Interludium - Manuel Rotter - E-Book

Interludium E-Book

Manuel Rotter

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Beschreibung

Florian Ruben will seine Karriere als Konzertpianist beenden, um ein neues Leben mit seiner Frau Bernadette zu beginnen. Jedoch kommt alles anders als geplant. Die Produktionsfirma besteht auf Einhaltung der noch laufenden Verträge und droht mit einer Klage, alte Familienstreitigkeiten treten wieder ans Tageslicht und seine Ehe ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Dann erhalten sie eine Nachricht, die alles zum Guten wenden soll. Die beiden erwarten ein Kind. Gleichzeitig erfährt Florian aber auch, dass er an einem seltenen Defekt des Herzmuskels leidet und die Geburt des Kindes wohl nicht mehr erleben wird. Für ihn beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um seiner Familie eine Welt ohne ihn vorzubereiten.

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Bernadette

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

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1.

Kennt ihr das Gefühl der totalen Einsamkeit, während ihr euch in einer Menschenmenge befindet? Meistens empfinde ich es zwischen den Konzerten. Im Flugzeug und im Hotel. Erst wenn ich die Bühne betrete und mich an das Klavier setze, ist es weg. Dann komme ich wirklich an, finde mich an jenem Ort wieder, an dem ich immer sein wollte. Meine Finger begeben sich in die perfekt einstudierte Grundhaltung. Ein Moment der absoluten Stille. Dann schließe ich die Augen und die Taste unter meinem Finger senkt sich ab. Der erste Ton erklingt und die Ohren der vielen Menschen um mich herum, jenseits des Bühnenrandes, spitzen sich aufmerksam und wollen mehr davon hören. Ich spiele Klassiker und nach jedem Stück folgt Applaus. Aber nicht deshalb bin ich hier. Ganz im Gegenteil. Ich bin gekommen, um frei zu sein. Nur auf der Bühne, hier an diesem Ort, an meinem Klavier, empfinde ich wahrhaftigen Frieden.

Womöglich gibt es noch einen zweiten Ort, an dem ich diesen Frieden empfinde. In den Armen meiner Frau. Wenn Berni mich in ihre Arme schließt. Ihre Hand schlingt sich um meinen Nacken und ihre Finger fahren durch mein Haar. Ich spüre ihre Wärme auf der Haut, den Atem, der mich ihr bereitwillig in die Arme fallen lässt. Die Zärtlichkeit ihrer Lippen legt sich auf meine und wir brauchen keine Worte, um einander zu zeigen, wie sehr wir uns lieben. Ja, auch bei ihr empfinde ich diesen Frieden. Und ich würde sie jedem Klavier der Welt vorziehen.

Wir kennen uns seit einer halben Ewigkeit. Ich weiß gar nicht mehr, wie es begonnen hat. Sicher bin ich mir jedoch, dass wir gemeinsam in die Schule gingen und dass wir dort zum ersten Mal einen Blick wechselten.

Zu Beginn meiner Karriere war sie bei jedem Konzert in der ersten Reihe. Die Welttournee ist die erste Reise, auf die sie mich nicht begleitet. Ich verstehe das. Neun Monate ist eine lange Zeit und ich konnte nicht von ihr verlangen, dass sie alles stehen und liegen lässt, um mich quer durch die Welt zu begleiten.

Heute findet das letzte Konzert in Tokio statt. Dann geht es ab nach Hause und wir sehen uns endlich wieder. Ich kann es nicht leugnen und man sieht es mir auch an, dass mir die letzten Monate nicht minder zugesetzt haben. Die Erschöpfung ist groß und ich kann ein paar Monate Pause gut gebrauchen, bevor es zurück ins Studio geht, um das nächste Album aufzunehmen.

Die Aussicht, endlich heimzukommen, ist es auch, die meine Konzentration hemmt. Mir unterlaufen zahlreiche Fehler, die im Publikum aber niemand bemerkt. Meinem geübten Gehör entgehen sie allerdings nicht und deshalb zeige ich mich auch mehr als enttäuscht, als der Vorhang fällt und die Pause verkündet. Zwanzig Minuten, um mein Handy zu zücken und Bernis Nachricht zu lesen. Sie wünscht mir viel Glück. Sie denkt an mich. Immer. Ich antworte mit einem Smiley.

»Läuft gut dort draußen!«, sagt Andrés, mein Manager.

»Bin nicht ganz bei der Sache«, meine ich.

»Was? Die sind doch ganz aus dem Häuschen!«, widerspricht er.

»Den Mittelteil habe ich komplett versaut. Ich war hinter den Streichern zurück und vor dem letzten Sonett war ich viel zu schnell. Ich habe gehetzt.«

»Mach dir keinen Kopf deswegen«, sagt Andrés, »das war eine lange Tournee. Wir sind alle müde. Jetzt kommt die letzte Stunde, bevor wir dich nach Hause schaffen. Dann kannst du dich ausruhen und im Mai geht es zurück ins Studio. Nach diesem Erfolg müssen wir sofort ein Album nachlegen.«

Das ist es, was ich an der Musik hasse. Im Gegensatz zu den Popsternchen reicht es in der klassischen Musik nicht aus, ein schönes Lächeln zu zeigen und gut auszusehen. Das Publikum ist anspruchsvoller und versteht deutlich mehr von der Musik. Ein Fehler und sie vergessen dich. Folgt auf einen Erfolg nicht ein weiterer, vergessen sie dich ebenfalls. Und das Management, das dir ständig im Nacken sitzt, um ein weiteres Album zu produzieren, ist der Sache nicht gerade förderlich.

»Bist du bereit?«, fragt er, als die Glocke das Ende der Pause signalisiert. Das Auditorium füllt sich ein letztes Mal. Es waren fünf Konzerte in fünf Tagen. Das asiatische Publikum ist deutlich anspruchsvoller als der Rest der Welt. Aber umso mehr lässt es dich seine Anerkennung spüren. Der Applaus vor der Pause war atemberaubend. Weitere sechzig Minuten und sie werden die Halle zum Einsturz bringen.

»Dann los!«

Andrés schickt mich zurück auf die Bühne. Ich streife den Frack glatt und setze mich. Die Musiker nicken einander zu. Auch sie sind bereit. In der zweiten Hälfte des Konzerts folgen ausschließlich meine eigenen Kompositionen und Interpretationen von Chopin. Trotz der Nervosität werde ich keine weiteren Fehler machen. Meine Finger legen sich an die Tasten und der Vorhang hebt sich.

Alles verläuft nach Plan und um zweiundzwanzig Uhr tobt die Halle. Standing Ovation erfüllt das Auditorium und Blumenkränze regnen auf die Bühne herab. Ich erhebe mich und schreite nach vorne, wie es mir bereits in der Jugend beigebracht wurde. Ich verbeuge mich ehrfurchtsvoll vor dem Publikum.

Der Vorhang fällt und ich verschwinde in der Dunkelheit der Bühne.

2.

Was ich an Hotelbars so sehr hasse? Sie sehen alle gleich aus. Dieselben Menschen, dieselben Getränke, dieselbe Musik. Egal, in welchem Hotel ich auch übernachte, die Abende gleichen sich bis ins letzte Detail. Natürlich haben sich die Leute, die mich auf den Tourneen begleiten, geändert. Vor ein paar Jahren wechselte ich das Veranstaltungsmanagement und auch die Mitarbeiter der Konzerte wechseln in regelmäßigen Abständen. Nur Andrés bleibt immer derselbe gute Kerl, der mich auf Schritt und Tritt verfolgt und mich bei Laune hält. Man stelle sich vor, ich würde die Tournee mittendrin abbrechen, weil ich die Begeisterung für die immerzu selben Stücke verlöre. Oder ich verlöre gar die Lust an dem immer selben Publikum, dessen Gesichter ich in der Dunkelheit des Auditoriums ohnehin nicht erkenne. Eine dramatische Vorstellung. Andrés würde den Verstand verlieren. Clary, meine persönliche Assistentin, würde sich noch im selben Moment von einer hohen Brücke stürzen. Das könnte ich ihnen nicht antun. Sarkasmus? Ich schätze, ja. Obwohl ich Sarkasmus noch nie wirklich gut beherrschte und noch weniger verstanden habe. Aber belassen wir es dabei.

Auch an diesem Abend sitzen wir in einem abgesperrten Bereich einer Hotelbar. Andrés feiert meinen Auftritt. Und tatsächlich scheint niemand die vielen Patzer meines sonst so makellosen Spiels bemerkt zu haben. Das verwundert mich doch sehr. Schließlich finden sich sehr wohl die einen oder anderen Kenner klassischer Musik unter meinen nächtlichen Begleitern.

