Wein, bestrichen ihr Brot mit Butter. Es war zehn Uhr, und das mochte erklären, warum das Restaurant so schlecht besucht war. Ein paar Tische zeugten davon, dass die Gäste bereits gegangen waren.

Was sie wohl las; fesselte es sie, oder war sie wie er auf Gesellschaft aus? Verlässliche, kultivierte Gesellschaft. Er hätte etwas Passendes, etwas Brontëmäßiges wählen sollen, aber nein, er las gerade ein Buch von dem verstorbenen Philip Larkin. Es hieß A Girl in Winter und gab mit seiner einfachen Handlung, seinem eleganten Stil und der traurigen Heldin ebenso gutes Futter für seinen Geist ab wie das Roastbeef für seinen Leib. Es war ein ruhiges Buch.

Sie legte die Serviette beiseite, stand auf, kam an seinem Tisch vorbei (registrierte ihn jedoch immer noch nicht) und hielt dabei ihr Buch gegen die Ledertasche gedrückt. Er verrenkte sich ein wenig den Hals, um den Titel lesen zu können: Der Mythos von Sisyphos.

Alles andere als ein ruhiges Buch.

Außer ihnen war niemand in der Lounge. Ein Pärchen, das für den Speisesaal zu spät gekommen war, hatte in diesem Teil des langen Vorderzimmers, das auch als Bar diente, gespeist. Das Gasthaus »Zum großen Schweigen« hatte eine anheimelnde und freundliche Atmosphäre: Kupfer und Messing glänzten; die Stühle und Bänke aus dunklem Holz mit den geblümten Kissen waren so um die Tische gruppiert, dass sie zu angeregten Gesprächen einluden, wie bei dem Pärchen, das gerade die Lounge verließ.

Jury saß an der Bar dicht bei der Tür, die zum öffentlichen Ausschank führte. Gedämpfte Stimmen drangen herein. Kein anderer Laut störte die Stille, abgesehen vom stetigen Ticken der Standuhr und dem gelegentlichen Aufsprühen und Zischen eines zerfallenden Holzscheits im Kamin.

Es gab keinen Grund, warum er nicht sein Bier nahm und sich in die eigentliche Lounge und damit näher ans Feuer setzte. Ja, da sie jetzt die einzigen Gäste waren, wäre es nur natürlich gewesen, wenn er die schwarze Katze mit irgendeiner Bemerkung – typisch für Katzen, immer beanspruchen sie den besten Platz im Haus – vertrieben hätte.

Aber sie hatte etwas an sich, das eine solche Annäherung verbot; sie wirkte völlig versunken, jedoch nicht in das Buch (in dem sie noch keine Seite umgeblättert hatte), sondern wie schon vorhin im Museum in ihre eigene, private Welt. Als sie über den Rand des Buches an ihm vorbeiblickte, kam es ihm vor, als betrachtete sie irgendeine innere Landschaft und stellte mit gekräuselter Stirn fest, dass der etwas abging, etwas fehlte.

Dann kehrte sie zu ihrem Camus zurück, zu derselben Seite. Ohne Mantel wirkte sie schmaler. Eine Hand umklammerte die Handtasche, die sie noch immer bei sich hatte, die andere hielt das Buch so, dass es ihr Gesicht verdeckte. Das Gelenk der eleganten Hand – lange, spitz zulaufende Finger – war etwas knochig, das Goldarmband halb den Arm hochgerutscht; der Goldreif an ihrem Finger saß locker.

Sie trug ein Kostüm aus Schantungseide mit Faltenrock und kurzer Jacke, sehr schlicht und (dachte er) sehr teuer. Das diffuse Licht von Lampe und Feuer verlieh Kostüm und Haar den gleichen hellen Umbraton.

So saßen sie wohl zwanzig Minuten lang. Als die Uhr elf schlug, blickte sie auf. Vom öffentlichen Ausschank her hörte Jury, dass der Pubbesitzer um die letzten Bestellungen bat. Sie klappte ihr Buch zu, legte es neben die Handtasche, und er dachte schon, dass sie aufstehen und gehen wollte. Aber sie blieb sitzen.

Man hörte, wie die Gäste aus der Bar zu dem kleinen Parkplatz gingen; ein paar nahmen dabei den Weg durch die Lounge.

Dann tauchten die Scheinwerfer eines Autos das Fenster in blendende Helle, bevor sie ausgeschaltet wurden. Eine Tür schlug zu, und Jury hörte Schritte, die sich auf dem Flur näherten.

