Irische Nacht - Hannah O'Brien - E-Book
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Irische Nacht E-Book

Hannah O'Brien

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Beschreibung

Von keltischen Göttern, Geistern und fahrendem Volk In ihrem dritten Fall hat es Grace O'Malley, Leiterin des Morddezernats in Galway, mit der irischen Sagen- und Geisterwelt und so manch anderem ureigenen irischen Phänomen zu tun. In einer wilden Herbstnacht feiern die Bewohner der irischen Aran-Inseln »Samhain«, wenn die keltischen Naturgötter ins Winterlager wechseln. Dann verkleiden sich alle, um von den Bewohnern der Anderswelt auf keinen Fall erkannt zu werden. Einem Gast in Pattie Burkes B&B wird diese Nacht zum tödlichen Verhängnis. Denn der geheimnisvolle »Green Man«, eine Gestalt im Baumkostüm, schlägt brutal zu.

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Hannah O’Brien

Irische Nacht

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Trygve und Lucy

 

 

 

Vom Meer her kam der Wind und schob die Wellen mit unbändiger Macht ans Land. Das Wasser spritzte hoch, wenn es über den weichen Sand gerutscht war und sich an den messerscharfen Klippen brach.

Graínne Ni Mháille war auf den Felsen geklettert. Sie winkte von dort ihrem Vater Shaun zu, der weiter unten am Strand zwischen den Steinen saß und seinen Rucksack packte.

»Bleib dort oben, Graínne«, rief er. »Die Flut kommt bald zurück und dann ist es hier nicht mehr sicher. Ich komme gleich zu dir.«

Der Himmel hatte sich graugrün metallisch verfärbt und düstere Wolkentürme schoben sich über dem Meer zu ihnen heran, als wollten sie Obdach unter den Bergen erbitten. Graínne kauerte sich auf den nackten Stein und streichelte ihn wie ein geliebtes Tier.

Als sie die Schritte des Vaters vernahm, musste sie sich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, dass er hinter ihr stand.

»Warum will das Meer immer wieder zum Land? Wäre es nicht glücklicher, wenn es einfach dort draußen bliebe, wo es frei ist und niemand ihm eine Grenze zieht?«

Shaun trat neben sie. »Das könnte man meinen, aber das Meer hat Sehnsucht nach dem Land.«

Die kleine Graínne erhob sich und verschränkte die Arme. »Warum hat es Sehnsucht?«

Er streckte einen Arm aus und sie nahm seine Hand.

»Weil es sich durch das Land selbst erfährt. Ohne Land wäre das Meer nur Wasser und könnte sich nicht spüren. Das Land zeigt dem Meer, was es ist. So wie das Land auch uns zeigt, wer wir sind.«

1

Er keuchte ein wenig, als er wieder auf der Dorfstraße stand, und starrte in die Dunkelheit. Wo waren sie nur geblieben? Sie mussten noch weiter oben an den Klippen sein. Er war an mehreren erleuchteten Häusern vorbeigekommen und durch die weit geöffneten Haustüren getreten, um nach der maskierten Fünfertruppe zu suchen. Doch vergeblich. Er runzelte die Stirn. Dass sein Gegenspieler bei dem wichtigen Deal, den er morgen unter Dach und Fach bringen wollte, heute Nacht auch hier sein würde, hatte er beim besten Willen nicht erwartet. Vielleicht sollte er jetzt umkehren. Das geplante Treffen konnte er auch später noch nachholen. Und der Spaß am Feiern war ihm sowieso gründlich verdorben worden. Dabei wurde in dieser Nacht Samhain gefeiert, das höchste Fest im keltischen Kalender, die irischste aller irischen Nächte. Die Nacht, in der die Geister der Toten, die Seelen der Vorfahren und alle keltischen Naturgötter von ihrer Sommer- in die Winterresidenz umzogen und die Menschen in ihren Häusern besuchten. In der Nacht vom einunddreißigsten Oktober auf den ersten November durfte kein Haus auf den Inseln verschlossen bleiben. Die Götter mussten Zutritt haben und jeder Mensch durfte sich, ohne einen Laut von sich zu geben, überall umsehen. So wollte es der uralte Brauch, der nur hier auf den drei irischen Aran-Inseln gepflegt wurde.

Im letzten Haus, das eine ältere Frau mit ihren drei Katzen bewohnte, waren die Vermummten wohl schon gewesen. Die alte Frau konnte sich gut an die Truppe erinnern, mit den braunen Papiertüten, die sie sich übergestülpt hatten, und ihren Kostümen aus blauen Müllbeuteln. Sie hatte ihm die Richtung gezeigt, in die sie weitergelaufen waren. Eine komische Frau, die komische Fragen gestellt hatte.

Plötzlich hörte er ein undefinierbares Geräusch hinter einer der Mauern und drehte sich um. Er konnte aber niemanden sehen.

Der Vollmond war hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden und nun war es auf einmal stockdunkel. Er fluchte und kramte im Anorak nach seiner Taschenlampe. Ihr Lichtstrahl war nur sehr schwach, aber besser als nichts, dachte er. Der Sturm hatte sich gelegt und man konnte in der Ferne die Meeresbrandung vernehmen. Unschlüssig stand er da und überlegte, was er tun sollte. Die Truppe konnte nicht weit sein.

Da trug ihm der Wind ein paar Lachfetzen herüber, die vom Ende der Straße zu kommen schienen. Das mussten sie sein. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zu Synge’s Seat, dem Findling, auf dem vor über hundert Jahren angeblich der berühmte irische Schriftsteller John Synge gesessen und auf das Meer gestarrt hatte.

Irgendetwas raschelte nicht weit von ihm. Er zuckte zusammen und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ein Tier vielleicht, mutmaßte er. Hinter den niedrigen Steinwällen rechts und links der Straße hielten die Inselbewohner oft Esel, Kühe und Schafe. So waren die Tiere windgeschützt und konnten nicht allzu weit umherstreifen.

Er ließ den dürren Strahl der Taschenlampe über das Feld und die leicht abschüssige Straße gleiten. Niemand außer ihm hielt sich hier auf. Er musste sich so darauf konzentrieren, in der Dunkelheit nicht die Orientierung zu verlieren, dass er nicht wahrnahm, wie sich schräg hinter ihm auch ein Strauch hinter der Mauer in Bewegung setzte und ihm folgte. Wie der Wald von Birnam in Shakespeares Macbeth.

Unsicher tastete er sich an einer Steinmauer entlang, und als er bald darauf das Ende der Mauer und dann ein Metallgatter spürte, glaubte er plötzlich, ein Flüstern dahinter zu hören. Er hielt abrupt inne und hielt den Atem an. Doch das Geräusch war verstummt. Vielleicht hatte er sich das Flüstern auch nur eingebildet. Gerade als er seinen Weg fortsetzen wollte, vernahm er es erneut.

Jemand flüsterte seinen Namen.

Diesmal hatte er es eindeutig gehört. Langsam griff er nach dem Riegel, um ihn zurückzuschieben, als er merkte, dass das Tor nur angelehnt war. Es quietschte leicht, als er es aufstieß und hindurchschlüpfte.

War das ein Mann oder eine Frau gewesen? Beim Flüstern konnte man das kaum unterscheiden. Eine Welle der Aufregung durchströmte seinen Körper, eine angenehme Aufregung. Vielleicht war es ihr endlich gelungen, sich von den anderen abzusetzen, um ihn vorzeitig zu treffen. Aber ausgerechnet hier?

»Hierher!« Die Aufforderung hatte nicht herrisch und befehlend, sondern eher verheißend geklungen.

Er stolperte über das steinige Feld und konnte immer noch nichts erkennen. Auf einmal registrierte er eine blitzschnelle Bewegung ganz in der Nähe und ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte – es klang wie raschelnde Blätter. Und als er merkte, dass der Mensch, der ihn durch das Gatter gelockt hatte, nun hinter ihm war, witterte er endlich die Gefahr. Es war klar, dass er nur noch wenige Sekunden hatte, um sich in Sicherheit zu bringen. Da spürte er einen Schlag von hinten in die Kniekehlen und kippte nach vorne. Er roch Erde und Moos und wunderte sich. Kurz darauf spürte er kühles Metall an seinem Hals. Die Verwunderung war jäh verschwunden und nacktem Grauen und seinem Überlebenskampf gewichen. Er war vergeblich.