Es ist schon weit nach Mitternacht. Andrés berichtet über die aktuellen Einnahmen und Verkaufszahlen. Es war wirklich eine erfolgreiche Tournee, das kann man nicht abstreiten. Die Konzerte waren stets ausverkauft und an manchen Spielorten arrangierte Andrés Sondervorstellungen, um es jedem, der es wollte, zu ermöglichen, das Wiener Wunderkind, wie man mich nennt, zu bewundern. Dabei komme ich nicht einmal aus Wien.

Ich komme aus dem Marchfeld. In Niederösterreich geboren, lebe ich noch heute dort. Ich habe es nie verlassen und denke auch nicht daran. Wir wohnen in der Nähe von Gänserndorf, einer Bezirkshauptstadt an der Grenze zur Slowakei. Berni lebte einige Jahre in Wien, aber nach der Hochzeit zogen wir in die Nähe der Orte, an denen wir unsere Jugend verbracht haben.

Während ich quer durch die Welt reise, kümmert sie sich um alles. Wenn ich ehrlich sein soll, erinnere ich mich kaum noch an zu Hause. Neun Monate ist eine lange Zeit. Und wacht man jeden Morgen in einem anderen Hotelzimmer in einer anderen Stadt der Welt auf, denkt man ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr darüber nach, wo man sich gerade befindet.

Von den Hotels werde ich zu den Konzerthäusern und Stadien gebracht und von dort wieder zurück in die Hotels. Wir verlassen kaum die Suite. Nur allzu selten fahren wir in das Stadtzentrum, um dort zu essen oder an Veranstaltungen teilzunehmen. Passiert es doch, handelt es sich zuweilen um Sponsorenmeetings und dergleichen. Also wirklich nichts Spannendes.

Und so gestalten sich die Abende immer gleich. Nach den Konzerten schüttle ich brav Hände und begrüße wichtige Personen, Kunstmäzene und Politiker, die ich eigentlich nicht kenne. Haben sie mich genug bewundert, werde ich ins Hotel gebracht. Ich dusche, ich esse und ich sitze in den Hotelbars, um mich weiter bewundern zu lassen. Für meine fünfunddreißig Jahre eigentlich kein schlechter Erfolg. Aber für einen Mann, der im Grunde nur seine Ruhe möchte, zu viel Trubel um die eigene Person. Schließlich vollbringe ich keine Wunder. Weder erfinde ich die Lösung für das Klimaproblem noch entdecke ich das Allheilmittel für diverse Krankheiten. Ich bin nur ein Mann mit einem Klavier, der das Einzige tut, das er gut kann, um zu überleben.

»Was ist das Erste, das du tust, wenn du zu Hause ankommst?«, werde ich von Clary gefragt. Sie reicht mir ein Whiskeyglas und sieht mich erwartungsvoll an.

»Ich umarme meine Frau, küsse sie und schlafe drei Nächte durch«, sage ich müde.

»Wenn du dazu kommst. Andrés plant schon die nächste Tournee«, meint sie.

»Die kann er gerne planen. Ich dachte, es ginge zuerst ins Studio?«

»Das dachte ich auch!«

»Worüber tuschelt ihr da schon wieder«, fragt Mary-Anne, meine Medienmanagerin.

»Darüber, ob Andrés wohl noch ein Glas verträgt, ehe er in den Hotelbrunnen springt, um zu baden.«

»Florian!«, tadelt sie mich mit einem Klaps auf die Schulter. »Er freut sich eben über den Erfolg. Die Tournee war echt atemberaubend. Du hast so gut gespielt.«

»Wenn ihr meint!« Ich leere das Glas und erhebe mich. »Wenn ihr mich nun entschuldigt!«

Ich wende mich zum Gehen, als Andrés mir nachruft, ich solle doch warten.

»Willst du etwa schon ins Bett?«, ruft er, als wollte die gesamte Bar erfahren, was ich zu tun imstande bin. »Wir feiern doch gerade.«

»Feiere du nur, mein lieber Freund, ich gehe zu Bett. In fünf Stunden startet der Flieger!«

»Spielverderber!«, ruft er mir nach, als ich hinter der Bar verschwinde.

Am Aufzug krame ich das Handy aus der Innentasche meines Sakkos. Der Akku ist so gut wie leer. Ich aktiviere das Touchpad und sehe, dass Berni angerufen hat. In Österreich muss es gerade Abend sein. Sie wollte sicher erfahren, wie es lief. Ich wähle die Nummer und höre das Läuten am anderen Ende der Leitung.

»Na, wie war es?« fragt sie mich.

»Wie immer!«

»Also gut.« Sie scheint gerade den Fernseher leiser zu machen, denn die Hintergrundgeräusche verschwinden. »Wann landest du morgen?«

»Ich weiß nicht genau. Andrés hat es mir gesagt, aber ich habe es vergessen. Ich rufe dich an, wenn ich in Wien lande. Wir fliegen zwölf Stunden, dazu kommt die Zeitverschiebung.«

»Soll ich dich wirklich nicht abholen?«, fragt sie. Der Stimmlage entnehme ich, dass irgendetwas nicht stimmt.

»Ist alles in Ordnung?«, entgegne ich.

»Ja«, sagt sie, »aber ich vermisse dich. Du warst neun Monate fort.«

»Die paar Stunden schaffen wir auch noch!«

Die Aufzugtüren öffnen sich mit einem lauten Piepsen. Ich steige ein, in der Hoffnung, dass das Gespräch nicht abschnappt. Aufzüge sind wie Alienraumschiffe. Sie vertragen sich nicht mit menschlicher Funktechnik. Die nächsten Worte verstehe ich kaum noch.

»Hörst du mich noch?« Das Gespräch schnappt ab. »Verdammter Dreck!«, fluche ich.

Die Aufzugtüren öffnen sich erneut. Eine junge Frau, offenbar betrunken, steigt ein. Sie ist keine Asiatin, sondern Europäerin. Sie sieht mich lüstern an, als hätten wir gerade ungezählte Stunden an der Bar zusammen verbracht. Aber das haben wir nicht.

»Ich kenne Sie doch!«, raunt sie. »Aber woher?«

»Ich denke nicht, dass wir uns kennen!«, meine ich freundlich. »Welches Stockwerk?«

»Sie sind der Klavierspieler!«, kommt es ihr. »Ich war auf Ihrem Konzert. Mein Vater hat mich mitgenommen!«

Die Frau scheint kaum älter als zwanzig Jahre alt zu sein. Sie richtet sich das Dekolleté zurecht, wobei sie mehr offenbart, als sie sollte, und rückt näher. Ich weiche vor ihr zurück. Eine Reaktion, die ihr offenbar nicht zu gefallen scheint. Sie folgt mir und schon finde ich mich gegen das Aluminium gedrückt wieder. Sie lehnt sich an mich und ich rieche den Alkohol.

»Darf ich bitten?«, sage ich.

»Wenn Sie wollen!«, antwortet sie. Sie löst sich von meiner Brust und torkelt zurück. »Wollen Sie mit mir schlafen?«

Verwirrt wende ich mich ab. Sie hat eindeutig zu viel getrunken und verhält sich peinlich.

»Welches Stockwerk?«

»Dreißig!«

Na perfekt, wir gastieren im selben Stockwerk. Endlich angekommen, freue ich mich darüber, dass die Frau in die andere Richtung torkelt. Erneut ziehe ich das Handy und wähle Bernis Nummer. Aber der Empfang ist einfach zu schlecht. Also schicke ich ihr eine Nachricht und entschuldige mich.

Als ich an der richtigen Zimmertür ankomme, höre ich in meinem Rücken erneut die Frau rufen. Sie läuft über den Flur und wirft sich mir in die Arme.

»Sicher, dass Sie mich nicht wollen?«, lallt sie. »Mein Vater hätte nichts dagegen. Er will mich ja ohnehin loswerden.«

»Ich bin mir sicher!«, sage ich mit einer Gewissheit in der Stimme, die ihr die Röte ins Gesicht steigen lässt. Ich schiebe sie von mir, betrete das Zimmer und schließe hinter mir die Tür ab.

Im Kamin brennt ein warmes Feuer, für März sehr angenehm. Ich stecke die Zimmerkarte in den dafür vorgesehenen Slot, woraufhin die Lichter angehen. Auf dem Weg ins Bad hänge ich das Sakko auf einen Kleiderhaken und lege das Hemd ab.

Im Bad ist es doch recht kühl. Ich steige unter die Dusche und lasse mir das heiße Wasser über den Rücken laufen. Danach trockne ich mich ab und erblicke den Mann im Spiegel, der mir so gar nicht ähnelt. Der Bart ist lang gewachsen, wenn auch ordentlich geschnitten. Die dicken Verfärbungen unter den Augen zeugen von der Ermüdung, die ich in diesem Moment stärker denn je verspüre. Ich habe abgenommen, auch das merkt man mir an. Wird Berni mich überhaupt wiedererkennen?

Gegen drei Uhr morgens falle ich müde ins Bett. Bevor ich einschlafe, werfe ich noch einen letzten Blick durch das Fenster auf die nie ruhende Stadt. Dort draußen herrscht Chaos, wie in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und höre Chopin.

