Irisches Verhängnis - Hannah O'Brien - E-Book
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Irisches Verhängnis E-Book

Hannah O'Brien

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Beschreibung

Grausame Morde auf der grünen Insel Nach einem längeren Auslandsaufenthalt kehrt die ehrgeizige Polizistin Grace O´Malley nach Irland zurück und übernimmt dort die Leitung des Morddezernats in Galway. Ihr erster Fall, der Mord an der jungen Studentin Annie, hat es in sich: Gleich drei prominente Männer geraten in den Fokus ihrer Ermittlungen. Und alle drei scheinen etwas zu verbergen. Als kurze Zeit später zwei von ihnen ebenfalls tot sind, gerät Grace zunehmend unter Druck. Die Ereignisse überstürzen sich, als auch noch ihre Tochter spurlos verschwindet ...

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Hannah O’Brien

Irisches Verhängnis

Kriminalroman

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

 

 

»Ist hier die Erde zu Ende?«

Graínne rieb sich die Augen und schaute dann wieder auf das Meer. Sie muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, als sie ihrem Vater bei einem der gemeinsamen Streifzüge entlang des silbrig weichen Sandteppichs der Küste vor Achill Island diese Frage gestellt hatte. Das Meer war über den unendlichen Strand in weißköpfigen Wellen auf sie zugerollt, hatte an ihren nackten Füßen geleckt und ihr versprochen, ihr etwas zu erzählen, wenn sie nur in der Nähe bleiben möge.

Shaun hatte sich zu ihr umgedreht, den Mund zu seinem leicht schiefen Lächeln verzogen, und seine Tochter fest an die Hand genommen. Sein rechter Arm beschrieb einen Halbkreis über dem Wasser.

»Du hast recht, Graínne, hier ist zwar die Erde zu Ende, aber nicht unsere Welt.«

Sie hatte wissend genickt. Diese Antwort genügte ihr.

Sie schlenderten ein Stück über den nassen Sand, der unter ihren Schritten zu federn schien.

»Und warum kommt das Wasser immer wieder zu uns zurück?«, fragte das kleine Mädchen.

Shaun blieb stehen und beugte sich zu ihr hinunter. Ihre braunen langen Locken waren von einer Windbö frech vor ihr Gesicht geschoben worden und verdeckten es halb. Nur die Nasenspitze blinzelte noch hervor. Sanft strich er seiner kleinen Tochter das Haar aus der Stirn. Er lachte sie vergnügt an, und sie wusste, dass sie nun gut aufpassen musste.

»Es kehrt immer zu uns zurück, weil es genau weiß, dass wir es erwarten. Es hat versprochen zurückzukommen und will uns nicht enttäuschen.«

Die kleine Graínne Ni Mháille dachte nach, während sie ihren Blick über den Ozean schweifen ließ. Schließlich schaute sie zu ihrem Vater auf.

»Und wenn wir mal weggehen?«

»Du meinst, weg von hier? Weg von unserer irischen Küste?«

Graínne nickte heftig. Nun musste ihr Vater nachdenken.

»Das macht dem Meer nichts aus, weil es weiß, dass wir eines Tages wiederkommen. Und dann ist es da, als wäre nichts geschehen.«

 

Grace O’Malley schaute lange auf den fast unendlichen Sandstreifen über der Galway Bay. Das Meer hatte sich so weit zurückgezogen, dass man Mühe hatte, es in der Ferne noch zu entdecken. Heute war es ruhig und spiegelglatt, wie man es nur sehr selten hier erlebte. Man hatte fast den Eindruck, es habe sich mit Absicht aus dem Staub gemacht. Kein Windhauch war zu spüren. Der Himmel verlor sich am Horizont in gestreiften Aquarellfarben: lila und pink, gelb und hellblau. Darunter breitete sich der Atlantik behutsam wie eine schimmernde Decke aus, schon auf dem Sprung, an das Gestade der alten Stadt mit den grauen Steinen zurückzukehren.

Auch sie war zurückgekehrt. Sie hatte Wort gehalten. Wie das Meer.

1

Grace hielt sich die Ohren zu. Doch das furchtbare Geräusch verschwand einfach nicht. Stattdessen bohrte es sich wie eine Schraube gnadenlos in ihr Gehirn und hakte sich fest. Es gab kein Entkommen.

Die Verzweiflung über ihr Ausgeliefertsein überflutete sie. Sie spürte ihre Hände nicht mehr. O Gott, wo waren ihre Hände? Hatte man sie ihr weggerissen? Das Inferno in ihren Ohren war für einen kurzen Moment verstummt, doch nur, um gleich darauf umso quälender fortzufahren. Laut, hart und erschreckend böse.

Grace schrie auf und schreckte hoch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich erinnerte, wo sie eigentlich war. Sie lag in ihrem Bett in der Wohnung, die sie vor knapp einer Woche bezogen hatte. Das Handy neben ihr auf dem kleinen Hocker, den sie provisorisch als Nachttisch benutzte, dudelte immer wieder die gleiche Melodie. Im Halbdunkel des Raumes klang das Kinderlied seltsam bizarr. Die Luft war stickig, obwohl sie das Schiebefenster halb geöffnet hatte. Sie erinnerte sich vage, dass es rechts neben ihr an der Wand einen Knopf gab. Sie tastete herum, fand ihn, und das sanfte Licht nahm dem Raum sofort seinen Schrecken.

