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"Anders als Rooneys frühere Romane. Wärmer. Nachsichtiger. Komplexer. Und reifer." - Süddeutsche Zeitung Intermezzo ist die Geschichte zweier ungleicher Brüder. Peter, Anfang dreißig, ist ein charismatischer, desillusionierter Menschenrechtsanwalt; Ivan, zehn Jahre jünger, ein ernsthafter und introvertierter Schachspieler. Als Ivan klein war und Peter ein Teenager, standen die beiden sich nahe, später wurden sie einander immer fremder. Nun haben sie ihren geliebten Vater verloren, was alte Wunden aufs Neue aufreißt. Dann lernt Ivan Margaret kennen, deren Ehe gerade zerbrochen ist. Die Zuneigung zwischen ihnen ist echt, doch ihr Altersunterschied droht ihre Liebe zu zersprengen. Unterdessen verliert Peter seinen Halt. Er ist mit Naomi zusammen, einer jungen Studentin, doch er kann das frühere Leben mit Sylvia, seiner ersten Liebe, nicht hinter sich lassen. Entwurzelt, verletzt, voller Reue, erscheint das Leben ihm schal und kaum zu ertragen. Ihre Schuldgefühle, ihre Suche nach Sinn und Nähe treiben beide, Ivan und Peter, zu den Frauen in ihren Leben. Doch jeder von ihnen muss einen Weg finden, eine übermächtige Aufgabe zu meistern: wirklich zu trauern. Und wirklich zu lieben. Mit ihrem neuen Roman lässt Sally Rooney, eine der prägenden Autorinnen ihrer Generation, alle Zuschreibungen hinter sich und beweist, dass sie wie kaum jemand sonst wahrhaft menschliche Charaktere zu zeichnen versteht. Menschliches Begehren, menschliche Verzweiflung, menschliches Erkennen, das Geheimnis menschlicher Verbindung: Intermezzo ist aufwühlend und tröstend, eine Geschichte von Brüdern und Liebenden, erzählt mit der Spannung eines lang angehaltenen Atemzugs, der sich schließlich zu einer Auflösung von außergewöhnlicher emotionaler Wucht öffnet.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Intermezzo
SALLY ROONEY ist eine irische Schriftstellerin und die Autorin der Romane Gespräche mit Freunden, Normale Menschen und Schöne Welt, wo bist du.
ZOË BECK studierte englische Literaturwissenschaften. Nach diversen Film- und Theaterjobs arbeitet sie heute als Autorin, Übersetzerin und Synchronregisseurin und leitet den CulturBooks Verlag.
Peter und Ivan sind Brüder, sie haben gerade ihren Vater verloren, doch sonst haben sie nicht viel gemeinsam.Peter, Anfang dreißig, arbeitet als Anwalt in Dublin. Er ist erfolgreich, charismatisch, und er scheint sein Leben im Griff zu haben. Doch nach dem Tod des Vaters verliert er den Halt: Er trinkt zu viel, kann ohne Medikamente nicht schlafen. Das Leben quält ihn, zugleich sehnt er sich verzweifelt danach, geliebt zu werden. Er ist mit Naomi zusammen, einer jungen Studentin, und kann doch das frühere Leben mit Sylvia, seiner ersten Liebe, nicht hinter sich lassen.Ivan, zehn Jahre jünger, ist professioneller Schachspieler und sieht sich selbst als Gegenteil seines weltgewandten Bruders. Er stand seinem Vater sehr nah, und während die Trauer ihn noch umklammert, lernt er eine Frau kennen, Margaret, deren Ehe gerade zerbrochen ist. Die Liebe zwischen ihnen ist beglückend und echt, doch ihr Altersunterschied droht sie voneinander zu entfernen.Wie viel Sehnsucht, wie viel Trauer und Wut kann ein Leben enthalten, ohne zersprengt zu werden? Für Peter und Ivan ist es eine Zeit des Übergangs; der freie Fall und eine neue Chance auf Nähe liegen nah beieinander. Doch einen anderen Menschen zu lieben, ist schwieriger und erfordert mehr, als es scheint.
Sally Rooney
Roman
Aus dem Englischen von Zoë Beck
Ullstein
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
TEIL EINS
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
TEIL ZWEI
9.
10.
11.
12.
13.
TEIL DREI
14.
15.
16.
17.
Anhang
Anmerkungen
Danksagung
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
TEIL EINS
Hatte er nicht verdient, der Junge. Diesen Anzug zur Beerdigung. Dann noch die Zahnspange, Oberpeinlichkeit der Jugend. Bei solchen Gelegenheiten war einem die eigene Weltgewandtheit fast schon unangenehm. So hat er einen Vorwand oder immerhin jemanden, den er beim obligatorischen Händeschütteln flehend ansehen kann. Gott steh ihm bei. Fast dreiundzwanzig mittlerweile: Ivan der Schreckliche. Wirklich kaum zu glauben, er im Anzug. Vielleicht aus einem kleinen, muffigen Secondhandladen im örtlichen Hospiz, bar bezahlt, zusammengeknüllt in einer wiederverwendbaren Plastiktüte auf dem Fahrrad nach Hause gebracht. Ja, das würde tatsächlich Sinn ergeben, das brächte den Anzug in seiner prachtvollen Hässlichkeit und die Persönlichkeit des zehn Jahre jüngeren Bruders in Einklang. Nicht stillos, auf ganz eigene Weise. Es hatte was, die materielle Welt so völlig zu missachten. Schlau und schön, hat eine Tante mal gesagt. Über sie beide. Oder meinte sie, Ivan schlau und Peter schön. Trotzdem danke. Er überquert jetzt die Watling Street zu der Wohnung, die keine Wohnung ist, dem Haus, das kein Haus ist, elf Tage seit der Beerdigung oder schon zwölf, zurück in der Stadt. Zurück zur Arbeit, wenn’s denn sein muss. Oder jedenfalls zurück zu Naomi. Und was sie wohl anhaben wird, wenn sie die Tür aufmacht. Lässt, als er die Stufen erreicht, sein Telefon aus der Tasche in die Hand gleiten, die kühle Haptik des Displays, als es unter seinen Fingern aufleuchtet. Er tippt. Draußen. Die Abende werden kürzer, ihre Vorlesungszeit hat wahrscheinlich wieder begonnen. Keine Antwort, aber sie sieht die Nachricht, dann die erwartbare Abfolge, so vertraut und inzwischen indirekt erregend, die Abfolge von Geräuschen hinter der geschlossenen Haustür, während sie die alte Kellertreppe hinaufkommt und in den Flur tritt. Klassische Konditionierung: Warum hat es so lange gedauert, das herauszufinden? Gesunder Menschenverstand. Das nicht. Tägliche Erfahrung. Erinnerung und Gefühl, die einander bedingen. Die sich öffnende Tür.
Hallo, Peter, sagt sie.
Bauchfreies Kaschmir-Top, dünne Goldkette. Schwarze Jogginghose, die an den Knöcheln eng zuläuft. Kein Gummizug, den hasst sie. Barfuß.
Kann ich reinkommen?, fragt er.
Treppe runter und in ihr Zimmer, ohne den anderen zu begegnen. Die Lichterkette glimmt schummrige Nadelstiche an die Wand. Schuhe ausziehen, neben der Tür stehen lassen. Ihr Laptop aufgeklappt auf der ungemachten Matratze. Ein Duft aus Parfüm, Schweiß und Cannabis. In dessen gut durchmischter Luft sich alle unsere Zwänge treffen. Die Vorhänge wie immer zugezogen.
Wo warst du?, fragt sie.
Ich musste was erledigen.
Sie sieht ihn an, spöttisch, dann sieht sie ihn nicht mehr an. Später Sommerurlaub, nehme ich an, sagt sie.
Naomi, Süße, sagt er sanft. Mein Vater ist gestorben.
Fassungslos dreht sie sich zu ihm um und sagt: Dein … Dann hält sie inne. O Gott, fügt sie hinzu. Scheiße, Peter, es tut mir so leid.
Darf ich mich setzen?
Dann sitzen sie beide auf der Matratze.
O Gott, sagt sie. Dann: Geht’s dir gut?
Ja, ich denke schon.
Sie schaut auf die Sohlen ihrer auf der Matratze überkreuzten Füße. Schwarz vor Dreck, der nie wirklich dreckig aussieht. Willst du darüber reden?, fragt sie.
Eigentlich nicht.
Wie geht es deinem Bruder?
Ivan, sagt er. Weißt du, dass er ungefähr so alt ist wie du?
Ja, hast du erzählt. Du wolltest ihn mir vorstellen. Geht’s ihm gut?
Liebevoll lächelt Peter, unwiderstehlich, und um zu vermeiden, Naomi tatsächlich mit unwiderstehlicher Liebe anzulächeln, lächelt er stattdessen wie über einen Scherz die Innenseite seines ausgestreckten Handgelenks an. Oh, ihm geht’s … ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie es ihm geht. Habe ich dir schon mal von ihm erzählt?
Weiß nicht, du hast mal gesagt, er sei »speziell« oder so.
Er ist ein Spinner. Überhaupt nicht dein Typ. Irgendwie autistisch, glaube ich, wobei man das heute vermutlich nicht mehr sagen darf.
Doch, wenn es wirklich zutrifft.
