Normale Menschen - Sally Rooney - E-Book
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Normale Menschen E-Book

Sally Rooney

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Beschreibung

Die Geschichte einer intensiven Liebe: Connell und Marianne wachsen in derselben Kleinstadt im Westen Irlands auf, aber das ist auch schon alles, was sie gemein haben. In der Schule ist Connell beliebt, der Star der Fußballmannschaft, Marianne die komische Außenseiterin. Doch als die beiden miteinander reden, geschieht etwas mit ihnen, das ihr Leben verändert. Und auch später, an der Universität in Dublin, werden sie, obwohl sie versuchen, einander fern zu bleiben, immer wieder magnetisch, unwiderstehlich voneinander angezogen. Eine Geschichte über Faszination und Freundschaft, über Sex und Macht.

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Zum Buch:

Connell und Marianne wachsen in derselben Kleinstadt im Westen Irlands auf, aber das ist auch schon alles, was sie gemein haben. In der Schule ist Connell beliebt, der Star der Fußballmannschaft, Marianne die komische Außenseiterin. Doch als die beiden miteinander reden, geschieht etwas mit ihnen, das ihr Leben verändert. Und auch später, an der Universität in Dublin, werden sie, obwohl sie versuchen, einander fernzubleiben, immer wieder magnetisch, unwiderstehlich voneinander angezogen. Eine Geschichte über Faszination und Freundschaft, über Sex und Macht. Die Geschichte einer intensiven Liebe.

Zur Autorin:

Sally Rooney wurde 1991 geboren, ist in Castlebar, County Mayo, aufgewachsen und lebt in Dublin. Ihre frühen Arbeiten sind erschienen in The New Yorker, Granta, The White Review, The Dublin Review, The Stinging Fly, Kevin Barrys Stonecutter und der Anthologie The Winter Page. Sie studierte am Trinity College Dublin, zunächst Politik, machte dann ihren Master in Literatur. Rooneys Debütroman Gespräche mit Freunden war Book of the Year in Sunday Times, Guardian, Observer, Daily Telegraph und Evening Standard. Der Roman kam auf die Shortlist des Sunday Independent Newcomer of the Year Award 2017, des International Dylan Thomas Prize und des Rathbones Folio Prize 2018. Rooney war die Gewinnerin des Sunday Times/Peters Fraser & Dunlop Young Writer of the Year Award 2017, den u. a. auch Zadie Smith und Sarah Waters gewannen. Rooney ist inzwischen Redakteurin des irischen Literaturmagazins The Stinging Fly. Ihr zweiter Roman Normale Menschen wurde nominiert für den Man Booker Prize 2018 und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a.: Costa Novel Award, An Post Irish Book Award, British Book Award (Novel of the Year and Book of the Year).

Zur Übersetzerin:

Zoë Beck, geb. 1975, studierte englische und deutsche Literaturwissenschaften in Gießen, Bonn und Durham und lebte einige Jahre in England und Schottland. Sie übersetzte Werke von u. a. James Grady, Karan Mahajan, Denise Mina und Helen Oyeyemi. Mit der Übersetzung von Amanda Lee Koes »Ministerium für öffentliche Erregung« war sie 2017 für den Internationalen Literaturpreis nominiert. Beck lebt in Berlin.

Sally Rooney

Normale Menschen

Roman

Aus dem Englischenvon Zoë Beck

Luchterhand

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Normal People bei Faber & Faber Ltd, London.
Quellennachweis: George Eliot, Daniel Deronda,dt. v. Adolf Strodtmann, Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1876.
Copyright © der Originalausgabe 2018 Sally RooneyCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: buxdesign | München nach einem Entwurf von Elena GiavaldiCoverillustration: Molly BoundsSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad AiblingISBN: 978-3-641-20561-4V005
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.facebook.com/luchterhandverlagwww.penguinrandomhouse.de

Es ist eins der Geheimnisse bei jenem Wechsel geistigen Gleichgewichts, den man Belehrung zu nennen pflegt, daß für viele unter uns weder Himmel noch Erde eine Kraft der Offenbarung hat, bis eine Persönlichkeit die unsrige mit einem besonderen Einflusse berührt und sie für denselben empfänglich macht.

GEORGEELIOT, Daniel Deronda

Januar 2011

Als Connell klingelt, macht Marianne die Tür auf. Sie trägt immer noch ihre Schuluniform, aber ohne den Sweater, also nur Bluse und Rock, und sie hat keine Schuhe an, nur Strümpfe.

Oh, hey, sagt er.

Komm rein.

Sie dreht sich um und geht den Flur runter. Er folgt ihr, schließt hinter sich die Tür. Ein Stück weiter in der Küche pellt sich seine Mutter Lorraine die Gummihandschuhe ab. Marianne hüpft auf die Küchentheke und greift nach einem offenen Glas Schokocreme, in dem noch ihr Teelöffel steckt.

Marianne hat mir erzählt, dass du heute die Ergebnisse von den Probeklausuren bekommen hast, sagt Lorraine.

Wir haben Englisch gekriegt, sagt er. Die kommen einzeln zurück. Willst du los?

Lorraine faltet ordentlich ihre Gummihandschuhe zusammen und legt sie unter die Spüle. Dann nimmt sie die Klammern aus dem Haar. Connell findet, dass sie das auch im Auto hätte tun können.

Und wie ich hörte, lief es für dich sehr gut, sagt sie.

Er war Klassenbester, sagt Marianne.

Stimmt, sagt Connell. Marianne war auch ziemlich gut. Können wir los?

Lorraine hält beim Ausziehen ihrer Schürze inne.

Ich wusste gar nicht, dass wir es eilig haben, sagt sie.

Er schiebt die Hände in die Taschen und unterdrückt einen genervten Seufzer, unterdrückt ihn aber mit einem hörbaren Einatmer, so dass es immer noch nach einem Seufzer klingt.

Ich muss nur noch mal schnell rauf und den Trockner ausräumen, sagt Lorraine. Und dann gehen wir. Okay?

Er erwidert nichts, lässt nur den Kopf hängen, als Lorraine den Raum verlässt.

Willst du was davon?, fragt Marianne.

Sie hält ihm das Glas mit Schokocreme hin. Er schiebt seine Hände ein kleines Stück tiefer in die Taschen, als versuchte er, seinen gesamten Körper auf einmal in die Taschen zu stecken.

Nein, danke, sagt er.

Habt ihr heute eure Französischnoten bekommen?

Gestern.

Er lehnt sich mit dem Rücken an den Kühlschrank und sieht dabei zu, wie sie ihren Löffel ableckt. In der Schule tun er und Marianne so, als würden sie sich nicht kennen. Alle wissen, dass Marianne in der weißen Villa mit der Auffahrt wohnt und dass Connells Mutter Putzfrau ist, aber niemand weiß etwas über die besondere Beziehung dieser Fakten.

Ich hab eine Eins plus, sagt er. Was hast du in Deutsch?

Eine Eins plus, sagt sie. Prahlst du?

Du wirst sechshundert Punkte kriegen, oder?

Sie hebt die Schultern. Wohl eher du, sagt sie.

Na ja, du bist klüger als ich.

