Requiem - Manuel Rotter - E-Book

Requiem E-Book

Manuel Rotter

0,0

Beschreibung

Siebzehn Jahre sind seit dem Tod von Florian Ruben vergangen. Seine Kinder sind mittlerweile erwachsen und streben ihrem Vater mit großen Leistungen nach. Jakob möchte Tennisprofi werden, Jana eine Karriere als Musikerin starten. Und beide haben verschiedene Wege gefunden, mit dem erlittenen Verlust des Vaters umzugehen. Während man Jakob kaum etwas anmerkt, leidet Jana sehr darunter, ihren Vater nie gekannt zu haben. Erst als sie Sebastian trifft und sich in ihn verliebt, scheint sich alles zum Guten zu wenden. Doch das Glück verfliegt schnell und die Beziehung macht alles nur noch schlimmer. In letzter Konsequenz muss sie sich mit dem Requiem ihres Vaters auseinandersetzen und eine folgenschwere Entscheidung treffen. Will sie leben oder sterben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 677

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wenn ihr euch verloren habt,

lest zwischen den Zeilen

und findet euch wieder

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Du hast uns einmal gefragt, ob wir das Gefühl der totalen Einsamkeit kennen, während wir uns in einer Menschenmenge befinden. Ich kann nicht für Jakob sprechen, aber ich kenne es und empfinde es in jeder Sekunde meines Lebens. Es lähmt mich, zehrt mich auf.

Ich kann mich an dich nicht erinnern. Mama sagt, wir haben uns am Tag meiner Geburt gesehen, bevor du in ein Koma fielst, aus dem du nicht mehr erwacht bist. Am Tag deines letzten Konzerts. Diesem Tag gedenken wir Jahr um Jahr in aller Stille. Wegen ihm feiern wir kaum noch Weihnachten. Als wir noch jünger waren, gab sich Mama Mühe, eine glückliche Frau zu mimen. Aber je älter wir wurden und umso mehr wir verstanden, was damals geschehen ist, desto weniger freuten wir uns auf Weihnachten. Wir tauschten Geschenke, zündeten eine Kerze in der Kirche an. Manchmal trafen wir uns mit der Familie von Onkel Martin oder Tante Lisa. Aber wirklich gefeiert haben wir nie.

Auch Mamas Geburtstag feiern wir nicht. Weil sie es nicht erträgt. Du hast dir einen schlechten Tag zum Sterben ausgesucht. Papa, mal ganz ehrlich, an ihrem Geburtstag? Aber du hattest wohl keine große Wahl. Mama will keine Geschenke. Außer Tante Lisa und Tante Ines darf niemand zu ihr, sie verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Alles in unserem Haus in Gobersdorf erinnert sie an dich. Immerzu, als wäre es eine Tradition, weint sie an ihrem Geburtstag, obwohl es ein Tag der Freude sein sollte. Dein Tod hat ein Loch in unser Leben gerissen, das sich bis heute nicht mehr geschlossen hat.

Wie Jakob damit umgeht, kann ich nicht sagen. Er ist eigentlich ein sehr fröhlicher Mensch. Wir reden nur selten darüber, haben eine stille Übereinkunft getroffen, den Schmerz nicht zu thematisieren. Aber mir zerreißt es das Herz. Es ist nicht leicht, die Tochter eines Genies zu sein, aber die Tochter eines toten Genies zu sein, ist noch viel schwerer. Sie, die Menschen dort draußen, erwarten große Dinge von Jakob und mir. Er sagt immer, er spüre den Druck nicht, konzentriere sich einfach auf sein Tennisspiel. Ich spüre den Druck umso stärker, denn ich habe dein Talent geerbt. Klavier, Violine, Gitarre. Aber deine Stücke spiele ich nie. Auch wenn Valerie das andauernd von mir verlangt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich seit zwei Jahren lieber alleine übe.

Der heutige Tag ist sehr schwer, Papa. Wir fahren zu deinem Grab am Zentralfriedhof. Dort wolltest du immer bestattet werden, hat Onkel Martin gesagt. Er hat das Begräbnis bezahlt. Er sei es dir schuldig gewesen, meinte er. Ich mag Friedhöfe nicht. Umgeben von Tod, fühle ich mich unwohl. Ging es dir auch so? Ist es eine weitere Sache, die ich von dir geerbt habe? Angeblich sind wir uns ja sehr ähnlich. Onkel Martin sagt das oft. Mama auch. Verbindet uns mehr als nur die Musik?

Ich nehme Mamas Hand, während Jakob vorausgeht. Es ist sehr kalt und der Geruch von Schnee liegt in der Luft. Der Himmel ist von grauen Wolken verhangen und die Welt um uns herum wirkt sehr kahl, leblos und betrübt. Passend zu diesem Tag.

Das Grab liegt im Zentrum der Friedhofsanlage. Jakob hat die Hände in seinen Hosentaschen verborgen, zittert vor Kälte und wirft uns einen genervten Blick zu, weil wir uns so viel Zeit lassen. Für Mama ist das Ganze nicht leicht. Es ist ihr Geburtstag und anstatt zu feiern, begeben wir uns an dein Grab.

Es ist ein schöner Grabstein. Onkel Martin hat keine Kosten gescheut. Der Boden ist von einem Kraut bewachsen, das ich nicht kenne, und am Grabstein sind Kerzen angebracht. Viele deiner Fans pilgern hierher und legen Blumen und Kränze an dein Grab. Die ganze Welt kannte dich, hat mit angesehen, wie du deinen letzten Ton spieltest, ehe du vor laufenden Kameras und den Augen von acht Millionen Menschen zusammengebrochen bist. Mama erzählt nur wenig von diesem Tag vor siebzehn Jahren, aber Onkel Martin lässt kein Detail aus, wenn er betrunken ist. Er hat den Tod seines besten Freundes nie überwunden.

Mama stellt sich an dein Grab und ich begebe mich an ihre Seite, lasse ihre Hand nicht los. Ihre Nase glüht feuerrot und die Tränen in ihren Augen wollen sich Bahn brechen. Aber Mama ist eine starke Frau, die stärkste, die ich kenne. Ich beneide sie darum – denn mein Gesicht wird von einem Strom aus Tränen und Schmerz geflutet. Ich kann meine Gefühle nicht so gut kontrollieren wie sie. Generell habe ich nur wenig von ihr und umso mehr von dir. Jakob hingegen ist ganz Mama. Deshalb verstehen sie sich besser als sie und ich.

Wir schweigen. Wie jedes Jahr. Ich hasse es. Die Stille ist sehr unangenehm. Jakob tauscht die Kerzen aus und ich reiche ihm das Feuerzeug. Er entzündet die Kerzen und stellt sie behutsam zurück in die kleinen Glashäuschen, welche den Grabstein flankieren. Dann macht er sich auf den Weg. Vor ein paar Jahren hat er damit begonnen, den gesamten Friedhof abzuwandern, während Mama und ich an deinem Grab bleiben. Ich vermute, das ist seine Art, uns die Zeit zu geben, die wir brauchen, um mit unseren Gefühlen klarzukommen. Die seinen verbirgt er nämlich lieber. Eine weitere Sache, die er mit Mama teilt. Aber an deinem Todestag kann sie nicht anders. Sie kniet sich hinab und berührt den kalten Boden deiner Ruhestätte. Dabei schließt sie die Augen und die Lippen bewegen sich so reglos, dass man es kaum bemerkt. Sie spricht mit dir, ohne dass ich es höre. Was sie dir wohl zu sagen hat?

Mamas Wangen glänzen, als sie sich wieder erhebt. Sie weint, hält die Tränen nicht länger zurück. Ich trete beiseite und sie sagt, sie wolle nach Jakob sehen. Dann lässt sie uns alleine und ich knie mich ebenfalls zu dir hinunter. Kannst du meine Berührung spüren? Weißt du, dass ich hier bin? Ich wünschte, ich könnte dich das fragen.

»Aber das kann ich nicht«, sage ich. »Ich kenne deine Stimme nur von dem Video, das du Jakob und mir hinterlassen hast. Weder weiß ich, wie du gerochen hast, noch, wie sich deine Berührung anfühlt. Obwohl du mich in deinen Händen gehalten hast, kann ich mich nicht daran erinnern.

Seit siebzehn Jahren kommen wir jetzt schon hierher und ebenso lange frage ich dich, ob du an mich denkst? Ich denke nämlich jeden Tag an dich. Keine Ahnung, wie oft ich mir das Video eigentlich anschaue. Wenn ich mich alleine fühle oder Angst habe. Also ganz schön oft. Verdammt, Papa, wieso bist du nicht mehr hier?

Die anderen in der Schule behandeln mich wie ein zerbrechliches Ding. Mama tut das übrigens auch. Sie tut so, als sei ich aus Porzellan und würde zerbrechen, wenn wir über dich reden. Sie sorgt sich um mich, wie um diese Glasträne, die du ihr geschenkt hast.