2

Es sah fast so aus, als gehörte ihr Arm nicht zu ihrem Körper. Die Hand an seinem Ende zuckte und fuhr mit ihren zarten Fingerkuppen anmutig leicht, fast schwerelos, dann wieder kraftvoll und mit Entschiedenheit in die Saiten, als duldete sie keinen Widerspruch.

Peter Burke hob sein Glas und versuchte sich einen Weg zu den Musikern zu bahnen, um ihnen näher zu sein. Die Band, die sich an diesem Abend im einzigen Pub auf Inis Meáin zur Feier des keltischen Samhain zusammengefunden hatte, bestand aus exzellenten Musikern, fünf Männern und drei Frauen, doch die Fiedlerin war eindeutig ihre Königin. Die rothaarige zarte Frau schien wie in Trance zu spielen. Sie war es, die das höllische Tempo des Jigs vorgab. Ihr linker Fuß schlug unter der Bank mit der Ferse fest auf den Boden, der Oberkörper wippte leicht mit dem Rhythmus. Sie wiegte sich nicht, wie es die meisten Fiedler machen. Sie wippte wie ein unruhiges Tier.

Peter nahm einen Schluck Bier und beobachtete sie. An wen erinnerte sie ihn?

Schließlich setzten alle Musiker zu einem rasenden Finale an. Der Bodhran-Spieler warf den hölzernen Handknochen in die Luft, um ihn dann über seine Trommel wirbeln zu lassen, als würde er es mit sämtlichen Geistern, die in dieser Nacht auf den Aran-Inseln umherstrichen, aufnehmen wollen und mit ihnen um die Wette hetzen.

»Wunderbare Stimmung mal wieder – mein Gott, was für ein Trubel!« Pattie Burke war mit einem Glas Wein in der Hand neben ihren Sohn getreten und nahm einen Schluck davon, während sie über den Rand hinweg die anderen Gäste musterte. »Die Kostüme auf Meáin sind immer die besten«, fuhr sie fort. »Hier sind die Leute tatsächlich noch komplett vermummt, so wie es sein soll, damit man nicht erkannt wird. – Nicht wie auf Inis Mór.«

Das Letzte hatte sie eine Spur verächtlich gesagt. Dass die Bewohner von Inis Meáin mit der benachbarten größten und bekanntesten der drei Aran-Inseln in einer Art Konkurrenz standen, war nicht zu überhören, obwohl Pattie das niemals zugegeben hätte.

Peter grinste und zeigte mit der freien Hand auf eine kleine Gruppe Vermummter, die in einer Ecke des Pubs saßen. Alle vier hatten sich braune Papiertüten über die Köpfe gestülpt, aus denen nur Löcher für Augen, Mund und Nase geschnitten waren. Die Körper steckten in blauen Müllsäcken, an die sie selbst gemachte bunte Strohblumen geheftet hatten.

»Auf Inis Mór denken sie, wenn sie sich ein Halloween-Hütchen aufsetzen, reicht das schon. Schämen sollten die sich! Wir sind in ganz Irland die Einzigen, die die wahre Tradition, wie man Samhain begeht, hochhalten.« Pattie nippte wieder an ihrem Glas und verschluckte sich fast dabei. Die attraktive Endfünfzigerin mit dem dunklen Zwanzigerjahre-Bob und der silbernen Strähne darin war vor über zehn Jahren aus der Grafschaft Mayo auf die mittlere der drei Arans gezogen und hatte hier im alten Schulhaus ein exklusives Bed and Breakfast eröffnet. Dass sie ganz nebenbei noch ein ebenfalls exklusives Online-Wettbüro für die kleine Gälisch sprechende Welt betrieb, hatte ihr Sohn erst vor Kurzem herausgefunden. Obwohl er ein erfahrener Privatdetektiv war, der sich auf Wirtschaftsfälle spezialisiert hatte, konnte Pattie das Wettbüro jahrelang vor ihm verheimlichen. Peter lebte im nahen Galway am Ende der großen Bucht, in der diese bizarren Inseln lagen.

Die Musik hielt mitten in ihrem Höhepunkt an und war urplötzlich zu Ende. Alle klatschten begeistert. Einige johlten und stießen hohe, spitze Töne aus. Dann drängten sich die Gäste vor der kleinen Theke. Die Leute an der Bar kamen mit den Bestellungen kaum nach. Die Fiedlerin mit dem strengen Haarknoten hatte sich kurz halb stehend umgesehen, als suchte sie in der Masse der Besucher jemanden. Dann hatte sie sich aber wieder an einen Tisch gesetzt und sich der Flötenspielerin neben ihr zugewandt.

»Die spielt ja unglaublich!« In Peters Stimme schwang Bewunderung mit. Seine Mutter nickte zustimmend. »Das ist Tessa Keane. Eine unserer besten Musikerinnen hier im Westen. Komisch, dass du sie noch nie gehört hast.« Pattie ließ ihren Blick nun wieder durch den Schankraum des kleinen Pubs schweifen.

»Suchst du jemanden, Mum?«

Pattie hob kurz die Schultern. »Eigentlich war ich mit Michael auf ein Schwätzchen und ein Glas verabredet …« Sie griff sich gedankenverloren an die schmale Kette aus schwarzem Jet, die sie um den Hals trug.

»Einer von deinen Bed-and-Breakfast-Gästen?«

Pattie schüttelte den Kopf. »Nein, Michael Lynch ist ein alter Bekannter aus Delphi. Er wollte dieses Jahr unbedingt zu Samhain rüberkommen. Ich glaube, er hat eine Ferienwohnung von den Walshs angemietet. Weil ich schon belegt war, als er vor ein paar Tagen anrief.« Sie zögerte und korrigierte sich dann. »Nein, das stimmt nicht ganz. Ich rede mir das mal wieder schön. Ich war zwar ausgebucht, aber er hatte das Cottage schon vorher gemietet. Das fand ich ein bisschen schade, aber, mein Gott, so gut kennen wir uns auch wieder nicht.«

Etwas in ihrer Stimme kam ihm merkwürdig vor. Peter hatte sich nun ganz zu seiner Mutter umgedreht. »Du hast ihn nie erwähnt. Woher kennst du ihn?«

Pattie lächelte. »Er ist Farmer, wie ich schon sagte, aus dem Delphital. Etwa in meinem Alter. Ein angenehmer Mann, wie ich finde. Und wenn ich Farmer sage, dann meine ich das. Er hängt an seinem Land. Ein Mayo-Mann. Mit viel Herz, Seele und Verstand. Und mit Visionen. Deshalb hat er auch eine Menge Geld. Er besitzt Land, viel Land, weißt du?«

Peter nahm ihr das leere Glas ab und sah sie prüfend an. War dieser Michael etwa einer der zahlreichen namenlosen Liebhaber seiner Mutter, die er nicht einmal alle kennengelernt hatte? Sie war schon seit Langem Witwe und wollte ihren Junggesellinnenstatus, wie sie ihm gegenüber häufig betonte, ganz bestimmt nicht aufgeben.

»In welcher Reihenfolge?«

Einen Moment sah Pattie ihn irritiert an. »Was meinst du damit?«

»Na, was war zuerst da? Geld oder Seele? Land oder Visionen? Oder hatte er schon immer Verstand und leistete sich das große Herz nebenbei als Maskottchen?« Um seinen Mund zuckte es.

Pattie stieß ihren Sohn mit dem Ellenbogen liebevoll in die Rippen. »Ach, Peter. Du bist ungezogen.«

Da setzte die Band auf einmal wieder ein. Diesmal sang ein alter Mann mit einer knarzigen, fast krächzenden Stimme die Ballade von der Spanish Lady. Sofort verstummten die lebhaften Gespräche in dem überfüllten Pub. Alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Sänger, der sein Lied inbrünstig und mit halb geschlossenen Augen vortrug, das schüttere Haar so zurückgekämmt, dass die Spur der Zinken wie kleine Reifenspuren auf der Kopfhaut zu erkennen waren.

Peters Blick fiel auf einen großen, kräftigen Mann, der plötzlich schräg hinter den Musikern aufgetaucht war. Er war mittelblond und glatt rasiert. Das kantige ausgeprägte Kinn verlieh seinem Gesicht eine Entschlossenheit, die beinahe an Brutalität grenzte. Seine Augen waren hell und wach. Peter bemerkte, wie sie sich an der Fiedlerin festhakten, so lange, bis sie sich, von diesem Blick wie an unsichtbaren Fäden gezogen, umdrehte und ihn über ihr Instrument hinweg ansah.

»Whack fer the dora dora lady, whack fer the dora dora day«, sang der Alte unverdrossen und mit schnarrender Stimme.