Sie saß irgendwie steif und altjüngferlich da, seit sie das Buch beiseitegelegt hatte – die Hände im Schoß gefaltet, die Füße dicht nebeneinander.

Ein Mann kam zur Tür herein – ein Mann, der so geschmackvoll und teuer gekleidet war wie sie. Er mochte Ende Vierzig sein und wirkte fit, wie jemand, der richtig Sport trieb (was Jury nie schaffte) und regelmäßig ins Solarium ging. Ein gleichgültiger Blick streifte Jury.

Er schien ganz auf die Frau konzentriert, die jetzt aufstand, nein, sich hochstemmte wie ein älterer Mensch, der nur noch mit Mühe aus dem Sessel kommt. Ihre Handtasche hielt sie immer noch umklammert.

Keine Begrüßung, kein Händedruck, Kuss oder wenigstens ein Lächeln auf beiden Seiten. Der Besucher nahm Platz, ohne den Mantel, einen dunklen Chesterfield, abzulegen, knöpfte ihn jedoch auf, ehe er den Arm lässig auf die Sofalehne legte. Die feingeschnittenen Züge, die Maßkleidung, die Eleganz seiner Bewegungen, all das wies ihn als Gentleman aus. Und doch stand die Frau immer noch, während er bereits saß. Wenn Jury nicht schon aus seinem ganzen Auftreten geschlossen hätte, dass der Besucher auf sehr intimem Fuß mit ihr stehen musste, dann aus diesem Mangel an guten Manieren. Jetzt sagte er etwas, und sie setzte sich mit resignierter Miene.

Irgendwie merkwürdig, fand Jury, dass er alle äußeren Details ihrer Person, bis hin zu ihrem Ehering, betrachten konnte und doch nicht nahe genug saß, um die Worte zu verstehen, die zwischen ihnen gewechselt wurden. Der Mann redete leise, aber hastig. Sie warf in seinen gedämpften Redefluss nur hin und wieder ein Wort ein, das wie die zwischen ihrem Körper und der Armlehne eingeklemmte Handtasche wirkte. Sie unterbrach ihn, wenn sie in seinem Wortschwall das leiseste Anzeichen für eine Pause entdeckte; und selbst dann hob er noch die Hand und gebot ihr Schweigen.

Dass ihr seine Worte ganz und gar nicht zusagten, war an ihrer steinernen Miene zu merken; sie wandte den Blick ab, starrte ins Feuer und ließ ihn wieder zurückschweifen, als könnten ihre Augen nirgendwo einen Ruhepunkt finden. Im Feuerschein bekamen ihre hellroten Lippen etwas Goldenes, und ihr Mund wirkte wie aus Marmor gemeißelt. Sie sah unnachgiebig, unbeugsam aus.

Nachdem er sein Teil gesagt oder seinen Standpunkt oder was auch immer klargemacht hatte, lehnte er sich zurück, holte ein silbernes Zigarettenetui hervor, das im Flammenschein aufblitzte, klopfte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Er wartete ein paar Minuten, während sie ins Feuer starrte, dann beugte er sich vor, als wollte er sie zwingen, ihm den Blick wieder zuzuwenden. Schließlich tat sie es, wenn auch sehr langsam.

Er sagte etwas und stand auf, und noch immer wirkte er irgendwie unbekümmert und angriffslustig zugleich.

Sie hielt den im Feuerschein golden schimmernden Kopf leicht gesenkt, so als hätte er sie in einem entscheidenden Spiel geschlagen. Ihre Arme ruhten auf der Sessellehne, die Hände hingen herunter, ein Daumen spielte mit dem Goldreif und dem Saphirring. Es sah aus, als überlegte sie, ob sie die Ringe abziehen und ihm in die Hand drücken sollte.

Langsam zog sie die scheinbar bleischwere Handtasche auf den Schoß. Sie machte die Lederklappe auf und holte etwas heraus, das wie ein Umschlag oder Brief aussah. Sie hatte ihn schon beim Essen hervorgeholt und immer wieder weggesteckt; als handele es sich dabei um ein magisches Ritual, das es zu vollziehen galt. Mit diesem Stück Papier in der Hand – Brief oder was auch immer – stand sie auf und sagte etwas, das Jury nicht mitbekam.

Und noch immer hielt sie die Tasche mit dem baumelnden Verschluss an den Leib gepresst, als wäre das Ding jetzt leer, nutzlos, eines wertvollen Inhalts beraubt.

Er streckte die Hand aus, entriss ihr den Brief und warf ihn ins Feuer.