In der Schule ist das aber anders. Sie wissen, dass ich deine Tochter bin – die Tochter einer Berühmtheit. Und sie kennen deine Geschichte. Wie du dich über Monate hinweg gequält hast, um dieses Konzert zu spielen. Onkel Martin aber sagt, du habest das nur getan, um unsere Geburt zu erleben. Stimmt das? Du kannst ja nicht antworten, aber ich stelle mir immer vor, wie du die Frage bejahst. Ach, egal!

Das letzte Jahr war nicht einfach. Am Klavier werde ich langsam echt gut, aber die Violine liegt mir immer noch besser. Gitarre freut mich eigentlich nicht mehr. Aber Mama mag es, wie ich spiele, also höre ich nicht damit auf. Valerie meint, ich solle an die Akademie gehen, deine Akademie, die sie nach dir benannt haben. Mama ist jetzt oft dort, weil sie ein Benefizkonzert planen. Hättest du dir je gedacht, dass Mama mal Geld mit Musik verdienen würde? Aber es liegt ihr. Sie kümmert sich echt gut um dein Vermächtnis.

Ich bin oft in deinem Elternhaus. Das Museum ist echt schön geworden. Seit deinem Tod kommen viele Touristen nach Gobersdorf, um das Museum zu besuchen. Du hast damit recht gehabt, dass wir uns keine finanziellen Sorgen zu machen brauchen, weil du für alles gesorgt hast, bevor du starbst.

Onkel Michael besucht uns nicht mehr so oft, seit er im Ausland arbeitet, aber Tante Jana und ich gehen manchmal zusammen in das Museum. Sie erzählt dann davon, wie ihr in diesem Haus aufgewachsen seid. Sie hat echt ein paar krasse Storys über dich auf Lager. Mama spricht ja nicht so viel von dir, weißt du?

Ich überlege, ob ich mich für das kommende Jahr an der Akademie bewerben soll. Die Florian Ruben Akademie für klassische Musik. Hättest du eigentlich je gedacht, dass einmal eine Akademie nach dir benannt wird?

Nein, hätte ich auch nicht gedacht.

Also, ich überlege, ob ich mich bewerbe. Aber ich will nicht nur genommen werden, weil ich deine Tochter bin. Valerie sagt immer, ich brauche mich nicht zu bewerben, für mich sei immer ein Platz frei. Aber genau das meine ich damit. Wenn ich einfach so einen Platz bekäme, während hundert andere Studierende sich bewerben müssten, würde mir das für immer nachgesagt werden. Ich will nicht nur als die Tochter von Florian Ruben bekannt sein. Verstehst du das?

Mama und Jakob kommen zurück. War schön, mal wieder mit dir zu reden. Wir sehen uns, ja?«

»Bist du so weit?«, fragt Mama.

Ihre Stimme klingt sehr trocken. Sie reicht mir die Hand und ich nehme sie entgegen. Jakob hakt sich unter meinem freien Arm ein und zu dritt verlassen wir den Friedhof, um zum Auto zurückzukehren.

»Wollt ihr etwas essen?«, frage ich. Jakob lässt den Sicherheitsgurt einrasten und wirft mir einen verwirrten Blick zu. »Ich meine, wir feiern ja nie, aber wir könnten zur Abwechslung mal in ein Restaurant gehen.«

»Ich würde lieber daheim essen«, sagt Mama. »Wir können ja etwas bestellen.«

Ich wende mich enttäuscht ab und starre während der gesamten Fahrt aus dem Fenster. Jakob spielt mit seinem Handy und Mama stellt das Radio leiser, als wollte sie sich an diesem Tag besonders konzentrieren. Es herrscht viel Verkehr und wir brauchen ewig heim.

Dort warte ich gar nicht, bis sie den Schlüssel aus dem Zündschloss zieht, und eile auf die Haustür zu. Ich ziehe meinen Schlüssel aus der Jackentasche und schließe auf. Mama ruft mir nach, aber ich bin bereits auf dem Weg in mein Zimmer. Langsam wird das Haus für uns drei echt zu klein. Ich ertrage keinen weiteren deprimierenden siebenten Januar auf der Couch, wo wir uns anschweigen.

Auch Jakob lässt die Tür ins Schloss knallen. Mama bleibt unten. Erst als die Pizza geliefert wird, versammeln wir uns am Esstisch. Wie erwartet schweigen wir uns an. Es ist die längste Stunde meines Lebens. Na ja, nicht wirklich, aber du weißt, was ich meine.

»Habt ihr alles für die Schule vorbereitet?«, fragt Mama. »Morgen geht es wieder los!«

Jakob gibt ein leises Murren von sich. Ich nicke still.

»Also gut. Tante Lisa und Tante Ines kommen nachher noch vorbei. Wenn ihr wollt, könnt ihr mit uns einen Film schauen?«

Ich kenne diesen Film. Meistens kommt es gar nicht dazu, dass sie ihn starten, weil Mama davor in Tränen ausbricht. Dann kümmern sich Tante Lisa und Tante Ines um sie, während Jakob in seinem Zimmer schmollt, mit Mädchen schreibt oder mit seinen Kumpels am Computer zockt und ich mich in den Schlaf weine, weil Mama es nicht erträgt, wenn ich an deinem Todestag, ihrem Geburtstag, spiele. Das lässt sie nur noch mehr schluchzen.

»Ich gehe nach oben«, sage ich und stehe auf. Mama sieht kurz auf, sagt aber nichts, als ich durch die Küche im Flur verschwinde.

Wie geht es dir?, fragt Klara per Sprachnachricht. Klara ist meine einzige Freundin in der Schule. Sie weiß, wie schwer uns der siebente Januar fällt und schreibt mir jedes Jahr, ob sie vorbeikommen soll. Aber eigentlich bin ich lieber alleine. Dass sie dennoch jedes Jahr fragt, ist allerdings sehr süß.

Nein, alles gut, antworte ich.

Ich bin für dich da, das weißt du, oder?

Ja klar :)

:)

Ich lege das Handy neben mir auf die Decke und begebe mich in Embryostellung. Jenseits des Fensterglases hat es zu schneien begonnen.

2.

»Mach weiter, Jana!«, brüllt Jakob durch die Tür und untermauert seine Gereiztheit mit heftigen Faustschlägen gegen den Türstock.

Wie immer hat er verschlafen und es nun eilig, sich die Haare zu richten. Er legt so viel Wert auf sein Äußeres. Eine weitere Sache, in der wir uns unterscheiden. Manchmal zweifle ich daran, dass wir wirklich Zwillinge sind.

»Dann schlaf halt nicht immer so lange«, fauche ich ihn an, als ich die Tür öffne und seine Faust vor meinem Gesicht stoppt.

»Du brauchst auch immer ewig«, sagt er. »Ich frage mich, warum. Du siehst ja doch wieder wie eine zerzauste Vogelscheuche aus.«

Er weiß, wie sehr ich es hasse, wenn er so etwas sagt. Jakob weiß nur zu gut, wie sehr ich mit meinem Aussehen hadere. Jeden Tag, wenn ich vor dem Spiegel stehe und meinen hageren Körper betrachte, die hervorstehenden Rippenpaare und das knochige Gesicht, da frage ich mich, ob ich hässlich bin. Ob mich deshalb die anderen in der Schule, vor allem die Jungs, keines Blickes würdigen? Dazu kommen die müden Augen, deren grüner Farbton von einem zarten Braun durchzogen ist. Die Augen habe ich von Mama geerbt. Eines der wenigen Dinge, die mir an mir selbst gefallen. Die Haare trage ich meistens zu einem strengen Zopf gebunden, was den dünnen Hals und das kantige Kinn noch stärker betont. Klara, meine beste Freundin, sagt immer, dass ich sehr hübsch sei, aber ich kann und will es nicht ganz glauben.

»Bitte schön!«, sage ich und mache den Weg frei. Jakob tritt an mir vorbei in das Bad und lässt die Tür knallen.

Ich kehre in mein Zimmer zurück und packe den Rucksack. Die meisten Mädchen in der Schule tragen Handtaschen, aber ich wusste noch nie etwas damit anzufangen. Zu wenig Stauraum und ein riesiges Durcheinander. Ich hasse Durcheinander. Das habe ich von dir geerbt, Papa.

»Mama sagt immer, wie sehr sie deine Genauigkeit manchmal gehasst hat«, sage ich zu dem Bild von dir, das auf dem Schreibtisch steht. Es zeigt dich am Klavier. Du wirkst sehr ruhig und gelassen, nicht wie auf den anderen Fotos, die unten im Flur angebracht sind. Auf diesen wirkst du eher gestresst. Das Bild mit dem Klavier hingegen mag ich sehr.