Mach dir nichts draus. Ich bin klüger als alle.

Jetzt grinst Marianne. In der Schule trägt sie offene Verachtung für die anderen zur Schau. Sie hat keine Freunde und verbringt ihre Mittagspausen allein mit Lesen. Viele hassen sie aufrichtig. Ihr Vater starb, als sie dreizehn war, und Connell hat gehört, sie sei jetzt psychisch krank oder so ähnlich. Es stimmt, sie ist die klügste Person in der Schule. Es graut ihm davor, mit ihr allein zu sein, so wie jetzt, aber er ertappt sich auch dabei, wie er sich ausmalt, er würde etwas zu ihr sagen, das sie beeindruckt.

In Englisch bist du nicht Klassenbeste, gibt er zu bedenken.

Gleichgültig fährt sie sich mit der Zunge über die Zähne.

Du könntest mir ja Nachhilfe geben, Connell, sagt sie.

Er merkt, dass er heiße Ohren bekommt. Wahrscheinlich ist es nur so dahingesagt, und sie meint es nicht anzüglich, aber falls sie es anzüglich meint, dann nur, um ihn dadurch herabzusetzen, weil sie als Objekt des Abscheus gilt. Sie trägt hässliche Schuhe mit dicken, flachen Sohlen und schminkt sich nicht. Es heißt, dass sie sich weder die Beine noch sonst was rasiert. Connell hat mal gehört, sie hätte sich im Speisesaal der Schule mit Schokoeis bekleckert, wäre dann aufs Mädchenklo gegangen, hätte sich die Bluse ausgezogen und sie im Waschbecken sauber gemacht. Diese Geschichte kennt man über sie, jeder hat sie schon mal gehört. Wenn sie wollte, könnte sie Connell mit großer Geste in der Schule grüßen. Bis heut Nachmittag, könnte sie vor allen Leuten sagen. Zweifellos würde ihn das in eine unangenehme Situation bringen, etwas, das sie üblicherweise sehr zu genießen scheint. Aber das hat sie noch nie gemacht.

Worüber hast du heute mit Miss Neary gesprochen?, fragt Marianne.

Oh. Nichts. Keine Ahnung. Die Prüfungen.

Marianne rührt mit dem Löffel im Glas herum.

Kann es sein, dass sie auf dich steht?, fragt Marianne.

Connell sieht dabei zu, wie sie den Löffel bewegt. Seine Ohren fühlen sich immer noch sehr heiß an.

Wie kommst du darauf?, fragt er.

O Gott, du hast doch wohl nichts mit ihr, oder?

Ganz sicher nicht. Findest du es lustig, darüber Witze zu machen?

Tut mir leid, sagt Marianne.

Ihr Blick wirkt sehr konzentriert, als würde sie durch seine Augen in seinen Kopf sehen.

Du hast recht, das ist nicht lustig, sagt sie. Tut mir leid.

Er nickt, lässt den Blick ein wenig durch den Raum schweifen, stößt mit der Schuhspitze in eine Rille zwischen den Fliesen.

Manchmal finde ich schon, dass sie sich mir gegenüber komisch benimmt, sagt er. Aber das würde ich natürlich zu niemandem sagen.

Ich finde, sie flirtet sogar im Unterricht mit dir.

Meinst du echt?

Marianne nickt. Er reibt sich den Nacken. Miss Neary unterrichtet Wirtschaftslehre. Seine vermeintlichen Gefühle für sie werden in der Schule ausgiebig diskutiert. Einige behaupten sogar, er hätte versucht, sie auf Facebook zu adden, was er nicht getan hat und auch nie tun würde. Eigentlich macht er nichts und sagt auch nichts zu ihr, er sitzt nur ruhig da, während sie etwas macht und zu ihm sagt. Manchmal ruft sie ihn nach dem Unterricht zu sich, um mit ihm über die Richtung zu sprechen, die er seinem Leben geben will, und einmal berührte sie sogar den Knoten seiner Schulkrawatte. Er kann mit niemandem darüber reden, wie sie sich benimmt, weil die anderen sonst von ihm denken, er würde versuchen, damit anzugeben. Im Unterricht ist er zu beschämt und verärgert, um sich auf den Stoff zu konzentrieren, er sitzt nur da und starrt auf sein Buch, bis die Balkendiagramme verschwimmen.

Alle nerven mich ständig damit, dass ich auf sie stehe, sagt er. Aber das stimmt nicht, überhaupt nicht. Ich meine, findest du etwa, dass ich darauf eingehe, wenn sie sich so aufführt?

Da ist mir nichts aufgefallen.

Gedankenlos wischt er mit den Handflächen über das Hemd seiner Schuluniform. Alle sind so davon überzeugt, dass er auf Miss Neary steht. Manchmal zweifelt er schon an seinen eigenen Instinkten, was das betrifft. Was, wenn er sie doch auf irgendeiner Ebene ober- oder unterhalb seiner eigenen Wahrnehmung begehrt? Er weiß nicht einmal genau, wie sich Begehren überhaupt anfühlt. Jedes Mal, wenn er im echten Leben Sex hatte, fand er es derart stressig, dass es für ihn vor allem unangenehm war, was ihn vermuten lässt, dass mit ihm etwas nicht stimmt, dass er keine Intimität mit Frauen zulassen kann, dass er irgendwie in seiner Entwicklung geschädigt ist. Hinterher liegt er da und denkt: Ich habe es dermaßen gehasst, dass mir schlecht ist. Ist er einfach so? Ist die Übelkeit, die er verspürt, wenn sich Miss Neary über sein Pult beugt, womöglich seine Art, sexuelle Erregung zu verspüren? Woher soll er das wissen?

Wenn du willst, kann ich für dich zu Mr Lyons gehen, sagt Marianne. Ich werde nicht sagen, dass du mir was erzählt hast. Ich sage einfach, dass es mir selbst aufgefallen ist.

Scheiße, nein. Definitiv nicht. Du darfst niemandem etwas davon sagen, okay?

Okay, in Ordnung.

Er sieht sie an, um sich davon zu überzeugen, dass sie es ernst meint, und nickt.

Es ist nicht deine Schuld, dass sie sich dir gegenüber so verhält, sagt Marianne. Du machst nichts falsch.

Leise sagt er: Warum denken dann alle anderen, dass ich auf sie stehe?

Vielleicht, weil du echt oft rot wirst, wenn sie mit dir spricht. Aber du wirst ständig rot, das ist nun mal dein Hauttyp.

Er lacht unglücklich auf. Danke, sagt er.

Na ja, ist halt so.

Ja, weiß ich selbst.

Du wirst sogar jetzt rot, sagt Marianne.

Er schließt die Augen, drückt die Zunge an den Gaumen. Er kann Marianne lachen hören.

Warum musst du immer so hart zu allen sein?, fragt er.

Ich bin nicht hart. Mir ist es egal, ob du rot wirst. Ich erzähl’s keinem.

Nur, weil du es anderen nicht erzählst, heißt das nicht, dass du einfach sagen kannst, was du willst.

Okay, sagt sie. Tut mir leid.