3.

An das lange Fliegen werde ich mich nie gewöhnen. Meine Begeisterung hält sich schon seit Langem in Grenzen. Wenn du es gewohnt bist, ständig an einem anderen Ort zu sein, wird die Flugzeit irgendwann zu einer Übergangsphase, in der du entweder schläfst oder aber Pressetermine erledigst, weil du sonst keine Zeit dazu hast.

Im Endeffekt ist es immer dasselbe. Bereits am Flughafen wirst du von einer Meute Fotografen verfolgt, die erst am Terminal von dir ablässt, wenn sie keine andere Wahl mehr hat. Die Flugbegleiter hingegen realisieren deine Anwesenheit kaum, da für sie prominente Fluggäste keine Seltenheit sind. Hie und da wirst du von Fluggästen angesprochen, die dich erkennen. Ich habe das Glück, in der klassischen Musik beheimatet zu sein, so erkennt mich kaum jemand wirklich. Ein paar verirrte Blicke kreuzen meinen. Schon sehen sie wieder weg, weil sie sich nicht sicher sind, ob ich der Torjäger von der Fußballmannschaft bin, die sie gestern noch im Fernsehen bewundert haben, oder vielleicht doch der Kerl aus der Werbung.

Andrés hingegen lässt keine Sekunde von mir ab. Auf dem Flug nach Europa begleiten uns keine Presseleute, sodass er mich ganz für sich hat. Und wie erwartet hört er nicht damit auf, von der Tournee zu sprechen. Sie sei ein riesen Erfolg gewesen und wir sollten bereits jetzt an die Zukunft denken. Er redet über weitere Alben, natürlich hat er den Zeitplan bereits fertig, und weitere Tourneen, die noch diesen Sommer starten sollen. Dabei bedenkt er nicht, dass ich gerade von einer neunmonatigen Welttournee komme, die meine Kräfte zur Gänze aufgebraucht hat. Ich brauche eine Pause. Die er mir wohl nicht zu gewähren gewillt ist. Welch Wunder!

»Wir müssen so schnell wie möglich weitermachen, den nächsten Schritt setzen, Florian, wenn wir deinen derzeitigen Erfolg halten wollen. Du bist überall auf Platz 1 der Charts und deine Alben verkaufen sich wie warme Semmeln. Die Tournee war ausverkauft und in den letzten Wochen konnten wir sogar Zusatzshows einschieben. Die Produktionsfirma ist mehr als zufrieden mit dir und fragt bereits nach dem nächsten Album. Wir sollten vielleicht eines mit Eigenkompositionen veröffentlichen oder ein Livealbum. Unplugged wäre nicht schlecht!«

»Ich brauche eine Pause, das war der Deal!«, weigere ich mich gelangweilt. Ich wende mich von ihm ab und starre aus dem Fenster.

»Da wussten wir aber noch nicht, wie erfolgreich das Ganze werden würde, mein Freund.«

»Ich brauche eine Pause«, wiederhole ich. »Sind neun Monate nicht genug? Ich wollte diese Tournee schon nicht. Erst recht keine weitere, Andrés. Was ich will und brauche, ist Zeit mit meiner Frau. Alleine. Ohne Presse, ohne Studio, ohne Konzerte.«

»Willst du wirklich alles hinschmeißen?«, fragt er mich erzürnt. Natürlich weiß er, dass ein Teil des Erfolges auch der seine ist. Ohne ihn wäre ich nicht so weit gekommen.

»Als würden die Produzenten mich fallen lassen, nur weil ich ein paar Monate nicht am Titelblatt bin.«

»Das werden sie, Florian. Für die zählt nur das Geld. Das Geld, das du ihnen bringst, und das Geld, das du ihnen kostest, wenn du nichts verkaufst. Die Menschen lieben dich. Aber ihre Liebe hat einen Preis und der heißt Auftritte und Alben.«

Ich drehe mich ihm wieder zu.

»Na gut, ein neuer Deal!«, sage ich entschlossen. »Gib mir drei Monate. Im Juli gehe ich wieder ins Studio, nehme ein Album auf und im Herbst treten wir in Wien auf.«

»Ach, komm schon! Nach einer Welttournee kannst du nicht nur in deiner Heimatstadt auftreten.«

»Wien ist nicht meine Heimatstadt!«, korrigiere ich.

»Nicht nur in deinem Heimatland auftreten«, sagt er.

»Dann eben eine Österreichtournee. Wien, Salzburg, Graz, Linz, Innsbruck, was auch immer«, schlage ich vor.

»Zumindest eine Europatournee«, fordert er. »Brüssel, Paris, Mailand, Moskau!«

Ich gebe mich geschlagen. Nicht, weil ich sehr erpicht darauf bin, in all den Städten aufzutreten, sondern um Andrés endlich loszuwerden. Ich möchte schlafen.

»Na gut, eine Europatournee!«

4.

Nach der Landung warten Termine auf mich, von denen Andrés kein Wort erwähnt hat. Ich zeige mich bewusst wütend darüber, lasse es jedoch still über mich ergehen. Berni gebe ich Bescheid, dass ich später komme. Sie antwortet nicht. Auch sie ist wütend, nicht auf Andrés, sondern auf mich. Die letzten Monate waren nicht leicht, für keinen von uns. Und umso schwerer waren die letzten Wochen. Je länger die Tournee dauerte, desto weniger Kontakt hatten wir. Das lag zuweilen an dem schlechten Empfang, zum Teil aber auch an den vielen Terminen, die mit jedem ausverkauften Spielort zunahmen.

Also kaufe ich ihre Lieblingsblumen und mache mich todmüde auf den Heimweg. Die Fahrt dauert beinahe eine Stunde. Ich gerate in den Abendverkehr und stehe im Stau. Je näher ich ihr komme, desto mehr freue ich mich darauf, Berni endlich wieder in meine Arme zu schließen, sie zu küssen und ihr zu sagen, wie unendlich leid mir alles tut. Sie war von der Tournee nicht gerade begeistert und ließ mich nur widerwillig gehen. Vielleicht mit ein Grund, dass wir in den letzten Wochen nur selten miteinander geredet haben.

Als ich von der Bundesstraße abzweige und den gewundenen Waldweg entlangfahre, erinnere ich mich daran, mit meinen Geschwistern in diesen Straßen aufgewachsen zu sein.

Gobersdorf liegt im Herzen des Marchfelds. Im Westen erstrecken sich im Sommer die Getreidefelder, deren Früchte sich im rauen Wind des Wiener Beckens neigen. Bald werden sie wieder in voller Blüte stehen, wenn der Winter vorübergeht und der Frühling den Weg zu einem der zahlreichen heißen Sommer ebnet. Im Osten erstreckt sich die Kerngemeinde, deren Gründung bis in das 11. Jahrhundert zurückreicht. Die Kirche thront inmitten des Gobersdorfer Waldes, der das alte Sumpfgebiet in sich einschließt, an dessen Mündung unser Haus liegt.

Ich habe das Grundstück vor ein paar Jahren gekauft, als meine Mutter schwer erkrankte und wir uns um sie kümmern mussten. Berni hatte sich dazu entschlossen, um den Weg zwischen unserer Wohnung und meinem Elternhaus zu verkürzen, sollten Notfälle ein schnelles Erscheinen notwendig werden lassen.

Die enge Gasse führt mich um die Ecke und ich erblicke unser Haus. Ich habe es ganz anders in Erinnerung. Berni muss einiges gemacht haben in meiner Abwesenheit. Es ist ein moderner Neubau, eine Mischung aus Stahl und Glas. Der Garten reicht bis zum verebbten Sumpf hinunter und wird auf der anderen Seite vom Wald begrenzt. Ein Steg reicht ein kleines Stück in den Badeteich hinein. Im Sommer sitzen wir gerne dort, grillen und gehen schwimmen.

Als ich den Motor abstelle, kommen unsere Hunde auf den Wagen zugelaufen. Die Sonne ist bereits untergegangen, weshalb ich sie in der Dunkelheit nicht gleich erkenne. Als sie mir jedoch in die Arme springen, begrüße ich sie und drücke sie von mir. Ich konnte mit Hunden noch nie viel anfangen, da ich eher der Katzentyp bin, aber Berni liebt Hunde, weshalb wir uns welche anschafften. Die Hovawarte folgen mir zum Kofferraum und geben ihr lautes Bellen von sich, während ich die Koffer nehme und zum Haus trage.

Im Wohnzimmer geht das Licht an und ich sehe Bernis Schatten zur Tür kommen. Ehe ich die Schlüssel aus dem Sakko holen kann, geht die Tür auch schon auf und Berni sieht mich ernsten Blickes an.

»Du kommst spät!«, sagt sie.