»Jakob, Jana!«, ruft Mama von unten. »Ihr kommt zu spät!«

Da hat sie wohl recht. Vielleicht lasse ich mir aber auch jeden Tag mehr Zeit, in der Hoffnung, den Bus zu verpassen, um nicht in die Schule zu müssen. Aber Mama würde mich ohnehin fahren, sollte das passieren. Seit sie ihren Job gekündigt hat, um sich um dein Vermächtnis zu kümmern, wie Onkel Martin und sie es nennen, hat sie nicht viel zu tun. Die meiste Zeit ist sie zu Hause, telefoniert und kommandiert Leute herum, die dann alles Restliche besorgen. Sie ist eine knallharte Chefin. Ob sie früher auch so war?

»Jana!«, ruft sie erneut.

»Ja, verdammt!«, brülle ich nach unten.

Dann schnappe ich mir den Rucksack, werfe ihn über die rechte Schulter und eile mit lauten Schritten, die man bestimmt in der gesamten Nachbarschaft hört, nach unten. Jakob ist bereits zur Tür hinaus, ohne auf mich zu warten. Ich schlüpfe in die Schuhe und greife das Geld, das in der Schatulle neben der Tür liegt. Mama ruft mir nach, sie wünsche mir einen tollen Tag, aber ich antworte nicht.

Seit es gestern zu schneien begonnen hat, war klar, dass ein kalter Morgen auf uns wartet. Also ziehe ich den Schal um meinen dünnen Hals enger und vergrabe die Hände in den Jackentaschen.

Auf halbem Weg hole ich Jakob ein, der rasend schnell eine Nachricht ins Handy hämmert.

»Du hättest warten können«, murre ich.

»Mhm.«

»Was hast du eigentlich schon wieder? In den letzten Tagen bist du echt unerträglich!«

»Detektivin Jana!« Er stößt die Atemluft pfeifend durch die zusammengepressten Lippen aus. »Dann denk mal genau nach, wieso das so ist.«

»Keine Ahnung?«, meine ich.

Wir umrunden den Gobersdorfer Wald, in dem unser Haus abgelegen am Ortsrand versteckt liegt, und steuern geradeaus auf die Bushaltestelle zu.

»Jedes Jahr dasselbe«, sagt er. »Es nervt langsam. Diese ständigen Besuche am Grab und das ewige Geheule. Die beschissene Stimmung. Es pisst mich an, Jana. Ich ertrage das nicht mehr!«

»Na ja, das hat ja auch einen Grund, Jakob.«

»Ja, schon klar. Papa ist an Mamas Geburtstag gestorben. Onkel Martin, Mamas Freundinnen, Mama und nicht zu vergessen die Medien erzählen uns die Geschichte jedes Jahr. Aber langsam ist es echt genug. Er ist jetzt siebzehn Jahre tot. Wir sollten damit aufhören, in der Vergangenheit zu leben, und unseren Blick auf die Zukunft richten.«

»Ich wusste nicht, dass du so darüber denkst«, ist alles, was ich dazu sage. Denn ich wusste es wirklich nicht. Da Mama seit siebzehn Jahren mit deinem Tod zu kämpfen hat und ich diesen Schmerz nur allzu genau nachempfinde, habe ich nicht gedacht, dass es Jakob so damit geht. Natürlich, die Zeit um Weihnachten und Neujahr ist in unserem Haus stets sehr trist. Aber wie gesagt, das hat eben seinen Grund. Du bist gestorben, ohne dass ich dich kennenlernen konnte. Und obwohl ich dich quasi nicht kenne, vermisse ich dich mit jedem Tag mehr. Ich weiß also sehr genau, wie Mama empfindet. Du warst die Liebe ihres Lebens. Diesen Verlust zu verarbeiten dauert eben. Manchmal sogar ein ganzes Leben.

Wir kommen schweigend an der Bushaltestelle an. Jakob begibt sich an die Seite seiner Freunde und ich halte bewusst Abstand. Die meisten seiner Freunde empfinden meine Anwesenheit als störend. Sie sehen in mir nur Jakobs schlechtere Kopie. Ich habe mich schon vor langer Zeit damit abgefunden.

Im Bus winkt mir Klara zu und ich stolpere durch den engen Gang an ihre Seite. Obwohl sie nur wenig Make-up trägt, ist ihre Haut beinahe makellos. Sie hat die Pubertät ohne Pickel und andere Krankheiten überstanden, die einem die Haut in eine Kraterlandschaft verwandeln. Im Gegensatz zu mir. Auch das habe ich von dir, Papa. Es scheint beinahe so, als wäre ich nicht eine Kopie von Jakob, sondern von dir. Aber verstehe das nicht falsch. Ich mag die guten und die schlechten Dinge, die ich von dir habe. Sie erinnern mich daran, dass ich einen Vater habe, obwohl du nicht mehr da bist.

Klara wirft das lange wallende, pechschwarze Haar über ihre Schultern und präsentiert der Welt ihre Schönheit. Sie ist das komplette Gegenteil von mir, trägt ständig Designerklamotten und verführt jeden Jungen, der nicht bei drei am Baum ist. Aber aus einem für mich unerklärlichen Grund sind wir beste Freundinnen.

»Wie waren deine Ferien?«

»Eigentlich wie immer«, sage ich traurig.

»Ich weiß, wie schwer die letzten zwei Wochen für dich waren. Ich verstehe das. Echt! Seinen Vater zu verlieren, schon bei der Geburt, ist verdammt hart. Ich weiß nicht, wie ich damit umginge.«

»Jakob sieht das anders, wie ich heute Morgen erfahren durfte«, flüstere ich, damit er es nicht hört.

»Was meinst du?«

Ich erzähle Klara von dem Gespräch und sie drückt meine Hand.

»Das ist halt seine Sicht der Dinge. Es bedeutet aber nicht, dass du auch so empfinden musst. Dir fehlt dein Vater eben sehr und für dich sind die jährlichen Besuche am Friedhof genau das, was du brauchst, um damit klarzukommen.

Und deine Mama? Wie geht es ihr?«

»Sie hat ihren Geburtstag wieder in ihrem Zimmer verbracht. Nur Tante Ines und Tante Lisa durften zu ihr. Ich denke, sie hat auch mit Onkel Martin telefoniert.

Ich habe versucht, so gut wie möglich für sie da zu sein, aber es ist wie immer nicht einfach zwischen uns. Denkst du, sie weiß, wie Jakob über das alles denkt?«

»Das glaube ich nicht«, meint Klara, »sonst würden sie sich nicht so gut verstehen.«

»Denkst du?«

»Na klar!«, sagt sie und rückt näher. »Deine Mama hat den Tod deines Papas nie überwunden. Glaubst du etwa, sie würde sich so gut mit Jakob verstehen, wenn sie wüsste, dass er das alles blöd findet?«

»Ja, da hast du recht«, sage ich nachdenklich. »Danke!«

»Nichts zu danken.«

Sie zeigt mir die Zunge und holt das Handy heraus, um mir die Fotos von ihrer Skitour zu zeigen. Sie war mit ihrem Freund im Urlaub. Das würde Mama mir nie erlauben. Hättest du es mir erlaubt? Nein, das denke ich auch nicht. Du wärest sicher einer der Väter, der auf seine Tochter aufpassen will, obwohl sie keines Schutzes bedarf. Und ich würde dich dafür umso mehr lieben.

»Moritz war echt süß«, erzählt sie mir. »Er hat mir jeden Tag Frühstück ans Bett gebracht. Und der Sex, Jana, ich sage dir, der Sex. BAAAAM! Der Typ hat es echt drauf.«

Ich erröte, was Klara sofort bemerkt. Sie schwingt den Arm um mich und zieht mich an sich. Sie weiß, dass ich noch Jungfrau bin und mich dafür schäme.

»Ich finde das cool«, sagt sie. »Ich wünschte, ich hätte länger gewartet. Weißt du ja!«

Ich gebe ein entspanntes Brummen von mir. Klara hat mit vierzehn Jahren das erste Mal mit einem Jungen geschlafen. In diesem Alter war ich vollkommen auf die Violine konzentriert. Jungs haben mich damals noch nicht interessiert. Ich finde es cool, dass Klara das so easy sieht. Die anderen Mädchen ziehen mich damit auf, mit siebzehn Jahren noch Jungfrau zu sein.

Der Bus setzt uns direkt vor der Schule ab und Klara rückt mir die Mütze auf dem Kopf zurecht. Dann vollführt sie eine rasante Wendung auf dem matschigen Asphalt und atmet streng aus.

»Also dann. Auf ein weiteres Semester im Wahnsinn!«

Sie fasst meine Hand und führt mich hinein.

3.

Als ich das erste Mal weinend nach Hause kam, weil mich die anderen in der Schule hänselten, hat Mama mir erzählt, dass du es ebenfalls nicht leicht hattest. Du wurdest nicht nur beschimpft, sondern auch geschlagen. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Und das muss ich auch nicht. Es reicht schon aus, wie ein Geist behandelt zu werden, den niemand sieht. Aber im Gegensatz zu Casper kann ich nicht einfach erscheinen und Leute erschrecken. Also fällt der Spaß weg, weshalb es einfach nur erniedrigend ist. Nur Klara sieht mich wirklich. Deshalb sind wir beste Freundinnen. Allerdings nicht nur, weil die Auswahl überschaubar ist. Sie versteht mich, wie sonst niemand in der Welt es tut. Mit Mama ist es oft schwierig. Und du bist nicht mehr hier. Also ist Klara alles, was ich habe.