Peter spürte, wie sich seine Mutter auf die Fußspitzen stellte und sein Ohr suchte.

»Das da drüben ist er übrigens – Michael«, flüsterte sie ihm eindringlich zu und wies mit dem Kopf in Richtung der Band.

Peter runzelte die Stirn. »Du meinst den Großen mit dem Richard-Burton-Kinn?«

Pattie nickte stumm. Doch Peter wusste bereits, dass Michael Lynch mit seinen Ländereien, dem außergewöhnlichen Verstand und seinen Visionen nicht der aktuelle Liebhaber seiner Mutter sein konnte. Ihn verband eher etwas mit der rothaarigen Fiedlerin. Das war offensichtlich.

 

Eine Viertelstunde später bahnte sich die Gruppe mit den blauen Müllbeutelkleidern einen Weg zur Tür, um den übervollen Pub zu verlassen. Tessa Keane und ihre Band bekamen an der Bar gerade frische Getränke serviert. Sie stießen ausgelassen an. Trotzdem schien die Fiedlerin abgelenkt und unruhig zu sein. Peter beobachtete sie immer wieder. Michael Lynch hatte sich ihr in einer Musikpause kurz genähert und ein paar Worte mit ihr zu wechseln versucht. Aber alle in diesem Raum schienen zu schreien, lauthals zu lachen oder sich überschwänglich zuzuprosten. An ein normales Gespräch war bei diesem Lärm nicht zu denken.

Ein dreiköpfiges Monster – drei Männer, die zusammen in einem riesigen Sack steckten – wankte auf Peter und Pattie zu.

»Der ganz normale Wahnsinn«, nuschelte einer der Köpfe freundlich in ihre Richtung.

Peter grinste und nickte, während sich der zweite Monsterkopf zu Pattie hinunterbeugte und ihren Kopf tätschelte. Standen die etwa auf Stelzen, überlegte Peter, oder warum waren die gut dreißig Zentimeter größer als alle anderen?

»Die Müllsäcke inspizieren gerade deine bescheidene Hütte, Süße. Ich weiß, von den Inselleuten klaut niemand was, aber wir sind nicht ganz unter uns. Sind ’ne Menge Besucher von außerhalb heute Nacht hier. Also, sieh dich vor! Nur als kleiner Tipp.« Damit schwankte das dreiköpfige Monster leicht unkoordiniert zur Theke weiter.

Pattie nickte Peter kurz zu. »Da könnte was dran sein. Ich geh besser wieder nach Hause.«

Resolut bahnte sie sich einen Weg zur nahen Tür und Peter folgte ihr.

Vor dem Pub ging es weder leiser noch geordneter zu. Um die groben Holztische mit den festgenagelten Bänken und den schiefen Sonnenschirmen drängten sich zahlreiche Menschen, die ebenfalls übermütig brüllten und wild gestikulierten. Das war craic, der unbändige Spaß an der Freude, wie die Iren es nannten. Was hatte Peter in dieser Nacht auch anderes erwartet?

Seine Mutter war rasch die wenigen Schritte über die Straße zu ihrem Haus gelaufen und durch die weit geöffnete Tür in seinem Inneren verschwunden, als Peters Handy sich meldete. Erstaunt antwortete er. Es war Grace O’Malley, die ihn um Mitternacht noch anrief.

»Langweilst du dich etwa auf Achill Island?«, fragte er amüsiert seine alte Jugendfreundin. Grace O’Malley war neugierig, wie man die keltische Nacht auf den Inseln feierte. Die Polizeikommissarin, die seit Kurzem das Morddezernat in Galway leitete, hatte ihn nicht wie geplant begleiten können. Sie musste kurzfristig zu den Verwandten in ihre gemeinsame Heimat Achill Island fahren, um eine Familienangelegenheit zu klären, wie sie Peter erzählt hatte.

»Es geht so«, antwortete sie ihm. »Bei euch ist es bestimmt viel ausgelassener und wahrscheinlich auch gefährlicher, wenn die Geister heute Nacht ihr Unwesen treiben.«

Mit dem Handy am Ohr folgte Peter seiner Mutter ins Haus und bemerkte eine Gruppe der Samhain-Geister, die gerade die Runde darin machten. Es waren nicht nur die fünf aus der Müllbeuteltruppe, sondern noch drei weitere, die aber keine Maske trugen.

»Na ja, hier streifen überall Vermummte umher und treiben Schabernack. Als gefährlich würde ich das nicht bezeichnen. Du solltest es da oben wirklich mal für ein paar Tage genießen und eine Auszeit nehmen, Grace. Du bist schließlich nicht nur Kommissarin, sondern auch …« Er stockte kurz.

»Na, was denn?« Sie klang gespannt.

»Peter! Hilfst du bitte mal?« Seine Mutter rief und er war froh, das Gespräch beenden zu können.

»Ich muss aufhören, die Götter übernehmen jetzt hier die Herrschaft. Bis morgen in Galway.« Er legte auf.

Peter ging in die Küche, als er aufgeregte Stimmen aus dem hinteren Garten hörte, die heftig zu streiten schienen. Vorsichtig schlich er in die Vorratskammer, die unmittelbar an den Garten grenzte.

Da zischte jemand mit kaum unterdrückter Wut: »Du bist der Teufel! Du hast mich schon so oft hintergangen und jetzt willst du mich austricksen. Doch das wird dir diesmal nicht gelingen!«

Peter versuchte durch das niedrige Fenster zu spähen, konnte aber von diesem Blickwinkel aus niemanden sehen.

Ein zweiter Mann lachte leise und flüsterte etwas, das Peter nicht verstehen konnte.

»Aber jetzt hast du Pech gehabt. Delphi gehört mir!« Das war wieder der erste.

»Oh, da täuschst du dich, bis morgen kann noch viel passieren!«, zischte die zweite Stimme.

Und dann rannte jemand hastig weiter in den Garten hinein. Blitzschnell nahm Peter die hintere Tür und gelangte so ebenfalls in den Garten. Es war Vollmond und der Himmel sternenklar. Peter erkannte den Mann sofort, der da ungeduldig mit dem Schloss des Gartentors kämpfte. Es war Michael Lynch.

Peter trat zu ihm. »Die Geister nehmen heute Nacht nur die vordere Tür. Diese hier halten wir immer geschlossen. Wir hoffen, dass sie deswegen nicht zornig auf uns sind.« Peters Stimme klang unaufgeregt und freundlich.

Dem Farmer war die Situation offensichtlich unangenehm und er versuchte ein Lächeln, das etwas schief in seinem Gesicht hing. Aus der Nähe betrachtet, wirkte er auf Peter nicht so unsympathisch, wie er ihm im Pub zunächst vorgekommen war.

»Ich bin Peter Burke, Patties Sohn. Sie kennen, glaube ich, meine Mutter.« Er streckte dem großen Mann seine Hand hin, die der schnell ergriff.

»Entschuldigen Sie, ich bin auf der Suche nach meiner Gruppe. Ich hab sie verloren.«

Peter hob die Augenbrauen. Kurz überlegte er, ob er den Mann auf das hitzige Gespräch im Garten ansprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Es ging ihn nichts an. »Die lustigen Müllbeutel mit den Blümchen?«

Michael nickte zerstreut. »Nicht alle von ihnen sind lustig«, entfuhr es ihm schließlich.

Peter warf ihm einen fragenden Blick zu. Offenbar hatte auch Michaels Gegenspieler bei dem Schlagabtausch kurz zuvor in einem der Müllbeutel gesteckt. Darüber musste Peter schon fast wieder schmunzeln. Das Böse lauert eben überall, ging es ihm durch den Sinn.

»Vielleicht sind sie hoch in Richtung Synge’s Seat«, überlegte er laut. »Da gibt es noch ein, zwei Häuser, die sie sicher noch nicht inspiziert haben. An Ihrer Stelle würde ich mich sputen.«

Michael deutete eine Verbeugung an und verschwand blitzschnell im Haus. Peter kratzte sich am Kopf. Auch im ausgelassenen Getümmel gibt es immer wieder Hässliches, dachte er. Um was es bei dieser Auseinandersetzung wohl gegangen war?

Dann kehrte auch Peter in den Hausflur zurück, wo seine Mutter ihm schon fröhlich entgegenkam. Sie legte ihm den Arm um die Schultern und er ließ es gern geschehen.

»Dieses Jahr sind die Kostüme wirklich grandios, finde ich. Weißt du, wer eben noch hier vorbeikam?«

Amüsiert schüttelte der Detektiv den Kopf.