Sie ist einige Köpfe kleiner als ich und sehr dünn. Das lange, blonde Haar liegt sanft an den Schultern und ihre mattgrünen Augen mustern mich, als begegnete sie mir zum ersten Mal. Am Schlüsselbein erkenne ich eine neue Tätowierung, eine von vielen. Die dünnen Lippen hält sie eng zusammengepresst, sodass sie mir sehr nachdenklich erscheint. Ich rieche Wein.

»Tut mir leid«, sage ich, so unterwürfig wie möglich. »Du kennst Andrés. Er hat mir natürlich nichts von den Terminen in Wien gesagt, damit ich nicht protestieren kann. Sein Plan ist aufgegangen.«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Doch, aber ich würde lieber im Haus mit dir reden«, sage ich, »es ist kalt geworden.«

Berni lässt zuerst die Hunde ins Haus, dann mich. Sie will mir offenbar klarmachen, dass sie böse auf mich ist. Aber das weiß ich bereits. Ich wäre selbst böse auf mich, wenn ich an ihrer Stelle wäre.

Im Haus ist es sehr warm, das Feuer im Wohnzimmerkamin gibt ein Zischen von sich. Berni kehrt dorthin zurück und setzt sich auf die Couch, während ich die Koffer neben dem Eingang abstelle. Die Blumen aus der Tasche nehmend, folge ich ihr. Sie sieht mich nicht an, als ich mich auf die Couch setze, die Blumen in meinem Rücken versteckt. Schließlich reiche ich sie ihr und treffe auf Ablehnung. Sie ist wirklich sauer.

»Du hast nicht versucht, noch einmal anzurufen!«, sagt sie, auf unser gestriges Gespräch anspielend.

»Ich hatte keinen Empfang. Aber ich habe dir eine Nachricht geschickt!«

»Die habe ich gelesen. Du hättest allerdings noch einmal anrufen können.«

»Wie gesagt, der Empfang …«

»Der Empfang war ständig schlecht«, schimpft sie, »das hast du mir andauernd erzählt. Schwer zu glauben!«

Ich lege die Blumen auf den Couchtisch und begegne ihrem eisigen Blick. Berni ist ein Mensch, der einem seinen Zorn in aller Stille spüren lässt, wenig darüber spricht, es jedoch umso härter durch Blicke zeigt.

»Es tut mir leid!«, wiederhole ich schließlich.

Sie greift nach dem Weinglas und nimmt einen Schluck, bevor sie sich dem Feuer zuwendet.

»Jetzt bist du ja wieder hier«, sagt sie.

»Darüber bin ich sehr froh. Die letzten Monate waren sehr anstrengend und ermüdend!«

»Du hättest ja nicht gehen müssen!«, meint sie kühl.

»Das hast du bereits letztes Jahr gesagt. Aber so einfach ist das nicht. Ich habe Verträge. Sie nicht einzuhalten, würde uns viel Geld kosten.«

»Spielst du jetzt wegen des Geldes? Dachte, es ginge dir nur um die Musik?«

Ja, sie ist verdammt sauer. So ernst habe ich sie schon lange nicht mehr erlebt – seit dem Erbschaftsstreit mit meinem Bruder, der das Nutzungsrecht an meinem Elternhaus erwirkte. Damals hatte sie mich zwei Wochen mit Stille gestraft, bis ich schließlich nachgab und zu Kreuze kroch.

»Du weißt sehr genau, dass es nicht um Geld geht. Keiner weiß es besser als du, Berni. Und du weißt, dass ich dich über alles in der Welt liebe. Also ist dir auch klar, dass es mir nicht leicht fiel, auf diese Tournee zu gehen. Für so lange Zeit von dir getrennt zu sein, war das Allerschlimmste, das ich bis heute erleben musste. Du weißt, wie wichtig du mir bist.«

Sie stellt das Weinglas ab und dreht sich mir zu, in einen Schneidersitz wechselnd und die Hände in ihrem Schoß vergrabend. Still fordert sie mich dazu auf, fortzufahren und mich zu erklären.

»Davor warst du auf jedem meiner Konzerte, zumindest immer, wenn du konntest. Als Andrés mit der blöden Idee einer Welttournee zu uns kam, wussten wir beide nicht genau, was es für uns bedeuten würde. Neun Monate getrennt zu sein, war schwerer als erwartet. Denkst du, es wäre mir entgangen, dass es mit jeder Woche schlimmer wurde? Wir haben immer weniger telefoniert, weniger miteinander geredet. Einige Zeit lang haben wir uns überhaupt angeschwiegen.

Ich weiß sehr wohl, dass ich ohne deine Zustimmung ging. Aber ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht anders. Der Erfolg wurde immer größer, unsere Beziehung jedoch litt mit jedem Tag mehr darunter. Das ist auch der Grund, weshalb ich Andrés Drängen auf eine weitere Welttournee in ein paar Wochen abgelehnt habe.«

»Er will dich gleich wieder losschicken?«, fragt sie.

»Zuerst ins Studio und dann quer durch die Welt«, antworte ich. »Aber ich habe abgelehnt. Ich habe ihm klargemacht, dass ich eine Pause brauche, dass wir eine Pause brauchen, Berni.«

Ich rücke näher an sie heran und nehme ihre Hände in meine. Die langen, mit Ringen besetzten Finger schließen sich um mich. Die Wärme ihrer Berührung lässt mein Herz schneller schlagen.

»Okay!«, ist alles, was sie daraufhin sagt.

»Okay?«

»Okay!«

Sie lehnt sich mir entgegen und wir küssen uns. Die Hovawarte springen auf, als sie im Garten ein Geräusch vernehmen und schießen sofort los. Davon bekommen wir überhaupt nichts mit. Wir küssen uns weiter, immer fordernder. Bis sie mich schließlich an sich zieht und mich auffordert, ihr zu folgen. Berni lässt sich in die Polster sinken und zieht mich auf sich. Sie umschließt mich mit den Beinen und fordert immer mehr.

Ich schäle mich aus dem Sakko und lasse sie die Knöpfe meines Hemdes öffnen. Dann macht sie sich an meinen Gürtel und ich helfe ihr aus dem Pullover. Sie trägt keinen BH und ich spüre sofort, wie mein Blut in Wallung gerät.

Sie zieht mich wieder auf sich. Ich liebkose ihren Hals. Unter meiner Berührung gibt sie ein zufriedenes Geräusch von sich. Ich arbeite mich über ihre Brüste bis zum Bauchnabel vor und gebe ihrem Verlangen nach. Sie greift meinen Kopf, während ich sie an ihrer intimsten Stelle verwöhne.

Wenig später küssen wir uns wieder und ich flüstere ihr ins Ohr, dass es mir leidtue.

»Ich weiß!«, gibt sie zur Antwort.

Sie beißt mein Ohr, dann dreht sie mich auf der Couch herum und setzt sich auf mich. Langsam wippt sie nach vorne und wieder zurück. Nach all den Jahren weiß sie sehr genau, was ich am liebsten habe.

Wir hatten schon früher Versöhnungssex, aber noch nie so leidenschaftlichen. Offenbar hat uns die lange Trennung nicht nur Probleme beschert, sondern auch ein Verlangen in uns ausgelöst, welchem wir nun, da wir wiedervereint sind, bereitwillig nachgeben.

Gegen Mitternacht liegen wir zusammen auf der Couch, in eine warme Decke gehüllt, und Berni legt ihren Kopf an meine Brust. Sie lauscht meinem Herzschlag, der sich durch ihre Berührung beruhigt.

»Wie geht es dir?«, fragt sie mich schließlich.

»Ich bin müde«, sage ich, ihr eine Strähne von der Stirn streichend und sie enger an mich ziehend. »Sehr sogar!«

»Jetzt bist du wieder hier!«

»Ja, das bin ich«, meine ich, »ich bin endlich wieder bei dir und ich habe nicht vor, so schnell wieder zu verschwinden!«

Interludium

Der Tag, an dem ich Berni zum ersten Mal treffe, ist kein gewöhnlicher. Wir sind noch sehr jung und obwohl wir seit zwei Jahren in dieselbe Schule gehen, kennen wir uns noch nicht. Das verwundert eigentlich nicht, bedenkt man, dass ich der Inbegriff eines Außenseiters bin. Während die anderen Kinder sich nach der Schule im Park treffen oder am Sportplatz, sitze ich daheim an meinem Klavier und studiere das hoch sensible Instrument bis ins letzte Detail.

Ich stamme aus einer Arbeiterfamilie und so weiß ich sehr genau, was es heißt, nichts und doch alles zu besitzen. Mein Vater ist Kraftfahrzeuglenker und meine Mutter arbeitet als Putzfrau. Zwei Mal pro Woche reinigt sie die Wohnung eines Anwalts im ersten Wiener Gemeindebezirk. Manchmal nimmt sie mich dorthin mit. In dieser Wohnung sah ich mit drei Jahren zum ersten Mal ein Klavier und klimperte darauf herum. Danach hat der Anwalt uns erlaubt, das Klavier zu benutzen, da sein eigener Sohn nur wenig Begeisterung dafür zeigte.