»Jana!«

Herr Schweiger, unser Mathelehrer, reißt mich aus den Gedanken.

»Langweile ich Sie bereits?«, fragt er mich vor der gesamten Klasse.

Alle Blicke wenden sich mir zu und ich fühle, wie ich im Erdboden versinke und sich meine Wangen röten. Ich will nur noch von hier verschwinden.

»Habt ihr irgendein Problem?«, blafft Klara die Klasse an.

Sie wissen, dass Klara keine Späße macht. Sie hat sogar einmal ein Mädchen im Turnunterricht vom Seil gezogen, weil dieses sich darüber lustig gemacht hat, dass ich nicht hochkam. Das ist Klara – sie kümmert sich um mich.

»Klara«, wendet sich Herr Schweiger nun an sie, »wie schön, dass wenigstens Sie aufmerksam sind. So und jetzt weiter!«

Die erste Stunde geht schnell vorüber. Ich hasse Mathe, du weißt gar nicht, wie sehr, Papa. Die meiste Zeit starre ich aus dem Fenster und denke darüber nach, was deine Lieblingsfächer waren. Mochtest du Mathe? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Hmmm. Vielleicht Geschichte oder so. Das wäre bestimmt eines deiner Lieblingsfächer gewesen. Mama hat einmal etwas in diese Richtung erwähnt.

Die Glocke ruft uns in die zweite Stunde. Klara isst gerade genüsslich einen Apfel und straft jeden eines bösen Blickes, der mich auch nur schief ansieht. Ich schmunzle und sie bemerkt es.

»Habe ich etwas zwischen den Zähnen?«, fragt sie und beginnt in den Zahnlücken zu pulen.

»Nein, ich habe nur gerade an etwas gedacht. Alles gut!«

»Verrücktes Mädchen«, sagt sie und zeigt mir die Zunge. Dann gibt sie ein leises Pfeifen von sich, lässt sich von der Tischplatte auf den Sessel fallen und folgt mit den Augen der Bewegung des Jungen, der gerade das Klassenzimmer betritt.

Er ist nicht gerade groß gewachsen und alles andere als muskulös. Die weite Jeans sitzt ihm gerade noch so an der Hüfte und das schlampig eingesteckte Shirt sieht so aus, als hätte er es bereits drei Tage an. Darüber trägt er eine Lederjacke, mitten im Winter, und die Tasche mit einem Gurt über die rechte Schulter geworfen. Das blonde, struppige Haar ist zerzaust und erinnert mich an ein Vogelnest. Die starren eisblauen Augen fliegen von einer Ecke des Zimmers zur nächsten und saugen jedes Detail in sich auf, kartographieren das Klassenzimmer.

»Sitzt hier schon jemand?«, fragt er mit rauer Stimme. Patrick verneint. Dann lässt sich der Junge fallen und verschränkt die Arme vor der Brust, während er den Sessel mit einer geschickten Bewegung der Fußspitze, die in löchrigen Schuhen versteckt ist, nach hinten kippen lässt, um den Sessel zu balancieren.

»Guten Morgen!«, werden wir von Frau Petrovic, unserer Klassenlehrerin, begrüßt. Sie unterrichtet Englisch und Deutsch. Letzteres mag ich, Englisch so gar nicht.

»Wie schön, dass Sie den Weg zu uns doch noch gefunden haben, Herr Koch«, sagt sie streng, an den neuen Jungen gerichtet.

»Jetzt kennen wir seinen Nachnamen«, flüstert mir Klara zu, »und weiter?«

Ich beachte sie kaum, denn meine Aufmerksamkeit ist auf den Jungen in der ersten Reihe gerichtet, den ich noch nie in der Schule gesehen habe.

»Hab den Bus verpasst«, ist alles, was er sagt. Dabei löst er weder seine angespannte Haltung noch hält er es für notwendig, Frau Petrovic anzusehen, wenn er mit ihr spricht.

»Dann empfehle ich, zu einer früheren Uhrzeit aufzustehen. Dieses Mal gibt es keinen Eintrag im Klassenbuch, aber ich habe Sie gewarnt.«

Nun setzt sie sich und richtet die folgenden Worte an die gesamte Klasse.

»Ich darf Sie alle zu einem weiteren Semester begrüßen. Wie sie bemerkt haben dürften, haben wir einen neuen Schüler in unserer Mitte. Sein Name ist Sebastian Koch. In Zukunft wird er pünktlich erscheinen und auch die erste Stunde mit Ihnen verbringen.«

Es folgt eine längere Rede darüber, dass wir uns noch in diesem Schuljahr für die Maturafächer im kommenden Jahr entscheiden müssen. Klara macht sich ein paar Notizen, dann reißt sie ein kleines Stück Papier aus dem Block und bückt sich darüber, sodass ich nicht sehe, was sie schreibt, und schiebt mir das Blatt dann über den Tisch zu.

Der ist echt süß. Hätte ich nicht schon einen Freund, würde ich ihn mir schnappen.

Ich kritzle eine Antwort und schiebe das Blatt zurück.

Klara sieht mich enttäuscht von der Seite aus an. Dann streicht sie meine Antwort durch und korrigiert sie.

Aus meinem Den kannst du haben ist ein Du stehst auf ihn geworden. Sie kennt mich eben sehr gut und weiß, dass ich auf die Badboys stehe. Und sie hat recht – er hat etwas an sich, das mich anzieht und das mich die gesamte Stunde und den restlichen Tag nicht den Blick von ihm abwenden lässt.

Die Freistunde verbringen wir auf dem Spielplatz, welcher sich auf der anderen Straßenseite befindet. Es hat aufgehört zu schneien und die Sonne hat sich durch die dunklen Wolken gekämpft.

Ich fühle mich schlecht. Es ist der erste Tag, seit ich mich erinnern kann, an dem ich nicht ausschließlich an dich denke, Papa. Der Junge, Sebastian Koch, bewirkt das. Und das macht mir Sorgen.

»Du musst mit ihm flirten. Mädchen reden nicht einfach Jungs an. Moritz hat mich zunächst auch kaum beachtet. Und dann habe ich mich so lange in sein Blickfeld gedrängt, bis er mich schließlich auf einer Party angesprochen hat. Natürlich reicht es nicht aus, sich nur bemerkbar zu machen, du musst dich auch sexy anziehen. Also …«

»Also nicht so wie ich. Schon klar!«, sage ich traurig.

»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht kränken.«

»Das ist es nicht«, sage ich und stoße mich vom Boden ab. Auf der Schaukel falle ich nach vorne und werde nach dem tiefsten Punkt nur wenige Zentimeter in die Höhe befördert. Der nächste Schwung ist kräftiger und ich genieße die kalte Luft in meinem Gesicht. Klara folgt meinem Beispiel und stößt sich vom Boden ab.

»Was ist es dann?«, will sie erfahren.

»Der würde mich doch eh nicht mögen. Auch wenn er mich bemerkt.«

»Wie willst du das wissen?«

»Ehrlich? Was habe ich schon zu bieten?«

»Zunächst bist du extrem hübsch.«

Ich drehe meinen Kopf und blicke sie ungläubig an.

»Das meine ich ernst. Und dann hast du noch megaviele Talente. Ich meine, du spielst wie viele Instrumente? Acht?«

»Drei!«

»Ja, das ist auch genug, oder?«, sagt sie.

Ich stoppe die Schaukel, indem ich meine Beine in den Boden presse. Klara schaukelt noch einen Schwung weiter, dann hält sie ebenfalls an.

»Ich denke nicht, dass das genug ist«, meine ich.

»Ich enttäusche dich vielleicht damit, aber wäre ich lesbisch, wäre ich bestimmt mit dir zusammen. Echt jetzt!«, ruft sie mir nach, als ich aufspringe und zum Klettergerüst hinübergehe. Klara folgt mir.

»Ich meine das ehrlich, Jana, du bist einer der tollsten Menschen, den ich kenne.«

»Ich weiß, dass du das denkst. Deshalb habe ich dich auch so lieb. Aber ich sehe das eben nicht so.«

»Eigentlich ist es ja auch nicht wichtig, wie du dich siehst, sondern, wie er es tut.«

Damit hat sie eigentlich recht. Aber andere sehen einen immer nur so, wie man sich selbst sieht. Das sagt Mama ständig. Also würde Sebastian in mir nur ein trauriges, hässliches Mädchen sehen. Denn genau so sehe ich mich.

»Wir sollten jetzt zurück!«, sagt sie.