Na ja, nicht im klinischen Sinne. Aber er ist ein Schachgenie, von daher. Peter lässt sich jetzt nach hinten sinken, liegt auf dem Rücken, sieht zur Decke. Darf ich? Ich muss gleich wieder weiter.
Außerhalb seines Blickfelds antworten Naomis Lippen: Na klar. Stille. Er spielt mit der Innennaht ihrer Jogginghose. Sie legt sich neben ihn, warm, ihr Atem warm, Kaffeeduft und noch etwas. Ihre Brüste warm unter dem kurzen Kaschmiroberteil. Das er ihr gekauft hat oder dasselbe in einer anderen Farbe. Parisgrau. Sie lässt ihn ihre feuchte Achselhöhle mit den Fingerspitzen berühren. Kreidiger Deodorantgeruch, der den schwächeren, anregenden Schweißgeruch nur überlagert. Meistens rasiert sie sich nur an den Beinen, unterhalb der Knie. Einmal hat er ihr gesagt, zu seiner Zeit hätten sich die Mädchen an der Uni Bikini-Waxings machen lassen. Sie lachte und fragte ihn, ob er wolle, dass sie sich schlecht fühle oder was. Ganz und gar nicht, sagte er. Nur eine interessante Entwicklung der Sexualkultur. Sie lacht immer. Die Zeit des keltischen Tigers, hm? Müssen wilde Jahre gewesen sein. Trotzdem, es gefällt dir. Und es stimmt, das tut es. Ihre Unbekümmertheit hat etwas Sinnliches. Kalte Füße. Immer schwarze Fußsohlen, weil sie halb angezogen durch dieses Loch schlurft, dabei Joints raucht, Telefon auf Lautsprecher. Jetzt murmelt sie sanft: Es tut mir so leid. Seine Finger unter dem Kaschmir. Die Augen geschlossen, alles träge und verträumt. Ihre Haut unter seinen Händen, die er nur fühlt, weich und flaumig, fast wie Samt. Er fragt sie, was sie gemacht hat, während er weg war. Keine Antwort. Er öffnet die Augen und findet ihren Blick.
Pass auf, sagt sie. Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, ohne mir blöd vorzukommen, aber vor ein paar Wochen war ein bisschen was los. Ich brauchte Bücher für die Uni und so. Musste mir etwas Geld besorgen. Kein Ding.
Langsam nickt er. Ah, sagt er. Okay. Ich hätte aushelfen können, wenn ich es gewusst hätte.
Ja, sagt sie. Na ja, du hast nicht wirklich auf meine Nachrichten geantwortet. Sie verzieht die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. Tut mir leid, fügt sie hinzu. Das mit deinem Dad hab ich nicht gewusst.
Schon gut, sagt er. Dass du Geld brauchst, hab ich nicht gewusst.
Sie sehen sich noch etwas länger an, verlegen, nervös, schuldbewusst. Dann dreht sie sich auf den Rücken. Alles gut, sagt sie. Ich musste nicht mal was machen, die Bilder waren uralt. Sein Körper fühlt sich müde und schwer an, er schließt die Augen. Wahrscheinlich einer dieser Typen, die jeden ihrer Posts kommentieren. Das Emoji mit dem Affen, der sich die Augen zuhält. Oder irgendein armseliger Mann mit einer Kreditkarte, von der seine Frau nichts weiß.
Mit deinem Dad, das ist echt beschissen, sagt sie. Wann war die Beerdigung?
Letzte Woche. Vor zwei Wochen.
Waren alle deine Freunde da?
Er zögert. Nicht alle, sagt er. Noch ein Zögern, dann: Sylvia. Ein paar andere.
Mich wolltest du vermutlich nicht dabeihaben.
Er dreht den Kopf zu ihr, sieht ihr Gesicht im Profil. Die vollen Lippen leicht geöffnet, Sommersprossen auf dem Wangenknochen. Silberner Ohrstecker. Ein Bild von Jugend und Schönheit. Wie viel der Typ wohl bezahlt hat? Nein, sagt er. Vermutlich nicht.
Ohne ihn anzusehen, grinst sie. Hast du gedacht, ich verführe den Priester oder so? Meinst du, ich war noch nie auf einer Beerdigung?
Ich dachte nur, die Leute würden mich wahrscheinlich fragen, wer du bist, sagt er. Und was hätte ich sagen sollen, dass wir befreundet sind?
Warum nicht?
Weil mir das vermutlich niemand glauben würde.
Vielen Dank, sagt sie. Sehe ich nicht elegant genug aus, um mit dir befreundet zu sein?
Du siehst nicht alt genug aus.
Sie grinst, die Zunge zwischen den Lippen. Du bist echt krank im Kopf, weißt du das?, sagt sie.
Ich weiß, du aber auch.
Sie streckt nachdenklich die Arme aus, dann senkt sie den Kopf auf ihre Hände. Fragt: Hast du jetzt eine Freundin oder was?
Einen Moment lang schweigt er. Weil es ihr ohnehin egal zu sein scheint, und warum auch nicht. Er könnte sagen: Ich hatte mal eine Freundin. Und wäre jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, ihr davon zu erzählen, von der Beerdigung und hinterher? Nicht, dass wirklich etwas passiert wäre. Nur ein Gefühl war da, die Erinnerung eines Gefühls, im Grunde gar nichts. Im Auto, wie er sich dümmlich murmeln hörte: Lass mich nicht mit Ivan allein, bitte. Deshalb blieb sie. Der einzige Grund. Oben im alten Kinderzimmer, er mit einem Ständer neben ihr wie ein Teenager. Zum Glück zu dunkel, um ihr in die Augen zu sehen. Sie schlief neben ihm, das war alles, es gab nichts zu berichten. Am Morgen war sie vor ihm auf. Unten in der Küche sprach sie leise mit Ivan; er hörte sie von oben. Was hatten sie einander zu sagen? Schau mal, der vorgelagerte Springer auf D5 oder was? Würde ihn nicht wundern, wenn sie da mitspielte. Ihn bei Laune hielt. Egal.
Wenn ich eine hätte, warum würde ich dann zu dir kommen?
Sie sieht ihn an, berührt mit der Fingerspitze die dünne Goldkette an ihrem Hals. Na, weil du krank im Kopf bist, sagt sie, schon vergessen?
Stimmt, sagt er, und dann berührt er ihr kleines Gesicht, lässt die Hand auf ihrem Kinn ruhen. Worüber lacht sie, über ihn. Ja klar, aber wirklich nur darüber? Im Sommer auf ihrer Geburtstagsfeier, als er ihr den Champagner mitbrachte und sie mit ihren geschminkten Lippen aus der Flasche trank. In der Küche ihre Freundin Janine: Weißt du, ich glaube, sie mag dich, Peter. Anders als die anderen, und ihm gefiel die Herausforderung. An der Bar in einem winzigen silbernen Kleid, Haar fast bis zur Hüfte, der Nasenstecker rot glimmend unter den Lampen. Ihre Freundinnen zeigten ihm die Website, taten so, als wollten sie wissen, ob das alles legal sei. Habt ihr sie noch alle, sagte sie. Warum erzählt ihr ihm davon. Und der Blick, den sie ihm zuwarf: animalische Intelligenz. Nur zwischen ihnen beiden, das wusste er. Anders als die anderen. Gestörte Männer, die ihr im Internet sexuelle Gewalt androhten, blöde Hure, ich bring dich um, ich schlitz dir die Kehle auf. Beim Scrollen durch die Inbox lacht sie. Total cringe, oder? Unter ihrer Würde, Angst zu haben. Sollte je was passieren, sie würde vermutlich lachend sterben. Wie dumm, nicht auf ihre Nachrichten zu antworten. Ein paar von ihnen waren außerdem sehr schön. Sein Fehler. Er fragt sich, wie sehr sie das Geld braucht, und dann fühlt er sich – was? Beschämt wahrscheinlich. Wie üblich. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten, den Kopf auf ihren Armen. Vertraute Choreografie, gemeinsam eingeübt und mit anderen, sie beide. Welche Lippen meine Lippen geküsst. Es gibt niemanden sonst, könnte er sagen. Jemanden, aber nicht. Es tut mir leid. Ich liebe dich. Sie. Beide. Mach dir keinen Kopf. Sag es nicht, herrje. Der Herr Jesus gebietet uns allseits, einander zu lieben.