Jahre später habe ich bereits so manchen Auftritt vor Publikum hinter mir, als ich Berni kennenlerne. Sogar im Fernsehen durfte ich schon auftreten. Diese Prominenz ist unter anderem an den schlimmen Erinnerungen meiner Schulzeit schuld. Die Lehrer behandeln mich anders als andere Kinder. Meine Musiklehrerin beginnt mich zu fördern, indem sie mir schwerere Aufgaben erteilt. Und manchmal ist es mir erlaubt, dem Unterricht fernzubleiben, um an Wettbewerben teilzunehmen und für Auftritte zu üben.

Die anderen Kinder zeigen weniger Begeisterung, vor allem die älteren. Und so kommt es, dass ich alleine in der Klassengarderobe sitze und mir schlampig die Schuhe binde, als drei Viertklässler hereinkommen und sich in inszenierter Manier vor mir aufbauen. Ich blicke zu ihnen auf und in den Gesichtern erkenne ich bereits, was folgen wird.

Zwei von ihnen packen mich an den Armen und zerren mich von meinem Platz auf. Dabei verliere ich den ungebundenen Schuh und muss mich aus der Klasse schleppen lassen. Am Gang sehen sie sich in alle Richtungen um, ob ein Lehrer in der Nähe ist. Natürlich ist dort keiner. Es ist bereits nach vier Uhr. Ich wäre auch nicht mehr hier, hätte ich nicht eine Schularbeit nachholen müssen. Meine Mutter wartet bestimmt schon vor der Schule auf mich und ahnt nichts von all dem, das sich hier gerade zuträgt.

Die Viertklässler transportieren mich wie ein Paket zu den Schultoiletten. Die Kabinentür geht auf und obwohl ich schreie, erhört niemand meinen Hilferuf und eilt herbei, um mich aus den Händen meiner Peiniger zu befreien. Sie stecken mich mit dem Kopf voraus in das Klo und betätigen die Spülung.

Ich keuche und huste das Wasser aus den Lungen, als sie mich wieder hochziehen. Zwei halten mich noch immer fest, während der dritte Schläger sich daran macht, die Fäuste zu ballen. Es folgen ein paar heftige Schläge in die Magengrube. Jeder Schlag treibt mir die Luft aus den Lungen und ich kann nicht mehr atmen. Mit letzter Kraft rufe ich erneut um Hilfe. Wieder kommt niemand.

»Du beschissener Freak!«, sagt der Schläger. Er spuckt mir ins Gesicht und gibt seinen Kameraden das Kommando, mich wieder in die Toilette zu stecken. Erneut ergießt sich ein Schwall alles erstickender Flut über meinen Kopf. »Wie gefällt dir das?«

Gar nicht gut. Aber ich habe keine Kraft mehr, ihm zu antworten. Schon finde ich mich am Boden wieder. Tritte und Schläge hageln auf mich herab. Von meinem Instinkt geleitet, hebe ich die Arme über meinen Kopf, um das Gesicht zu schützen.

Ich kann die Zeit nicht abschätzen, aber sie lassen erst von mir ab, als die Tür zur Toilette aufgeht. Es ist allerdings kein Lehrer, der hereinkommt, sondern ein Mädchen, das sich nun meinen Peinigern entgegenstellt. Die Fäuste in die Hüfte gestemmt, steht sie da und fordert die drei Schläger dazu auf, sofort zu verschwinden. Der Anführer lacht, während die anderen stumm hinter ihm stehen.

»Was willst du?«

»Das habe ich doch gerade gesagt«, wiederholt das Mädchen. »Also?«

Der Anführer will gerade auf sie losgehen, als erneut die Tür aufgeht und meine Klassenlehrerin, die mir zuvor die Schularbeit abgenommen hat, hereinkommt. Wie sie mich erkennt, zeigt sie sich schockiert, dann brüllt sie die drei Viertklässler auch schon an.

Einer Schimpftirade folgt die Aufforderung, draußen zu warten. Die Schläger verlassen reumütig die Toilette und die Lehrerin schickt das Mädchen los, den Direktor zu holen.

In den folgenden Minuten liege ich still da, zitternd und ohne ein Wort zu sagen. Mir hat es die Sprache verschlagen und ich beginne mich zum ersten Mal in meine ganz eigene Welt aus Noten und Tönen zurückzuziehen, um dieser brutalen Welt zu entfliehen.

Dann kommt das Mädchen mit dem Direktor im Schlepptau zurück. Dieser begreift sofort und befiehlt der Lehrerin, die Rettung zu rufen und meine Mutter zu benachrichtigen. Diese wartet noch immer nichts ahnend vor dem Schulgebäude.

»Geht es dir gut, Junge?«, fragt der Direktor. Er kniet sich zu mir hinunter. Auch das Mädchen kommt an meine Seite.

»Kümmere dich kurz um ihn!«, sagt der Direktor.

Dann geht er hinaus, aber ich höre überhaupt nicht mehr, was er den dreien an den Kopf wirft. Ich bin vollkommen alleine in meiner Welt der Musik gefangen.

Als das Mädchen schließlich nach meiner Stirn greift, um das Blut wegzuwischen, schaue ich kurz auf. Unsere Blicke treffen sich. Da liegt keine Angst in diesen grünen Augen, nur Mitgefühl.

»Ich heiße Bernadette«, sagt sie.

5.

Das Gefühl, nicht alleine aufzuwachen, fühlt sich verdammt gut. Das letzte Mal verspürte ich es vor neun Monaten. Heute drehe ich mich im Bett um und schmiege mich an sie. Berni schläft noch, aber instinktiv lehnt sie sich mit dem Rücken an mich und ich streiche mit der Hand über ihren Oberschenkel und hinauf zum Brustbein. Ich ziehe sie enger an mich und küsse die Tätowierung in ihrem Nacken, eine Zeichnung von Vögeln und Blumen, dann ihren Hals und schließlich lege ich meinen Kopf an ihren.

An ihrem Rücken fällt mir eine neue Tätowierung auf. Ein kunstvoll gezeichneter Traumfänger, der sich zwischen den Schulterblättern ausbreitet, die Federn reichen bis zum Steißbein. Die Tinte sieht noch frisch aus.

Das habe ich am meisten vermisst. Das Gefühl, neben der Frau aufzuwachen, die ich liebe. Hätte mir jemand vor fünfundzwanzig Jahren gesagt, dass Berni und ich eines Tages verheiratet nebeneinander lägen, nachdem ich von einer Welttournee heimkomme, hätte ich es nicht geglaubt. Aber ich denke, dass macht unsere Ehe so perfekt. Wir waren eben zuerst Freunde und erst dann Geliebte. Unsere Liebe entstand aus Jahren engster Freundschaft, in denen wir füreinander da waren, in schlechten wie in guten Zeiten, und das setzen wir nun seit acht Jahren in der Ehe fort, wobei ich nicht bestreiten will, dass es mit jeder Tournee schwieriger wird. Aber selbst nach einem schlimmen Streit, reißen wir uns für gewöhnlich zusammen, vergeben einander und machen weiter, gehen sogar gestärkt aus dem Streit hervor. Meine Mutter sagte einmal, dies wäre das Zeichen wahrer Liebe. Eine Liebe, die sie selbst nie erfahren hat. Berni und ich würden es aber nie so weit kommen lassen. Eine Scheidung oder gar eine lieblose Ehe käme für uns keinesfalls in Frage. Und darüber bin ich sehr froh.

Berni wacht auf und regt sich in meinem festen Griff. Sie dreht den Kopf ein wenig zur Seite und ich lehne mich über ihre Schulter nach vorne, um sie zu küssen. Sie erwidert den Kuss und ich lasse sie los, damit sie sich umdrehen kann. Ich mache es mir auf dem Polster gemütlich und atme zufrieden aus, während sie sich auf mich legt. Das blonde Haar legt sich wie ein Baldachin um mein Gesicht. Wir verschwinden in einer anderen Welt, in der das Zwitschern der Vögel vor dem Fenster und das Bellen der Hunde im Erdgeschoss nicht mehr zu hören ist.

»Guten Morgen!«, sagte sie. Dabei sieht sie mir direkt in die Augen und ich bin der glücklichste Mann der Welt. »Ich habe dich vermisst!«

»Ich weiß!«, sage ich, fasse sie im Rücken und ziehe sie zu mir herunter. Berni lässt sich an meine Schulter fallen und ich schlage ihr Haar nach hinten. Wir kehren in die uns bekannte Welt zurück. An der Tür hören wir das Kratzen der Hunde, die sich am liebsten ins Schlafzimmer graben würden.