Er dreht sich weg und sieht aus dem Fenster in den Garten. Der Garten ist eigentlich eher eine »Anlage«. Sie umfasst einen Tennisplatz und eine große, steinerne Statue in der Gestalt einer Frau. Er sieht auf die »Anlage« und nähert sich mit dem Gesicht dem kühlen Atem des Fensterglases. Wenn die Leute diese Geschichte über Marianne erzählen, wie sie die Bluse im Waschbecken gewaschen hat, tun sie so, als wäre es einfach nur lustig, aber Connell glaubt, dass in Wirklichkeit etwas anderes dahintersteckt. Marianne ist nie mit jemandem aus der Schule zusammen gewesen, niemand hat sie je nackt gesehen, niemand weiß auch nur, ob sie Jungs oder Mädchen mag, sie verrät es keinem. Das nehmen ihr die Leute übel, und Connell glaubt, dass sie deshalb diese Geschichte erzählen, weil sie auf diese Art etwas begaffen können, was sie sonst nicht zu sehen bekommen.

Ich will mich nicht mit dir streiten, sagt sie.

Wir streiten uns nicht.

Ich weiß, dass du mich wahrscheinlich hasst, aber du bist die einzige Person, die tatsächlich mit mir spricht.

Ich habe nie gesagt, dass ich dich hasse, sagt er.

Das findet ihre Beachtung, und sie schaut auf. Verwirrt hält er weiterhin den Blick von ihr abgewendet, aber aus dem Augenwinkel sieht er trotzdem, dass sie ihn betrachtet. Wenn er mit Marianne redet, hat er den Eindruck, dass zwischen ihnen vollkommene Vertrautheit herrscht. Er könnte ihr alles über sich erzählen, sogar die abgedrehten Sachen, und sie würde sie niemals weitertragen, das weiß er. Mit ihr allein zu sein ist, als würde er eine Tür öffnen, die weg vom normalen Leben führt, und sie dann hinter sich schließen. Er hat keine Angst vor ihr, eigentlich ist sie ziemlich entspannt, aber er fürchtet sich, in ihrer Nähe zu sein, weil er sich dann auf so verwirrende Art verhält und Dinge sagt, die er sonst nie sagen würde.

Vor ein paar Wochen wartete er im Flur auf Lorraine, und Marianne kam im Bademantel die Treppe runter. Es war nur ein einfacher weißer Bademantel, vorne ganz normal zusammengebunden. Ihr Haar war feucht, und ihre Haut glänzte, als hätte sie gerade Gesichtscreme aufgetragen. Als sie Connell sah, blieb sie zögernd auf der Treppe stehen und sagte: Ich wusste nicht, dass du hier bist, tut mir leid. Sie wirkte ein wenig durcheinander, aber nicht allzu schlimm. Dann ging sie wieder rauf in ihr Zimmer. Nachdem sie fort war, blieb er wartend im Flur stehen. Er wusste, dass sie sich vermutlich in ihrem Zimmer anzog, und was sie auch tragen würde, wenn sie wieder runterkam, es wäre etwas, das sie ausgewählt hatte, nachdem sie ihn im Flur gesehen hatte. Lorraine war allerdings fertig, bevor Marianne wieder auftauchte, so dass er nicht mehr sah, was sie angezogen hatte. Nicht, dass es ihn wahnsinnig interessiert hätte. Natürlich erzählte er niemandem in der Schule davon, dass er sie im Bademantel gesehen oder dass sie durcheinander gewirkt hatte, es ging niemanden etwas an.

Na ja, ich mag dich, sagt Marianne.

Ein paar Sekunden lang sagt er nichts, und die tiefe Vertrautheit zwischen ihnen wiegt so schwer, dass sie ihm fast schon greifbar auf Gesicht und Körper drückt. Dann kommt Lorraine in die Küche und bindet sich ihren Schal um den Hals. Sie klopft leise an die Tür, obwohl sie bereits offen steht.

Können wir los?, fragt sie.

Klar, sagt Connell.

Danke für alles, Lorraine, sagt Marianne. Bis nächste Woche.

Connell ist schon durch die Küchentür, als seine Mutter sagt: Du kannst dich doch noch verabschieden, oder? Er sieht über die Schulter, kann aber Marianne nicht wirklich in die Augen sehen, also richtet er sich stattdessen an den Boden. Na dann, tschüs, sagt er. Er wartet nicht auf ihre Antwort.

Im Auto schnallt sich seine Mutter an und schüttelt den Kopf. Du könntest ruhig ein bisschen netter zu ihr sein, sagt sie. Sie hat es in der Schule nicht gerade leicht.

Er steckt den Schlüssel in die Zündung, wirft einen Blick in den Rückspiegel. Ich bin nett zu ihr, sagt er.

Sie ist in echt sehr sensibel, sagt Lorraine.

Können wir über was anderes reden?

Lorraine verzieht das Gesicht. Er hält den Blick starr durch die Windschutzscheibe gerichtet und tut so, als würde er es nicht sehen.

Drei Wochen später

(Februar 2011)

Sie sitzt an ihrem Schminktisch und betrachtet sich. Ihrem Gesicht fehlen um Wangen und Kinn herum die Konturen. Das Gesicht ist wie ein technisches Gerät, und ihre beiden Augen sind blinkende Cursors. Oder es erinnert an den Mond, der sich wacklig und verschwommen in etwas spiegelt. Es drückt alles gleichzeitig aus, was dasselbe ist, wie nichts auszudrücken. Für diesen Anlass Make-up zu tragen wäre peinlich, beschließt sie. Ohne den Blick von sich zu nehmen, taucht sie den Finger in eine offene Dose mit farblosem Lippenbalsam und trägt ihn auf.

Als sie unten ihren Mantel vom Garderobenhaken nimmt, kommt ihr Bruder Alan aus dem Wohnzimmer.

Wo willst du hin?, fragt er.

Weg.

Wo ist weg?

Sie streift den Mantel über und richtet den Kragen. Jetzt wird sie langsam nervös und hofft, dass ihr Schweigen eher Unverfrorenheit als Unsicherheit vermittelt.

Nur ein Spaziergang, sagt sie.

Alan versperrt ihr den Weg zur Tür.

Tja, ich weiß, dass du dich nicht mit Freunden triffst, sagt er. Weil du keine Freunde hast, stimmt’s?

Das ist richtig.

Jetzt lächelt sie gelassen, in der Hoffnung, dass ihn diese Unterwerfungsgeste besänftigen und dazu bringen wird, von der Tür wegzugehen. Stattdessen fragt er: Warum tust du das?

Was?, fragt sie zurück.

Dieses seltsame Lächeln.

Er äfft sie nach, verzerrt sein Gesicht zu einem hässlichen Grinsen mit gebleckten Zähnen. Obwohl er grinst, wirkt er durch die angestrengte, übertriebene Nachahmung wütend.

Bist du froh, dass du keine Freunde hast?, fragt er.

Nein.

Noch immer lächelnd tritt sie zwei kleine Schritte zurück, dreht sich dann um und geht in Richtung der Küche, wo eine Terrassentür in den Garten führt. Alan geht ihr nach. Er packt sie am Oberarm und zieht sie von der Tür zurück. Sie spürt, wie sich ihre Kiefer aufeinanderpressen. Seine Finger drücken ihren Arm durch den Mantel zusammen.