Schon neun, als er geht. Vier Minuten nach. Ein bisschen high, weil sie hinterher noch was geraucht haben. 20 min spät, sorry, tippt er in das weiße Kästchen. Kühle Dunkelheit umgibt das helle Display. Mit leisen Ästen winken Bäume am Himmel, mit Gesichtern im Fenster fährt die Tram vorbei. Sperrt das Telefon, steckt es ein. James Street bei Nacht. Er muss sich beeilen, Zeit aufholen. Und doch, so schön, an einem kühlen Septemberabend in Dublin mit weit ausladenden Schritten eine ruhige Straße entlangzugehen, etwa nicht? Ein Mann in seinen besten Jahren. Bemüßigt, solch flüchtige Freuden zu genießen, jeder Moment könnte der letzte, passiert ständig irgendwem. Er war noch so jung, haben alle immer wieder gesagt, erst fünfundsechzig. Peter selbst auf halber Strecke dorthin, zweiunddreißig und sechs Monate. Nach der Rechnung also im mittleren Alter. Beängstigend, wie schnell alles vorübergeht. Nein, wird er sagen, mein Vater ist leider nicht mehr unter uns. Den Leuten wird es natürlich leidtun, aber keiner wird schockiert sein. Anders bei Ivan. Quasi eine Waise jetzt, so wenig, wie ihre Mutter für ihn übrighat. Gott weiß, warum die beiden überhaupt Kinder hatten. Bei der Beerdigung murmelte sie Peter zu: Wie er ausschaut! Und obwohl Ivan tatsächlich absurd aussah und Peter nur Sekunden zuvor dasselbe gedacht hatte, antwortete er: Na ja, er wird die letzten Tage was anderes im Kopf gehabt haben. Und Christines Blick daraufhin. Ihr geschmackvolles Kostüm, dunkelblaue Merinowolle. Du hast dich doch auch ordentlich angezogen, sagte sie. Immer dasselbe mit ihr. Er mied ihren Blick, sah zu, wie Ivan kläglich allein am Tisch mit den Sandwiches herumlungerte. Ja, sagte er. Danke. Vorbei jetzt an der alten Bank und in Richtung Thomas Street, und Sylvias Antwort vibriert in seiner Tasche, gegen seine Hüfte. Er hatte mal einen Klingelton nur für ihre Nachrichten, damals. Dublin in the rare, etc. Und weiß heute nicht mal mehr, wie der klang, welche Marke oder welches Modell das Telefon war, wie es sich in seiner Hand anfühlte. Längst überholt, nicht mehr hergestellt. Nur einmal noch diesen Ton hören, denkt er. Zu spüren, dass sein Leben irgendwo konserviert ist, nicht vergessen, dass es sich schützend um ihn legt. Frühmorgendliche Busfahrten zu Wettbewerben zwischen Colleges. Vorbereitung auf die letzte Runde in einem einsamen Gang, das Publikum draußen auf den Plätzen. Die Rekordbrecher. Natürlich von allen verachtet. Verliebt ineinander und in sich selbst. Jetzt auf dem Sperrbildschirm: Kein Problem. Hast du schon gegessen? So umsichtig, bestimmt trägt sie gute, feste Schuhe und den warmen Tweedmantel. Nein, sie kümmert sich um ihn, das ist alles. Zwanzig Minuten zu spät, und sie will wissen, ob er was gegessen hat. Fünfundzwanzig Minuten. Und sie ist, euphemistisch ausgedrückt, nicht dumm. Manchmal glaubt er, dass Art und Ausmaß ihres Leidens sie von der belanglosen Enttäuschung bloßer Unannehmlichkeit befreit. Eine halbe Stunde zu spät, was solls. Wenn man alle zwei Wochen ins Krankenhaus muss, die Nadel im Arm spürt, ist das wahrscheinlich nicht so wichtig. Und jedes Mal die Ärzte, wie sie hinterm Vorhang über sie reden. Zweiunddreißigjährige Patientin. Krankengeschichte mit chronischen Schmerzen aufgrund schwerer Verletzungen. Therapiefraktär. Verkehrsunfall. Nein, keine Kinder, lebt allein. Wer fragte nach. Er selbst würde lieber sterben, als so weiterzumachen. Kein Theater, einfach Schluss machen mit allem. Vermutlich weiß sie, dass andere so denken. Vielleicht sogar, dass er so denkt. Andererseits, heißt es ja, gewöhnt man sich daran. Das alte Leben vorbei mit seinen Freuden, ohne Wiederkehr: Akzeptanz oder Selbsttäuschung, am Ende kam es aufs Gleiche hinaus. Der Wille zu leben so viel stärker, als man sich vorstellen kann. Wie eine Art Tod, was da passiert ist. Ein Tod, den man aus Höflichkeit, aus Respekt für andere, aus selbstloser Liebe überlebt. Auch Christus überlebte den eigenen Tod. Und war ehrwürdig und erhaben.
Jetzt vorbei an der Kunstakademie, Studierende in Jeansjacken, Gummistiefeln, zerrissenen Strumpfhosen. Formlose Teenagergesichter, die bleich im Licht der Straßenlaternen schweben. An der Außentür des Lebens. Er weiß, dass sie ihn mustern. Schlau und schön. Amüsiert geht er an ihnen vorüber, eine dreht sich um, sieht ihm nach. Tja, schön für sie, man lebt nur einmal. Er könnte die Hälfte seiner Tage schon hinter sich haben. Erlaubt es sich, mit einem Lächeln zurückzuschauen. Noch nicht mal hübsch, aber warum nicht, und sie lächelt ebenfalls, etwas schief. Mindestens eine halbe Stunde zu spät. Naomi würde durchdrehen. Gott, Männer sind so abartig. Sie sah gerade mal aus wie sechzehn. Ach, und darf man jetzt nicht mal mehr lächeln? Bei Kindern. Tatsächlich lächelt er Kinder an. Und ältere Leute. Er tritt der Welt gern mit einer freundlichen Haltung entgegen. Lächelt manchmal sogar andere Männer an. Auf andere Art. Ist mir noch nicht aufgefallen. Doch, wenn es einen Anlass gibt. Bei einem Missverständnis oder wenn er ihnen aus Versehen vor die Füße läuft, solche Sachen. Er lächelt, ja. Seine Rivalen und Feinde lächelt er an. Du hasst Männer mehr als ich, sagt Naomi. Was wahrscheinlich stimmt, schließlich schläft sie freiwillig mit ihnen. Peter schläft nur mit Leuten, die er mag. Letztlich sind die meisten Frauen sehr liebenswert. Männer hingegen, wie man weiß, abartig. Nicht alle: nicht sein Vater, nicht auf diese Weise. Und Ivan? Anders. Er glaubte immer, Ivan sei eines dieser asexuellen Wesen, von denen man immer liest. Eine Art Amöbenklecks in einem Einweckglas. Bis Peter eine Freundin zum Abendessen mit nach Hause brachte und sah, wie er sie anstarrte. Ähm, dein Bruder, kann es sein, dass er ein bisschen unbeholfen ist? Ja, tut mir leid. Ich glaube, er mag dich. Später, an der Uni, lernte er natürlich auch Frauen kennen. Die waren allerdings – ach, egal. Nein, was denn? Hässlich? Das nicht, eigentlich ganz okay, durchaus attraktiv sogar manche, rein von der Symmetrie ihrer Züge her. Einfach nur schlechter Geschmack, das ist alles. Naomi wäre zutiefst bestürzt. Ein Snob, auch das noch. Aber ist das Snobismus? Das hat nichts mit Geld zu tun, darum geht es nicht. Schwarze Jogginghose, die an den Knöcheln eng zuläuft, aber ohne Gummizug, den hasst sie. Und alles, was knielang ist, hasst sie. Anspruchsvolles Auge. Ivans Freundinnen waren nicht hässlich, überhaupt nicht, aber ihr Stil? Kriminell. Und die Ausdrucksweise, die Gesten. Vielleicht ist es doch Snobismus, nur anders. Wahnsinnig intelligente junge Frauen, klar. Mathematikerinnen und Schachspielerinnen. Keine von ihnen auch nur im Entferntesten an Peter interessiert, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Ein paar von ihnen, wenn man es recht bedachte, wahrscheinlich in seinen Bruder verliebt. Er lächelt bei dem Gedanken. Die Gefühle schienen nie auf Gegenseitigkeit zu beruhen, aber was weiß er schon. Hat ihn mal ertappt, wie er die hübsche Giulia ansah. Grüne Seidenbluse, die obersten drei Knöpfe offen. Perlmutt. Weiße Zähne beim Lachen, ein lautes, gesundes, römisches Lachen. Vorbei jetzt an Christ Church, graugelb gebleichte Steinmauern in der Nachtbeleuchtung. Er schreibt ihr: Gleich da. Nein, noch nicht gegessen, und du? Und sie. Sylvia. Ihm vollkommen unbegreiflich. Nicht mal besonders gut aussehend, nie gewesen. Ließ die Schönheit anderer exzessiv wirken. Ihr kleines, unscheinbares Gesicht. Natürlich immer richtig gekleidet. Bringt ihn manchmal auf Ideen für Geschenke, die er Naomi machen könnte – Rollkragenpullover, bunte Seidenschals, knöchellanger Regenmantel. Nur um später zu kapieren, wie falsch sie an ihr aussehen würden: ein hübsches Mädchen, angezogen wie eine ältere Frau. Altbacken, prüde. Sylvia hingegen nicht mal annähernd. Im Frühjahr war er bei einer ihrer Vorlesungen. Eine schlanke Frau, die vorne im Raum über Prosaformen des achtzehnten Jahrhunderts sprach. Alle Augen auf sie gerichtet. Ihre klare, dunkle Stimme. Contralto. Sonst kein Mucks zu hören. Als sie fertig war, brachen alle in Beifall aus, zweihundert oder wie viele, mehr, und sie lächelte und nickte, wahrscheinlich gewöhnt daran. Reines Charisma. Löste den Wunsch in ihm aus, andere wissen zu lassen, dass er sie kennt, meine Exfreundin. So peinlich, allein die Vorstellung. Außerordentlich spannend, was sie über Liebesromane erzählt, vielleicht solltest du versuchen, sie ins Bett zu bekommen. Doch das geht nicht. Sie kann nicht. Zu schmerzhaft. Wieder ein Vibrieren. Sie hat einen Tisch in einem italienischen Restaurant in Temple Bar aufgetan, Marker gesetzt, was er meint? Er schreibt: Bin in 5 min da. Lord Edward Street am Abend, vor ihm die College-Tore. Schauplatz vergangener Liebesgeschichten, betrunkener Orgien. Vier Uhr morgens vors Mercantile kotzen, weißt du noch. Scholarship Night. So jung damals. Mischt Erinnerung mit Lust. Bilder dunkler Gassen. Friedhof der Jugend.