»Der Green Man höchstpersönlich!« Pattie klang begeistert.

»Und du sagst mir sicher gleich, wer das ist?«

»Das ist ein uralter Naturgeist, der wie ein Baum aussieht.«

»Ach so.«

Pattie trat einen Schritt zurück. »Na ja, dem Green Man sagt man übernatürliche Kräfte nach, was die Regeneration der Natur betrifft. Er gilt als der erste Umweltschützer.«

»Was du nicht sagst, Mommy«, erwiderte Peter eher unbeeindruckt.

Pattie schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast das beste Kostüm verpasst, Peter! Er war ganz in Rinde gehüllt, sein Gesicht hinter einer dunkelgrünen Maske verborgen und mit lauter Zweigen, die wie ein Busch über seinem Kopf standen.«

Peter bemühte sich, ernst zu bleiben. »Und der war eben hier?«

Sie nickte heftig. »Ja, vorhin im Pub hab ich ihn gar nicht gesehen, so ein Kostüm fällt einem doch sofort auf. Wo der wohl die ganze Zeit gesteckt hat? Schließlich haben wir schon fast …« Nun sah sie auf ihre teure Armbanduhr. »Meine Güte, es ist schon weit nach Mitternacht! Jetzt sind alle Geister unterwegs! Jetzt geht Samhain erst richtig los!« Sie lächelte geheimnisvoll. »Ich habe für unsere Hausgäste einen gälischen Mitternachtstrunk und ein paar kleine Snacks vorbereitet. Du bleibst doch auch noch ein Weilchen, nicht wahr?«

Peter dachte nach. »Was wollte er?«

»Wen meinst du, mein Sohn?«

»Na, der Green Man. Was wollte er hier? Sich auch nur ein bisschen umschauen?«

Sie war schon fast in der Küche verschwunden und band sich eine schneeweiße Schürze um, die ihr bis zu den Knöcheln reichte. Dann drehte sie sich noch einmal um und sah ihren Sohn gedankenverloren an.

»Ja, komisch – jetzt, wo du mich fragst … Er hat das traditionelle Schweigen heute gebrochen und mich tatsächlich angesprochen. Aber nur ganz kurz und undeutlich. Er hat sich nach Michael Lynch erkundigt.«

»Nach Michael Lynch?« Irgendetwas daran beunruhigte Peter. Hatte Lynch sich wirklich mit einem der Müllbeutel gestritten – oder war er mit dem Green Man im hinteren Garten gewesen?

»Und was hast du geantwortet?«

Pattie starrte ihn mit ihren großen dunklen Augen an. »Ich hab ihm gesagt, dass Michael vorhin hier war und dann hinter einer Gruppe hergelaufen ist, der er sich wohl spontan angeschlossen hat. Ich hab dem Green Man sogar die Richtung gezeigt. Glaubst du, das war falsch?« Pattie, die selten von Selbstzweifeln geplagt wurde, hörte sich auf einmal wie ein unsicheres Schulmädchen an.

Peter zuckte die Schultern und legte einen Arm um seine Mutter.

»Ich glaube nicht, Mum. Schließlich ist es ja kein böser Geist, sondern nur der Green Man.«

Er beugte sich zu einer der Platten, die auf einem Tisch im Flur bereitstanden und mit kleinen Lachshäppchen belegt waren, und naschte eines davon.

Pattie war in Gedanken weit weg. »Trotzdem seltsam, was er zum Schluss gesagt hat.«

Peter kaute und hob fragend die Augenbrauen.

»Dass man zu mehreren heute Nacht sicherer sei. Deshalb sei er auch mit der lustigen Truppe mit den Müllbeuteln unterwegs.«

Peter schluckte. »Das hat der Green Man gesagt?«

Pattie sah ihn entrüstet an. »Quatsch, nicht der Green Man. Das hat Michael vorhin zu mir gesagt, bevor er sich auf die Suche nach den Müllbeuteln machte.«

3

»Peter, ich warte im Pick-up draußen auf dich. Aber beeil dich, die Fähre wartet nicht!«

Kieran O’Dowds durchdringende Stimme war auch durch die geschlossene Vordertür gut zu vernehmen. Peter steckte sich den Rest seines Toasts in den Mund, griff nach seiner Übernachtungstasche und ging auf seine Mutter zu, die noch etwas verschlafen im nachtblauen Seidenpyjama in ihrem Breakfast Room an einer Vitrine lehnte und herzhaft gähnte. Aus der Küche hörte man schon das Geschirrgeklapper von Sarah, die Pattie seit Jahren bei der Betreuung der Gäste zur Hand ging. Sie bereitete wohl gerade das opulente Frühstück in Patties feinem B&B vor.

Peter hauchte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und winkte noch einmal, während er durch die Tür hastete. Er wollte die frühe Fähre um acht unbedingt erreichen, eines von zwei Booten am Tag, die die Besucher in einer knappen Stunde ans Festland nach Rossaveel brachten. Die Anlegestelle war nur eineinhalb Kilometer vom Dorfzentrum entfernt, wo Patties schmuckes altes Schulhaus stand.

»Spring rein!«, forderte Kieran, der junge Farmer, Peter auf. Hinten begrüßte ihn mit lebhaft wedelndem Schwanz sein Spaniel, der auf der Ladefläche des Pick-ups aufgeregt hin und her lief. Kieran hatte Peter am Abend zuvor im Pub angeboten, ihn zum Anleger mitzunehmen, da er seinen Esel Harry, den er auf dem Weg von der Fähre in einem Feld abgestellt hatte, abholen wollte.

Sie fuhren los. Es nieselte leicht und die grauen Mauern, die sich wie eine gigantische archaische Installation über die gesamte Insel erstreckten, sahen aus, als hätten sie durch den feinen Regen ein glitzerndes Netz übergestülpt bekommen.

»Warst du gestern Abend noch lange da?«, fragte Peter und ließ den Blick von seiner leicht erhöhten Position im Wagen über die Steinwälle wandern, die den schlecht geteerten Weg säumten.

Kieran, ein junger Mann von Anfang zwanzig mit dem krausen, störrischen Haar, das so typisch für die Menschen dieser Region war, seufzte statt einer Antwort.

Peter grinste. »Noch ziemlich verkatert, was?«

Kieran nickte erschöpft und bog hinter dem Landeplatz für die Leichtflugzeuge und Helikopter nach links zu dem neuen Pier ab. Wäre es nicht so diesig gewesen, hätten sie von hier aus schon die kleine Fähre erkennen können.

»War ’ne Wahnsinnsstimmung«, ächzte er leise in sein Lenkrad, sodass Peter ihn kaum verstehen konnte.

»Super Musik und irre Kostüme«, stimmte Peter ihm lächelnd zu. »Jemand meinte, beim nächsten Samhain auf Meáin sollte RTÉ mal kommen und alles senden. Wäre aber schade, wenn du mich fragst.«

Peter gab ihm recht. Man musste nicht alles, was noch ursprünglich und halbwegs intakt war, durch die Medien in die Welt hinausjagen, um es zu »teilen«.

Plötzlich entdeckte er in einiger Entfernung etwas Merkwürdiges. »Was ist das denn, Kieran?«

Der junge Mann fuhr langsamer. »Was?«

»Da drüben im Feld!«

Kieran hielt an und beugte sich an Peter vorbei in die Richtung, in die sein Finger zeigte. »Das ist unser Feld, wo ich später Harry abhole.«

Tatsächlich stand nahe am Tor zu ihrem Weg ein brauner Esel mit imposanten Ohren und knabberte etwas überdrüssig an einem Büschel nassem Gras.

»Keine Ahnung, sieht von hier aus wie ’ne Plane. Hat wohl gestern der Wind reingeweht. Ich guck nachher mal.« Kieran gab Gas. »Wir müssen uns beeilen, Mann, es ist drei vor acht und Paddy legt normalerweise pünktlich ab. Der will drüben auf keinen Fall nach der Fähre von Mór ankommen, sonst kriegt er beim Frühstück in Rossaveel nur noch die halb verkohlten Schinkenstücke ab, die übrig geblieben sind.«

Eine andere Erklärung für einen überpünktlichen Iren zu früher Stunde hätte Peter auch sehr verwundert. Er erinnerte sich jedoch, dass es in der letzten Nacht keinen nennenswert starken Wind gegeben hatte, der eine Plane hätte herbeiwehen können.

»Guck mal, wer rennt denn da noch zum Boot bei dem miesen Pfützwetter?«

Vor ihnen erschien aus dem nebligen Morgendunst die Gestalt einer Frau, die mit einem Rucksack und einem Geigenkasten in der Hand die Straße hinunterhetzte.

