Interview mit dem Tod - Jürgen Domian - E-Book

Interview mit dem Tod E-Book

Jürgen Domian

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Beschreibung

Für den, der wirklich lebt, spielt Zeit keine Rolle

Jürgen Domian ist Moderator der Telefon-Talkshow »Domian«. In seiner Sendung hat er mit rund zwanzigtausend Interviewpartnern gesprochen – vom Mörder bis zum Lottomillionär, vom Show-Star bis zum Obdachlosen, vom Priester bis zum Satanisten. Einer fehlt in der langen Reihe seiner Talk-Gäste, denn er ist scheu und meidet die Öffentlichkeit. Er zählt zu den Top-Prominenten dieser Welt, hat tausend Gesichter, aber nur eine Aufgabe. Er ist alt und doch für immer jung, er ist äußerst fleißig und schläft nie. Einige nennen ihn »Gevatter« oder »Schnitter«, für andere ist er schlicht: der Tod.

Nun hat Domian mit ihm gesprochen, in diesem Buch …

  • Ein Buch von großer Ernsthaftigkeit und Tiefe
  • Eine Einladung, heiter und ernsthaft zu leben

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Seitenzahl: 148

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Umschlagfoto: © Niclas Andersson/Nordicphotos/Corbis

ISBN 978-3-641-08709-8V002

www.gtvh.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1
Gesprächsprotokoll
GesprächspauseGesprächspauseGesprächspause
Kapitel 2
Gesprächsprotokoll
Kapitel 3
Gesprächsprotokoll
GesprächspauseKurze Gesprächspause – Ich wurde etwas ungehalten.Der Tod schwieg einen Moment.Gesprächspause
Kapitel 4
Gesprächsprotokoll
Kurze GesprächspauseKurze GesprächspauseGesprächspauseLängere GesprächspauseGesprächspause
Kapitel 5
Gesprächsprotokoll
Kurze GesprächspauseKurze GesprächspauseGesprächspauseKurze Gesprächspause
Kapitel 6
Gesprächsprotokoll
Kurze GesprächspauseKurze Gesprächspause
Kapitel 7
Gesprächsprotokoll
Sehr kurze GesprächspauseKurze GesprächspauseLange GesprächspauseMeine Stimme wurde lauter und mein Puls beschleunigte sich.GesprächspauseGesprächspauseGesprächspauseKurze GesprächspauseKurze Gesprächspause
Kapitel 8
Gesprächsprotokoll
Kapitel 9
Gesprächsprotokoll
GesprächspauseIch zögerte etwas.Kurze GesprächspauseIch spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte.Mein Herz schlug noch schneller.Kurze GesprächspauseJetzt raste mein Herz.Mir wurde schwarz vor Augen.Kurze GesprächspauseMich überlief ein Schauder. Ich konnte zunächst nichts sagen.stammelte ich schließlichGesprächspauseKurze GesprächspauseLange GesprächspauseKurze Gesprächspause
Copyright

Der Tod ist groß.Wir sind die Seinenlachenden Mundes.Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.

 

Rainer Maria Rilke

1

Ein Buch über den Tod also. Ein Jahr habe ich mit mir gerungen, ob ich dieses Projekt beginnen soll. Es war ein ernstes Jahr.

 

Gibt es nicht schon genug Bücher über den Tod?

Warum soll gerade ich über den Tod schreiben? Kann ich es? Will ich es?

Was habe ich zu sagen? Wie könnte ich dem größten Mysterium unserer Existenz gerecht werden? Zu welchem Resümee sollte ich kommen?

 

Je mehr ich über diese Fragen nachdachte, desto klarer wurde mir eine Tatsache, die ich mir in dieser Deutlichkeit zuvor noch nie vor Augen geführt hatte – und für die ich keine Erklärung habe:

Im Grunde ist der Tod das Thema meines Lebens.

Nicht die Liebe, nicht der Erfolg, das Glück, die Schönheit oder die Gerechtigkeit. Nein, mein Lebensthema ist der Tod. Aber offensichtlich hatte ich bisher Scheu, mir dies so klar einzugestehen. Erst die letzten Monate brachten mich zu dieser Erkenntnis, obwohl der Tod seit Jahrzehnten mein Begleiter ist.

Über nichts habe ich so viel, so oft, so kontrovers, so verzweifelt nachgedacht wie über die Endlichkeit. Schon als dreizehnjähriger Hauptschüler, bildungsfern und ohne jeglichen intellektuellen Hintergrund, hatte ich den Tod in meinem Kopf. Warum müssen die Menschen sterben? Was passiert danach? Wann sterben meine Eltern? Wann sterbe ich? Wie sterbe ich? Gibt es ein Paradies? Existieren dort alle Verstorbenen weiter? Können die Toten mich sehen? Kann man Toten etwas mitteilen? Wie sehen sie aus? Sind sie nackt oder bekleidet? Werden tote Kinder im Jenseits nie erwachsen? ...