Während sie auf die Rechnung warten, reden sie weiter, er isst gedankenverloren das letzte Stück der weichen, ölgetränkten Focaccia. Er hatte nicht gemerkt vorher, wie hungrig er war. Und dann, die schweren Vorhänge, Eiswasser, Kerzenschein, so appetitfördernd. Konditionierung, wieder einmal. Ihm gegenüber sitzt sie, trinkt ihr Wasser. Die leichte Muskelbewegung auf ihrem weißen Hals, während sie schluckt, und dann, während sie das Glas auf den Tisch stellt: Was hast du mit dem Hund vor?
O Gott, sagt Peter. Ich weiß es nicht. Christine kümmert sich um ihn, bis … ich hab vergessen, bis wann. Nächsten Freitag? Oder vielleicht Montag. Wir müssen uns was überlegen.
Der Mann kommt mit der Rechnung, und Peter nimmt seine Karte aus der Brieftasche, besteht darauf, tippt seine PIN ein. Jetzt nach dem Essen fühlt er sich besser, entspannter. Merkt endlich, wie müde er ist. Es ist ihre Anwesenheit, sie beruhigt die Nerven. Und auch andere Gefühle sind da, als sie gemeinsam in der schummrigen Wärme des Restaurants auf den Mann warten, der ihnen die Mäntel bringt. Einst glaubte er, das Leben würde auf etwas zuführen, all die ungelösten Konflikte und Fragen würden zu einem krönenden Abschluss kommen. Seltsam unhinterfragte Überzeugungen wie diese, die sein Leben, seine Persönlichkeit stützen. Irrationaler Glaube an Sinnhaftigkeit. Alles schön und gut so weit, die Frage der Verfassungsmäßigkeit stellt sich, etc. Er könnte morgens nicht zur Arbeit gehen, wenn er nicht glauben würde, dass die Dinge etwas bedeuten, das eine oder das andere. Aber wo soll das alles hinführen. Immer ein Ziel und nie ein Ende. Der Mann hilft Sylvia in ihren Mantel, während Peter zusieht. Ruhiger jetzt. Auf die leiseren Gefühle eingestimmt. Was braucht ein Leben, um erträglich zu sein? Sie müsste es wissen. Frag sie. Nicht.
Draußen hat es geregnet, und die Straßen sind nass, fragmenthaft reflektieren sie das diffuse Licht von Scheinwerfern, Ampeln, Schaufenstern. Sich auflösende Pizzakartons an der Mauer gegenüber, weggeworfen. Ich bring dich nach Hause. Sie bindet sich ihren Schal. Danke. Sie nimmt seinen Arm. Ihre schmale, grazile Hand fast schwerelos. Die Finger in den Falten seines Mantels. Warst du vorher bei Naomi? Wie geht es ihr? Ganz gut. Wieder rauf zur Dame Street. Du magst sie. Ja. Ich hab sie gern, wirklich sehr gern. Fast drängt es ihn, Sylvia zu erzählen, was passiert ist, dass Naomi, die Website, all das, und dann doch wieder nicht. Wozu? Um zu demonstrieren, dass alles okay ist: sie, die anderen, er selbst, alles fein. Beziehungen heutzutage. Oder andersherum, um Mitleid einzuheimsen. Sexuelle Erniedrigung, vielleicht macht das ein bisschen an. Sie fragt jetzt nach Naomis Wohnsituation. Die Besitzer hatten sich vor der Pandemie einen Gerichtsbeschluss beschafft und frühere Mieter aufgefordert, die Immobilie zu räumen. Was sie längst getan haben, niemand von ihnen ist noch dort. Rechtlich kann der Beschluss nicht für die aktuellen Bewohner gültig sein, Sylvia sieht das auch so, und dennoch. Was soll sie aufhalten. Es kann passieren. Gardaí werfen einen Blick auf die Papiere, richtige Adresse, schon geht’s los. Besser nicht dran denken. Sobald man damit anfängt, die Gültigkeit des Beschlusses anzufechten, Anwaltsbriefe loszuschicken und so weiter, besorgen sie sich einen neuen Beschluss, stichfest, und dann ist man erst richtig am Arsch. Weil das Mietverhältnis, und das bestreitet niemand, faktisch illegal ist. Lieber stillhalten und hoffen, dass die Besitzer es vergessen. Lassen eh lauter Immobilien leer stehen und haben wahrscheinlich längst den Überblick verloren, diese Blutsauger. Eine Unterhaltung, die er und Sylvia schon oft hatten, und auch diesmal sind sie sich einig. Was klar ist, schon aus ideologischer Sicht, schließlich sind sie beide zahlende Mitglieder desselben Mieterverbands, Sylvia leitet sogar eine der Arbeitsgruppen. Der Umstand von Peters seit acht Monaten bestehender sexueller und im Stillen auch finanzieller Beziehung zu einer Beteiligten an ebendiesem illegalen Mietverhältnis ist aus rechtsphilosophischer und soziopolitischer Perspektive vollkommen nichtig. Seinem Vater beispielsweise hat er nie von ihr erzählt, nicht mal auf Nachfrage. Nein, zurzeit niemand, sagte er. Die Vorstellung, dass sie sich kennenlernen würden: zu schrecklich. Obwohl, er hätte ihm sagen können, dass es jemanden gibt, nichts Ernstes, keine feste Sache. Welchen Unterschied hätte das gemacht? Buchstäblich keinen. Warum dann darüber nachdenken? Warum dieses Bedauern, und wem galt es? Seinem Vater, ihm selbst? Sinnlos. Allein der Gedanke daran machte ihn schon depressiv. Wahrscheinlich war er ganz grundsätzlich depressiv. Immerfort die kreisenden und lärmenden Gedanken, und wenn sie mal still waren: erschreckend unglücklich. Psychisch neben der Spur. Vielleicht schon immer. Kleine, schwerelose Hand auf seinem Arm.
Ich habe ihn nie richtig gekannt, sagt er. Tut mir leid. Musste gerade daran denken. Es ist so traurig.
Sie wirft ihm einen Blick zu. Alles gesagt. Eingehüllt in ihr tiefes Verständnis. Ich weiß, sagt sie. Aber du hast ihn gekannt. Aus ihrer Tasche nimmt sie ein kleines, rechteckiges Päckchen, in Plastikfolie gehüllt. Taschentücher. Um Himmels willen, weint er? Mitten auf der George’s Street? Jeder könnte ihn sehen. Und wird es wohl auch. Wie läuft’s denn, Peter, immer noch am Gericht, was? Hab deinen Namen gerade erst in der Zeitung gelesen, alle Achtung. Still nimmt er ein weißes Papiertaschentuch, lächelt, wischt sich das Gesicht, sagt nur: hm. Sie geht neben ihm im selben Tempo wie er, immer. Er hat dich geliebt, sagt sie. Er wusste nicht das Geringste über mich, Sylvia. Wir waren allergisch aufeinander. Haben uns mein Leben lang nicht wirklich unterhalten. Er faltet das Taschentuch und steckt es ein. Du gibst zu viel auf Unterhaltungen, sagt sie. Im Leben geht’s nicht nur ums Reden, weißt du. Er sieht sie an, während sie ihre Hand wieder auf seinen Arm legt. Das klingt kryptisch, was soll das heißen? Sie lacht. Hübscher, wenn sie lacht. Aber was meint sie damit: Im Leben geht’s nicht nur ums Reden? Der Liebe einsame und strenge Ämter vielleicht. Ihre Schuluniformen mittwochabends aus dem Trockner nehmen, Ivans kleinen weinroten Trainingsanzug, Peters Hemd und Hose, heiß, statisch aufgeladen. Morgens die Milch auf dem Herd aufwärmen. Er geht an Sylvias Seite durch die Stephen Street, atmet den Duft aus Abgasen und dunkler Nachtluft. Tröstlich auf eigene Weise. Wie alles an ihrer Nähe, und warum. Er weiß warum, weiß es nicht, will nicht wissen, ob er es weiß oder nicht. Der Trost langer Vertrautheit, der ihm nun Raum gibt und Ruhe, um endlich zu spüren, wie müde er ist, wie deprimiert. Soll er bei Naomi übernachten, ein bisschen kiffen und mit ihren Mitbewohnern Call of Duty spielen, bis er endlich schlafen kann? Den Trost zu akzeptieren heißt auch akzeptieren, dass er ihn braucht. Weil sein Vater, dem er nie besonders nahestand, nach fünfjähriger Krebsbehandlung mit Mitte sechzig gestorben ist. Eine Möglichkeit, die irgendwann erwartbar wurde und dann so lange nicht eintrat, dass er schon dachte, der Tag würde nie kommen, bis er es dann doch tat. Und Peter, der unerklärlich unvorbereitet darauf war, obwohl er doch wusste, was ihm bevorstand. Der plötzlich Oberhaupt einer Familie wurde, die gerade aufgehört hatte zu existieren.