»Das ist Tessa! Taucht die auch mal wieder auf? Die ist aber früh dran!«, wunderte sich Kieran und hielt ein paar Sekunden später neben ihr an.

Tessa Keane sah besorgniserregend aus, fand Peter. Sie wirkte nicht nur übernächtigt, sondern auch völlig aufgelöst und war leichenblass. Hilflos stolperte sie wie ein geschundenes Tier den Weg entlang, offenbar unfähig, irgendetwas um sie herum wahrzunehmen. Sie reagierte nicht einmal auf Kierans lautstarke Aufforderung durchs geöffnete Seitenfenster, für die letzten zweihundert Meter zum Boot zu ihnen in den Wagen zu springen. Sie hatte gerade den Weg zum Anleger erreicht, als Kieran sie kopfschüttelnd hinter sich ließ.

»Was ist denn mit der passiert?«

Peter blinzelte, obwohl es gar nicht sonnenhell, sondern trüb war. »Vielleicht hat sie gestern einfach zu viel getrunken?«

Kieran schien nachzudenken.

»Nee«, stieß er schließlich hervor. »Tessa war mit Sicherheit nicht betrunken. Zumindest nicht, solange sie im Pub war.«

Der Regen war nun stärker geworden und trommelte auf die Windschutzscheibe.

Peter nutzte Kierans Schweigen, um nachzuhaken. »Wovon redest du, Kieran?«

»Na, sie war doch gestern Abend plötzlich verschwunden. Alle haben sie gesucht, im Pub und vorne im Hof.«

»Ich bin gegen Mitternacht gegangen, da hat sie noch gespielt«, erwiderte Peter. »Ich kann mich genau erinnern, weil sie so außergewöhnlich gut war. Und dann hat der Alte mit der schnarrenden Stimme die Spanish Lady gesungen.«

»Frank.« Kieran nickte. »Tessa wollte nur eine rauchen gehen und kam nicht mehr zurück. Die anderen Musiker waren ziemlich sauer auf sie, glaube ich. Wenigstens ist sie jetzt wieder da. Bisschen ramponiert, aber immerhin.«

Kurz darauf hatten sie das leicht schaukelnde Boot erreicht. Das Schiffshorn ertönte. Es war Punkt acht. Peter ergriff seine Tasche und sprang aus dem Wagen. »Danke fürs Mitnehmen, Kieran! Wir sehen uns!«

Der junge Farmer gab Gas und fuhr durch ein paar Pfützen spritzend die Straße hoch. Im nächsten Moment war Peter auch schon auf dem metallenen Fußgängersteg, der auf die Fähre führte.

»Mann, willst du noch mit oder bleibst du auf Gottes schönster Insel?«

Paddy kontrollierte die Fahrscheine an der Brücke. Er trug die für seine Generation typische Kopfbedeckung, eine Tweedkappe mit Schild, und den traditionellen beigen Aran-Pullover, dazu verbeulte, farblich undefinierbare Hosen. Paddy ließ sich gern als »typischer Eingeborener« von Touristen fotografieren und war wohl auf Tausenden von Schnappschüssen rund um den Globus zu finden.

Jetzt tauchte Tessa aus dem Regen auf, drängte sich atemlos und ohne ein Wort an Peter vorbei und hetzte über den Steg.

Peter hielt dem Bilderbuch-Iren sein Ticket hin.

Doch Paddy zündete sich im starken Regen eine Zigarette an und grinste. »Immer mit der Ruhe. Wir fahren noch nicht. Bedank dich bei Michael Lynch. Der hat mich gebeten, auf jeden Fall auf ihn zu warten. Er muss unbedingt mit dem Morgenboot mit. Das hat er mir gestern, als er ankam, mit Nachdruck gesagt.« An dieser Stelle strich er mit dem Daumen über Mittel- und Zeigefinger und grinste. »Und ich hab eben noch mal unten nachgesehen, damit ich ihn auch ja nicht übersehe – aber er ist definitiv noch nicht da. Wir warten noch fünf Minuten.«

Die verkohlten Speckstücke für die Fährmannschaften in der Küche von Rossaveel würde Paddy wohl bald riechen können.

4

Unten im Passagierraum roch es abgestanden nach Schlaf und leicht säuerlich nach ausgedünstetem Alkohol. Außer einem quengelnden kleinen Mädchen, das auf einer übermüdeten Mutter herumturnte, sprach niemand. Alle dämmerten erschöpft vor sich hin. Peter schaute sich kurz um und wählte dann einen der Plätze am Mittelgang, wo er sich seufzend niederließ. Die Polster waren abgeschabt und durchgesessen. Er hasste die Morgenfähre. Auf dem Nachmittagsboot ließ er sich, außer wenn es heftig regnete, meist auf dem Oberdeck nieder und genoss die atemberaubende Kulisse: die beiden Inseln Inis Meaín und Inis Mór, die an der Fähre vorbeischaukelten, die imposante Bergkette der Twelve Bens, die vom Festland Connemaras aus herüberwinkte, und der sanft geschwungene Uferstreifen der Bucht von Galway.

An diesem Morgen war es Peter für diesen lohnenden Ausblick draußen zu ungemütlich. Er warf einen Blick durch das salzverkrustete Fenster, doch es war nichts zu erkennen. Stattdessen musterte er die anderen Passagiere etwas genauer. Für einen Wochentag im Herbst war die Morgenfähre erstaunlich gut belegt. Das hatte natürlich mit der vergangenen Nacht zu tun. Viele der schätzungsweise knapp vierzig Passagiere waren sicher Besucher der ausgelassenen Samhain-Feier in der Nacht zuvor gewesen. Er selbst hatte den längst fälligen Besuch bei seiner Mutter auch deshalb auf den einunddreißigsten Oktober gelegt. Dabei hatte er für die Anreise den Flieger gewählt, der heute leider ausgebucht war.

Der Mann, der auf der anderen Seite des Mittelgangs mit halb offenem Mund gedöst hatte, richtete sich abrupt auf und schaute sich verwirrt um. Er warf einen Blick auf die Bootsuhr über der Tür, die nun fast zehn Minuten nach acht zeigte. Der Mann war etwa so alt wie Peter, Mitte dreißig. Er hatte eine leicht geschwungene Nase, lange mittelbraune Haare, die er sich hinter die Ohren geklemmt hatte, und trug eine feine dunkelgrüne Wachsjacke. Von irgendwoher kannte Peter ihn, doch er konnte ihn im Moment nicht einordnen. War er einer der Musiker von gestern Abend gewesen? Peter drehte sich um. Die bleiche Tessa Keane saß auf einem der hinteren Sitze am Fenster und starrte mit unbewegter Miene vor sich hin, als müsste sie sich anstrengen, aufrecht sitzen zu bleiben.

Jetzt polterte jemand die Stufen herunter. Der Mann auf der anderen Seite des Gangs hob sofort den Kopf in die Richtung. Ob der Typ auf der Treppe jetzt wohl endlich Michael Lynch war, der offenbar an diesem trüben Morgen der wichtigste Gast auf diesem Boot sein würde?

Doch es war nur einer von Paddys Helfern auf der Fähre, der sich nun anschickte, leise vor sich hin fluchend, in einem der Wandschränke herumzuwühlen.

Plötzlich wurde der Schiffsmotor angeworfen. Peter atmete erleichtert auf. Es war fast Viertel nach acht. Er hatte an diesem Tag eine ganze Reihe wichtiger Termine zu erledigen, die, wenn sich die Ankunft auf dem Festland noch länger verzögerte, ins Rutschen kämen. Lynch fehlte hier immer noch. Möglicherweise stand er oben bei Paddy auf der Brücke und hielt ein Schwätzchen mit ihm.

Der Mann in der Wachsjacke grunzte nun zufrieden und richtete sich auf eine Fortsetzung seines Morgennickerchens ein, indem er sich einen roten Wollschal vom Hals zog, ihn umständlich auf der Armlehne faltete und seine rechte Wange darauf bettete.

Tessa in der Ecke hatte ebenfalls die Augen zu, schlief aber mit Sicherheit nicht, denn Peter sah, wie sie mit fast geschlossenen Lippen etwas vor sich hin murmelte, als ob sie beten würde. Er zog sein Smartphone aus der Jackentasche, um seinen Posteingang zu überprüfen, als er merkte, dass die Fähre ihre eben erst aufgenommene Geschwindigkeit schon wieder drosselte und nachdem sie einen Halbkreis beschrieben hatte, nach Inis Meáin zurückzukehren schien. Peter stand auf und beugte sich zu der verschmierten Scheibe hin.