Wehe, wenn du Mam was vorheulst, sagt Alan.

Nein, sagt Marianne, nein. Ich geh jetzt nur spazieren. Danke.

Er lässt sie los, sie verschwindet durch die Terrassentür nach draußen und schließt sie hinter sich. Die Luft ist sehr kalt, und ihre Zähne klappern. Sie geht um das Haus her­um, die Einfahrt hinunter und auf die Straße. Die Stelle, an der er ihren Arm festgehalten hat, pocht. Sie nimmt das Telefon aus der Tasche und schreibt eine Nachricht, tippt immer wieder auf die falschen Tasten, löscht und schreibt neu. Endlich schickt sie sie weg: Bin unterwegs. Bevor sie das Telefon einsteckt, erhält sie eine Antwort: schön bis gleich.

Gegen Ende des Schuljahrs schaffte es die Schulmannschaft ins Finale eines Fußballturniers, und alle im Jahrgang mussten die letzten drei Stunden ausfallen lassen und zusehen. Marianne hatte noch nie bei einem ihrer Spiele zugesehen. Sie interessierte sich nicht für Sport und bekam vom Sportunterricht Angstzustände. Im Bus auf dem Weg zum Spiel hatte sie Kopfhörer auf, niemand sprach mit ihr. Vor dem Fenster: schwarze Rinder, grüne Wiesen, weiße Häuser mit braunen Dachziegeln. Die komplette Fußballmannschaft war vorn im Bus versammelt. Man trank Wasser und klopfte sich gegenseitig auf die Schultern, um den Kampfgeist zu stärken. Marianne kam es so vor, als fände ihr wahres Leben in weiter Ferne ohne sie statt, und sie wusste nicht, ob sie es jemals entdecken und daran teilhaben würde. Dieses Gefühl hatte sie oft in der Schule, aber es wurde nie von konkreten Vorstellungen begleitet, wie das wahre Leben aussehen könnte. Sie wusste nur, dass sie es sich nicht mehr ausdenken musste, wenn es anfing.

Während des Spiels blieb es trocken. Man hatte sie alle hierhergebracht, damit sie am Spielfeldrand standen und jubelten. Marianne befand sich zusammen mit Karen und einigen anderen Mädchen nahe der Torpfosten. Alle außer Marianne schienen die Schullieder irgendwie auswendig zu können, mit Texten, die sie nie zuvor gehört hatte. Zur Halbzeit stand es null zu null, und Miss Keaney verteilte Saftkartons und Energieriegel. Für die zweite Halbzeit wurden die Seiten gewechselt, und die Schulstürmer spielten in Mariannes Nähe. Connell Waldron war der Mittelstürmer. Sie sah ihn dort in seiner Fußballbekleidung stehen, den glänzenden weißen Shorts, dem Schultrikot mit der Nummer 9 auf dem Rücken. Seine Körperhaltung war sehr gut, besser als die der anderen Spieler. Seine Figur glich einem langen, eleganten Pinselstrich. Wenn sich der Ball in ihre Spielfeldhälfte bewegte, begann er, herumzulaufen und manchmal eine Hand in die Luft zu strecken, und dann ging er wieder zurück auf seine Position. Es war eine Freude, ihm zuzusehen, und sie glaubte nicht, dass er wusste, wo sie stand, oder dass es ihn auch nur interessierte. Irgendwann einmal würde sie ihm nach der Schule erzählen können, dass sie ihn beobachtet hatte, und er würde sie auslachen und schräg nennen.

In der siebzigsten Minute brachte Aidan Kennedy den Ball auf die linke Seite des Spielfelds und flankte zu Connell, der von der Ecke des Strafraums aus über die Köpfe der Abwehr hinwegschoss, und der Ball wirbelte ins Netz. Alle kreischten, sogar Marianne, und Karen legte einen Arm um Mariannes Hüfte und drückte sie. Sie jubelten gemeinsam, sie hatten etwas Magisches gesehen, das die üblichen Sozialbeziehungen zwischen ihnen auflöste. Miss Keaney pfiff und trampelte mit den Füßen. Connell und Aidan umarmten sich auf dem Spielfeld wie wiedervereinte Brüder. Connell war so schön. Marianne wurde klar, wie sehr sie sich danach sehnte, ihn beim Sex zu sehen. Nicht unbedingt mit ihr, es könnte auch mit jemand anders sein. Es wäre wunderschön, ihm einfach nur zuzusehen. Sie wusste, dass sie sich wegen genau solcher Gedanken von den anderen in der Schule unterschied. Dass sie genau deswegen seltsamer war als die anderen.

Mariannes Klassenkameraden scheinen die Schule alle gern zu mögen und normal zu finden. Sich jeden Tag dieselbe Uniform anzuziehen, sich immerzu willkürlichen Regeln zu beugen, auf Fehlverhalten hin überprüft und überwacht zu werden, das alles ist für sie normal. Sie nehmen die Schule nicht als repressives Umfeld wahr. Marianne hatte letztes Jahr einen Streit mit dem Geschichtslehrer Mr Kerrigan, weil er sie dabei erwischte, wie sie während des Unterrichts aus dem Fenster sah, und niemand aus der Klasse ergriff Partei für sie. Ihr erschien es damals so offensichtlich verrückt, sich jeden Morgen verkleiden zu müssen, um dann den ganzen Tag durch ein riesiges Gebäude getrieben zu werden, und dass sie nicht einmal ihren Blick wenden durfte, wohin sie wollte, dass sogar ihre Augenbewegungen unter die Zuständigkeit der Schulordnung fielen. Wenn du verträumt aus dem Fenster siehst, lernst du nichts, sagte Mr Kerrigan. Marianne, die mittlerweile wütend war, blaffte ihn an: Machen Sie sich nichts vor, ich kann von Ihnen sowieso nichts lernen.

Connell sagte letztens, dass er sich an den Vorfall erinnerte und dass er damals fand, sie sei zu hart zu Mr Kerrigan, der ja eigentlich einer der vernünftigeren Lehrer war. Aber ich verstehe, was du meinst, fügte Connell hinzu. Ich verstehe, dass man sich in der Schule ein wenig eingesperrt fühlt. Er hätte dich aus dem Fenster sehen lassen sollen, da stimme ich zu. Du hast ja keinem geschadet.

Nach ihrer Unterhaltung in der Küche, bei der sie ihm sagte, dass sie ihn mochte, kam Connell öfter zu ihr nach Hause. Er kam früher, um seine Mutter von der Arbeit abzuholen, und drückte sich im Wohnzimmer herum, ohne viel zu sagen, oder stand vor dem Kamin, die Hände in den Hosentaschen. Marianne fragte ihn nie, warum er vorbeikam. Sie unterhielten sich ein wenig, oder sie redete, und er nickte. Er sagte ihr, sie solle versuchen, das Kommunistische Manifest zu lesen, er glaubte, es würde ihr gefallen, und er bot ihr an, den Titel aufzuschreiben, damit sie ihn nicht vergaß. Ich weiß, wie das Kommunistische Manifest heißt, sagte sie. Er hob die Schultern, okay. Nach einem Moment fügte er lächelnd hinzu: Du versuchst, so überlegen zu wirken, aber du hast es noch nicht mal gelesen. Da musste sie lachen, und er lachte mit, weil sie lachte. Sie konnten sich nicht ansehen, als sie lachten, sie mussten in eine Zimmerecke sehen oder auf ihre Füße.