Sie gehen am Green vorbei, die Tore geschlossen, die Blätter gelb, in ihrer Herbstschönheit. Sie sprechen über Studierende. Ihre Vorlesungen. Die Kurse, die er gibt, um die Miete zu zahlen. Er erkundigt sich nach ihrer Freundin Emily, und lächelnd erzählt sie die übliche Geschichte, die Scherereien bei der Arbeit, der administrative Kram, und immer noch kein neues Zimmer zur Untermiete. Emily, leicht zerstreute Akademikerin, die immer eine Erkältung zu haben scheint, immer in ein Stofftaschentuch niest und über Karl Marx redet. Freundin aus ihrer Jugend, die alten Debattiertage, nicht, dass sie je Erfolg gehabt hätte, hoffnungslos am Thema vorbei und sich allen Realitäten verweigernd. Verbrachte viel Zeit in ihrer Wohnung, seiner und Sylvias, schlief eine Weile sogar auf der Couch, als er, als sie beide. Nächtelang blieben sie zu dritt auf und tranken Tee, zankten sich wegen nichts, gerieten in Rage. Sylvia, die kühle, gefasste Freundin, Emily, das Desaster. Sagt, sie wohnt im Moment bei Max, dem guten alten Max. Der immer noch manchmal bei Sylvia auftaucht. Auch er war bei Wettbewerben nutzlos. Zu nett, nicht skrupellos genug, immer abwägend, beide Seiten sehend. Aber lustig. Wie alle ihre Freunde. Leicht hält sie die Welt in der Hand, liebend, aber leicht. Hast du mit deinem Bruder gesprochen?, fragt sie. Ach, weißt du, antwortet er. Im Leben geht es nicht nur ums Reden. Sie stupst ihn mit dem Ellenbogen an. Schön, sie so nah zu spüren. Er ist allein, sagt sie. Sind wir das nicht alle? Obwohl Ivan besonders allein ist, zugegeben. Fast schon spirituell allein, und vielleicht war es besser so. Worüber habt ihr zwei letztens im Haus geredet?, fragt er. Oh, sagt sie. Er hat mir … Du meinst beim Frühstück? Er hat mir von einem Schachevent in Leitrim erzählt, irgendwann jetzt am Wochenende. Weißt du davon? Nein. Irgendein Simultanschachevent, und er gibt hinterher einen Workshop. Er hatte darüber nachgedacht, es abzusagen, wegen allem. Aber dann entschieden, es trotzdem zu machen. Vorbei an den Toren des Hugenottenfriedhofs. Warum wollte er erst absagen? Sie sieht ihn an. Weil … na ja, weil sein Vater gerade gestorben ist. Er zuckt zusammen, runzelt die Stirn, erhitzt und müde. Das Etikett in seinem Hemdkragen reibt auf seinem Nacken. Baggot Street beleuchtet und voll, zu voll, die Lichter in den Augen, alles zu viel. Meinst du, es hat ihn sehr mitgenommen?, fragt er. Sie sieht ihn immer noch an, und idiotischerweise versucht er zu lächeln. Ich meine, klar, fügt er hinzu. Ich denke, es hat ihn wirklich sehr mitgenommen, antwortet sie. Er ist einsam, glaube ich. Ja. Klar. Sicher. Sie kommen ihrer Wohnung immer näher, dem Endpunkt, und wie einsam wird er dann sein oder auch nicht. Warum in Gottes Namen ist plötzlich alles so laut. Sylvia, sagt er. Nein, warte, bis es leiser ist. Ja? So gut wie da, und er könnte es an der Tür lockerer klingen lassen. Als wäre er einfach nur müde vom Laufen. Würde es dir was ausmachen … o Mann. Kann ich bei dir auf der Couch schlafen? Keine Angst, ich – nein, nein, herrje, sag es nicht, ich fass dich nicht an. Ich bin einfach nur … Ihre Hand sanft und zart auf seinem Arm, ohne sich zu bewegen, ruhig, ruhig. Alle Stille, alle Ruhe in ihrer gnädigen Berührung vereint. Klar, sagt sie. Kein Problem. Sag es nicht. Ich liebe sie. Schön wär’s. Glaubst du das wirklich? Das Leben, wäre es so erträglich. Er wartet, während sie die Tür aufschließt. Sie versteht und weiß alles. Sei nett zu ihm, wenn du dich meldest, sagt sie. Schreib ihm doch eine Nachricht. In welcher Sprache, 1. e4? Ja, antwortet er. Du hast recht. Das mache ich. Mache ich wirklich.
Ivan steht in der Ecke, während die Männer vom Schachclub die Tische und Stühle herumräumen. Die Männer sagen Sachen zueinander wie: Stückchen zurück, Tom. Pass kurz auf. Ganz allein steht Ivan dort, will sich setzen, weiß aber nicht, welche Stühle noch umgestellt werden müssen und welche sich schon an ihrem Platz befinden. Diese Unsicherheit ergibt sich daraus, dass die Männer die Möbel nach keinem für Ivan ersichtlichen Prinzip umstellen. Langsam wird ein vertrautes Arrangement sichtbar, ein Hufeisen aus zehn Tischen, dazu zehn Stühle an den Außenseiten und ein Sitzbereich ringsherum, aber der Prozess der Herstellung dieses Arrangements erscheint ihm willkürlich. Während er also allein in der Ecke steht, denkt Ivan ohne besondere Konzentration über die effizienteste Methode nach, eine bestimmte Anzahl von zufällig verteilten Tischen und Stühlen hufeisenförmig anzuordnen. Solche Fragen hatten ihn schon bei anderen Gelegenheiten beschäftigt, während er, in anderen Ecken stehend, Leuten dabei zusah, wie sie ähnliche Möbel in ähnlichen Innenräumen anordneten: welche Ansätze sich ergeben würden, wenn man beispielsweise ein Computerprogramm schreiben würde, um die Effizienz des Prozesses zu maximieren. Die Treffsicherheit dieser Männer in Bezug auf die durch ein solches Programm errechneten Bewegungen wäre ziemlich gering, denkt Ivan, also eigentlich sehr gering.
Während er überlegt, öffnet sich eine Tür – nicht der Haupteingang des Gemeindehauses, sondern eine kleinere Seitentür, eine Art Notausgang – und eine Frau tritt ein. Sie hat einen Schlüsselbund dabei. Die Männer scheinen ihre Ankunft kaum zu registrieren: Nach einem kurzen Blick in ihre Richtung wenden sie sich wieder ihrem Tun zu. Niemand sagt etwas zu ihr. Wahrscheinlich ist das eine dieser Situationen, die sich anderen Menschen sofort erschließen, und jeder außer Ivan versteht auf den ersten Blick, wer genau diese Frau ist und was sie hier macht. Sie ist auffällig attraktiv, was ihre Anwesenheit in diesem Raum und in dieser Situation nur noch seltsamer erscheinen lässt. Sie hat eine gute Figur und im Profil betrachtet, sieht ihr Gesicht sehr schön aus. Dann sieht Ivan, dass sich die anderen Männer, obwohl sie die Frau nicht direkt begrüßt haben, in ihrer Gegenwart anders zu benehmen scheinen, sie heben die Tische mit kräftigeren Bewegungen ihrer Arme und Schultern, so als wären sie schwerer geworden, seit sie hereingekommen ist. Er versteht, dass sie vor ihr angeben: Und er glaubt sogar zu sehen, dass sie in sich hineinlächelt, vielleicht, weil sie zu demselben Schluss gekommen ist, oder vielleicht nur, weil sie alle so tun, als würden sie sie ignorieren. Vielleicht bemerkt sie, dass Ivan sie beobachtet, denn sie erwidert jetzt seinen Blick, schaut freundlich und irgendwie erleichtert, und mit dem Schlüsselbund in der Hand nähert sie sich der Ecke, in der er steht.
Hallo, sagt sie. Ich heiße Margaret, ich arbeite hier. Tut mir leid, Sie damit zu behelligen, aber wissen Sie zufällig, ob der kleine Mann schon da ist? Dieses Schachwunderkind. Wir sollen uns ein bisschen um ihn kümmern.
Er sieht zu ihr hinab. Sie hat all das in einem lächelnden, fröhlichen, fast entschuldigenden Tonfall gesagt, als würde sie ihm einen Witz erzählen. Er findet, sie sieht etwas älter aus als er, aber nicht viel: Anfang, Mitte dreißig vielleicht. Meinen Sie Ivan Koubek?, fragt er.
Sie sieht ihn erwartungsvoll an. Genau, sagt sie. Ist er hier?
Ja. Ich bin das.
Peinlich berührt lacht sie daraufhin kurz auf, hebt die Hand zur Brust, lässt ihren Schlüsselbund klirren. O mein Gott, sagt sie. Es tut mir so leid. Da stand ich offensichtlich auf der Leitung. Ich dachte … ich weiß nicht, warum. Aber ich dachte, Sie wären ungefähr zwölf.
Na ja, das war ich mal, sagt er.
Wieder lacht sie, es wirkt aufrichtig, und das Gefühl, sie zum Lachen gebracht zu haben, ist so schön, dass er ebenfalls lächelt. Ah, das erklärt alles, sagt sie. Nein, tut mir leid, wie dumm von mir. Sind Sie denn gut hergekommen?