Tatsächlich, der Anleger tauchte verschwommen wieder vor ihnen auf. Schon wollte Peter nach oben, um nachzufragen, was los sei, als Paddy mit hochrotem Kopf an der Treppe erschien.

»Alle ruhig bleiben. Keine Panik, es herrscht keine Gefahr!«, brüllte er so laut, dass jeder im Passagierraum hochschreckte und auf der Stelle verängstigt war.

»Ich komm gleich zu euch runter, wenn wir angedockt haben. Jetzt muss ich Gerry helfen.«

Ein paar Minuten verstrichen, während sich alle Fahrgäste unsichere Blicke zuwarfen. Das Kind hatte angefangen zu weinen. Tessa starrte wieder geradeaus und der Mann mit der Wachsjacke, der Peter am nächsten saß, lehnte sich zu ihm herüber. Er hatte eine Fahne und Peter drehte sich schnell zur Seite.

»Ist irgendwas? Habe ich was verpasst? Ich habe geschlafen.«

Peter zuckte mit den Schultern.

Der andere beugte sich noch näher zu ihm. »Aber kennen wir uns nicht? Ich bin Marten Molloy.« Er hielt ihm die Hand hin.

Peter nahm sie und drückte sie fest. »Klar doch! Ich dachte mir auch, dass wir uns kennen. Bin nur nicht draufgekommen, woher.«

Marten Molloy war ein Farmer aus den Sheefry Hills zwischen Leenane und Delphi. In den Counties Mayo und Galway war er als einer der besten Trainer für Border Collies bekannt, ja, vielleicht war er einer der erfolgreichsten in Irland überhaupt. Aus dem ganzen Land brachten ihm die Leute ihre Hütehunde, damit er sie für das anspruchsvolle Schafehüten trainierte, oder sie erwarben einen Welpen aus seiner erstklassigen Zucht. Marten war ein Hundeflüsterer der besonderen Art. Bei ihm bekam man nicht etwa das normale Training, das alle Hunde absolvierten, die in den Bergen Schafe zusammenhielten, nein, Martens Training war die Elite-Akademie für Border Collies. Mehr ging nicht. Ein Hund, der von Marten Molloy ausgebildet worden war, konnte fast alles, sagte man. Peter und Molloy hatten sich vor drei Jahren einmal kurz kennengelernt. Molloy hatte ihn damals beauftragt herauszufinden, ob ein Konkurrent unten in Cork seine Trainingsmethode geklaut und, ohne die fällige Lizenz zu zahlen, angewandt hatte. Das hatte Peter damals ausschließen können und alle Beteiligten waren zufrieden gewesen.

Nun war es Paddy, der lärmend die Treppe herunterpolterte. Er hustete. »Also, ganz ruhig, Leute.« Dabei waren sowieso alle ruhig, sogar das Kind auf dem Arm der Mutter, das mit großen Augen zu ihm hinüberblickte. »Wir dürfen nicht ablegen.«

»Was soll das heißen?«, fragte ein Mann aus der vorderen Reihe, der genau vor Paddy hockte.

»Das heißt, dass wir vorerst hierbleiben werden.«

Peter war aufgestanden und stützte seinen Arm auf die Lehne des Vordersitzes. »Das muss doch einen Grund haben. Habt ihr technische Probleme?«

Paddy schüttelte entschieden den Kopf. Peter bemerkte aus den Augenwinkeln dass Tessa sich abgewandt hatte und nun wie hypnotisiert auf das Fenster starrte, durch das man nach wie vor nichts erkennen konnte.

»Ich hab eben einen Anruf über die Bordkommunikation erhalten. Von Garda.« Paddy machte eine gewichtige Pause, damit das Wort seine Schwere voll im Raum entfalten konnte. »Garda Galway. Sie sind schon im Helikopter unterwegs, und bis sie hier sind, darf keiner von der Insel. Deshalb.«

Wie auf Kommando fingen alle gleichzeitig und aufgeregt an zu reden.

»Schhh!«, versuchte Peter die Passagiere zu beruhigen. »Und was weiter? Weshalb ist Garda Galway auf dem Weg hierher? Die machen doch mit Sicherheit keinen Betriebsausflug.«

Paddys Miene wurde plötzlich ernst. »Nein, das machen sie nicht. Es wurde eine Leiche gefunden. Auf ’ner Wiese. Mehr weiß ich auch nicht. Aber niemand verlässt diese Insel.«

Peter war sich sicher: Paddy war stolz auf jedes einzelne Wort dieses Satzes, den er zu diesem besonderen Anlass sagen durfte. Und er genoss jede Silbe.

5

»Mommy, es riecht verbrannt!« Declan kaute noch ausgiebig, während er seine kleine Nase hochreckte und die Luft tief einsog.

»Er hat recht«, bekräftigte Grace O’Malley die Aussage ihres Neffen. »Ich schätze, das ist der Toast.« Sie aß ungerührt ihr Eier-Sandwich weiter, ohne etwas zu unternehmen.

Ihre Schwägerin Oonagh legte das Besteck hin und stand schließlich mit einem Seufzer auf. Sie drehte den Grill am Gasherd auf null und zog hastig die kleine Emaillepfanne hervor, auf deren Rost ihr Mann Dara vor ein paar Minuten zwei Scheiben Weißbrot gelegt hatte, die er toasten wollte. Danach war Dara in einem der anderen Zimmer im Erdgeschoss verschwunden. Jetzt roch das Brot scharf nach schwarzer Kruste und Oonagh kippte alles in den Mülleimer.

Sie seufzte erneut. »Ich hab die Nase voll.«

»Von was, Mum?«, bohrte der zehnjährige Declan nach, ohne jedoch ernsthaft an einer Antwort interessiert zu sein, wie Grace zu registrieren meinte.

»Von allem, Dec. Von diesem Umzug und von dem Haus, das nicht rechtzeitig fertig geworden ist, weshalb wir Gott weiß wie lange noch auf einer Baustelle wohnen müssen. Und das nur, weil dein Vater immer alles besser weiß. Außerdem nervt es mich, dass er Toast unters Feuer schiebt und dann einfach irgendwohin verschwindet.«

Sie ließ sich auf einen großen Sessel fallen, der mitten im Essraum stand, und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Grace und Declan tauschten fragende Blicke. Schließlich räusperte sich die Kommissarin.

»Das mit dem Umzug in dieses Haus war absolut nicht nötig und ich würde wirklich gern mal erfahren, warum ihr für diese … diese gewaltige Bruchbude aus eurer schicken Villa in Dalkey geflohen seid. Darauf habe ich, seit ich hier bin, noch keine vernünftige Antwort bekommen.«

Graces Bruder Dara war mit seiner Familie gerade dabei, den alten Familiensitz der O’Malleys auf Achill Island zu renovieren und hier einzuziehen, obwohl Grace absolut nichts von diesem Plan hielt. Sie verband nichts Gutes mit dem Haus ihrer Vorfahren.

Declan grinste. Er kratzte den Rest der Schokocreme aus dem Glas und verstrich sie sorgfältig nach allen Seiten hin auf seinem Brot. Graces Schwägerin sah wieder hoch. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit dem leicht herben Zug zeigte einen Ausdruck der Entschlossenheit.

»Die Antwort ist, wie so oft im Leben, ganz einfach, meine Liebe: Wir sind pleite.«

Grace schluckte. Das Elternhaus der O’Malleys hatte seit dem Tod der Großeltern vor über zwanzig Jahren leer gestanden. Graces Vater Shaun, der älteste der drei O’Malley-Brüder und Haupterbe, hatte es abgelehnt, darin zu leben, und mit seiner Frau Liv entschieden, dass sie mit ihren Kindern Grace und Dara in der Nähe von Dublin wohnen würden. Wenige Jahre später war Shaun tödlich verunglückt, doch die Frage nach einer Rückkehr in das Haus auf Achill hatte sich für seine Kinder nie mehr gestellt. Es gab zu viele dunkle Schatten der Vergangenheit, die auf diesem Haus lagen und bis in die britische Kolonialzeit zurückreichten – und mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Die Einnahmen aus der Pacht des dazugehörigen Landes wollten Grace und ihr Bruder Dara jedoch gut anlegen und für die Ausbildung ihrer eigenen Kinder verwenden, für die vierzehnjährige Roisin, die Grace mit knapp zwanzig bekommen hatte und die bei der Familie des Bruders aufgewachsen war, und für Daras Sohn Declan. Ein irisches Arrangement, das auch im dritten Jahrtausend auf der Grünen Insel nicht unüblich war.