Connell schien zu verstehen, was sie von der Schule hielt. Er sagte, er höre sich gern ihre Meinungen an. Davon hörst du genug im Unterricht, sagte sie. Er erwiderte sachlich: Du benimmst dich im Unterricht anders, in Wirklichkeit bist du gar nicht so. Er schien zu glauben, Marianne hätte Zugriff auf eine ganze Bandbreite verschiedener Identitäten, zwischen denen sie mühelos wechselte. Das überraschte sie, weil sie sich üblicherweise in einer einzigen Persönlichkeit eingezwängt fühlte, bei der es sich immer um dieselbe handelte, ganz egal, was sie sagte oder tat. Sie hatte früher schon versucht, zu experimentieren und anders zu sein, aber es hatte nie funktioniert. Wenn sie bei Connell anders war, fand dieses Anderssein nicht in ihr, in ihrem Personsein statt, sondern in der Dynamik zwischen ihnen. Manchmal brachte sie ihn zum Lachen, aber an anderen Tagen war er wortkarg, unergründlich, und wenn er ging, war sie aufgeregt, nervös, gleichzeitig voller Energie und schrecklich ausgelaugt.

Letzte Woche folgte er ihr ins Arbeitszimmer, als sie nach dem Buch Nach der Flut das Feuer suchte, um es ihm zu leihen. Er stand dort und inspizierte die Bücherregale, sein oberster Hemdknopf war offen und die Schulkrawatte gelockert. Sie fand das Buch und reichte es ihm, und er setzte sich auf die Fensterbank und betrachtete die Rückseite. Sie setzte sich neben ihn und fragte, ob seine Freunde Eric und Rob wüssten, dass er außerhalb der Schule so viel las.

Sie würden sich für so was gar nicht interessieren, sagte er.

Du meinst, sie interessieren sich nicht für die Welt, die sie umgibt.

Connell verzog das Gesicht, wie er es immer verzog, wenn sie seine Freunde kritisierte: ein nichtssagendes Stirnrunzeln. Nicht auf dieselbe Art, sagte er. Sie haben ihre eigenen Interessen. Ich glaube nicht, dass sie Bücher über Rassismus und so was lesen würden.

Stimmt, sie sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Sexgeschichten herumzuposaunen, sagte sie.

Er hielt eine Sekunde inne, als hätte er bei dieser Bemerkung zwar aufgehorcht, wüsste aber nicht, wie er genau reagieren sollte. Ja, das tun sie manchmal, sagte er. Ich will das nicht verteidigen, ich weiß, dass es nerven kann.

Stört dich das nicht?

Wieder hielt er inne. Das meiste nicht, sagte er. Manchmal gehen sie ein bisschen zu weit, und das ärgert mich natürlich. Aber letzten Endes sind sie meine Freunde. Für dich ist das anders.

Sie sah ihn an, er inspizierte allerdings den Buchrücken.

Warum ist es anders?, fragte sie.

Er hob die Schultern, schlug das Buchcover auf und wieder zu. Sie war frustriert. Ihr Gesicht und ihre Hände fühlten sich heiß an. Er sah immer noch auf das Buch, obwohl er mit Sicherheit mittlerweile den gesamten Text auf der Rückseite gelesen hatte. Sie war auf die Anwesenheit seines Körpers mikroskopisch eingestimmt, so als würde schon sein einfaches Atmen ausreichen, um sie krank zu machen.

Du hast letztens gesagt, dass du mich magst, sagte er. In der Küche hast du das gesagt, als wir über die Schule gesprochen haben.

Ja.

Meintest du das freundschaftlich, oder wie?

Sie starrte auf ihren Schoß. Sie trug einen Cordrock, und in dem Licht, das vom Fenster kam, konnte sie sehen, dass er mit Fusseln bedeckt war.

Nein, nicht nur freundschaftlich, sagte sie.

Oh, okay. Ich hab mich schon gefragt.

Er saß da und nickte vor sich hin.

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich empfinde, fügte er hinzu. Ich glaube, es wäre echt komisch in der Schule, wenn zwischen uns was passiert.

Es müsste niemand wissen.

Er sah sie an, ganz direkt, ganz aufmerksam. Sie wusste, dass er sie küssen würde, und er tat es. Seine Lippen waren weich. Seine Zunge glitt sanft in ihren Mund. Dann war es vorbei, und er wich zurück. Ihm schien einzufallen, dass er das Buch in der Hand hielt, und wieder sah er es sich an.

Das war schön, sagte sie.

Er nickte, schluckte, sah noch einmal auf das Buch. Er wirkte verlegen, als wäre es unanständig von ihr, auf den Kuss auch nur Bezug zu nehmen, und Marianne musste lachen. Jetzt schien er verwirrt.

Na gut, sagte er. Worüber lachst du?

Nichts.

Du führst dich auf, als hättest du noch nie jemanden geküsst.

Hab ich auch nicht, sagte sie.

Er bedeckte sein Gesicht mit der Hand. Sie lachte wieder, sie konnte sich nicht zurückhalten, und dann lachte er auch. Seine Ohren waren sehr rot, und er schüttelte den Kopf. Nach ein paar Sekunden stand er auf, das Buch hielt er in der Hand.

Sag niemandem in der Schule was davon, ja?, bat er.

Als ob ich mit irgendwem in der Schule reden würde.

Er verließ das Zimmer. Schlaff sackte sie von der Fensterbank auf den Boden, die Beine ausgestreckt wie eine Stoffpuppe. Während sie da saß, kam es ihr so vor, als hätte Connell sie nur zu Hause besucht, um sie zu testen, und sie hätte den Test bestanden, und der Kuss wäre eine Botschaft, die besagte: Du hast bestanden. Sie dachte dar-an, wie er gelacht hatte, als sie ihm sagte, sie hätte noch nie jemanden geküsst. Von jedem anderen wäre es vielleicht gemein gewesen, so zu lachen, aber bei ihm war es etwas anderes. Sie hatten zusammen über eine Situation, in der sie sich gemeinsam befanden, gelacht, auch wenn Marianne nicht genau wusste, wie sie die Situation beschreiben sollte oder was daran lustig war.

Am nächsten Morgen vor der Deutschstunde sah sie ihren Klassenkameraden dabei zu, wie sie sich gegenseitig kreischend und kichernd von der Heizung stießen. Im Unterricht waren sie still und hörten die Aufnahme einer deutschen Frau, die über eine verpasste Party sprach. Es tut mir sehr leid. Nachmittags fing es an zu schneien, dicke graue Flocken schwebten an den Fenstern vorbei und schmolzen auf dem Kies. Alles wirkte sinnlich auf sie: die verbrauchte Luft im Klassenzimmer, die blecherne Schulklingel zwischen den Stunden, die dunklen, kargen Bäume, die wie Geister um das Basketballfeld standen. Das langsame, routinierte Übertragen von Notizen mit verschiedenfarbigen Stiften auf neue blau-weiß-linierte Seiten. Wie üblich sprach Connell in der Schule nicht mit Marianne, er sah sie nicht einmal an. Sie beobachtete ihn im Klassenzimmer, wie er Verben konjugierte, dabei auf seinem Stift kaute. Wie er mittags am anderen Ende der Cafeteria mit seinen Freunden zusammensaß und über etwas lächelte. Ihr Geheimnis wog angenehm schwer in ihrem Körper und drückte auf ihre Beckenknochen, wenn sie sich bewegte.