Er sieht sie noch einen Moment lang an, und dann, als hörte er ihre Frage mit Verzögerung, antwortet er schnell: Oh. Klar, alles okay. Ich hab den Bus genommen.
Immer noch sanft lächelnd sagt sie: Und man hat mir gesagt, Sie bräuchten nach der Veranstaltung eine Mitfahrgelegenheit zu Ihrer Unterkunft, stimmt das?
Er zögert wieder. Sie sieht weiter zu ihm auf, der Blick freundlich und ermutigend. Es wäre definitiv creepy von ihm, zu viel in ihr freundliches Auftreten hineinzulesen, da sie buchstäblich gerade arbeitet und Geld dafür bekommt, hier zu stehen und mit ihm zu reden. Obwohl er eigentlich auch gerade arbeitet, fällt ihm ein, und ebenfalls Geld dafür bekommt, hier zu stehen und mit ihr zu reden, auch wenn es nicht wirklich dasselbe ist. Ja, sagt er. Ich weiß nicht genau, wo die Unterkunft ist. Aber ich kann auch ein Taxi nehmen.
Sie steckt die Schlüssel in ihre Rocktasche. Nein, nein, sagt sie. Wir kümmern uns um Sie, keine Sorge.
Ein Mann gesellt sich zu ihnen und stellt sich ihr als Kapitän des Schachclubs vor. Er heißt Ollie, er hat Ivan vorhin von der Bushaltestelle abgeholt. Die Frau sagt noch einmal, dass sie Margaret heißt, und dann hebt Ollie die Hand, deutet auf Ivan und sagt: Und das ist unser Gast, Ivan Koubek. Sie wechselt einen Blick mit Ivan, nur ganz kurz und amüsiert, dann antwortet sie: Ja, ich weiß. Ollie redet mit ihr über die Veranstaltung, wann sie anfängt und endet und in welchem Raum am nächsten Morgen der Workshop stattfindet. Ivan steht schweigend bei ihnen. Die Frau, Margaret, arbeitet im Kulturzentrum, das erklärt ihre irgendwie künstlerische Erscheinung. Sie trägt eine weiße Bluse und einen weiten gemusterten Rock in mehreren Farben und hübsche flache Schuhe, wie Ballerinen sie tragen. Und während sie so vor ihm steht, steigt in ihm absichtslos die Vorstellung auf, wie er ihre Lippen küsst. Eigentlich sieht er es nicht wirklich vor sich, es ist mehr die Idee dieser Vorstellung, eine Art von Erkenntnis, dass es ihm später möglich sein wird, sich vorzustellen, wie es wäre, sie zu küssen, das Versprechen dieser Vorstellung, die angenehm wäre und im Grunde harmlos, nicht mehr als ein verborgener Gedanke. Und doch verspürt er zugleich das dringliche Verlangen, ihre Aufmerksamkeit im echten Leben wieder auf sich zu lenken, was er, wie er vermutet, erreichen könnte, indem er sie anspricht, indem er einfach etwas sagt oder eine Frage stellt, ganz egal was.
Spielen Sie Schach?, fragt er.
Beide sehen ihn an. Zu spät merkt er jetzt, wie seltsam er rüberkommt. Er kann es sehen, er sieht es ihr und sogar Ollie an. Wie absurd, sie ohne jeden Anlass zu fragen, ob sie Schach spielt, und es hat nicht einmal was mit dem zu tun, worüber die beiden sich gerade unterhalten haben. Allerdings antwortet sie gut gelaunt: Nein, ich fürchte nicht. Ich habe dafür nicht das richtige Gehirn. Ich glaube, ich weiß, wofür die Schachfiguren da sind, und das war’s auch schon.
Mit grimmigem Bedauern, etwas gesagt zu haben, nickt Ivan.
Ollie deutet in den Saal und sagt: Was Geschlechtergleichheit angeht, haben wir leider nicht viel vorzuweisen.
Das macht doch nichts, sagt sie. Wir hatten hier letztens eine Strickgruppe, die war genauso schlimm. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin oben im Büro. Sie können nach mir fragen, mein Name ist Margaret.
Ollie bedankt sich bei ihr. Ivan sagt nichts.
Sie sieht zu ihm auf und fügt hinzu: Und viel Glück nachher bei Ihrem Spiel. Vielleicht komme ich vorbei und schaue ein bisschen zu, wenn ich Zeit habe.
Sie geht wieder durch die Seitentür und schließt sie hinter sich. Wahrscheinlich ist es ein spezieller Eingang nur für Mitarbeitende, und deshalb hatte sie diese Schlüssel, um die Tür von der anderen Seite abzuschließen. Ivan glaubt nicht, dass sie Zeit haben wird, um zuzusehen, wie er Schach spielt. Vielleicht wäre sie gekommen, wenn er ihr nicht diese Frage gestellt hätte, vorher haben sie sich besser verstanden. Jetzt denkt sie wahrscheinlich, dass er eine psychotische Schachfixierung hat und über nichts anderes reden kann. Verblüffend, wie viele Menschen diesen Eindruck von ihm haben. Fast so, als wäre da etwas dran.
Nette Frau, bemerkt Ollie.
Ivan sagt: Ja.
Sie stehen noch eine Weile zusammen an der Wand und sehen den anderen Männern dabei zu, wie sie die Stühle und Tische aufstellen. Was bedeutet es, wenn jemand so etwas sagt wie »nette Frau«? Ist das eine verschlüsselte Art zu sagen, dass diese Person attraktiv ist? Ivan fragt sich, ob Ollie auch einen Zauber gespürt hat, als Margaret ihm in die Augen sah. Warum hat er dann so lange gebraucht, um sie anzusprechen? Vielleicht ist er dem anderen Geschlecht gegenüber schüchtern. Ollie ist klein und korpulent und trägt eine Brille und könnte um die fünfzig sein. Außerdem trägt er einen Ring: verheiratet. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass er einen Zauber verspürt, wenn er mit einer schönen Frau spricht. Aber die äußere Erscheinung einer Person bestimmt nicht die Grenzen ihrer Gefühle, so viel ist Ivan klar. Reizlose, unattraktive Menschen sind keineswegs von der Erfahrung starker Leidenschaft ausgenommen. Jedenfalls hat Ivan nicht darauf geachtet, ob diese Frau, Margaret, einen Ring trug. Es war unmöglich, nicht zu bemerken, wie gut sie aussah: Wahrscheinlich hat sie es satt, das von Männern gesagt zu bekommen. Ivan versteht, wie unangenehm es sein muss, unaufgefordert mit sexualisierten Kommentaren und Anträgen behelligt zu werden, es ist ihm sogar selbst schon mal passiert, auch durch einen Mann, was wahrscheinlich einfach zeigt, wie verbreitet das ist. Er persönlich würde jedenfalls alles tun, um diesem Kerl nicht noch mal zu begegnen, nicht dass etwas Schlimmes passiert wäre, einfach nur, weil es unangenehm war. Wenn man sich dann vorstellt, man ist eine attraktive Frau, und es geht nicht nur um einen Mann, dem man aus dem Weg gehen kann, sondern um fast alle – wie schrecklich das sein muss. Andererseits, wie schafft man eine für beide Seiten angenehme Situation, ohne dass eine Person sich der anderen auf eine Weise nähert, die sich als unerwünscht herausstellt? Es ist wie das Problem mit den Tischen und Stühlen. Auf willkürliche Weise, ohne festgelegte Methode, kann es zu einer Lösung kommen, und offensichtlich werden ständig Lösungen gefunden, wenn man bedenkt, dass jemand wie Ollie verheiratet ist. Menschen lernen einander kennen, Dinge geschehen, so ist das Leben. Doch wie wird man so ein Mensch, wie führt man ein solches Leben, das ist Ivans Frage.
Also, sagt Ollie neben ihm. Was können wir für Sie tun, bevor es losgeht? Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Es gibt ein nettes kleines Café gleich dort draußen.
Ivan nickt bedächtig. Die Tische und Stühle sind jetzt alle aufgestellt, zehn Tische in gleichmäßigem Abstand, zehn Stühle. Einer der Männer fängt sogar damit an, die Schachbretter aufzustellen. Klar, sagt Ivan. Ein Kaffee wäre gut, vielen Dank.
Ich hole Ihnen schnell einen, sagt Ollie. Wie nehmen Sie ihn?
Nur Espresso, falls sie den haben. Ohne Milch und Zucker. Danke.
Gleich wieder da, antwortet Ollie.