Versuchte ich mit meinen Schulfreunden über derartige Fragen zu sprechen, so war die Diskussion schnell zu Ende. Sie interessierten sich nicht für meine merkwürdigen Grübeleien und hielten mich bestimmt für einen Spinner. Auch meine Eltern konnten meine Fragen nicht wirklich beantworten, so sehr sie sich auch mühten und meine Gedanken ernst nahmen. Ich blieb allein mit meinem Unbehagen und meiner Angst. Etwa der großen Angst, im Schlaf zu sterben und am nächsten Morgen tot in meinem Bett zu liegen. So kam es, dass ich wohl das einzige Kind in meiner Umgebung war, das sehr gerne in den Konfirmandenunterricht ging.

Dieser Unterricht war damals meine Rettung. Denn die Fragen wurden immer bohrender und die Ängste immer unerträglicher, und bestimmt hätten meine Eltern in ihrer Sorge um mich irgendwann einen Arzt hinzugezogen. Was in den 1960er Jahren eine heikle Entscheidung gewesen wäre. Die Seele des Kindes war noch kaum erforscht, die Medikamente waren schlecht und die Kinderpsychiatrien glichen eher Kindergefängnissen als akzeptablen Krankenhäusern.

Die Autorität unseres damals schon sehr alten Pastors zog mich dann tief hinein in den christlichen Kosmos. Zwar war ich im christlichen Sinne erzogen worden, wie die meisten von uns, und meine Eltern waren gläubige Menschen, aber erst die Strahlkraft des Pastors vermochte mich wirklich zu erreichen. Ich gierte geradezu nach seinen Deutungen und Erklärungen, die mich mehr und mehr überzeugten, ich begann täglich und viel in der Bibel zu lesen, ließ keinen Gottesdienst aus und betete morgens, mittags und besonders ausdauernd am Abend.

Ich wurde ein fanatischer Christ. Aber dazu später. Seit dieser Zeit ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht auf irgendeine Weise mit dem Tod beschäftigt habe. Ich übertreibe nicht. Sicher, es gab Tage und Wochen, da hielt sich diese Beschäftigung in Grenzen. Aber selbst in unbeschwerten oder gar glücklichen Zeiten irrlichterten Gedanken über den Tod durch meinen Kopf. Was mich besonders traf, weil sie mir die Vergänglichkeit auch des Schönen vor Augen führten. Seit Jahren nun bin ich sogar beruflich beinahe jede Nacht mit Tod und Sterben konfrontiert. Ich habe in meiner Talk-Sendung im WDR-Fernsehen und in Radio 1LIVE mit so vielen Todkranken, Sterbenden und Trauernden gesprochen, ich könnte keine genaue Zahl nennen.

Hubert war der Erste, Tausende folgten. Hubert rief im Mai 1995 in meiner Sendung an, 35 Jahre alt, leukämiekrank im Endstadium. Er litt unter großer Einsamkeit und hatte sich zum Sterben aus der Klinik nach Hause verlegen lassen. Ich kann mich noch sehr gut an eine Antwort von ihm erinnern. Auf meine Frage »Überkommt dich manchmal Wut, dass du so jung sterben musst?«, sagte er: »Am Anfang ja, jetzt aber nicht mehr. Es kann ja morgen in der Frühe schon zu Ende sein. Wenn jemand anruft und sagt ›Bis morgen‹, dann kann ich das nicht erwidern. Es gibt für mich nur noch jetzt.«

Gerade dieser letzte Satz beeindruckt mich bis heute. Lehrt der Tod die Menschen die Gegenwart? Lehrt er uns gar, richtig zu leben? Wie verändert sich ein Mensch im Angesicht des Todes? Ist der Tod weise? Kennt er Güte, Gnade, Moral und Gefühl? Könnte er uns Antworten geben auf die großen Fragen unseres Lebens? Oder ist er schlichtweg ein ausführendes Organ, ein kalter Vollstrecker – ohne Meinung, Herz und Wissen?