An diesem Tag sah sie ihn nach der Schule nicht, auch nicht am nächsten. Am Donnerstagnachmittag arbeitete seine Mutter wieder, und er kam früh, um sie abzuholen. Marianne musste an die Tür gehen, weil sonst niemand zu Hause war. Er hatte die Schuluniform ausgezogen und trug schwarze Jeans und ein Sweatshirt. Als sie ihn sah, wollte sie instinktiv weglaufen und ihr Gesicht verbergen. Lorraine ist in der Küche, sagte sie. Dann drehte sie sich um, ging nach oben in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie legte sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett und atmete in ihr Kissen. Wer war dieser Connell überhaupt? Sie glaubte, ihn bestens zu kennen, aber wie kam sie darauf? Nur weil er sie einmal geküsst hatte, ohne Erklärung, und sie dann ermahnt hatte, es niemandem zu sagen? Nach ein oder zwei Minuten hörte sie ein Klopfen und richtete sich auf. Herein, sagte sie. Er öffnete die Tür, und nachdem er ihr einen prüfenden Blick zugeworfen hatte, wie um zu sehen, ob er willkommen war, trat er ein und machte die Tür hinter sich zu.

Bist du sauer auf mich?, fragte er.

Nein, warum sollte ich?

Er hob die Schultern. Dann schlenderte er zum Bett und setzte sich. Sie saß im Schneidersitz, umklammerte ihre Knöchel. Schweigend saßen sie eine Weile da. Dann rückte er neben sie. Er berührte ihr Bein, und sie lehnte sich gegen das Kissen. Verwegen fragte sie ihn, ob er sie wieder küssen würde. Er sagte: Was denkst du? So eine Erwiderung erschien ihr höchst kryptisch und ausgeklügelt. Jedenfalls küsste er sie. Sie sagte ihm, dass es ihr gefiel, und er sagte einfach nichts. Sie glaubte, sie würde alles tun, damit er sie mochte, damit er laut sagte, dass er sie mochte. Er schob seine Hand unter ihre Schulbluse. Sie sagte ihm ins Ohr: Können wir uns ausziehen? Seine Hand war in ihrem BH. Definitiv nicht, sagte er. Das ist sowieso dumm, Lorraine ist unten. Er nannte seine Mutter einfach so beim Vornamen. Marianne sagte: Sie kommt nie hier hoch. Er schüttelte den Kopf und sagte: Nein, wir sollten aufhören. Er setzte sich auf und sah sie an.

Eine Sekunde lang warst du versucht, sagte sie.

Nicht wirklich.

Ich hab dich in Versuchung gebracht.

Er schüttelte lächelnd den Kopf. Du bist so eine seltsame Person, sagte er.

Jetzt steht sie in seiner Einfahrt, wo sein Auto parkt. Er hat ihr die Adresse geschickt, Nummer 33: ein Reihenhaus mit Waschbetonfassade, Gardinen, einem winzigen betonierten Hof. Oben ist ein Fenster beleuchtet. Sie kann sich kaum vorstellen, dass er wirklich dort wohnt, in einem Haus, in dem sie noch nie war und das sie noch nie auch nur gesehen hat. Sie trägt einen schwarzen Sweater, einen grauen Rock, billige schwarze Unterwäsche. Ihre Beine sind sorgfältig rasiert, ihre Achseln glatt und vom Deo kreidig, und ihre Nase läuft ein bisschen. Sie klingelt und hört seine Schritte auf der Treppe. Er öffnet die Tür. Bevor er sie reinlässt, sieht er über ihre Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihr Eintreffen bemerkt hat.

Einen Monat später

(März 2011)

Sie sprechen über ihre Unibewerbungen. Marianne liegt auf dem Bett, die Decke achtlos über den Körper gezogen, und Connell hat sich aufgesetzt, ihr MacBook auf dem Schoß. Sie hat sich bereits für Geschichte und Politikwissenschaften am Trinity College beworben. Er hat sich für Jura in Galway entschieden, aber jetzt überlegt er es sich noch mal, weil er sich, wie Marianne zu bedenken gab, gar nicht für Jura interessiert. Er kann sich nicht einmal vorstellen, Anwalt zu sein, mit Krawatte und so weiter, und möglicherweise dabei zu helfen, Menschen eines Verbrechens anzuklagen. Er hat es nur aufgeschrieben, weil ihm nichts anderes eingefallen ist.

Du solltest Englisch studieren, sagt Marianne.

Meinst du das ernst, oder machst du Witze?

Ich meine das ernst. Es ist das einzige Schulfach, das dir Spaß macht. Und du liest ständig in deiner Freizeit.

Er blickt starr auf den Laptop und dann auf die dünne gelbe Decke über ihrem Körper, die ein lilafarbenes Schattendreieck auf ihre Brust wirft.

Nicht ständig, sagt er.

Sie lächelt. Außerdem werden lauter Mädchen in den Kursen sein, sagt sie, du wärst dann total der Hengst.

Ja. Ich bin mir nur nicht so sicher, was die Berufsaussichten angeht.

Ach, wen interessiert das? Die Wirtschaft ist eh im Arsch.

Der Laptopmonitor ist jetzt schwarz, und er tippt auf das Touchpad, damit er wieder angeht. Die Webseite für die Unibewerbung starrt ihn an.

Nachdem sie das erste Mal Sex hatten, blieb Marianne über Nacht bei ihm. Er hatte bisher noch nie mit einer Jungfrau geschlafen. Insgesamt hatte er nur selten Sex gehabt, und jedes Mal mit Mädchen, die hinterher der ganzen Schule davon erzählten. Er hatte sich später in der Umkleide von seinen Taten berichten lassen müssen: In monströser Pantomime wurden seine Fehler und – was sehr viel schlimmer war – sein qualvolles Bemühen um Zärtlichkeit dargeboten. Mit Marianne war es anders, weil alles nur zwischen ihnen blieb, sogar die peinlichen oder schwierigen Dinge. Bei ihr konnte er tun oder sagen, was er wollte, und niemand würde es je herausfinden. Daran zu denken machte ihn leicht schwindelig. Als er sie in jener Nacht berührte, war sie sehr feucht, und sie schloss die Augen und sagte: O Gott, ja. Und sie durfte es sagen, niemand würde es erfahren. Er hatte Angst, in dem Moment schon zu kommen, einfach nur, weil er sie so berührte.