Also springe ich vom Klettergerüst und folge ihr zurück in die Schule. Die restlichen vier Stunden beobachte ich ihn heimlich. Weder nimmt er aktiv am Unterricht teil noch spricht er mit jemandem von uns. Wenn die Lehrer ihn etwas fragen, starrt er sie lediglich an, bis sie sich an jemand anderen wenden, und in den Pausen verschwindet er in einer abgelegenen Ecke des Hofs, um zu rauchen. Am Nachmittag kehrt er aus der Pause nicht mehr zurück und schwänzt die letzte Stunde, in der ich mich nicht länger auf Bio konzentrieren kann. Ich starre aus dem Fenster und denke an Sebastian, den Jungen mit dem blonden Vogelnest am Kopf.

Nach der Schule trennen sich Klara und ich. Sie hat noch Ballettunterricht und wird von Moritz abgeholt, der sie hinbringt. Wir küssen uns und ich folge einer größeren Mädchengruppe zur Bushaltestelle.

Jakob bricht ebenfalls direkt zum Tennistraining auf. Er wird erst zum Abendessen daheim sein. Also sitze ich alleine im Bus, in der letzten Reihe, und belausche die Gespräche der anderen. Sie reden über die Ferien und wie viel Spaß sie hatten. Wir hatten keinen Spaß. Du weißt, wieso das so ist, Papa, ich brauche es nicht extra zu erwähnen. Ich wünsche mir nur ein einziges Weihnachten, an dem du bei uns bist. So richtig, meine ich. Aber das wird es nie geben.

Zu Hause angekommen gehe ich sofort auf mein Zimmer. Mama telefoniert gerade, aber sie ruft mir nach, dass das Essen fertig sei.

»Hab keinen Hunger!«, erfolgt meine Antwort von der Treppe und der laute Knall, als ich die Tür hinter mir zuschlage, gibt ihr das Kommando, das Telefonat zu beenden und mir zu folgen.

Ich höre ihre Schritte, als sie die Treppe hochsteigt, und das Schlurfen bis zu meiner Tür, an die sie klopft.

»Alles in Ordnung?«

»Nein!«

»Kann ich reinkommen?«

»Nein!«

»Willst du vielleicht darüber reden?«

»Nein!«

Das angestrengte Schnaufen, das durch die Tür dringt, sagt alles. Mama geht wieder nach unten. Sie weiß, dass es keinen Sinn hat, länger auf ein Gespräch zu beharren, wenn ich in dieser Stimmung bin. Dann hilft nur eines.

Ich gehe zum Schrank hinüber und hole den Violinenkoffer heraus. Am Bett öffne ich ihn und setze mich. Das Gefühl der Violine an meinem Kinn ist befreiend. Ich spiele Bach und versinke vollkommen in der Musik. Für vier Stunden verschwinde ich aus der Welt, die mir so sehr zusetzt, und kehre ein in meine ganz eigene Welt aus Noten und Tönen.

Als ich in die Realität zurückkehre, höre ich Jakob im Nebenzimmer telefonieren. Meine Finger krampfen, ich habe zu lange am Stück gespielt. Also lege ich die Violine in den Koffer und verstaue diesen wieder im Schrank.

Dann laufe ich in meinem Zimmer auf und ab und denke wieder an Sebastian. Ob er wohl bemerkt hat, dass ich ihn beobachtet habe? Ich hoffe doch nicht. Wie hast du das damals bei Mama gemacht? Schon klar, du warst ein Junge, aber das kann doch gar nicht so anders sein. Oder hat Klara recht? Muss ich warten, bis Sebastian mich anspricht? Und wenn er es nie tut? Werde ich dann das restliche Schuljahr damit zubringen, ihn heimlich zu beobachten und zu hoffen, dass er mich ansieht, vielleicht hinüberkommt und mich anspricht? Ein schrecklicher Gedanke.

Jakob klopft an die Tür.

»Mama sagt, du sollst zum Abendessen kommen.«

Diesmal leiste ich keinen Widerstand und folge meinem Bruder in die Küche. Mama hat gekocht. Onkel Martin sagt oft, sie habe sich verbessert, aber na ja. Früher habt ihr oft zusammen gekocht, oder? Das hat Mama mir einmal erzählt.

»Wie war euer Tag?«, fragt sie.

Mama ist jetzt zweiundfünfzig Jahre alt, aber das merkt man ihr nicht an. Sie sieht noch immer sehr jung aus und ist bildhübsch. Kein Wunder, dass du dich in sie verliebt hast. In den letzten Jahren hat sie ein wenig zugenommen, hat aber noch immer eine perfekte Figur, und seit sie sich um dein Vermächtnis kümmert, trägt sie oft Businesskleidung, um wie eine Geschäftsfrau zu wirken – selbst zu Hause. Deshalb glaube ich kaum, was ich auf den Fotos im Flur sehe. Dort trägt sie Hoddies und Kappen. Mama muss sich so sehr verändert haben, seit ihr euch kennengelernt habt. Seit deinem Tod.

Jakob und Mama unterhalten sich. Ich blicke erst auf, als sie mich direkt anspricht.

»Und bei dir?«

»Alles wie immer!«

»Wie war es beim Training?«, fragt sie nun wieder Jakob, der einen detaillierten Bericht zum Besten gibt. Nächstes Jahr, nach dem Schulabschluss, will er Profi werden. Obwohl ich nichts von Tennis verstehe, muss ich zugeben, dass er sehr gut spielt. Aber ob es zum Profi reicht, weiß ich nicht. Mama verpasst jedenfalls keines seiner Turniere. Sie ist sein größter Fan.

Bei mir ist sie zurückhaltender. Vielleicht liegt das an der Musik. Offenbar erinnere ich sie zu sehr an dich. Manchmal, wenn sie sich unbemerkt glaubt, erwische ich sie dabei, wie sie deine Platten hört oder am Klavier sitzt. Ich will sie nicht verletzen – aber glaubst du, sie würde die Idee, mich an deiner Akademie zu bewerben, begrüßen? Oder würde sie zu weinen beginnen? Ich traue mich nicht, es ihr zu sagen.

Jakob und Mama bleiben noch länger im Wohnzimmer und spielen mit den Hundebabys, die sie sich gekauft haben. Der Tod von Coco und Bert war ein weiterer schwerer Verlust für Mama. Aber Hunde werden eben nicht so alt. Anfang Dezember haben sie beschlossen, sich zwei Welpen zuzulegen. Conner und Ines liegen die meiste Zeit faul herum, was in Jakob und Mama aber die höchste Freude zu erwecken scheint. Jakob hat Conner nach seinem Lieblingstennisspieler benannt, Mama fand es lustig, die Hündin Ines zu nennen, was Tante Ines jedes Mal ein Lächeln abringt.

Ich steige unter die Dusche und lasse das warme Wasser für längere Zeit über meinen Rücken laufen. Als ich vor dem Spiegel stehe, schließe ich die Augen. Um nicht zu schreien, denn genau das löst der Anblick meines Spiegelbildes in mir aus, beiße ich in meinen Oberarm, bis ich Blut schmecke. Ich wische es sofort mit einem Taschentuch weg und warte, bis die Blutung nachlässt. Dann ziehe ich mir den Pyjama an und gehe ins Bett.

Dort starre ich die Decke an und überlege kurz, noch ein wenig mit der Gitarre zu üben, aber schließlich begebe ich mich in Embryostellung und kämpfe gegen die Tränen an, die meine Augen füllen.

Das Vibrieren auf dem Nachtkästchen lässt mich nach dem Handy greifen.

Und du stehst doch auf ihn :p

Ja, du hast recht.

4.

»Also, wie gehen wir es an?«, lautet meine erste Frage an Klara, als wir uns am Morgen sehen.

In den ersten beiden Stunden haben wir Turnunterricht. Wie gewöhnlich sind Klara und ich die letzten beiden Mädchen in der Umkleide, da ich mit dem Umziehen immer warte, bis die anderen in der Halle sind. Ich ziehe mir das Shirt über und warte gespannt auf Klaras Antwort, die sie sich nicht lange durch den Kopf gehen lässt.

»Schritt Eins: Wir müssen dich in Position bringen.«

»Das bedeutet?«

»Sei dort, wo er ist.«

»Das ist nicht schwer«, meine ich, »wir gehen in dieselbe Klasse. Schon vergessen?«

»Das meine ich nicht. Wie sehen deine Tage aus?«

»Ähm, ich gehe in die Schule, dann heim, um die Hausaufgaben zu machen und zu lernen. Anschließend übe ich. Am Abend sehe ich fern oder lese.«

»Ganz genau. Dort kann er dich aber nicht sehen.«

»Ich gedenke allerdings nicht, das zu ändern.«

Klara bindet sich die Schuhe. Ich tue es ihr gleich.

»Dann haben wir ein Problem. Wie sieht es mit den Wochenenden aus?«

»Als ob du das nicht wüsstest.«

»Ganz genau. Die Wochenenden verbringst du alleine zu Hause. Dort kann er dich, wie schon gesagt, nicht sehen.«

»Dann eben in der Schule. Wir haben ja dieselben Stunden.«

»Wenn er nicht gerade schwänzt«, merkt sie an.