»Du hast ein paar neue Tätowierungen«, sage ich. Sie rutscht seitlich von mir hinunter, schlingt ein Bein um meinen Oberschenkel und beginnt meine Brustmuskulatur mit den Fingern nachzuzeichnen.

»Meine Art von Therapie«, meinst sie nachdenklich. »Du hast auch ein paar neue Tätowierungen.«

»Was meinst du?«, frage ich verwirrt. Obwohl ich immer Tätowierungen haben wollte, schloss mein Dermato-loge diese aufgrund der Schuppenflechte aus.

»Die Ringe unter deinen Augen«, sagt sie, »die waren vor neun Monaten noch nicht so dunkel.«

»Waren ein paar lange Tage!«

»Wem sagst du das?«

Sie lässt von mir ab, wickelt sich in die Decke ein, steht auf und verschwindet im Bad. Nackt liege ich im Bett und schüttle den Kopf. Die Stunden, in denen wir den Streit der letzten Monate verdrängt haben, scheinen vorüber zu sein. Also stehe ich ebenfalls auf und ziehe mich an.

Als Berni aus dem Bad zurückkommt, trägt sie nur eine Unterhose und sammelt nun mein Shirt vom Boden auf, das sie sich überstreift. In dem Shirt wirkt sie wie ein Zwerg im Gewande eines Riesen. Sie bindet sich das Haar zum Zopf, nimmt die Brille vom Nachttisch und öffnet das Fenster. Die kalte Luft flutet das Zimmer und trägt die letzten Erinnerungen an den Sex und die Pizza der letzten Nacht davon.

»Frühstück?«, fragt sie. Dabei wartet sie meine Antwort erst gar nicht ab und verlässt das Zimmer. Die Hunde bellen vor Freude und Berni begrüßt sie, wie an jedem Morgen. »Die Hunde müssen raus!«

Auf ihr Zeichen hin hole ich die Leine und gehe mit den Hunden eine Runde um den Badeteich. Wie soll ich ihr nur sagen, dass Andrés bereits das nächste Album und eine weitere Welttournee plant? Ich will genauso wenig wieder weg, wie sie es will. Aber sein wir einmal ehrlich. Was bleibt mir denn anderes übrig? Ich habe Verträge unterschrieben und diese zu brechen, bedeutet, viel Geld zahlen zu müssen, um mich freizukaufen. Wobei ich mir nicht einmal sicher bin, ob ich das überhaupt möchte. Ich bin Pianist. Klavier zu spielen ist meine Berufung.

»Jetzt macht endlich weiter!«, zische ich genervt.

Als hätten sie mich verstanden, verrichten die Hunde das Geschäft und wir kehren zum Haus zurück.

Ich schiebe die Glastür hinter uns zu und nehme den Hunden die Leinen ab. Berni hat das Frühstück bereits hergerichtet. Am Küchentisch warten Haselnusscremebrote, Toast und Spiegeleier. Es riecht herrlich und Berni wendet gerade ein paar Pancakes in der Pfanne, die sie auch gleich zum Tisch jongliert.

Wortlos setze ich mich und sehe Berni dabei zu, wie sie ihren Platz einnimmt. Im Versuch, die Situation zu entspannen, bilden meine Lippen ein müdes Lächeln, das sie offenbar zu verwirren scheint. Berni rückt sich die Brille auf der Nase zurecht und deutet mit dem Messer auf mich.

»Also?«

»Also?«, wiederhole ich.

»Jetzt tu nicht so«, meint sie, »ich weiß, dass du seine Tourpläne abgelehnt hast, aber Andrés hat doch bestimmt schon wieder andere Pläne mit dir. Manchmal kommt es mir so vor, als wärest du ein Kind in den Fängen eines viel zu alten und großen Kindermädchens.«

Das hat sie eigentlich sehr treffend formuliert. Und ich danke ihr still dafür, dass sie das Thema auf den Tisch bringt und mir damit den Druck nimmt. Gestern sagte ich, ich hätte Andrés Wunsch abgelehnt, heute muss ich verkünden, dass wir lediglich einen Deal geschlossen haben.

»Er hat mit den Produzenten geredet. Sie wollen noch heuer ein neues Album mit Eigenkompositionen herausbringen. Und im Spätsommer dann eine Tournee.«

Ihre Augen werden hinter dem Brillenglas zu engen Schlitzen. Berni fixiert mich, während sie sich ein Brot schmiert, und sie muss überhaupt nicht aussprechen, was sie in diesem Moment denkt. Ich komme ihr zuvor.

»Ich habe ja abgelehnt, wie ich sagte!«

»Gut so!«, sagt sie. »Du hast es mir ja auch versprochen. Vor neun Monaten hast du mir hoch und heilig versprochen, dass du nach der Welttournee nicht gleich wieder verschwindest.«

»Ich weiß«, bestätige ich, »und deshalb habe ich auch abgelehnt. Allerdings musste ich einen Kompromiss eingehen.«

Sie spitzt die Ohren und scheint plötzlich hellwach zu sein.

»Die Produzenten wollten, dass ich sofort ein Album aufnehme und noch im Frühsommer auf eine Tournee gehe. Ich konnte Andrés davon überzeugen, dass ich, dass wir, eine Pause brauchen. Also machte ich ihm ein akzeptables Gegenangebot.«

»Das da wäre?«, fragt sie, ganz die Berni, die ich kenne. Man merkt ihr den Zorn zunächst nicht an. Für gewöhnlich schluckt sie in für ein paar Monate hinunter, bevor sie ihn wie ein Unwetter auf einen loslässt.

»Im Juli ins Studio und im Herbst eine Europatournee«, sage ich.

Dann herrscht für einen kurzen Augenblick Stille. Nur das Geräusch der spielenden Hunde im Nebenzimmer ist zu hören. Berni legt das Brot auf dem Teller ab, legt das Messer beiseite und steht auf. Sie begibt sich zur Spüle, mir den Rücken zugewandt.

»Du hast es versprochen, Flo!«, sagt sie. Jedem anderen Menschen würde es nicht auffallen, mir aber sehr wohl. Ihre Tonlage verändert sich. Aber sie ist nicht müde, sondern besorgt. Also stehe ich auf und gehe zu ihr.

»Was soll ich denn tun?«, meine ich. »Ich muss Verträge erfüllen, Berni.«

»Ja, du und deine ewigen Verträge. Das sagst du jedes Mal. Du verschwindest, bist monatelang weg, kommst dann zurück und erzählst mir von der nächsten geplanten Tournee. Und dabei redest du dich immerzu auf deine Verträge aus. Aber ich denke, dass du aus einem ganzen anderen Grund fort willst. Weg von mir!«

Ich zeige mich erschrocken. Was passiert da gerade?

»Was meinst du damit?«

»Liebst du mich noch?«, fragt sie mich. Dabei dreht sie sich mir zu und ich sehe, dass sie weint. Also fasse ich sie an den Schultern und zwinge sie dazu, mir direkt in die Augen zu sehen.

»Denkst du das?«, frage ich. »Nach all den Jahren, denkst du das?«

»Was soll ich denn sonst denken?«, sie stößt mich von sich und verschränkt die Arme vor der Brust.

»Du weißt sehr genau, dass es nicht so ist«, erwidere ich kühl. Dass sie das auch nur für eine Sekunde glauben kann, macht mich wütend. Wütend auf mich selbst. »Berni, du kennst mich lange genug. Das Klavier ist das Einzige, das ich im Leben habe!«

»Das Einzige, das du im Leben hast!«, sie hebt den Kopf.

»Außer dir!«

»Du verdammter Idiot.«

Sie lässt mich in der Küche stehen und wechselt den Raum. Ich folge ihr ins Klavierzimmer, wo sie die nächstbesten Notenmappen aus dem Regal zieht und mir entgegenwirft.

»Da hast du dein beschissenes Klavier!«, brüllt sie mich an. Ich wehre mich nicht. Wenn Berni einen Wutanfall bekommt, ist es am besten, man lässt ihn über sich ergehen. Denn dann ist sie sogar dazu in der Lage, Berge mit bloßen Händen zu versetzen.

»Berni!«

Die Hunde kommen ins Klavierzimmer und beginnen zu bellen. Sie verteidigen ihre Herrin und ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen. Aber ich drehe mich um und brülle sie an, sie sollen sofort verschwinden. Das tun sie auch.

»Berni, es reicht!«, ich fange eine Notenmappe aus der Luft auf und weiche einer weiteren aus, indem ich mich zur Seite lehne. Schwer atmend hält sie in ihrer Raserei inne. »Hörst du mir jetzt zu?«

Ihr Schweigen fasse ich als Zustimmung auf.

»Also gut. Wie gesagt, ich habe eine weitere Welttournee abgelehnt und musste dafür den Kompromiss einer Europatournee im Herbst eingehen.