Ivan sieht zu, wie Ollie den Saal durch den Haupteingang verlässt, in Richtung Foyer. Bald wird er mit Ivans Kaffee zurückkommen, und dann wird die Veranstaltung losgehen, und Ivan wird zehn Schachpartien gleichzeitig spielen. Aus Erfahrung weiß er, dass es besser ist, sich nicht im Voraus damit zu beschäftigen. Wenn er darüber nachdenkt, was ihn erwartet, bereitet ihm das eine starke körperliche Empfindung oder vielmehr einen koordinierten Ablauf körperlicher Empfindungen: in seiner Brust, seinen Händen, seinem Bauch, ein heißes Gefühl, Enge, Übelkeit, die sogar in leichten Schwindel übergehen kann, der Eindruck, nicht richtig sehen zu können, dass etwas mit seinen Augen nicht stimmt, und dann fühlt er sich, als müsste er sich übergeben. In einigen Situationen musste er sich tatsächlich übergeben, nachdem er sich das unaufhaltsame Näherrücken einer geplanten Veranstaltung zu genau vorgestellt hatte. Das Spiel selbst dagegen macht ihn gar nicht nervös. Das wird der leichte und letztlich angenehme Teil sein, das weiß er. Nichts wird, nichts kann auch nur falsch laufen. Die körperliche Unruhe, die jedes Schachevent begleitet, ob Simultanschach oder ein Turnier, steht in keinerlei bedeutsamer Beziehung zu dem Ereignis selbst, abgesehen von dessen Chronologie: Sie erfasst ihn, bevor es losgeht, und verschwindet, wenn es zu Ende ist. Sein Kopf weiß das, sein Körper nicht. Aus diesem und anderen Gründen betrachtet Ivan den Körper als ein im Grunde primitives Objekt, ein Überbleibsel evolutionärer Prozesse, von der Entwicklung des Gehirns längst überholt. Man muss beides nur vergleichen: Der menschliche Geist ist schwerelos, abstrakt, zu höchster Vernunft fähig; der menschliche Körper dagegen schwerfällig, auf deprimierende Weise eigentümlich, einfach widersinnig. Er tut Dinge, und niemand weiß, warum. Greift sich selbst an oder lässt Zellen wuchern, wo sie nicht hingehören, ohne Erklärung. Macht der Geist so etwas? Nein. Na ja, im Falle psychischer Erkrankungen, denkt er, okay, da tut er ähnliche Dinge, aber das ist etwas anderes. Oder doch nicht? Wie auch immer. Ivans eigener Geist ist längst nicht perfekt, oft sogar unfähig, die mehr oder weniger eindeutigen Aufgaben auszuführen, mit denen er konfrontiert wird, aber wenigstens spricht er auf logisches Denken an. Empfindungsvermögen, denkt er. Der Körper ist ein empfindungsloses Objekt, belebt durch ein Empfindungsvermögen, das er nicht teilt, so wie ein empfindungsloses Auto von einem empfindungsfähigen Fahrer bewegt wird. Es ist leicht, den Tod sowohl des Körpers als auch des Geistes nach einem bestimmten Zeitpunkt zu akzeptieren, beispielsweise im Alter von sagen wir mehr als neunzig Jahren, oder zumindest ist es theoretisch akzeptabel, wenn man nicht zu viel darüber nachdenkt. Aber zu akzeptieren, dass der Geist sterben muss, nur weil der Körper zufällig irgendwann stirbt, egal wann?
Ivans Bruder Peter, der zweiunddreißig ist und einen Abschluss in Philosophie hat, sagt, diese Schule des Denkens über die Beziehung zwischen Körper und Geist sei widerlegt. Für Ivan klingt das, wie wenn jemand sagt, das Königsgambit sei widerlegt. Die Leute benutzen ständig solche Begriffe, nur weil sie es in irgendeinem Forum gelesen haben, Königsgambit mit einem Zug zerstört, und der Zug ist dann 3 … d6. Danke, Bobby Fischer! Nicht, dass Peter jemand ist, der etwas behauptet, weil er es in einem Forum gelesen hat. Er ist ein erwachsener Mann mit einem Sozialleben und weiß eventuell nicht einmal, was ein Forum ist. Aber mutatis mutandis. Wahrscheinlich hat er mal in einer Vorlesung gehört, dass Körper und Geist nicht mehr als getrennt betrachtet werden, und dachte: Alles klar. Peter ist jemand, der ganz leicht über die Oberfläche des Lebens gleitet. Er telefoniert viel und isst in Restaurants und meint, dass philosophische Denkschulen widerlegt seien. Früher einmal waren Ivans Gefühle ihm gegenüber deutlich negativer, fast schon feindselig, jetzt würde er sie als neutral bezeichnen. Auf jeden Fall muss er zugeben, dass Peter so ziemlich alles für die Beerdigung und das Drumherum organisiert hat, Ivan hat nichts dazu beigetragen, das kann er problemlos zugeben. Wahrscheinlich hätte er in dieser Hinsicht mehr Dankbarkeit zeigen sollen. Und dass Peter die Grabrede hielt und Ivan nicht, das war eine gemeinsame Entscheidung. Die Ivan jetzt natürlich bereut, eigentlich pausenlos seitdem, Reue und noch mehr Reue, aber er ist selbst schuld, nicht Peter, nicht mal ein bisschen, er ganz allein. Er hat einfach vorher nicht richtig darüber nachgedacht. Aber welchen Sinn hat es, sich damit aufzuhalten? Es wird keine zweite Beerdigung für seinen Vater geben, bei der Ivan seinen Fehler wiedergutmachen kann, indem er alles ausspricht, was ihm zu spät eingefallen ist. Trotz allem, was er ihm noch vor einer Minute zugutegehalten hat, durchläuft der menschliche Geist oft immer wieder dieselben Schleifen, gefangen im gewohnten Kreislauf unproduktiver Gedanken, in Ivans Fall oft Bedauern. Über kleine Dinge, dass er zum Beispiel diese Frau, Margaret, gefragt hat, ob sie Schach spielt, Horror, und große Dinge wie seine Ablehnung oder vielmehr Unfähigkeit, ein paar Worte bei der Beerdigung seines eigenen Vaters zu sagen. Dass er sein Leben dem Schach widmet, nur um dann zuzusehen, wie sein Rating über die Jahre immer weiter sinkt und so weiter. All das ist er schon oft genug gedanklich durchgegangen, die Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit, was geschehen ist, ist geschehen, und jetzt ist ohnehin nicht die Zeit dafür. Stattdessen wird er den kleinen Schokoriegel essen, den er eingepackt hat, und eine Tasse Kaffee trinken. Es ist gut, diese Tätigkeiten vorab zu visualisieren, wie er den Schokoriegel auspacken wird, wie der Kaffee schmecken wird, ob er mit Untertasse oder nur in einer Tasse gebracht wird. Das sind die Dinge, über die er jetzt nachdenken sollte: konkret, greifbar, voller sinnlicher Details. Und dann werden die Spiele beginnen.
Als Margaret zu Abend gegessen hat, ist es draußen vor dem Bistrofenster dunkel, das Glas blau wie nasse Tinte. Garrett hinter der Kasse fragt sie, was heute Abend bei ihnen läuft, und sie sagt, dass sie den Schachclub zu Gast haben. Fröhlich antwortet er: Geschmäcker sind eben verschieden. So ist es alle ein oder zwei Wochen, irgendeine Veranstaltung, und im Anschluss irgendein Fremder auf dem Beifahrersitz von Margarets Auto, der die ganze Zeit vor sich hin plappert und dann wieder weg ist. Comedians, Shakespeare-Schauspieler, Motivationsredner. Und jetzt ein Schachspieler. Lustig. Eigentlich mochte sie ihn, den jungen Mann mit der Zahnspange. Ihr Fehler, dass sie dachte, er sei ein kleiner Junge, das war peinlich, aber er nahm es mit Humor, was ihr gefiel. Etwas unbeholfen, klar, Leute mit hohem IQ sind immer so. Allerdings, denkt sie, während sie das Restaurant verlässt und ihren Regenmantel über der Strickjacke zuknöpft, war er immer noch sehr viel höflicher als die anderen, besonders im Vergleich zu diesem Wichtigtuer Oliver Lyons, der einfach nur unverschämt war. Dieser Schachspieler, denkt sie, ist ein gutes Beispiel für eine freundliche, angenehme Person, die vielleicht ein paar Defizite bei den sozialen Zwischentönen hat, während jemand wie Ollie Lyons einfach nur das Fitzelchen an Autorität auskostet, das ihm eine Position wie die des Kapitäns eines lokalen Schachclubs vermeintlich verleiht. Draußen regnet es, Wasser ergießt sich aus den Regenrinnen, und Margaret legt sich den Schal über ihr Haar. Komisch, als sie mit den beiden redete, war es, als gehörten sie und das Schachwunder zu einem Lager und Ollie zum anderen. Warum: weil sie sich beide nicht zu einer Gruppe zugehörig fühlten vielleicht. Sie kramt das Schlüsselbund aus ihrer Handtasche, geht weiter in Richtung des Büros, nickt dem netten Mann von der Bäckerei zu, wie heißt er noch mal, Linda weiß es bestimmt. Sie findet tastend den Schlüssel für die Außentür und betritt das Gebäude, zieht die Tür sanft hinter sich zu. Regen prasselt auf das Dach, tropft leise von ihrem Regenmantel auf die Fliesen, während sie den niedrigen, kühlen Flur entlanggeht, eine Tür aufschließt und den Saal betritt.