Ich rolle mit den Augen und folge ihr in die Halle. Die Lehrerin wartet bereits auf uns und straft uns vor versammelter Gruppe mit Tadel, weshalb wir uns so viel Zeit lassen. Zur Strafe müssen wir eine doppelte Strecke zum Aufwärmen laufen.

Klara und ich lassen uns ein wenig zurückfallen und bilden das Schlusslicht, um ungestört an unserem Plan arbeiten zu können.

»Du wirst wohl auf Partys gehen müssen«, sagt sie.

»Ich mag keine Partys.«

»Ich weiß, aber Typen wie er gehen gerne auf Partys.«

»Woher willst du wissen, was er für ein Typ ist?«

»Ernsthaft? Hast du ihn dir eigentlich mal angesehen? Er ist einer von den Coolen. Spielt in der Oberliga, weit über uns. Wenn du dorthin aufsteigen willst, musst du einen Zahn zulegen. Und das schaffen wir nur, wenn wir dich auf Partys bringen.«

»Nein, Klara, ich meine das ernst. Partys sind nichts für mich. Ich blamiere mich dort nur. Und ich denke nicht, dass das von Vorteil wäre.«

»Dann müssen wir dich eben vorbereiten.«

Nach dem Aufwärmen wird die Gruppe von der Lehrerin in Zweierteams eingeteilt, um einen Parcours aufzubauen. Es dauert eine halbe Ewigkeit, die ganzen Geräte aus dem Lager zu holen und aufzustellen. Das stört mich nicht. Ich mag keine Parcours. Je länger der Aufbau dauert, desto eher holt uns die Schulglocke in die nächste Stunde und fort vom Turnunterricht.

»Okay, dann eben in der Schule. In den Stunden wirst du keinen Anschluss zu ihm finden, also bleiben nur die Pausen – und die verbringt er im Hof. Dann müssen wir unsere Pausen eben auch in den Hof verlegen.«

Ein Pfiff gibt das Kommando und Klara läuft als Erste los. Der Parcours beginnt mit mehreren Hindernissen, über die wir springen müssen oder aber unter sie hindurch, ehe eine Wand aus Leitern auf uns wartet. Ich keuche bereits, als ich dort ankomme, und habe den Anschluss an Klara verloren. Das Balletttraining bewirkt zwar, dass sie sehr dünn ist, aber dafür ist jeder Muskel in ihrem Körper auf Perfektion trainiert. Sie lässt die Leiter hinter sich und schwingt von Seil zu Seil. Ehe ich diese erreiche, befindet sie sich bereits auf dem Balken und balanciert geschickt darüber.

Auf der anderen Seite des Parcours verringert sie ein wenig das Tempo, um mich nicht ganz so schwach erscheinen zu lassen. Aber das bringt nichts – ich rutsche vom Balken, knalle mit dem Kinn dagegen und schlage schmerzhaft auf dem Boden auf.

Die Lehrerin lässt einen lauten Pfiff ertönen und läuft zu mir hinüber.

»Alles in Ordnung, Ruben?«

Ich sage nichts, halte das Kinn mit beiden Händen und kämpfe gegen den Weinkrampf an.

»Das blutet«, stellt sie fest, fasst mich am linken Ellbogen und zieht mich hoch.

Mir ist schwindelig und ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Klara ist sofort zur Stelle, um mich zu stützen. Zusammen mit der Lehrerin führt sie mich zum Übergang in den nächsten Hallenabschnitt.

Die Halle ist durch einen ausfahrbaren Vorhang in zwei Hälften geteilt. In der anderen Hälfte turnen die Jungs. Deren Augen starren mich an, verfolgen mich, während ich in einen sich in ihrer Hälfte befindenden Nebenraum geführt werde. Sie setzen mich auf eine Bank und die Lehrerin verschwindet für einen kurzen Augenblick, um den Notfallkoffer zu holen.

»Alles klar?«

»Sehe ich so aus?«, gebe ich benommen zur Antwort. »Das tut verdammt weh!«

»Immerhin hast du dir keinen Zahn ausgebrochen.«

Die Tür geht auf und Sebastian betritt den Raum. Er sieht kurz zu uns hinüber, dann verschwindet er auf der Toilette. Kurz darauf, die Hände gewaschen, kehrt er zurück und hält vor uns an.

»Das sieht verdammt übel aus«, sagt er mit seiner rauen Stimme, die sich mir die feinen Härchen im Nacken aufstellen lässt. Mein Herz schlägt schneller. Er redet mit mir!

»Was du nicht sagst«, zischt Klara.

»Das gibt einen blauen Fleck, aber es heilt wieder. Solange der Kiefer nicht gebrochen ist, ist es halb so schlimm.«

Er setzt sich neben mich und riecht verdammt gut. Seine blauen Augen treffen auf meine grünen und obwohl ich etwas sagen will, bringe ich kein Wort heraus.

»Lass mal sehen.«

Ich hebe das Kinn an, während sich Klaras Griff um meinen rechten Arm verstärkt. Sebastian inspiziert die Wunde, als kennte er sich damit gut aus. Dann nickt er und bestätigt, dass nichts gebrochen ist.

»Woher willst du das wissen?«, fragt Klara.

»Weil ich mir schon so gut wie jeden Knochen in meinem Körper gebrochen habe. Ich weiß, wie es aussieht und wie es sich anfühlt.«

»Danke«, ist das erste Wort, das ich an ihn richte.

»Kein Problem.«

Die Lehrerin kommt zurück und bleibt abrupt stehen, mit dem Verschluss des Notfallkoffers ringend.

»Was willst du hier?«, fragt sie an Sebastian gewandt.

»Hab mir nur was zu trinken geholt.«

»Das hast du ja jetzt wohl. Los, zurück in die Halle!«

Sebastian erhebt sich schlaksig, sieht mich noch einmal an und verschwindet dann in der Halle. Die Lehrerin versorgt die Wunde und sagt, dass nichts Schlimmes passiert sei, aber ich solle es mir von der Schulärztin ansehen lassen. Also ist der Turnunterricht für mich beendet. Klara bekommt die Erlaubnis, mich zu begleiten. Wir ziehen uns um und nehmen den kurzen Weg durch den hinteren Gang in die Schule hinüber.

Das Zimmer der Schulärztin befindet sich im ersten Stock. Sie sieht sich die Wunde genau an und verschiebt meinen Kiefer auf brutale Weise, bestätigt aber Sebastians Diagnose. Erleichtert atme ich aus und greife nach Klaras Hand.

»Aber du solltest es von deinem Hausarzt röntgen lassen«, meint die Schulärztin.

»Das werde ich. Danke.«

Wir beschließen, nicht zum Turnunterricht zurückzukehren, sondern den Hof aufzusuchen.

»Schritt Eins haben wir erledigt. Er hat dich bemerkt«, erklärt Klara fachmännisch. Wir setzen uns in einer Ecke auf eine Bank, die nicht von Schnee bedeckt ist, und schlagen die Beine übereinander.

»Mehr schlecht als recht«, sage ich. »Wie lautet Schritt Zwei?«

»Hm. Schritt Zwei? Suche weiter seine Nähe und präsentiere dich von deiner besten Seite. Normalerweise erledigen deine Freundinnen den Rest, indem sie ständig gut über dich reden, wenn er oder seine Freunde in der Nähe sind.«

»Ich habe außer dir keine Freundinnen«, merke ich an.

»Er ist neu und hat ebenfalls keine Freunde. Das gleicht es aus. Also müssen wir es anders anstellen.

Coole Typen stehen auf kluge Mädchen. Das ist immer so. Sie wollen deine Sachen tragen und dir beim Lernen zusehen.«

»Aha.«

»Was? Das stimmt! Das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Wie Nerds, die immer auf die scharfen Mädchen stehen.«

»Ein Nerd wäre wohl leichter zu erobern.«

»Vielleicht ist er ja ein Nerd, der sich nur als Cooler verkleidet. Wer weiß? Das finden wir aber nur heraus, wenn du mit ihm redest.«

»Also Schritt Zwei: Mit ihm reden?«

»Schritt Zwei: Mit ihm reden.«

Leichter gesagt als getan. Wie geplant verbringen Klara und ich die Pausen nun im Hof. Klara kennt ein paar Mädchen aus anderen Klassen, die rauchen und ganz in der Nähe von Sebastians Lager, wie Klara es nennt, positioniert sind. Wir stellen uns dazu, aber so, dass Sebastian mich im Profil sieht. Klara meint, das muss so sein. Hat Mama das damals auch so gemacht? Hast du sie auch im Profil gesehen, um die Vorteile ihrer Figur zu bemerken?

Sebastian sieht manchmal zu uns hinüber, aber mehr auch schon nicht. Klara sagt, das sei gut, ich bin mir da aber nicht so sicher. Es ist verdammt kalt und anstatt meine Figur zu präsentieren, die ich für gar nicht so toll empfinde, stehe ich mit verschränkten Armen da und tapse ungeschickt von einem Fuß auf den anderen.