Davon abgesehen, kann ich dir nur sagen, dass ich todmüde und froh darüber bin, endlich wieder hier zu sein. Bei dir. Der Frau, die ich über alles auf der Welt liebe!«

»Aber dein Klavier liebst du mehr!«

»Es ist eine andere Art von Liebe. Du weißt, wie ich bin. Nur am Klavier kann ich mich wirklich ausdrücken, der Welt zeigen, wer ich im Inneren bin. Denn sie sehen mich nicht so wie du. Die anderen Menschen sehen in mir nur den Kerl, der gut Klavier spielt. Aber du, Berni, du siehst so viel mehr in mir. Und das ist der Grund, weshalb ich nicht gehen will. Und ich würde es auch im Herbst nicht, wenn ich es nicht müsste.«

Sie lässt die Arme sinken und die Notenmappe fallen. Dann sinkt sie auf dem Klavierhocker in sich zusammen und vergräbt das Gesicht in ihren Händen.

»Verstehst du nicht, wie ich mich fühle?«, höre ich aus ihrem Schluchzen heraus.

Also sinke ich vor ihr auf die Knie und nehme ihre Hände in meine. Bernis Gesicht ist von Tränen geflutet.

»Oh doch, das verstehe ich sehr gut. Und du weißt, wie ich mich fühle. Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Ich meine nicht das Klavier«, füge ich hinzu, bevor sie etwas erwidern kann, »sondern mein Leben. Du bist das Einzige in der Welt, das mich dieses Leben ertragen lässt. Das weißt du besser als jeder andere Mensch.«

»Es macht dich kaputt, Flo«, sagt sie schließlich, nach einer Pause, während der wir uns nur ansehen. »Dieses Klavier hilft dir nicht, es macht dich kaputt. Siehst du es denn nicht? Du bist vollkommen erschöpft. Ich habe dich so noch nie gesehen. Je weiter du kommst, desto weiter entfernst du dich. Von der Welt, von mir, von dir selbst!«

Ich schweige. Denn ich weiß, sie hat recht. Berni nickt und steht auf. Dann geht sie zur Tür.

»Wenn du dieses gottverdammte Album aufnehmen willst, tue es«, sagt sie, »und wenn du auf eine weitere Tournee gehen willst, dann gehe. Aber erwarte nicht von mir, ein weiteres Mal hier zu sitzen, alleine in unserem Zuhause, und auf dich zu warten!«

6.

»Das hat sie nicht gesagt!«, ruft Martin aus, als ich ihm von dem Streit erzähle. Dabei schlägt er das Bierglas nahezu auf den Tisch und wirft mir einen skeptischen Blick zu, als wäre Bernis Reaktion die einzige logische Antwort auf die nächste Tournee gewesen.

»Doch, das hat sie«, übergehe ich den Blick und nehmen einen kräftigen Schluck aus meinem Bierglas, »genau das hat sie gesagt.«

»Und was hast du erwidert?«, will er erfahren.

»Sie ist im Schlafzimmer verschwunden. Ich habe mich angezogen und bin aufgebrochen. Ich musste einfach raus von dort.«

»Dann habt ihr also nicht darüber gesprochen?« Er dreht das Glas in seinen Händen. »Sehr dumm von dir.«

»Ich weiß!«, meine ich.

Die Kellnerin, eine junge Frau Anfang zwanzig mit langem roten Haar, das sie als geflochtenen Zopf über die Schulter gelegt trägt, präsentiert freizügig das tiefe Dekolleté und serviert uns zwei Toast.

»Was soll ich denn machen?«, fordere ich Martin auf, mich zu unterstützen.

»Soll ich ehrlich sein?«

»Ich bitte doch sehr darum«, meine ich, von meinem Toast abbeißend.

»Nun gut!«, er zeigt mit seinem Toast auf mich. »Zum einen halte ich dich für einen Narren. Ich meine, du warst neun Monate lang weg, dann kommst du zurück, ihr streitet, ihr treibt es miteinander, ihr versöhnt euch und ihr streitet wieder. Erkennst du das Problem oder soll ich in meiner Aufzählung fortfahren?«

Ich werfe ihm einen genervten Blick zu. Das fasst er sinngemäß als Zeichen auf, dass ich unbedingt wissen möchte, was er über mein Verhalten und mich denkt.

»Sie vermisst dich, Flo!«, sagt er. Ich schlinge den Toast hinunter und leere das Glas mit einem weiteren kräftigen Schluck bis zur Hälfte. »Und ich verstehe das. Wir haben uns ebenfalls neun Monate nicht gesehen. Für sie muss das noch schlimmer sein.

Vor allem musst du bedenken, dass ihr auch vor deiner Abreise gestritten habt. Sie wollte nicht, dass du diese Tournee machst. Und dennoch bist du gegangen.«

»Du kennst die Gründe!«, unterbreche ich ihn.

»Die kenne ich«, sagt er, »sehr gut sogar. Wir haben darüber geredet. Du hast nun aber alles erreicht, das du immer wolltest. Die Menschen haben dich gesehen, haben gesehen, wozu du imstande bist. Überall auf der Welt sogar. Denkst du nicht, es ist langsam an der Zeit, nach Hause zu kommen?«

Das denke ich sehr wohl. Am liebsten hätte ich ihm das auch gesagt. Aber so einfach ist das eben nicht. Zum einen stimmt es, was ich Berni sagte. Die Verträge mit der Produktionsfirma binden mich und ich schulde Andrés und den Produzenten noch mindestens eine Tournee und ein Album. Schließlich laufen die Verträge noch eine Weile. Und andererseits stimmt es, was Martin sagt. Ich habe die neuen Verträge unterschrieben, da sie mich an die Spitze der Musikwelt bringen sollten. Das haben sie auch getan. Ich wollte den Menschen, die nie an mich geglaubt haben, immer nur beweisen, dass sie im Unrecht waren. Dass ich sehr wohl etwas auf die Reihe bringen könnte. Ich habe es ihnen bewiesen. Aber mir selbst habe ich das noch nicht. Und deshalb sind es nicht nur die Verträge, die mich wieder in die Welt hinaus treiben wollen, sondern auch ich selbst, da ich erst damit aufhören kann, wenn ich es mir selbst bewiesen habe, ohne dabei an andere zu denken.

Wie sage ich Berni die Wahrheit, ohne sie zu verletzen?

Martin, der meine Gedanken zu lesen scheint, rückt sich auf seinem Platz zurecht und straft mich eines vernichtenden Blickes.

»Wann wird es endlich genug sein, Flo?«, verlangt er zu erfahren.

»Langsam glaube ich, dass es nie genug sein wird. Egal, was ich auch tue, wie viele Erfolge ich mit meiner Musik feiere, wie viele Alben ich herausbringe und wie viele Konzerte ich auch gebe, dieses Gefühl, nicht gut genug zu sein, verschwindet einfach nicht.«

»Und das verstehe ich nicht!«, sagt er. »Wie kannst du nach allem noch an dir zweifeln? Du hast eine wunderschöne Frau, die dich liebt und die dich in allem unterstützt, auch abseits der Musik. Deine Mutter war die stolzeste Frau der Welt, wenn sie dir beim Spielen zusah. Und ich, mein lieber Freund, erzähle jedem von meinem besten Freund, dem Pianisten! Du hast alles, das du vom Leben immer wolltest.«

»Vielleicht ist es ja gar nicht das?«, meine ich nachdenklich. »Jetzt sehen mich die Menschen, ja, aber werden sie mich auch noch sehen, wenn ich aufhöre? Wenn ich die Bühne verlasse und abtrete, werden sie mich dann noch wahrnehmen?«

Martin rückt näher und greift nach meiner Schulter.

»Über das solltest du dir keine Gedanken machen«, sagt er streng, »denn der einzige Mensch von Bedeutung, der einzige Mensch, der dich sehen sollte und der dich auch sehr genau sieht, sitzt zu Hause und wartete auf dich. Und mal ehrlich, wovor hast du denn Angst?«

»Ich habe immer nur Klavier gespielt, Martin, etwas anderes kann ich überhaupt nicht. Dir ist schon klar, dass ich erst Mitte dreißig bin? Was soll ich denn die restlichen Jahrzehnte bis zur Pension mit mir anfangen?«

»Gib Unterricht. Lehre andere Kinder, wie du es warst, wie man zu dem wird, das du heute bist.«

»Ein hoffnungsloser Fall?«

»Ein erfolgreicher Pianist, du Idiot!«, er lässt sich auf seinem Platz zurückfallen. »Du bis der Beste, den es gibt. Du könntest anderen Kindern helfen, das zu erreichen.«

Da hat er eigentlich gar nicht so Unrecht. Während er die Toilette aufsucht, lasse ich mir seine Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Ich könnte tatsächlich Unterricht geben. Zu meiner Schulzeit habe ich mir nichts mehr gewünscht als einen Ort, an den ich fliehen konnte, wenn es mir zu viel wurde. Ich könnte anderen Kindern, denen es ähnlich ergeht, damit helfen. Und ich könnte bei Berni sein. Aber wie komme ich aus den Verträgen heraus?