 

Ich habe in meiner Sendung bisher mit etwa zwanzigtausend Menschen gesprochen. Dabei ging es um alle erdenklichen Themen. Um Liebe, Glück, Sexualität, Glauben, Angst, den 11. September, Michael Jackson, ausgefallene Berufe, die Zeugen Jehovas, den Papst, Politik, TV-Shows, Krankheiten – und immer wieder um Tod und Abschied. Ich habe mit ganz Jungen gesprochen und mit ganz Alten. Mein jüngster Anrufer war elf Jahre alt, meine älteste Anruferin sechsundneunzig. Es waren sehr Reiche darunter und sehr Arme, hochgebildete Menschen und etliche ohne Ausbildung oder Schulabschluss. Auch Prominente haben bei mir angerufen und Zuschauer oder Zuhörer aus dem fernen Ausland, etwa aus China, Brasilien oder den USA.

Zwanzigtausend Interviewpartner also. Vom Mörder bis zum Lottomillionär. Vom Show-Star bis zum Obdachlosen. Vom Priester bis zum Satanisten.

Mit einem allerdings habe ich noch nicht gesprochen. Er fehlt bisher in der langen Reihe meiner Talk-Gäste. Denn er ist scheu und meidet die Öffentlichkeit. Er zählt zu den Top-Prominenten dieser Welt. Er hat tausend Gesichter, aber nur eine Aufgabe. Er ist sehr alt und doch für immer jung. Er ist äußerst fleißig und schläft nie. Einen besonderen Namen hat er nicht, aber es gibt einige, die nennen ihn einen Meister aus Deutschland, andere sagen einfach Schnitter oder Gevatter zu ihm.

 

Es ist der Tod selbst. Mit ihm habe ich noch nie gesprochen.

 

Nun ist es Zeit, dies zu tun. In diesem Buch.

Gesprächsprotokoll

Ich danke dir, Tod, dass du dir die Zeit nimmst, dich mit mir zu unterhalten.

Der Tod: Für mich gibt es keine Zeit, aber ohne sie gäbe es mich nicht. Endet die Zeit, endet der Tod. Und Dank ist mir niemand schuldig. Ich tue nur, was zu tun nötig ist.

Bleiben wir zunächst bei der Zeit. Was eigentlich ist die Zeit? Weißt du es?

Ach, die Zeit. Ihr Menschen nehmt sie viel zu wichtig und lasst euch von ihr blenden. Ihr lasst euch gefangen nehmen von der Vergangenheit oder der Zukunft. Für den, der wirklich lebt, spielt Zeit keine Rolle. Sobald ihr über sie nachdenkt, habt ihr schon verloren.

Aber mir bleibt als Mensch doch gar nichts anderes übrig, als über die Zeit nachzudenken. Wie soll ich denn mit ihr umgehen?

Das Vergangene ist bereits tot. Das Zukünftige nichts weiter als eine Illusion.

Schön philosophisch gesagt. Aber was bedeutet das für den menschlichen Alltag? In unserem Leben spielt die Zeit eine große Rolle. Ein Beispiel: Ich muss mich doch um meine spätere Rente kümmern ...

Wenn du meinst, ja. Jedoch sollst du dich »kümmern« – und die Sache dann schnell wieder vergessen.

Es geht immer nur um den Moment?

Der Moment ist die einzige Wirklichkeit, die ihr Menschen habt.

Gibt es überhaupt »den Moment«? In der Sekunde, in der ich »jetzt« denke, ist »jetzt« bereits Vergangenheit.

Deshalb sollst du nicht »jetzt« denken, sondern jetzt leben.

Wie Hubert es sagte.

Wie Hubert es sagte.

Gesprächspause

Wie geht es Hubert?

Oh, du forderst mich heraus – und willst schon jetzt eine Antwort auf die gewichtigste Frage der Menschen: Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Ich denke seit Jahrzehnten darüber nach.

Und die Menschheit seit Jahrtausenden. Deshalb wurden die Religionen erfunden.

Erfunden? Lügen sie denn alle?

Gemach, mein sterblicher Freund! Alle haben Recht – und alle lügen sie.

Oh, eine sehr exakte Antwort.

Sie wissen alle um die Liebe, die Ewigkeit oder das Nichts.

Willst du damit sagen, dass alle Religionen etwas Gemeinsames haben, auf einen Punkt zulaufen?

Ja, so könnte man es ausdrücken. Aber das vertiefen wir später.

Gut, kommen wir auf meine vorhin gestellte Frage zurück. Was geschieht mit den Menschen, wenn du dein Handwerk getan hast?

Man beerdigt oder verbrennt sie, in der Regel.

Welch eine Neuigkeit.

Du solltest präziser fragen. Ist der Mensch tot, so ist der Mensch tot.

Alles, was ihn ausmacht?

Der Körper zerfällt. Und das Ich auch.