Am nächsten Morgen gab er ihr im Flur einen Abschiedskuss, und ihre Lippen schmeckten alkalisch, wie Zahnpasta. Danke, sagte sie. Dann ging sie, bevor er verstand, wofür sie ihm dankte. Er steckte die Bettwäsche in die Waschmaschine und nahm sich frische aus dem Trockenschrank. Er dachte darüber nach, was für eine verschwiegene, eigenständige Person Marianne doch war, dass sie zu ihm nach Hause kommen und mit ihm Sex haben konnte und keine Notwendigkeit sah, irgendjemandem davon zu erzählen. Sie ließ die Dinge einfach so geschehen, als würde ihr nichts etwas bedeuten.

Lorraine kam am Nachmittag nach Hause. Noch bevor sie auch nur ihre Schlüssel auf den Tisch legte, fragte sie: Ist das die Waschmaschine? Connell nickte. Sie hockte sich davor und sah durch das runde Fenster in die Trommel, wo seine Bettwäsche im Schaum herumwirbelte.

Ich frag jetzt nicht, sagte sie.

Was?

Sie füllte den Wasserkocher auf, während er an der Küchentheke lehnte.

Warum deine Bettwäsche da drin ist, sagte sie. Ich frag jetzt nicht.

Er verdrehte die Augen, nur um etwas mit seinem Gesicht zu machen. Du denkst immer gleich das Schlimmste, sagte er.

Sie lachte, stellte den Wasserkocher auf den Sockel und betätigte den Schalter. Entschuldige, sagte sie. Ich bin wohl die toleranteste Mutter von allen an deiner Schule. Solange du dich schützt, kannst du tun, was du willst.

Er sagte nichts. Der Wasserkocher heizte sich auf, und sie nahm einen sauberen Becher aus dem Schrank.

Also?, fragte sie. Heißt das ja?

Was, ja? Natürlich hatte ich keinen ungeschützten Geschlechtsverkehr in deiner Abwesenheit. Herrje.

Und weiter, wie heißt sie?

Er verließ die Küche, konnte aber seine Mutter lachen hören, als er raufging. Sein Leben amüsiert sie jederzeit aufs Neue.

In der Schule musste er es am Montag vermeiden, Marianne anzusehen oder auf irgendeine Weise mit ihr zu interagieren. Er trug das Geheimnis wie etwas Großes und Heißes mit sich herum, wie ein überfülltes Tablett mit Heißgetränken, die er überall mit hinnehmen musste und nicht verschütten durfte. Sie benahm sich einfach nur wie sonst auch, als wäre nichts geschehen, las wie üblich bei den Schließfächern ihr Buch, verstrickte sich in sinnlose Diskussionen. Am Dienstag fragte ihn Rob beim Mittagessen nach der Arbeit seiner Mutter bei Mariannes Familie, und Connell aß einfach nur weiter und versuchte, das Gesicht nicht zu verziehen.

Würdest du da jemals selbst reingehen?, fragte Rob. In die Villa.

Connell schüttelte seine Pommestüte und spähte dann hinein. Ich war ein paarmal drin, ja, sagte er.

Wie ist es da so?

Er hob die Schultern. Keine Ahnung, sagte er. Groß, offensichtlich.

Wie ist sie in ihrer natürlichen Umgebung?, fragte Rob.

Keine Ahnung.

Ich denke mal, sie behandelt dich wie ihren Butler, oder?

Connell wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Er war fettig. Seine Pommes waren zu salzig, und er hatte Kopfschmerzen.

Sicher nicht, sagte Connell.

Aber deine Mam ist ihr Hausmädchen, oder?

Na ja, sie ist nur die Putzfrau. Sie ist zweimal die Woche dort, ich glaub nicht, dass sie viel miteinander zu tun haben.

Hat Marianne denn keine kleine Glocke, mit der sie bimmelt, wenn sie sie braucht?, fragte Rob.

Connell sagte nichts. Zu diesem Zeitpunkt verstand er die Situation mit Marianne noch nicht. Nachdem er mit Rob gesprochen hatte, redete er sich ein, es sei vorbei, er hatte nur einmal Sex mit ihr gehabt, um es auszuprobieren, und er würde sie nicht mehr treffen. Aber schon während er sich das sagte, konnte er einen anderen Teil seines Gehirns mit einer anderen Stimme sagen hören: Doch, wirst du. Es war ein Teil seines Bewusstseins, den er zuvor im Grunde nicht gekannt hatte, dieser unerklärliche Drang, verdorbenen und geheimen Begierden nachzugeben. Er ertappte sich dabei, wie er am Nachmittag im Unterricht von ihr phantasierte, nach Mathe oder als sie Schlagball spielen sollten. Er dachte an ihren kleinen, feuchten Mund und bekam mit einem Mal keine Luft mehr und hatte Schwierigkeiten, seine Lunge zu füllen.

An jenem Nachmittag fuhr er nach der Schule zu ihr. Während der Autofahrt drehte er das Radio ganz laut auf, damit er nicht darüber nachdenken musste, was er da gerade tat. Als sie nach oben gingen, sagte er nichts, er ließ sie reden. Das ist so gut, sagte sie immer wieder. Das fühlt sich so gut an. Ihr Körper war ganz weich und weiß wie Mehlteig. Er schien perfekt in sie zu passen. Körperlich fühlte es sich genau richtig an, und da verstand er, warum die Leute für Sex verrücktes Zeug machten. Tatsächlich verstand er jetzt einiges von der Erwachsenenwelt, was ihm zuvor ein Rätsel gewesen war. Aber warum Marianne? Schließlich war sie nicht besonders attraktiv. Einige fanden sogar, dass sie das hässlichste Mädchen der Schule war. Was für ein Mensch würde so etwas mit ihr machen wollen? Und doch war er dort, was für ein Mensch er auch sein mochte, und machte es. Sie fragte ihn, ob es sich gut anfühlte, und er tat so, als habe er sie nicht gehört. Sie war auf Händen und Knien, so dass er ihr Gesicht nicht sehen oder ablesen konnte, was sie dachte. Ein paar Sekunden später sagte sie sehr viel leiser: Mache ich etwas falsch? Er schloss die Augen.

Nein, sagte er. Es gefällt mir.

Ihr Atem klang jetzt unregelmäßig. Er zog ihre Hüften zurück an seinen Körper und gab dann etwas nach. Sie machte ein Geräusch, als würde sie ersticken. Er tat es wieder, und sie sagte ihm, sie würde gleich kommen. Das ist gut, sagte er. Er sagte es, als gäbe es für ihn nichts Alltäglicheres. Seine Entscheidung, an jenem Nachmittag zu Marianne zu fahren, erschien ihm mit einem Mal sehr richtig und intelligent, vielleicht war es das einzig Intelligente, was er je in seinem Leben getan hatte.

Als sie fertig waren, fragte er sie, was er mit dem Kondom machen sollte. Ohne das Gesicht vom Kissen zu heben, sagte sie: Du kannst es einfach auf dem Boden liegen lassen. Ihr Gesicht war gerötet und feucht. Er tat, wie sie gesagt hatte, legte sich dann auf den Rücken und sah hin-auf zu den Deckenleuchten. Ich mag dich so gern, sagte Marianne. Connell spürte, wie ihn ein genussvoller Kummer überkam, der ihn fast zu Tränen rührte. Momente emotionalen Schmerzes kündigten sich so an, bedeutungslos oder zumindest unlesbar. Marianne führte ein radikal freies Leben, das wusste er. Ihn hielten verschiedene Erwägungen gefangen. Es kümmerte ihn, was man über ihn dachte. Es kümmerte ihn sogar, was Marianne dachte, das war jetzt offensichtlich.