Sie wechselten einen kurzen Blick, ohne auch nur im mindesten zu merken, dass sie nicht allein im Zimmer waren, so sehr nahm sie das in Anspruch, was sie zusammengeführt hatte. Der Mann drehte sich um und wollte zur Tür gehen.

Sie stand da, das Profil vom Feuer beschienen, während ihr Körper im Schatten war. Sie stand, als hätte ein zorniger Gott sie zur Salzsäule verwandelt.

»Roger.«

Das erste verständliche Wort, das Jury hörte. Der Mann drehte sich etwas zögernd um, und sie griff in die Tasche, zog eine Pistole heraus und schoss ihn in die Brust. Er starrte sie verständnislos an, als habe sie nicht getroffen. Doch in den paar Sekunden, die Jury brauchte, um auf die Beine zu kommen und den Tisch neben sich umzustoßen, sackte der Mann in sich zusammen und fiel zu Boden.

Sie senkte die Pistole und schoss noch einmal.

2

Der Name Roger Healey sagte Jury nichts, als er ihn später am Abend zum ersten Mal hörte. Der Beamte der Polizei von West Yorkshire, der Healeys Frau im Gasthaus »Zum großen Schweigen« festgenommen hatte, erzählte ihm am nächsten Tag, dass der Mann etwas mit Kunst oder Musik zu tun hätte, was genau, wusste er nicht, nur, dass er prominent war. Der aus Keighley gerufene Detective Sergeant verbürgte sich jedenfalls dafür, dass die Familie in der Gegend sehr angesehen war, und es war ihm anzumerken, welch inneren Zwiespalt die Festnahme eines ihrer Mitglieder bei ihm auslöste.

Inneren Zwiespalt oder dergleichen kannte Superintendent Sanderson nicht; ihn scherte es weder, dass Jury der einzige Zeuge für den Mord an Roger Healey war noch dass in seiner Person die Londoner Kripo in seinem Revier wilderte. Sanderson war ein hoch gewachsener Polizist, dünn wie ein Laternenpfahl, dessen gut einstudiertes, undurchsichtiges Gebaren jeden aufs Glatteis hätte führen können. Falls Jury, was unwahrscheinlich war, je als Zeuge aufgerufen würde, hätte seine Aussage weitaus mehr Gewicht als die irgendeines kurzsichtigen Einheimischen. Was die derzeitige Untersuchung betraf, konnte sich Jury, was Sanderson anging, rasch aus dem Revier der Yorkshire-Polizei verziehen.

Sanderson hatte es aber auch leicht. Er musste nicht einmal Verdächtige auftreiben, keine Stammgäste aus dem öffentlichen Ausschank des »Großen Schweigens« befragen, die doch nur widersprüchliche Berichte geliefert hätten, wer was wem wann getan hatte; und die fünf Leutchen, die aus dem Ausschank in die Lounge gestürzt waren, hatten sehr erleichtert gewirkt, als sie hörten, dass sie aus dem Schneider waren. Denen hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen, bis die Polizei eintraf. Jury hatte sie angerufen.

Und es war auch Jury gewesen, dem die Frau, schweigend, die 22er Automatik gegeben hatte. Widerstandslos. Sie sagte kein einziges Wort, sondern setzte sich wieder in den Sessel, beantwortete keine seiner Fragen und sah auch nicht mehr zu ihm auf.

Die gerichtliche Untersuchung der Todesursache wurde für den folgenden Tag angesetzt und diente lediglich der Feststellung gewisser Fakten wie beispielsweise der Identität des Toten. Die Identität der Täterin stand ohnehin fest.

Sie hieß Nell Healey, war eine geborene Citrine, und Jury hatte sich über die Beziehung, in der sie zu dem Toten stand, nicht getäuscht: Sie war seine Frau.

Mit Rücksicht auf den Ruf, den Reichtum und den Einfluss der Familie Citrine in West Yorkshire und weil sie keinerlei Vorstrafen hatte, wurde sie gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Damit, das wusste Jury, erkaufte sie sich wenigstens ein Jahr Freiheit; vorher würde der Fall kaum vors Bezirksgericht kommen, nicht bei der langen Latte anstehender Gerichtstermine. Blieb lediglich die Frage, warum sie es getan hatte, und die beantwortete sie nicht. Im Großen und Ganzen jedoch schien sich die Waagschale zu ihren Gunsten zu senken, da ihr ein früherer Schicksalsschlag Sympathien eingetragen hatte.

Und genau über diesen Schicksalsschlag informierte sich Jury jetzt aus der Zeitung, die auf seinem Schreibtisch im New Scotland Yard lag. Er entsann sich der Namen Healey und Citrine. Es war vor acht Jahren passiert, und er hatte es über alle Maßen schrecklich gefunden.