Gesprächspause

Warum ist das so?

Weil sich alles ständig verändert. Weil alles im Fluss ist. Das Ich ist irdisch, geformt durch die Zufälligkeiten des Lebens. Das Individuelle ist Produkt seiner Zeit, weiter nichts.

Also sind wir alle verloren?

Was meint »verloren«? ... Nein, verloren ist gar nichts.

Du sprichst in Rätseln. Gerade hast du gesagt ...

Nur das Irdische ist verloren. Es ist so unwichtig, dass ich es gar nicht zähle.

Gesprächspause

Also gibt es eine Seele?

Wie ungeduldig ihr Menschen doch seid. Ihr verlangt schnelle Einsichten in gewaltige Geheimnisse. Der Weg dorthin aber ist mühsam. Verstehen und Erkennen brauchen Zeit, Besinnung und Stille. Wir werden auf alles zu sprechen kommen.

2

Etwa bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr war ich Christ. Ich war erfüllt vom Glauben und fand auf alle existenziellen Fragen eine Antwort in der Heiligen Schrift. Und gab mich während dieser Zeit auch damit zufrieden. Sinnkrisen kamen so erst gar nicht auf. Ich wusste, warum ich auf der Welt war. Um nach den Geboten Gottes zu leben, meinen Glauben weiterzugeben, im Sinne christlicher Nächstenliebe zu wirken und gegen das Böse und die Sünde zu kämpfen. Ich hatte eine klare Vorstellung von Recht und Unrecht. Die Wegweiser waren die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Meine Angst vor Tod und Sterben hatte sich auf wundersame Weise aufgelöst. Wusste ich doch nun um das Paradies und dass unser irdisches Dasein lediglich eine Vorstufe zum wirklichen, dem ewigen Leben bedeutet. Auch die Vorstellung, eventuell jung zu sterben, verlor ihren Schrecken. Ich wäre dann ja bei Gott und mein Tod hätte einen, wenn auch für mich nicht begreifbaren, aber höheren Sinn. Nur die Überlegung, meine Eltern könnten aus dem Leben gerissen werden, erschütterte meine Gelassenheit etwas. Diese Sorge allerdings verdrängte ich bald gänzlich. Der Tod als solcher war jedoch nach wie vor ein Thema für mich. Es fing schon damit an, dass ich bei jedem Gottesdienstbesuch, und davon gab es ungezählte, einen Toten anschauen musste, den man (wie bestialisch) an ein Kreuz genagelt hatte und zur Schau stellte. Zudem war mir klar, dass man sich das Paradies verdienen musste. Bummelei, Sündhaftigkeit, Zweifel könnten eventuell dazu führen, dass man nach dem Tode woanders landen würde. An einem weniger schönen Ort, der in der Bibel detailgenau wie in einem Horrorthriller beschrieben wurde. Die Hölle machte mächtig Eindruck auf mich. War sie doch Synonym für den ewigen Tod und ewiges Leid. Aber es gab eben auch die Hoffnung und die Vergebung der Sünden. Und so hatte ich im Glauben ein sehr festes Gerüst für mein Leben gefunden. Es war sogar so unerschütterlich, dass ich mit Verachtung auf alle anderen Christen blickte, die, meiner Meinung nach, nicht richtig, nicht rigoros, nicht konsequent genug glaubten. Regelrecht ein Dorn im Auge waren mir die Sonntagskirchgänger, denen ich, zumindest den meisten, unterstellte, sie gingen nur aus bürgerlicher Tradition jeden Sonntag in den Gottesdienst, nicht aber aus wirklicher tiefer Verbundenheit mit Jesus Christus. Sah ich sie dann noch in schicken Klamotten oder gar Pelzmänteln in die Kirche einziehen, wallte der Zorn in mir auf. Bis ich eines Tages beschloss, diesem Zorn Luft zu machen. Ich entwarf ein Flugblatt und machte davon etwa zweihundert Kopien. Eine böse Formulierung jagte darin die nächste. Ich beschimpfte die Kirchgänger, dass sie nur aus Spießbürgerlichkeit jeden Sonntag zur Kirche gingen, und forderte sie auf, zum wahren und lebendigen Glauben zurückzukehren oder schleunigst zu ihm zu finden. Und schon am nächsten Sonntagmorgen stand ich, der Fünfzehnjährige, überpünktlich am Haupteingang unserer Kirche und drückte jedem Gottesdienstbesucher eines meiner Flugblätter in die Hand. Ich kam mir mutig und groß dabei vor und verglich mich ein wenig mit Jesus, der ja auch dereinst die Händler aus dem Tempel getrieben hatte.