Roisin hatte erst vor wenigen Monaten Daras Familie verlassen und war zu ihrer Großmutter nach Dänemark umgesiedelt. Als Grund dafür hatte sie die ewigen Streitigkeiten ihrer Pflegeeltern ums Geld angegeben, die sie genervt hatten.

»Kein Wunder, dass ihr pleite seid«, stellte Grace mit sarkastischem Ton fest. »Das Haus war total verrottet. Die Renovierung muss ein Vermögen kosten. Wo nehmt ihr das Geld dafür her?«

Grace drehte den Kopf zur hohen Decke, die mit neuem Stuck restauriert worden war. Die bodentiefen Erkerfenster zum Garten hinaus, der noch ganz verwildert im Herbstlaub ertrank, waren gegen eine moderne Dreifachverglasung ausgetauscht worden.

»Du weißt, dass wir unser Haus in Dalkey sehr günstig an eine exklusive kleine Firma vermieten konnten. Die haben einiges hingelegt.«

Grace lächelte schief. »Du meinst, günstig für euch?«

Oonagh zuckte unbeteiligt die Schultern. »Damit habe ich kein Problem, Grace. Die scheffeln das Geld mit Seltenen Erden, und wenn sie sich eine repräsentative Stadtvilla mit Blick aufs Meer leisten wollen, wären wir blöd, wenn wir es an Privatleute vermieten würden.«

Grace schaute sie prüfend an und nahm einen Schluck Tee. Ein paar Sekunden sagte keine von beiden etwas. Man konnte Declan kauen hören.

»Mir ist es letztlich egal, was ihr macht, obwohl ich immer der Meinung war, dass weder Dara noch ich dieses Haus anrühren sollten. Es klebt Blut daran.«

Declan hob interessiert den Kopf.

»Tatsächlich?« Oonagh klang ironisch.

»Aber das wissen doch alle, die im Geschichtsunterricht aufgepasst haben.« Das war die Stimme ihres Bruders und Grace drehte sich um.

»Sollen wir es etwa in die Luft jagen, Grace? Nur weil unsere verdammten Vorfahren Opfer der irischen Geschichte wurden? Wobei ›in die Luft jagen‹ ja eine durchaus verbreitete und allgemein akzeptierte irische Option wäre.«

Dara stand in seinem grauen Jogginganzug unrasiert in der Esszimmertür. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte angriffslustig, was Grace verwunderlich fand. Ihr älterer Bruder, ein wenig erfolgreicher Autor unveröffentlichter Bücher über irische Wasservögel, besaß eher ein zurückhaltendes, versöhnliches Naturell – ganz im Gegensatz zu seiner Schwester.

»Sie waren keine Opfer, Dara. Nicht die O’Malleys«, zischte Grace ihrem Bruder zu. »Sie waren Kollaborateure! Sie waren die Statthalter für die britischen Junker und Militärs, die unser Land jahrhundertelang geknechtet haben, und haben sich den Kolonialherren angedient und sich an der irischen Bevölkerung schuldig gemacht. Du kannst dieses Haus geschenkt haben. Ich habe nichts damit am Hut!«

Grace war aufgestanden und begann ungeduldig das Frühstücksgeschirr zusammenzustellen und abzuräumen.

Gerade als Dara zu einer Entgegnung ansetzen wollte, ertönte ein trommelnder Klingelton. Grace nahm den Anruf an. Als sie kurz darauf das Handy wieder einsteckte, wirkte sie beinahe erleichtert.

»Tja, ich denke, ich muss früher los, als ich eigentlich vorhatte.« Sie strubbelte ihrem Neffen mit der Hand durch die noch ungegelten Haare.

»Aber du wolltest doch noch bis morgen bleiben, dachte ich«, erwiderte der Junge. »Wir wollten heute zusammen auf den Slievemore.«

Sein Vater räusperte sich nervös. »Du weißt doch, was deine Tante von Beruf ist. An Garda Síochána. Eine Hüterin des Friedens. Bei der irischen Polizei, wo du später auch mal arbeiten willst.«

Dara hörte sich fast gut gelaunt an bei der Aussicht, seiner streitbaren Schwester, die er ansonsten anbetete, bald zu entkommen.

»Tut mir leid, Declan, aber ich komme sicher bald wieder. Das war mein Kollege Rory Coyne. Wir haben eine Leiche auf Inis Meáin und alle sind schon auf dem Weg. Ich muss auch hin, schließlich bin ich der Chef der Truppe.«

In diesem Moment waren Schritte im Flur zu hören, jemand rief Hallo und kurz darauf erschien ein kleiner Mann in der Tür. Er hielt eine Strickmütze mit einem Bommel in der Hand und wirkte unsicher.

»Ja?« Oonagh lächelte ihn aufmunternd an. »Guten Morgen, Mister …«

»Ich bin Paul Lavelle aus Keel. Freut mich, dass die O’Malleys endlich wieder hier auf Achill Island wohnen. Das freut uns alle im Dorf, wirklich.«

Dara und Oonagh reagierten zuerst nicht. Schließlich machte Oonagh einen Schritt auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.

»Es freut uns auch, Paul.«

Der Mann schien zu überlegen, ob er wirklich sagen sollte, was er sagen wollte. »Jetzt kümmert sich wieder ein O’Malley um das Haus und das Land. Wie es sich gehört.«

Alle schwiegen betroffen, als hätte er damit in ein Fettnäpfchen getreten. Aber nun ging auch Dara auf den Dorfbewohner zu und reichte ihm die Hand.

Grace zögerte. Das hier versprach spannend zu werden. Der Mann hatte etwas auf dem Herzen, das war ihr klar. Aber was?

Paul Lavelle ließ die Bommelmütze von einer Hand in die andere wandern.

»Das Dorf trifft sich meist in Tommy’s Bar. Wir hoffen, Sie und …«, hier zögerte er einen Moment, »auch Ihre Frau würden vielleicht heute Abend vorbeischauen. Wir haben etwas zu besprechen.«

Dara warf Oonagh einen kurzen Blick zu. Sie nickte fast unmerklich.

»Gut, wir kommen gern.« Damit wandte er sich ab, um möglichst rasch das Zimmer zu verlassen.

Etwas verwundert blickte Lavelle ihm nach.

»Um was geht es denn?«, fragte Oonagh und griff nach einem Tuch, um den Frühstückstisch abzuwischen.

»Oh, es ist nur das Camp«, erwiderte Paul. »Wir sind ja so froh, dass jetzt endlich wieder ein O’Malley hier im Herrenhaus lebt, der die Sache in die Hand nehmen kann.«

Langsam richtete Oonagh sich auf. »Welches Camp meinen Sie denn?« Ihre Stimme klang leicht brüchig.

»Na, das zwischen Dugort und Keel, in der Nähe der Kirche. Da lagern schon seit Wochen Traveller. Ein ganz bekannter Clan. Wir sind ziemlich beunruhigt. Sie wissen schon, was ich meine.« Er lächelte verhalten.

Grace warf Oonagh einen triumphierenden Blick zu, den die Schwägerin mit Sicherheit sofort einzuordnen vermochte: Ich habe es euch ja gleich gesagt.

6

Harrys Haufen ähnelte ganz normalen altmodischen Pferdeäpfeln. Die Spurensicherung in ihren weißen Overalls stocherte auf Knien darin herum, während Rory mit dem Handy am Ohr im Sprühregen auf dem Feld auf und ab ging, das den Esel der O’Dowds beheimatet hatte. Er telefonierte mit seiner Vorgesetzten Grace O’Malley, die schon zu ihnen unterwegs war.

»Der Flieger wartet auf dich, Grace. Sag ich doch. Ich habe denen gesagt, dass du in einer Stunde eintrudelst. So gegen elf. Schaffst du das?«

Der Leichnam vom Michael Lynch war in einem glitzernden Leichensack verschwunden. Die Gerichtsmedizinerin Aisling O’Grady, die ihn offenbar kurz zuvor untersucht hatte, stand auf, klopfte sich Gras und Erdspuren von ihrer Jeans ab und kam auf Rory zu. Sie griff sich mit der Hand an den Hals, noch bevor sie den Kommissar erreicht hatte. Er schaute sie fragend an.