Martin kommt zurück und setzt sich. Dabei fasst er gleichzeitig das Bierglas, leert es und gestikuliert der Kellnerin, zwei weitere zu bringen.

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Klar!«

Die Kellnerin serviert das frische Bier und nimmt Martin die zwei leeren Gläser ab. Dann verschwindet sie wieder. Unsere Stammkneipe ist heute ziemlich schlecht besucht, also sehe ich mich kurz um, bevor ich meine Frage stelle, um sicherzugehen, dass niemand mithört.

»Berni meinte, ich würde mich selbst mit den Tourneen kaputtmachen. Was denkst du darüber?«

Diese Frage hat er wohl nicht erwartet. Er nimmt einen Schluck und denkt genau über das Folgende nach, bevor er mir antwortet.

»Zum Teil hat sie recht«, meint er. »Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Fünfzehn Jahre? Ich weiß nur das über deine Kindheit, was du mir erzählt hast, aber ich weiß sehr genau, was in deinem Kopf vorgeht.

Du hast dich bis an die Grenzen des Möglichen getrieben, physisch und psychisch. Erinnerst du dich an die Gelenksentzündung letztes Jahr? Dein Körper wollte dir damit sagen, dass er eine Pause braucht. Und deine Depressionen, mit denen du mitterlweile zwar deutlich besser umzugehen weißt, wurden mit jeder Reise und jedem Album schlimmer. Wenn ich ehrlich sein soll, Flo, gebe ich Berni recht. Jedes Mal, wenn du aufbrichst, um die Welt zu begeistern, kehrst du leerer zurück. Irgendetwas von dir bleibt immer dort draußen zurück. Und ich frage mich, wie oft du noch fort kannst, bis du nicht mehr zurückkommst.«

Das hat gesessen. Für eine längere Zeit sitzen wir nur da, trinken unser Bier und schweigen uns an. Martin wendet sich dem Fußballspiel im Fernseher zu, während mein Blick der Welt dort draußen, jenseits der Fensterwand, zufällt. Es ist kurz vor zwanzig Uhr und die Kirchenglocke läutet die Abendstunden ein.

Wir bleiben noch eine Stunde, dann machen wir uns auf den Heimweg. Auf dem Weg zum Auto frage ich Martin nach Hannah, seiner Frau. Er erklärt mir, dass es ihr gut gehe, und ich erkundige mich ebenfalls nach seinem Sohn. Georg, mein Patenkind, ist jetzt zwei Jahre alt. Bald kommt er in den Kindergarten. Ich habe ihn seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen. Also verspreche ich Martin, ihn bald zu besuchen, hoffentlich mit Berni zusammen.

Dann trennen wir uns. Er steigt in seinen teuren Wagen und fährt davon, während ich noch einige Zeit zusammengesunken im Auto sitzen bleibe, bevor ich schließlich den Motor starte und mich ebenfalls auf den Heimweg mache.

Im Radio ertönen Chopins Nocturnes, meine Lieblingsstücke, die ich auch gerne auf Konzerten spiele. Chopin besaß ein einzigartiges Talent, Gesang mit Klavierkomposition zu verbinden. Obwohl die Nocturnes Großteils dunklen Charakters sind, lassen sie die unverwechselbare Tonalität des Klaviers erahnen, wie Chopin sie für sich selbst wahrnahm. Seine Phrasierungen und Modulierungen würde ich unter Tausenden wiedererkennen. Sie fesseln mich immerzu aufs Neue.

Vom Haus hallt mir das bekannte Bellen bereits entgegen, als ich das Auto verlasse, und an der Tür begrüßen sie mich in gewohnt wilder Art. Es dauert einen Augenblick, bis die Hunde sich beruhigen und wieder im Wohnzimmer verschwinden.

Ich gehe nach oben, um nach Berni zu sehen, da ich sie im Erdgeschoss nicht höre. Oben ist sie jedoch ebenfalls nicht, weder im Schlafzimmer noch im Bad. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass sie am Steg sitzt. Das tut sie öfter, wenn sie nachdenkt und mit der Welt alleine sein möchte.

Also beschließe ich, mich zuerst umzuziehen und erst danach zu ihr zu gehen. Je mehr Zeit ich ihr gebe, desto besser. Die Hunde haben zwar bereites gefressen, aber ich gebe ihnen noch einen Snack. So gelingt es mir, meine eigenen Gedanken zu sortieren und mich auf das Gespräch mit Berni vorzubereiten.

Sie bemerkt nicht, wie ich den Steg betrete, und reagiert erst, als ich mich neben sie setze. Berni sieht mich kurz an, dann konzentriert sie sich wieder auf den Badeteich, als hause dort eine Nymphe oder dergleichen, die jederzeit aus dem Wasser geschossen kommen könnte, um sie zu entführen.

»Ich habe mit Martin geredet«, beginne ich das Gespräch. An der kühlen Märzluft bilden sich vor meinem Mund feine Rauchwölkchen, die gen Himmel emporsteigen. »Er hatte eine spannende Idee.«

»Die da wäre?«, fragt sie. Der Tonalität entnehme ich, dass sie noch immer wütend ist.

»Was hältst du davon, wenn ich Kindern Klavierunterricht gebe?«

Ich überlege, noch etwas hinzuzufügen, da Berni wohl nicht zu antworten gedenkt. Aber dann dreht sie sich mir zu und erwidert meinen Blick mit traurigen Augen.

»Meinst du es ernst?«, will sie wissen.

»Es ist an der Zeit heimzukommen«, sage ich. »Es ist mein Ernst. Ich bin müde und du hast mit allem recht. Es macht mich kaputt.«

»Und deine Verträge?«

»Da findet sich schon eine Lösung«, sage ich. »Schon vergessen? Mein bester Freund ist Anwalt!«

Sie greift meine Hände. Ihre angespannte Mimik löst sich auf und sie zeigt mir ein Lächeln. Es tut gut, sie wieder lachen zu sehen.

Dann legt sie meine Hand an ihre kalte Wange. Wir sehen einander in die Augen, während meine Hand in ihren Nacken wandert und ich sie an mich ziehe. Berni setzt sich auf mich und wir küssen uns. Wir erkunden unsere Körper, während wir einander verschlingen. Schließlich stehe ich auf und sie schlingt die Beine um meine Hüfte. Ich fasse ihren Po und trage sie ins Haus hinein. Mit dem Bein schiebe ich die Balkontür zu und trage Berni ins Schlafzimmer.

Noch immer küssen wir uns, wie ein frischverliebtes Paar. Ich lasse mich aufs Bett fallen und Berni zieht mir den Pullover über den Kopf. Ein kurzer Moment des Innehaltens lässt uns einander tief in die Augen und durch diese in unsere Seelen blicken. Da ist nur Liebe, sonst nichts. Kein Streit, keine Enttäuschung, keine Wut. Nur Liebe.

Ich streife ihren Hoddie ab und werfe ihn zu Boden. Berni drückt mich nach hinten und legt sich auf mich. Mit gespielter Ernsthaftigkeit fasst sie meinen Hals und macht sich mit der freien Hand an meinen Hosenbund. Sie fährt hinein und ich spüre die Erregung in mir aufsteigen.

Ich ziehe sie an mich, küsse sie, aber sie stoppt mich. Mit gestrecktem Finger signalisiert sie mir stillzuhalten. Sie beißt in meine Lippe, dann küsst sie mich.

Sie erlaubt mir, sie zu packen und umzudrehen. Nun finde ich mich über ihr. Sie rückt sich unter meinem Gewicht zurecht und öffnet die Hose.

Ich entziehe mich ihrer Gewalt, tue so, als könne sie mich diese Nacht nicht haben. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann überantworte ich mich wieder ihrer Gewalt und sie zieht mich an sich. Sie lässt ein lustvolles Geräusch erklingen, als ich in sie eindringe. Diese Art von Sex hatten wir noch nie. Animalische Lust und Zärtlichkeit vereint in einer Komposition einzigartiger Vollendung. Und zum ersten Mal seit vielen Monaten komme ich endlich wieder in meiner Mitte an.

7.

Den Sonntag verbringen wir nahezu ausschließlich im Bett. Berni steht auf, um mit den Hunden hinauszugehen, ich bereite das Frühstück zu. Während wir essen, grinsen wir uns wie verliebte Jugendliche an. Ich muss zugeben, dass ich mich auch so fühle. Der gestrige Abend war besonders. Auf diese Art haben wir noch nie miteinander geschlafen. Es war, als würde die Tatsache, dass ich nicht mehr fortzugehen beabsichtige, alles verändern. Als erreichten wir nun, nach all den Jahren des Aufbruchs und des ständigen Reisens, einen Punkt in unserem gemeinsamen Leben, an dem wir endlich an einem fixen Ort ankommen, um für immer zu bleiben.