Welche Resonanz meine Flugblätter in der Gemeinde fanden, kann man sich ausmalen. Die Kirchgänger waren empört und ich bekam einen Rüffel vom Pastor.

 

Ich muss heutzutage öfter an diese Aktion denken. Sie gibt mir eine Ahnung davon, zu welchen Verhaltensweisen fanatische Menschen fähig sind. Seien sie religiös oder auch politisch motiviert. Gott sei Dank hatte ich damals keine Mitstreiter. Wer weiß, wohin das alles noch geführt hätte. So zog ich mich in die Trutzburg meiner eigenen Glaubensvorstellungen zurück und machte es mir dort bequem. Bis zu jenem Tag, als die Fundamente dieser Burg derart erschüttert wurden, dass sie binnen weniger Monate komplett in sich zusammenstürzte. Und ich vor dem Nichts stand. Im wahrsten Sinne des Wortes. Gott war weg, mein Wertekanon zerplatzt, die Frage nach dem Sinn des Lebens offener denn je – und der Tod hatte ein leichtes Spiel, wieder Macht über meine Gedanken zu erlangen und mir das Leben zu verdunkeln.

 

Es waren nur zwei Bücher, die meinen Glauben zum Einsturz brachten: Ludwig Feuerbachs »Das Wesen des Christentums« und Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. So einfach war das. Zunächst begegnete ich den Büchern hochnäsig. Was könnt ihr mir schon anhaben? Jedes eurer Argumente werde ich mit einer leichten Handbewegung fortwischen. Mein Glaube ist so stark, ich werde Feuerbach und Nietzsche zu Quacksalbern degradieren.

Da ich wusste, dass diese beiden Geistesgrößen eben auch zu den größten Kritikern des Christentums zählten, war es für mich selbstverständlich, genau mit ihnen meinen Kampf aufzunehmen. Nicht mehr mit den langweiligen Sonntagskirchgängern oder ein paar träge gewordenen Pastoren, nein, wenn schon Auseinandersetzung, dann auf höchstem Niveau. Und ich begann zu lesen. Nein, sagen wir besser, ich verschlang, ich fraß die Bücher. Las einzelne Passagen zweimal, dreimal und immer wieder. Blätterte parallel dazu in der Bibel oder in Texten kluger Theologen. Suchte anfänglich noch das Gespräch mit dem von mir hochgeschätzten Pastor. Was mich aber nicht weiterbrachte. Zog andere Schriften von Feuerbach und Nietzsche hinzu – und musste mir schließlich eingestehen, dass meine Argumente allmählich ihre Kraft verloren und dass ich der Weltsicht meiner beiden Gegner kaum mehr etwas entgegenzusetzen hatte. Das Unfassbare war also geschehen. Mein Glaube hatte sich in kurzer Zeit aufgelöst, zersetzt, war verschwunden und weg. Gott ist tot, sagt Nietzsche. Und ich konnte dem nichts mehr erwidern. Damals eine Katastrophe für mich.

 

Es gab also keinen Trost mehr. Kein Gut, kein Böse. Kein Ziel und keine Aufgabe. Es gab nur die reine Existenz, in die ich mich hineingeschleudert fühlte – und den zerstörerischen Gedanken: In Anbetracht des Todes ist eigentlich alles sinnlos.

Wobei ich diesen Satz bewusst genau so formulierte, das heißt unter Einbeziehung des kleinen Wörtchens »eigentlich«. Es brachte eine diffuse Hoffnung zum Ausdruck, ein Nichtwissen, eine Sehnsucht. Ohne »eigentlich« hätte ich mir gleich das Leben nehmen können. Trotzdem verband ich alles, was ich tat und was geschah, immer sofort mit dem Tod.

Warum sollte ich studieren? Ich würde ja ohnehin irgendwann sterben. Warum sollte ich mich gesund ernähren? Ob ich früher oder später sterben würde, spielte keine Rolle. Warum sollte ich mich politisch engagieren oder zumindest positionieren? Es war doch alles sinnlos, weil nicht nur ich, sondern auch all die anderen sterben müssten und selbst die ganze Erde irgendwann untergehen würde. Wozu sollte man also die Natur schützen, gewaltige Bauwerke errichten oder gegen Atomkraftwerke sein?

 

Heute erscheint mir meine damalige Auseinandersetzung mit dem Tod merkwürdig. Denn es war eine rein theoretische Beschäftigung. Ich kann nicht einschätzen, was mit mir passiert wäre, hätte es in dieser Zeit einen Todesfall in meiner unmittelbaren Umgebung gegeben.