In den Stunden kann ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Meine Aufmerksamkeit gilt ganz Sebastian. Er tut nicht mal so, als würde er aufpassen – sitzt mit verschränkten Armen in der ersten Reihe und starrt an die Decke. Wird er angesprochen, gibt er mittlerweile ein leises Murren von sich. Ein Fortschritt, befinden die Lehrer am Ende der ersten Woche.

Am Freitag finden wieder Ballvorbereitungen statt. Die Siebtklässler müssen ihn für die Achtklässler planen und ausrichten. So finden wir uns nach der achten Stunde in der Aula ein.

Klara gehört dem Mitternachtsteam an. Das bedeutet, dass sie an der Mitternachtseinlage teilnimmt, sogar als Haupteinlage. Wie oft hat man schon eine Ballerina im Jahrgang, die nicht nur in ihrer Freizeit Stunden nimmt, sondern nach dem Schulabschluss auch an eine Akademie möchte? Klara ist also verdammt gut. Obwohl Pierre, ihr Tanzpartner in der Ballettschule, nicht in unsere Schule geht, soll er den männlichen Part tanzen und nimmt daher auch an den Proben teil.

Ich gehöre zum Planungsteam, weshalb ich meine Freitagnachmittage damit verbringe, Papierständer für Servietten und Dekoration zu basteln. Es gibt Schlimmeres, aber ich wäre trotzdem lieber wo anders.

Jakob hat darauf verzichtet, an der Mitternachtseinlage mitzuwirken, obwohl die Lehrer es ihm angetragen hatten. Er wollte lieber mit seiner Schwester arbeiten. Es sind die wenigen Dinge, die wir wirklich zusammen tun, und darüber bin ich froh. Denn obwohl wir Zwillinge sind, verbringen wir nur wenig Zeit zusammen, in der wir nicht streiten. Ich weiß, Papa, das ist eigenartig. Zwillinge haben doch eine natürliche Verbindung und so etwas. Aber wir sind eben anders.

»Und? Wie geht es mit deinem Typen voran?«

Ich erstarre und senke meinen Blick, damit Jakob nicht bemerkt, wie die Röte mein Gesicht emporsteigt.

»Was meinst du?«

»Ach, tu nicht so. Glaubst du, ich habe nicht bemerkt, wie du ihn ansiehst? Diesen Sebastian!«

Ich wende mich ihm zu.

»Ist es so offensichtlich?«

»Irgendwie schon. Ist der erste Junge, den du magst, oder?«

Früher haben wir uns alles erzählt. Unsere schwierige Zeit begann erst mit der Pubertät, in der wir andere Interessen entwickelten und die meiste Zeit nur noch stritten.

Jakob klebt den letzten Serviettenhalter zusammen und stellt ihn zu den anderen. Dann wirft er die Schere auf den Tisch und dreht sich mir zu, mit großen Augen auf meine Antwort wartend.

»Ja, irgendwie schon. Also, ich meine, ich mag ihn.«

»Und Klara berät dich?«

»So gut sie kann.«

»Du weißt schon, dass du einen Bruder hast.«

»Ja und?«

»Ich bin ein Junge im gleichen Alter wie er. Wenn dir jemand Tipps geben kann, dann ja wohl ich.«

Daran habe ich gar nicht gedacht. Nicht, weil wir immer streiten, sondern, weil ich Jakob nicht so sehe. Aber er hat recht. Er ist im selben Alter wie Sebastian und weiß sehr genau, was Jungs in diesem Alter wollen.

»Sieht er dich manchmal unbemerkt an?«

»Ich denke schon.«

»Und im Turnunterricht ist er trinken gegangen? Hm. Sehr verdächtig.«

»Was? Wieso?«, ich halte inne und lasse die Schere sinken.

»Wir hatten mit dem Unterricht noch nicht einmal richtig begonnen und er hatte schon Durst? Kurz nachdem er dich dort hineingehen sah. Verstehst du, was ich meine?«

Ich denke schon.

»Der Gute steht auf dich, Jana.«

»Meinst du das ernst?«

»So wahr mir Gott helfe. Oder irgendein anderes mystisches Geisterwesen dort oben. Pater Lúc würde aber wohl den guten alten Kerl mit weißem Bart bevorzugen.«

»Du bist doof!«, sage ich kichernd. »Danke.«

»Wofür?«

»Dass wir mal wieder reden konnten, ohne uns anzukeifen, Jakob. Ist lange her.«

»Da hast du recht.« Er steht auf und wendet sich zum Gehen. »Wir sind eben doch Zwillinge.«

Die Vorbereitungen gehen bis neunzehn Uhr. Weil die anderen aufbrechen, ohne sich um den Müll zu kümmern, bleibt es an mir hängen. Klara ist auch schon weg und Jakob ist vor einer Stunde in den oberen Stockwerken verschwunden.

Ich hieve mir die zwei schweren Säcke über die Schultern und stoße mit der Hüfte die Tür zum Hof auf. Dort werfe ich die Säcke schwer atmend zu Boden und ringe mit dem Verschluss des metallenen Müllcontainers, der zugefroren ist.

»Verdammte Scheiße!«, fluche ich lauter als gewollt und trete gegen die Müllcontainer, wobei ich mir die Zehen anschlage und einen weiteren Fluch ausstoße.

»Du musst gegen das Eis schlagen!«, höre ich die raue Stimme in meinem Rücken.

Sebastian steht gegen die Wand gelehnt da und stößt qualmend den Zigarettenrauch aus seinen Lungen. Dass ihm mit der Lederjacke nicht kalt ist, wundert mich.

Ich drücke die schmerzende Zehe im Schuh gegen den kalten Boden und kämpfe gegen einen verzweifelten Hilferuf an. Wieder finde ich keine Worte.

»Lass mich mal!«

Sebastian drückt die Zigarette am Boden aus und kommt hinüber, schiebt sich eng an mir vorbei, wodurch ich erneut seinen natürlichen, von Zigarettenqualm geprägten Geruch einatme. Für einen kurzen Moment treffen sich unsere Blicke, ehe er das Eis vom Verschluss klopft und den Müllcontainer öffnet. Dann wirft er die zwei Säcke hinein und schließt ihn wieder.

»Wieso lassen sie jemanden wie dich den Müll rausbringen?«

Er ist klein gewachsen und dennoch größer als ich. Also sehe ich ihm von unten in die eisblauen Augen und versuche, meine Lippen irgendein Wort bilden zu lassen, um nicht nur blöd dazustehen.

»Ich war schon immer das Mädchen, das den Müll rausbringt.«

Jana, du dummes Ding, weshalb sagst du so etwas? Es gibt so viele Antworten auf diese Frage und du wählst die dümmste!

Sebastian zeigt seine fast perfekten Zähne, zieht die Zigarettenpackung aus der Lederjacke und hält sie mir hin.

»Ich rauche nicht«, piepse ich.

»Ist eh ungesund.«

Die Zigarettenpackung verschwindet unbenutzt wieder in der Innentasche der Jacke. Dann lässt er sich gegen den Müllcontainer sinken.

»Du heißt Jana, oder?« Ich nicke. »Schöner Name. Und deine Freundin?«

Dann war er also die ganze Zeit nur an Klara interessiert. Er hat sich nicht für mich interessiert, ist nicht wegen mir etwas trinken gegangen und hat auch nicht mich im Hof angesehen, sondern Klara, die Ballerina mit der perfekten Figur und den langen Haaren.

»Klara. Aber sie hat einen Freund, falls du das wissen willst«, sage ich traurig, meinen Blick in den Boden bohrend.

»Das wollte ich gar nicht fragen. Eigentlich bin ich viel mehr an dir interessiert.«

»An mir?«, ich blicke wieder zu ihm hoch, verliere mich in diesen unendlichen eisblauen Augen.

»Ja, an dir!«

Sebastian stößt sich vom Müllcontainer ab und lässt sich nach vorne fallen, fasst mich an der Hüfte und küsst mich.

Total überrascht, weiß ich nicht, was ich tun soll. Seine Lippen treffen auf meine und ich folge seinen Bewegungen, gebe mich seiner Führung hin. Er könnte alles mit mir tun und doch bleibt er regungslos.

Unsere Lippen lösen sich voneinander und ich höre auf zu atmen. Er sieht mich an, wartet auf eine Reaktion. Als diese sich nicht ereignet, lässt er sich wieder gegen den Container fallen.

»Hast du morgen schon etwas vor?«

Ein Date? Er will ein Date!

Ich schüttle den Kopf.

»Dann hast du jetzt was vor.«

Ich nicke.

»Gib mir mal dein Handy!«

Ich ziehe es aus der Jackentasche und reiche es ihm. Sebastian tippt seine Nummer hinein und reicht es mir zurück.

»Ich schreibe dir später, wo wir uns treffen, ja?«

Wieder nicke ich.