»Traurig, wirklich traurig«, sagte Detective Sergeant Alfred Wiggins, der die Ausschnitte ausgegraben, selber aber zu einem Exemplar von Time Out gegriffen hatte. »Wie kann man einem Kind nur so was antun?« Wiggins rührte langsam mit dem Löffel im Teebecher herum und klopfte ihn alsdann so weihevoll wie ein Messknabe, der das Weihrauchfässchen schwingt, am Becherrand ab.

Mit ebenso andächtiger Gebärde riss Wiggins eine Packung Scott’s Medizinische Kohlekekse auf, wobei er sich Mühe gab, nicht mit dem Zellophan zu knistern. Oft kam es nicht vor, dass Jury ihm nicht antwortete, doch heute war einer dieser Tage, und Wiggins sorgte sich (als wäre es seine Schuld) um den sonst so friedfertigen Superintendent, diese Seele von einem Menschen, der sich einen Fall so zu Herzen nahm, der nicht einmal seiner war.

Jurys Laune war so rabenschwarz wie der Kohlekeks, den Wiggins jetzt in seinen Becher bröselte; wider alle Vernunft reizte ihn sein Sergeant, der irgendeinem abgehobenen Gesundheitsideal nachjagte, während er selbst von der Entführung eines Jungen und dem Verschwinden seines Freundes las. Jury sagte (etwas scharf, fand Wiggins): »Wiggins, die meisten Menschen geben sich mit simplen Darmpillen zufrieden. Und die muss man auch nicht zu Matschepampe machen.«

Wiggins war rasch mit einer Antwort bei der Hand, nicht weil Jury sich bissig anhörte, sondern weil dieser überhaupt reagierte. Fröhlich sagte er: »Oh, Darmpillen bringen nun wirklich nichts, Sir. Wohingegen das hier –«

Jury sah sich genötigt, einen Vortrag über die segensreiche Wirkung von Kohle auf den Verdauungstrakt im Keim zu ersticken, und so erwiderte er rasch: »Gewiss, gewiss«, lächelte und ließ damit durchblicken, dass er sowieso nur Spaß gemacht habe.

Es war in Cornwall passiert, als Billy Healey dort mit seiner Stiefmutter, Nell Citrine Healey, Ferien machte. Sie hatten auch Billys Freund Toby Holt mitgenommen.

Ohne den Blick zu heben, schüttelte Jury eine Zigarette aus einer Packung Player’s, während er Roger Healeys Presseerklärung las. Sie war sachlich, fast pedantisch, wimmelte von Floskeln wie »gramgebeugter Vater« und Bemerkungen über die außerordentliche pianistische Begabung seines Sohnes, sodass man fast den Eindruck bekam, Entführer, die nicht Obacht gaben, dass der Junge jeden Tag übte, würden bei ihm eine Art Insulinschock auslösen. Das übliche »Wir tun alles, was in unserer Macht steht, damit wir unser Kind zurückbekommen«; das übliche »Die Polizei arbeitet rund um die Uhr«. Das Übliche eben.

Außer dass die Stiefmutter überhaupt keine Erklärung abgegeben hatte.

Jury versuchte, sich in einen Vater hineinzuversetzen, dessen Kind man entführt hatte. Er hatte keine Kinder, kannte jedoch ein paar gut genug, dass er zumindest ein wenig nachfühlen konnte, was in einem Menschen vorgeht, der eines verliert. Natürlich hatte er bei seiner Arbeit genügend untröstliche Eltern kennen gelernt. Einige hatten geschwiegen; andere hatten zu einem nicht endenden Wortschwall angesetzt. Aber noch keiner hatte eine Rede gehalten, die reif für das Unterhaus gewesen wäre. Er urteilte sicher nicht fair, dachte Jury. Schließlich war Healey als Musikkritiker und Kolumnist daran gewöhnt, Gedanken in Worte zu kleiden; er konnte sich klar ausdrücken und verstand es anscheinend, die Fassung zu wahren.

Inmitten all der Gemeinplätze wirkte das Foto von Billy selber beinahe fehl am Platz. Es war ein alter Schnappschuss, und die Kamera hatte den Jungen genau in dem Augenblick eingefangen, als er irgendetwas in der Ferne gesehen haben musste. Er reckte ein wenig das Kinn, hatte den Mund leicht geöffnet, seine Augen blickten gebannt, fast fragend. Das Foto war eine Gegenlichtaufnahme; sein Gesicht lag teilweise im Schatten, wodurch der Rest umso stärker hervortrat, was die gerade Nase und die hohen Wangenknochen noch betonte. Er war hübsch, blass, hatte dunkles, seidig glänzendes Haar. Er sah, fand Jury, ein wenig entrückt aus, abweisend und durch die Eindringlichkeit seines Ausdrucks unnahbar. Und er sah seiner Stiefmutter ähnlicher als seinem Vater.