Sehr oft schon hat er versucht, seine Gedanken über Marianne zu Papier zu bringen, um sie zu verstehen. Ihn treibt der Wunsch an, exakt in Worte zu fassen, wie sie aussieht und wie sie spricht. Ihr Haar und ihre Kleidung. Die Ausgabe von Der Weg zu Swann, mit einem dunklen französischen Gemälde auf dem Cover und einem mintfarbenen Rücken, die sie während der Mittagspause in der Schulcafeteria liest. Ihre langen Finger, die die Seiten umblättern. Sie führt nicht das gleiche Leben wie andere Leute. Manchmal benimmt sie sich so weltgewandt, dass er sich dumm vorkommt, aber sie kann auch sehr naiv sein. Er will verstehen, wie ihr Verstand arbeitet. Wenn er, während sie sich unterhalten, insgeheim beschließt, etwas nicht zu sagen, fragt Marianne innerhalb von ein oder zwei Sekunden: »Was?« Dieses »Was?« scheint so viel zu beinhalten: nicht nur die forensische Aufmerksamkeit, die es ihr erlaubt, sein Schweigen zu erkennen und ihn überhaupt danach zu fragen, sondern der Wunsch nach totaler Kommunikation, die Wahrnehmung, dass alles Unausgesprochene zwischen ihnen eine unwillkommene Störung ist. Er schreibt diese Dinge auf, lange Bandwurmsätze mit zu vielen Nebensätzen, manchmal durch atemlose Semikolons verbunden, als wolle er eine exakte Kopie von Marianne auf dem Papier nachbilden, als könne er sie vollständig für eine zukünftige Betrachtung bewahren. Dann schlägt er eine neue Seite in seinem Notizheft auf, damit er sich nicht ansehen muss, was er gemacht hat.

Worüber denkst du nach?, fragt Marianne jetzt.

Sie streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

College, sagt er.

Du solltest dich für Englisch am Trinity bewerben.

Er starrt wieder auf die Webseite. Neuerdings beschäftigt ihn das Gefühl, dass er eigentlich aus zwei unterschiedlichen Personen besteht und sich bald entscheiden muss, welche er Vollzeit sein möchte und welche er zurücklässt. Sein Leben findet in Carricklea statt, er hat Freunde hier. Ginge er in Galway aufs College, könnte er in denselben sozialen Kreisen bleiben, mehr oder weniger, und das Leben führen, das er immer für sich geplant hat, einen guten Abschluss machen, eine nette Freundin haben. Die Leute würden über ihn sagen, dass er es zu was gebracht hat. Andererseits könnte er wie Marianne ans Trinity gehen. Dann wäre sein Leben anders. Er würde Dinnerpartys besuchen und sich über den Rettungsschirm für Griechenland unterhalten. Er könnte mit schräg aussehenden Mädchen vögeln, die sich als bisexuell herausstellen. Ich habe Das goldene Notizbuch gelesen, könnte er ihnen sagen. Es stimmt, er hat es gelesen. Danach würde er nie mehr nach Carricklea zurückkehren, er würde woandershin gehen, nach London oder Barcelona. Die Leute würden nicht unbedingt denken, dass er es zu etwas gebracht hat. Einige Leute könnten denken, dass er sich zu seinem Nachteil entwickelt hat, während andere ihn völlig vergessen würden. Was würde Lorraine denken? Sie würde wollen, dass er glücklich ist, egal, was die anderen Leute sagen. Aber der alte Connell, den all seine Freunde kennen: Diese Person wäre auf eine Weise tot, oder schlimmer noch, lebendig begraben und würde unter der Erde laut schreien.

Dann wären wir beide in Dublin, sagt er. Ich wette, du würdest so tun, als ob wir uns nicht kennen, wenn wir uns zufällig begegnen.

Marianne sagt erst einmal nichts. Je länger sie still ist, desto nervöser wird er, vielleicht würde sie wirklich so tun, als ob sie ihn nicht kennt, und die Vorstellung, ihre Aufmerksamkeit nicht wert zu sein, löst Panik in ihm aus, nicht nur, was Marianne selbst angeht, sondern auch, was seine Zukunft betrifft, welche Möglichkeiten er hat.

Dann sagt sie: Ich würde niemals so tun, als ob ich dich nicht kenne, Connell.

Danach wird die Stille sehr intensiv. Ein paar Sekunden lang rührt er sich nicht. Natürlich tut er in der Schule so, als würde er Marianne nicht kennen, aber davon wollte er gar nicht anfangen. So muss es eben einfach sein. Wenn die Leute herausfänden, was er mit Marianne gemacht hat, heimlich, während er sie jeden Tag in der Schule ignoriert, wäre sein Leben vorbei. Er würde den Flur entlanggehen, und die Blicke der Leute würden ihm folgen, als wäre er ein Serienmörder oder etwas Schlimmeres. Seine Freunde halten ihn nicht für abartig, nicht für jemanden, der am helllichten Tag und vollkommen nüchtern zu Marianne Sheridan sagt: Ist es okay, wenn ich in deinem Mund komme? Bei seinen Freunden verhält er sich normal. Er und Marianne haben ihr eigenes Privatleben in seinem Zimmer, wo niemand sie stören kann, es gibt also keinen Grund, die einzelnen Welten zusammenzubringen. Trotzdem merkt er, dass er in ihrem Gespräch an Boden verloren und die Tür für dieses Thema geöffnet hat, obwohl er es nicht wollte, und jetzt muss er etwas sagen.

Würdest du nicht?, fragt er.

Nein.

Gut, dann schreib ich Englisch am Trinity auf.

Wirklich?, fragt sie.

Ja. Mir ist es eh ziemlich egal, ob ich einen Job bekomme.

Sie schenkt ihm ein kleines Lächeln, als hätte sie den Eindruck, die Diskussion gewonnen zu haben. Er gibt ihr gern dieses Gefühl. Einen Moment lang erscheint es möglich, beide Welten zu behalten, beide Versionen seines Lebens, und sich zwischen ihnen zu bewegen, so wie man sich durch eine Tür bewegt. Er kann von jemandem wie Marianne respektiert werden und gleichzeitig in der Schule beliebt sein, er kann sich heimlich Meinungen bilden und Prioritäten haben, daraus muss kein Konflikt entstehen, er muss nie eines dem anderen vorziehen. Mit nur ein klein wenig List kann er zwei voneinander völlig unabhängige Existenzen führen, ohne sich je der ultimativen Frage stellen zu müssen, was er mit sich anfangen soll oder was für ein Mensch er ist. Dieser Gedanke ist so tröstlich, dass er ein paar Sekunden lang Mariannes Blick meidet, weil er diesen Glauben noch ein kleines bisschen aufrechterhalten will. Er weiß, dass er nicht mehr daran glauben kann, wenn er sie ansieht.

Sechs Wochen später

(April 2011)