Dort ist alles hell erleuchtet, dreißig oder vierzig Zuschauer sitzen in angespannter, tuschelnder Stille. In der Mitte stehen Tische zu einer Art quadratischem Hufeisen angeordnet, die Spieler sitzen außen. Und innerhalb des Hufeisens steht der Schachspieler Ivan Koubek und beugt sich über einen der Tische, einen Arm hat er über die Brust gelegt, mit der anderen Hand reibt er sich das Kinn. Er wirkt sehr groß und bleich, wie er dort über dem Schachbrett lauert, während sein Gegenspieler, ein älterer Mann mit gerötetem Gesicht, bequem ihm gegenüber sitzt. Ivan bewegt eine der Figuren – Margaret, die im Türrahmen steht, kann nicht sehen, welche es ist – und geht dann weiter zum nächsten Tisch. Wenn er die Figuren berührt, sehen seine Hände präzise und intelligent aus, wie die eines Chirurgen oder eines Pianisten. Als er weg ist, kritzelt sein Gegner etwas auf ein Stück Papier. Die Zuschauer sitzen auf Plastikstühlen, sehen zu, einige machen Fotos oder Videos mit ihren Handys. Ivans nächster Gegner ist ein Kind, ein kleines Mädchen, nicht älter als elf. Ihr goldblondes Haar ist mit einem violetten Haargummi zusammengebunden. Als Ivan an ihren Tisch kommt, den Rücken zu der Tür, in der Margaret steht, macht das Mädchen einen Zug, und er reagiert umgehend, ohne auch nur darüber nachzudenken. Margaret wartet, bis er zum nächsten Tisch geht, dann gleitet sie in den Saal und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Ein paar Leute blicken auf, aber nicht Ivan. Er führt seine Runde fort, manchmal steht er stumm zehn Sekunden, zwanzig Sekunden da, reibt sich das Kinn, und dann bewegt er eine Figur und macht am nächsten Tisch weiter. Ohne ihren Blick von ihm zu nehmen, setzt sie sich auf einen Stuhl in der Nähe, hängt Mantel und Schal über die Stuhllehne und legt die Handtasche auf ihren Schoß.
Margaret betrachtet die Tische und bemerkt, dass zwei Spiele bereits beendet sind. Die Spieler sitzen kleinlaut auf ihren Stühlen, auf den Schachbrettern vor ihnen steht in der Mitte ein weißer König. Ivans König, denkt sie, weil er mit den weißen Figuren spielt, und er sieht sogar aus wie er, groß und dünn, was lustig ist. Denken Schachspieler von sich so, als dem König? Aber soweit Margaret sich richtig erinnert, ist der König schwach und feige und verbringt den Großteil des Spiels damit, sich in der Ecke zu verstecken. Am nächsten Tisch streckt Ivan seinen Arm über den Kopf, legt die Hand zwischen die Schultern und massiert sich den unteren Nacken mit den Fingerspitzen. Unter den Armen hat er zwei dunkle Schweißflecke. Es ist nicht besonders warm in dem Raum, obwohl es sehr hell ist, also schwitzt er wahrscheinlich vor Konzentration. Weiter hinten im Raum sagt jemand etwas, das Margaret nicht hören kann, und darauf folgt murmelndes Gelächter. Ollie, der an einem der Tische sitzt und dessen Spiel noch läuft, dreht sich um und schaut böse in Richtung des Gelächters, das sofort erstirbt. Ivan steht wieder am Tisch des kleinen Mädchens und bewegt seine Königin, und mit tonloser Stimme sagt er: Schachmatt. Das Mädchen dreht sich zu zwei Erwachsenen um, die hinter ihr sitzen, ein Mann und eine Frau, es müssen ihre Eltern sein. Margaret kann sehen, wie sie das Mädchen anlächeln und die Daumen hochstrecken und die Worte Gut gemacht mit den Lippen formen. Das Mädchen wendet sich wieder dem Schachbrett zu und schreibt etwas auf ihr Stück Papier, dann reicht sie es über den Tisch und gibt Ivan ihren Stift. Er beugt sich vor, um etwas unten auf das Blatt zu kritzeln, dann richtet er sich auf und reicht ihr die Hand. Mit einem breiten Strahlen voller Milchzähne schlägt sie ein, und sie schütteln sich die Hände.
Still laufen die Spiele weiter. Ein weiterer Spieler scheint aufzugeben, er schüttelt Ivan die Hand, und dann noch einer: Männer aus dem Schachclub, die hier vorher die Stühle aufgestellt haben. Am Ende ist nur noch Ollie übrig. Margaret fällt auf, dass er ein Jackett und eine Krawatte angezogen hat, rot mit einem hellen Streifen – vorhin trug er keine Krawatte. Ivan Koubek hat sich nicht umgezogen, er trägt noch dasselbe hellgrüne Button-Down-Hemd und eine dunkle Hose. Seine Sneaker sind dreckig, und Margaret kann sehen, dass sich die Sohle am linken Schuh löst. Ollie blickt jetzt zu Ivan auf und nickt ihm knapp zu, und Ivan nickt zurück. Ollie schreibt etwas auf seinen Zettel, Ivan ebenfalls, und sie schütteln sich die Hände. Die anderen Spieler applaudieren, und dann applaudieren alle. Margaret lässt ihre Handtasche los, die sie auf dem Schoß gehalten hat, um mitzuklatschen. Aus der Energie des Beifalls schließt sie, dass Ivan Ollie bezwungen und alle zehn Spiele gewonnen hat. Ivan nimmt nickend den Applaus entgegen, der lauter wird, anstatt nachzulassen, und jemand hinten im Raum pfeift lange und laut. Ivan steht da, den Kopf geneigt, er lächelt höflich, ohne seine Zähne zu zeigen, badet im Beifall der Zuschauer. Ollie steht hinter seinem Tisch auf, und der Applaus ebbt langsam ab. Er dankt allen für ihr Kommen, dankt Ivan und gratuliert ihm zum »kompletten Triumph«, und nach einigen weiteren Runden Applaus und Danksagungen endet die Veranstaltung. Die Leute erheben sich von ihren Stühlen, reden miteinander, sammeln ihre Sachen zusammen, und einer der Männer aus dem Schachclub hat den Haupteingang geöffnet, damit das Publikum hinausgehen kann.
Margaret steht auf und zieht ihren Mantel an, dabei sieht sie, dass Ivan zu dem Mädchen mit dem Haargummi geht, um mit ihm zu reden. Er steht mit dem Rücken zu Margaret, aber sie kann ihn hören. Du hast wirklich sehr gut gespielt, sagt er. Weißt du, wann du einen Fehler gemacht hast? Das Mädchen schüttelt den Kopf. Ich zeig’s dir, sagt er, damit du ihn nicht noch mal machst. Zu ihren Eltern sagt er: Ist das in Ordnung für Sie? Es geht ganz schnell. Ansonsten hat sie sehr gut gespielt. Er stellt die Figuren auf das Brett, während er spricht. Um sie herum gehen die Zuschauer, checken ihre Handys, machen ihre Jacken zu. Margaret steht neben ihrem Stuhl, streicht geistesabwesend mit dem Daumen über den Riemen ihrer Handtasche, ihr langer Regenmantel hängt lose herab, die Knöpfe offen. Erinnerst du dich an diese Position?, fragt Ivan. Das Mädchen nickt, starrt auf das Brett. Nach ein paar Sekunden fragt er: Siehst du jetzt, warum es eine schlechte Idee war, diesen Turm zu bewegen? Sie sieht feierlich zu ihm auf und nickt wieder. Ist überhaupt nicht schlimm, du lernst noch, sagt er. Du hast wirklich gut gespielt. Vielleicht gibt es in ein paar Jahren eine Revanche. Ihre Eltern lächeln, ihr Vater hat eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie sich die Zeit nehmen, sagt die Mutter. Sie sind bestimmt erschöpft. Ivan richtet sich auf. Mir geht’s gut, sagt er. Der Vater sieht jetzt an Ivan vorbei zu Margaret, und Ivan folgt seinem Blick und sieht sie dort stehen. Sie lächelt, und er erwidert ihren Blick, ohne etwas zu sagen. Sie kann sehen, dass seine Stirn noch feucht ist.
Glückwunsch, sagt sie.
Oh, antwortet er. Ach so, ja. Vielen Dank.
Er fährt sich mit dem Hemdsärmel über die Stirn: Vielleicht hat er bemerkt, dass sie es bemerkt hat. Der Saal leert sich um sie herum, das Mädchen und ihre Eltern verabschieden sich und gehen. Ivan sagt zerstreut zu ihnen: Okay, Wiedersehen.
Ich glaube, ich habe die Ehre, Sie nach Hause zu bringen, sagt Margaret.
Ivan sieht ihr in die Augen, ein sehr direkter Blick, intensiv sogar, denkt sie: Wieder mit diesem Gefühl, dass sie unausgesprochen zum gleichen Team gehören. Gut, sagt er. Ich glaube, die anderen gehen noch etwas trinken. Aber ich kann das ausfallen lassen, das ist in Ordnung.
Möchten Sie etwas trinken?, fragt sie. Nach dieser Leistung haben Sie sich das verdient. Ich staune, dass Sie noch aufrecht stehen können.
Er lächelt sie an, zeigt wieder seine Spange, die neuen weißen Keramikbrackets, wie junge Leute sie heute haben. Ja, es ist ein ziemliches Herumgelaufe, sagt er. Das sagen alle, vergiss das Schach, trainier lieber die Beine. Waren Sie … Er bricht ab, mit einem scheuen, stolzen Blick. Haben Sie zugesehen?
Mit einem Mal ist Margaret ihm gegenüber sehr sanft gestimmt, eine Welle sanfter Gefühle, als sie sieht, wie stolz er auf sich ist. Es war faszinierend, sagt sie. Nicht, dass ich irgendeine Ahnung gehabt hätte, was da vor sich ging. Was meinen Sie, würden Sie jetzt gern ein wenig feiern?
Er sieht sie immer noch an. Klar, sagt er. Ich hol meine Sachen.