Die Tür zum Hof geht auf und Jakob tritt durch die Tür. Sein Blick fällt auf Sebastian und er versteht sofort.

»Bist du bereit? Wir müssen los!«

Ich schweig. Starre ihn still an.

»Jana?«

»Ja, wir können los!«

Mama wartet auf dem Schulparkplatz. Ich nehme meinen Platz am Beifahrersitz ein und Jakob macht es sich auf der Rückbank bequem.

»Na, wie war es?«

»Jana hat ein Date!«, sagt Jakob.

Ich reiße die Augen auf und wende mich ihm wütend zu. Er zeigt mir die Zunge. Wir sind also wieder die alten Streithälse.

»Ein Date?«

»Mit einem Gangster.«

»Er ist kein Gangster!«, protestiere ich.

»Wann ist es so weit?«, will Mama erfahren.

Ich verschränke die Arme vor der Brust und wende mich dem Fenster zu.

»Morgen!«

5.

Warst du nervös, als du das erste Mal mit Mama unterwegs warst? Ich bin auf jeden Fall nervös. Nicht nur, weil es mein erstes Date mit Sebastian ist, sondern auch, weil es mein erstes Date überhaupt ist. Meine Erfahrungen mit Jungs beschränken sich auf Beobachtungen und Erzählungen von Klara. Ich weiß, ich bin siebzehn Jahre alt.

Klara kommt zwei Stunden vor meinem Aufbruch zum Bahnhof zu uns und hilft mir bei den Vorbereitungen. Sie kümmert sich um meine Haare, weil sie das besser kann. Allerdings fällt es ihr schwer. Mein Kopf eignet sich nicht gerade für eine aufwendige Frisur. Also entscheiden wir uns für einen geflochtenen Zopf, wie ihn viele blonde Mädchen tragen, und wenden uns der Kleiderauswahl zu.

Mein Schrank ist so gut wie leer. Meistens trage ich Röcke im Sommer, Hosen im Winter. Die kalten Monate mag ich lieber, weil man da Westen und Pullover tragen kann. Klara trägt meistens hautenge Kleidung, um ihre Figur zu betonen. Für mich ist das nichts. Ich verstecke sie lieber.

»Du machst es einem echt schwer«, sagt Klara, während sie eine Bluse aus dem Schrank zieht.

»Mehr habe ich halt nicht zu bieten. Hätte ich gewusst, dass er mich einlädt, hätte ich vorher etwas gekauft«, erwidere ich gereizt.

»Schon gut, Kätzchen, Mama will nur spielen«, sagt sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Sorry. Ich bin nervös.«

»Schon klar«, meint Klara. Sie reicht mir die Bluse. »Die sollte passen. Sieht süß aus mit dem Rock.«

Sie wirft sich auf das Bett und sieht mir dabei zu, wie ich mich umziehe. Dabei holt sie das Handy aus der Tasche und tippt eine Antwort an ihren Freund.

»Wann trefft ihr euch?«

»Achtzehn Uhr.«

Ich zupfe die Falten aus der Bluse und betrachte mich im Spiegel. Ich sehe aus, wie ich mich fühle. Das ist doch eine total blöde Idee. Wieso mache ich das? Wärest du doch nur hier, Papa, um mir beizustehen.

»Und was macht ihr?«

»Keine Ahnung. Er will sich vor der Universität treffen.«

»Aha. Einmal angenommen, er ist kein Nerd, wie ich vermutet habe, sondern einer der coolen Typen – dann wird er wohl nicht mit dir in die Bibliothek gehen. Ich weiß, es würde dir gefallen, aber schminke es dir ab, Jana. Bibliotheken sind keine Orte für Dates.

Was kann er dann mit dir vorhaben? Dort gibt es jede Menge Studentenbars in der Nähe. Will er dich vielleicht abfüllen?«

»KLARAAAA!«

»Ja, schon gut. Alles klar. Psssst. Hmmm. Oooooh. Ich weiß es. Ihr macht einen romantischen Spaziergang durch die Innenstadt. Er hat echt Stil.«

»Bist du dir da sicher?«

Ich gehe zum Bett hinüber und setze mich zu ihr. Klara rollt sich zur Seite und lässt ihren Kopf auf meinen Schoß sinken.

»Okay, was auch immer er vorhat: Es wird cool werden. Also stress dich nicht. Sei einfach du selbst, dann wird er dich mögen.«

»Danke.« Ich küsse sie auf die Stirn und streichle ihren Haaransatz. »Muss ich irgendetwas beachten?«

»Na ja, meistens ergibt sich alles von selbst. Folge einfach deinem Instinkt und reagiere darauf, was er tut. Die meiste Zeit werdet ihr nur reden. Achte darauf, dass er deine Lippen gut sieht. Und wenn du sitzt, schlage die Beine übereinander. Das lässt deine Hüfte schlanker wirken. So etwas mögen die. Und iss nichts, was dir Mundgeruch beschert. Das stört beim Küssen.«

»Okay, das sollte ich hinbekommen.«

»Ach ja. Und wenn du ihm einen bläst, pass auf die Zähne auf. Beißen ist geil, aber nicht zu fest!«

»KLARAAAAA!«

Sie springt von meinem Schoß und lacht so laut, dass sie das gesamte Haus aufschreckt. Ich greife einen der Polster und werfe ihn ihr entgegen. Klara fängt ihn aus der Luft heraus auf und macht ein unschuldiges Gesicht.

»Na, habt ihr Spaß?« Mama kommt herein, ohne zu klopfen. Ich funkle sie zornig an. »Wow. Du siehst so schön aus.«

Errötend bedanke ich mich bei ihr und verschränke die Arme vor der Brust.

»Soll ich euch fahren?«

»Nein. Klara ist ja mit dem Auto da. Sie bringt mich nach Gänserndorf.«

»Apropos Klara«, macht sich meine beste Freundin bemerkbar, »ich muss mal aufs Klo. Bin gleich wieder da.«

Sie schiebt sich an mir vorbei und verschwindet im Flur. Mama kommt zu mir herüber und dreht mich zum Spiegel um.

»Das erinnert mich an mein erstes Date«, sagt sie, die Bluse an den Schultern glattstreifend.

»Mit Papa?«

»Nein, mein erstes Date war mit einem Jungen aus der Schule. Er war sehr süß, aber wir kamen nicht über das zweite Date hinaus.«

»Und dein erstes Date mit Papa?«, will ich wissen.

»Dein Vater und ich hatten eigentlich keine Dates.« Mama lässt von mir ab und setzt sich auf das Bett. Die grünen Augen beginnen zu funkeln. Sie denkt an dich und das bringt die Trauer wieder zum Vorschein. »Wir gingen zusammen zur Schule und irgendwann haben wir uns ineinander verliebt. Es hat länger gedauert, bis wir uns das eingestanden haben. Irgendwann, kurz vor den Sommerferien, habe ich ihm dann meine Gefühle offenbart und er hat sie erwidert. Danach waren wir bis … Danach waren wir bis zu seinem Tod zusammen. Es gab keinen anderen.«

Und seitdem auch nicht mehr, denke ich still, ohne es auszusprechen. Mama hat nicht mehr geheiratet. Seit ich mich erinnere, hat sie sich auch mit keinem anderen Mann mehr getroffen. Ihr Herz gehört noch immer dir.

»Wie war das so?«, frage ich, mich zu ihr setzend.

»Der Anfang mit ihm war wunderschön. Ich habe den Mann meines Lebens getroffen und lieben gelernt. Wenn wir zusammen waren, war ich glücklich. Immer. Es gab keinen Moment, in dem das nicht so war.

Nach der Matura war es einige Zeit lang schwieriger. Wir haben mehr gestritten, vor allem, wenn er auf Tour war. Die Welttournee vor seinem Tod hat uns beinahe auseinandergebracht. Aber unsere Liebe war stärker. Sie hat uns alles überstehen lassen. In den letzten Monaten war sie dann stärker als zuvor. Die Diagnose hat vieles verändert. Und uns wieder zusammengebracht. Umso schlimmer war sein Tod.«

Nach ihrer Hand greifend, lege ich Mama den Kopf an die Schulter. Sie erwidert die Geste, indem sie ihren Kopf auf meinem platziert. Sie bebt. Der Verlust wiegt nach all den Jahren unverändert schwer und die Trauer frisst sich mit jedem Tag weiter durch ihr erschöpftes Herz. Manchmal sehnt sie den Tag herbei, an dem ihr wieder zusammen sein werdet. Aber er scheint noch so weit in der Ferne zu liegen, dass sie sich nachts immerzu in den Schlaf weint.

»Ich weiß, Mama, ich vermisse ihn auch, obwohl ich ihn nicht einmal kannte.«

»Er hat für euch gekämpft. Die Ärzte hatten ihm nur wenige Wochen gegeben und doch kämpfte er Monate gegen den Tod an. Um euch, deinen Bruder und dich, nur einmal mit eigenen Augen zu sehen.«