Von ihr gab es nur ein Foto, wie sie aus dem Haus geführt wurde, und da musste sie sich rasch den türkisch gemusterten Schal übers Gesicht gezogen haben. Da sie obendrein den Kopf gesenkt hielt, hatten die Reporter kaum mehr als ihre Haare vor die Kamera bekommen. Und so ließen sie denn auch kaum ein gutes Haar an ihr; unterschwellig schienen sie es übel zu nehmen, dass Mrs. Roger Healey zu keiner Stellungnahme bereit war. Sie hatte das Reden ihrem Mann überlassen.

Die Stiefmutter hatte wirklich eine schlechte Presse. Sie war als Einzige zugegen gewesen, als die Jungen verschwanden. Der ziemlich geschmacklose Wust von Fotos und Schnappschüssen, den die Zeitungen brachten, ließ keinen Zweifel daran, dass man die Entführungsgeschichte gern am Kochen halten wollte. Alte Schnappschüsse von Billy rahmten die Berichte ein; auf einem war er mit Schulkameraden zusammen, sehr verschwommen. Auf einem anderen lehnte er mit dem anderen Jungen, Toby Holt, an einem Zaun. Vor ihnen saß ein kleines, dunkelhaariges Mädchen auf einer großen Steinplatte und blinzelte in die Kamera.

»Der Chef führt nicht gerade Freudentänze auf, wie Sie sich denken können«, sagte Wiggins, der seinen eigenen Gedanken nachhing.

»Tut er nie, jedenfalls nicht, was mich angeht.«

»Er fragt sich, was Sie überhaupt in Stanbury gesucht haben …«

»Nachbarort von Haworth. Ich bin ein großer Brontë-Fan.«

»… als Sie eigentlich in Leeds sein sollten.«

Jury blickte auf. »Was ist das, ein Verhör? Unheilschwangeres Gemurmel?«

»Man könnte Sie als Zeugen der Anklage benennen.« Wiggins ließ nicht locker.

»Wäre es ihm lieber, wenn ich als Zeuge für die Verteidigung aufträte? Er weiß verdammt gut, dass ich nicht als Zeuge vorgeladen werde. Sanderson wird meine Zeugenaussage abgeben. Der Fall gehört West Yorkshire, nicht mir.« Jury blickte auf die Notizen, die Wiggins gemacht hatte. »Dieser Verleger, für den Healey gearbeitet hat. Machen Sie bei ihm einen Termin für mich.«

»Jawohl, Sir.« Wiggins’ Hand zauderte über dem Telefon. »Wann?«

»Heute nachmittag. So gegen drei, vier.«

»Es ist schon fast zwei.« Diejenige von Wiggins’ Händen, die nicht den Teebecher halten musste, schwebte weiter über dem Telefon. »Ich meine nur.«

»Dass es nicht mein Fall ist. Sie haben recht. Verschaffen Sie mir einen Termin bei diesem jungen Verleger-As, diesem Martin Smart.« Jury lächelte.

»Der Boss beschwert sich –«

Boss? Racer? Seit wann nannte Wiggins ihn so?

»– dass Sie mit ein paar Fällen nicht zu Rande kommen. Dem Soho-Fall beispielsweise.«

Ein Drogentoter, kein Fall für die Kripo, mit dem wurde das Rauschgiftdezernat leicht fertig. Was Racer sehr wohl wusste. Der setzte doch alles daran, dass Jury sein Licht auch ja unter den Scheffel stellte. Racer konnte es einfach nicht leiden, wenn Jury mit Namen und Foto in der Zeitung stand.

»Mir ist nicht gut, Wiggins.«

Wiggins setzte seine Besucher-am-Krankenbett-Miene auf. »Gar keine Frage, Sir. Sie sehen aus wie ein Gespenst auf Urlaub. Und den brauchen Sie, nicht etwa einen neuen Fall.«

Jury grinste. »Ich weiß. Nun machen Sie mir schon einen Termin mit Healeys Verleger.« Er stand auf, und ihm war leichter zumute als seit Wochen.

3

»Genesungsurlaub?«

Chief Superintendent A. E. Racer zog eine gewaltige Schau ab, legte die Hand hinters Ohr, als könnte er nicht glauben, was er gehört hatte.

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