»Erdrosselt«, flüsterte sie und begann, ihre Utensilien wieder in ihrem bunten Rucksack zu verstauen. »Wahrscheinlich mit einer Drahtschlinge. Der Abdruck am Hals deutet darauf hin.«

»Er wurde erdrosselt«, gab Rory an seine Chefin weiter.

»Wann war das, Aisling?«

Die rotblonde Medizinerin mit dem Pferdeschwanz, die noch wie ein junges Mädchen aussah, zuckte mit den Schultern. Sie zog skeptisch die Mundwinkel nach unten. »Weiß ich erst nach der Obduktion. Aber keine zwölf Stunden, schätze ich mal.«

Rory zwinkerte ihr zu, wechselte die Telefonhand und wiederholte, was seine Kollegin eben gesagt hatte. »Ja, Grace. Und Kevin ist bei einer Ermittlung in Owenmore. Ich bin allein hier und warte auf dich.«

Er lächelte ein fast verträumtes Lächeln und steuerte auf die Steinmauer zwischen den Feldern zu. Als er stehen blieb, um nachzusehen, ob er gerade in einen weiteren Kotballen getreten war, entdeckte er oben an der Mauerkante einen Zweig mit einigen trockenen Blättern daran. Er hob ihn vorsichtig hoch und winkte der Spurensicherung.

»Wo sollen wir die Zeugen vernehmen, Grace? Im Pub oder besser in Patties Pension? Wir könnten uns auch aufteilen …« Beim Gedanken an die luxuriöse Pension strahlte der rundliche Guard über das ganze Gesicht. »Die Vernehmung bei Pattie könnte ich übernehmen.«

Nun hörte er Grace am anderen Ende der Leitung zu und lachte schließlich unverstellt. »Nein, Grace, nicht weil die Sandwiches bei Pattie besser sind. Obwohl sie es eindeutig sind. – Wie viele Zeugen wir haben?«

Er zog einen halb zerknüllten Zettel aus der Hosentasche, glättete ihn gekonnt mit einer Hand und las vor: »Etwas über zwanzig, denke ich. Obwohl nur ein halbes Dutzend davon wirklich interessant ist, weil sie das Opfer mehr oder weniger gut kannten oder mit ihm gestern Abend noch gesprochen haben. Von den anderen nehmen wir erst mal nur die Daten auf.«

Ein junger Mann im weißen Spusi-Anzug kam auf Rory Coyne zu, der ihm vorsichtig den Zweig in seiner Hand überreichte.

Während der Kommissar wieder seiner Chefin zuhörte, veränderte sich allmählich sein Gesichtsausdruck. »Hmm, das könnte schwierig werden. Lynch stammte aus Delphi in Mayo. Das ist ein anderes County.« Seine Miene war sorgenvoll. »Du meinst, wir bräuchten unter Umständen für die Ermittlung eine Sondergenehmigung? Das glaube ich nicht. Soll ich Byrne dazu anrufen?«

Wieder entstand eine Pause. Rory kratzte sich am Hinterkopf und hörte plötzlich im Regen lautes Vogelgezwitscher. Er blickte sich verwundert um. Es war Aisling O’Gradys Handy, das da zirpte und tirilierte. Sie meldete sich sofort.

Rory versuchte sich auf sein eigenes Gespräch zu konzentrieren. »Aber der Leichenfund war auf Inis Meáin, und das ist eindeutig in Galway«, fügte er hinzu. »Da gibt es bestimmt keine Kompetenzstreitigkeiten mit den Kollegen aus Castlebar. Also, bis gleich, Grace. Und guten Flug!«

Er beendete das Telefonat und ließ das Handy in seiner Uniformtasche verschwinden.

Als er sich gerade noch einmal der Spurensicherung zuwenden wollte, fiel sein Blick auf die Gerichtsmedizinerin. Überrascht stellte er fest, dass sie die Hand mit ihrem Handy weit von sich gestreckt hielt. Allein diese Geste war schon äußerst merkwürdig. Doch noch merkwürdiger war ihr Gesicht. Die junge Medizinerin, deren fröhliches Naturell er bei ihrem deprimierenden Job immer wieder bewundert hatte, stand mitten auf dem Feld der O’Dowds und schluchzte herzzerreißend.

7

Die Vernehmung von Pattie Burke und ihrem Sohn Peter, den Rory schon kannte, seit Grace vor einem halben Jahr ihren Posten in der Garda-Zentrale übernommen hatte, brachte den Kommissar auf eine interessante Spur. Pattie hatte nämlich kurz nach Mitternacht den sagenhaften Green Man als einen der Samhain-Besucher in ihrem Haus gesehen und zumindest undeutlich seine Stimme hinter der Maske gehört. Außerdem war kurz davor eine Gruppe von fünf Leuten, die sich mithilfe von Müllbeuteln vermummt hatten, bei ihr aufgetaucht.

»Das Kostüm des Green Man muss spektakulär gewesen sein«, berichtete Rory seiner Vorgesetzten O’Malley, als sie am späten Vormittag in Patties Pension eintraf.

»Ein Mann mittlerer Größe, mehr wissen wir nicht. Aber wir haben ja auch gerade erst angefangen.«

Rory strich sich sein lockiges dunkles Haar glatt, das oben am Kopf schon etwas spärlicher wuchs und bei dem Grace sich nicht sicher war, ob seine Farbe seit ihrem Amtsantritt nicht noch eine Spur intensiver geworden war. Rory beschrieb ihr das Kostüm des Naturgeistes.

»Er gilt bei uns als keltischer Umweltschützer, wie du vielleicht weißt. Kümmert sich um die Natur, klar, um Bäume und Pflanzen, das Moor mit dem Torf, eben alles, was wir hier so haben.«

Grace musste schmunzeln. Sie mochte die Art, wie ihr Kollege humorvoll und gleichzeitig sachlich über die keltisch-irische Geisterwelt sprach. Unaufgeregt und liebevoll behandelte er die alten Götter.

»Aha. In der Maske des Umweltschützers. Und niemand hat ihn weder davor noch danach gesehen?« Grace knabberte an ihrer Unterlippe.

Rory schüttelte den Kopf.

»Was darauf hindeutet, dass der Green Man möglicherweise nur zu einem einzigen Zweck losgezogen ist – nämlich, um zu morden«, stellte der Kommissar fest.

»Um Michael Lynch zu ermorden, würde ich sagen«, ergänzte Grace.

»Sonst hätten wir es ja mit einem Psychopathen zu tun, der sich auf Halloween spezialisiert hat und wahllos zuschlägt. Aber das hier scheint mir ganz gezielt abgelaufen zu sein.«

»Samhain, nicht Halloween«, korrigierte er sie. «Die irische Nacht. Aber du hast recht, er hatte es wohl auf Lynch abgesehen. Er hat sich bei Pattie nach ihm erkundigt und sie hat ihn ahnungslos auf die richtige Fährte gesetzt. Psychopathen haben wir hier zwar auch, aber die Kategorie, die du beschreibst, ist wohl eher in Skandinavien zu Hause, wenn man den Kriminalromanen glauben darf.«

Grace machte sich auf ihrem Pad Notizen und nahm sich eins der leckeren Krebssandwiches, die Pattie ihnen kurz zuvor auf die Mahagoni-Anrichte gestellt hatte.

»Ach, Rory.«

Er zögerte und schaute seiner Vorgesetzten dabei zu, wie sie genussvoll in ihr Brot biss. Er musste schlucken.

»Deshalb suchen wir also jetzt nach einem Green Man.«

Rory nickte. Dann griff er ebenfalls nach einem der Häppchen. Er konnte einfach nicht anders. Es war schon sein drittes und er fand sie unwiderstehlich köstlich.

»Ich habe übrigens in dem Feld, wo wir die Leiche gefunden haben …«

»Wissen wir schon, ob man ihn auch dort ermordet hat?«, unterbrach ihn die Kommissarin.

»Nein. Aber ich hab auf der Mauer einen Zweig mit trockenen Blättern gefunden, der dort nicht hingehört. Da gibt es weit und breit keinen Baum – allerdings …« An dieser Stelle senkte er theatralisch die Stimme. »… gehörte der mit ziemlicher Sicherheit zum Kostüm des Green Man, wenn wir der genauen Beschreibung von Pattie Burke Glauben schenken dürfen.«

Grace setzte sich auf das gemütliche Chesterfield in Patties Wohnzimmer und schlug die Beine übereinander. Heute trug sie ausnahmsweise mal Jeans, denn sie hatte ja eigentlich mit ihrem Neffen den Slievemore, den höchsten Berg auf Achill Island, besteigen wollen.

»Was wissen wir über das Opfer?«