Grace beruhigte sich ein wenig, rutschte auf die Bettkante und berührte mit ihren nackten Füßen den kalten, gekachelten Fußboden. Schließlich nahm sie den Anruf an. Obwohl sie nicht im Dienst war.

»O’Malley.« Nach ihrem Umzug von Dänemark nach Irland hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, sich nur mit dem knappen »Hi« zu melden, wie das in ihrer alten Heimat üblich war.

»Hier ist dein Bruder. Du schläfst hoffentlich noch nicht?«

Sie seufzte leise und schaute auf ihre kleine Armbanduhr mit dem roten Lederband auf dem Tischchen. Zehn Minuten nach zwölf.

»Dara?« Sie musste gähnen. Ihr Blick fiel auf das blau gerahmte Foto eines dunkelhaarigen Mädchens, das mit einem streng geschnittenen Pagenschnitt in die Kamera starrte. Ungewöhnlich ernst für einen vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alten Teenager. Grace hielt dem Blick des Mädchens stand. Dann lächelte sie.

»Du hast nur mich.« Dann fügte er fast entschuldigend hinzu: »Als Bruder, meine ich.«

»Ist etwas passiert? Es ist mitten in der Nacht.« Sie fuhr sich mit der Hand durch ihre Lockenmähne und schwieg. Das übergroße gelbe T-Shirt, das ihr als Nachthemd diente, rutschte von ihrer Schulter. Sie zog es zurück und wartete. Ihr Bruder brauchte manchmal Zeit. Mehr Zeit als sie.

»Ja, ich weiß. Entschuldige. Wenn Oonagh mich nicht so gedrängt hätte, hätte ich auch nicht um diese Zeit angerufen, glaub mir. Aber …«

»Ist etwas mit den Kindern?« Grace strich sich die langen Haare aus der Stirn und merkte, dass sie geschwitzt hatte. Mit einer Hand versuchte sie, eine verklebte Strähne aufzudröseln.

»Roisin ist weg.«

»Was heißt das, sie ist weg? Ein vierzehnjähriges Mädchen verschwindet nicht einfach so.« Grace klang eher verblüfft als alarmiert. Wieder schaute sie das Bild auf ihrem Nachttisch an. Sie hatte es so gestellt, dass sie es sofort sehen konnte, wenn sie aufwachte.

»Du weißt besser als ich, ob es normal ist, dass Kinder verschwinden. Du bist die Polizei, nicht ich.« Dara räusperte sich. Seine Stimme klang irgendwie anders als sonst.

»Seit wann ist sie verschwunden?« Sie versuchte, ruhig zu bleiben.

»Seit gestern. Wir hatten angenommen, dass sie bei einer ihrer Freundinnen übernachtet, was sie öfter macht, aber als Oonagh vorhin noch einmal dort anrief, um sie etwas zu fragen, stellten wir fest, dass sie nicht da war. Dann …«

»Warum habt ihr mich nicht sofort angerufen?« Grace versuchte ganz bewusst, nicht vorwurfsvoll, sondern sachlich zu klingen, wie eine Polizistin.

Dara machte eine Pause und Grace wartete ungeduldig. »Wir haben dann alle anderen in Frage kommenden Freundinnen kontaktiert, um sicherzugehen, dass sie nicht woanders übernachtet. Das hat gedauert. Schließlich haben wir Declan aufgeweckt und gefragt.«

Grace war aufgestanden und barfuß ins andere Zimmer gegangen. Schnell schloss sie die Vorhänge. Sie hatte am Abend vergessen, sie zuzuziehen. Im Wohnblock gegenüber brannte noch in einigen Fenstern Licht. Rechts lag das Meer dunkel und ruhig, wie vorhin, als sie einen Abendspaziergang gemacht hatte. Es schien, als wartete es auf etwas. Aber vielleicht wartete das Meer immer.

»Wieso Declan? Was kann denn ein zehnjähriges Kind wissen?«

»Die wissen mehr, als du denkst! Er ist doch kein Baby mehr!«

Es war die energische Stimme ihrer Schwägerin, die nun offenbar den Hörer übernommen hatte, oder, wie Grace eher vermutete, ihn ihrem Bruder ungeduldig aus der Hand gerissen hatte.

»Du kennst dich mit Kindern nun wirklich nicht besonders gut aus. Geschwister wissen oft mehr voneinander, als Eltern vermuten. War das bei euch beiden nicht so?«

Grace schwieg, und auch Dara sagte offenbar nichts dazu.

»Roisin hat Declan vor Kurzem sogar zur Beichte mitgenommen.« In Oonaghs Stimme schwang ein kleiner Triumph mit. Oder bildete sich Grace das nur ein? Was hatte ihre Schwägerin da gerade gesagt? Der großzügige Raum erschien Grace auf einmal noch stickiger und völlig ungelüftet.

»Zu was hat sie Declan mitgenommen?« Obwohl ihr Herz schnell und hörbar laut klopfte, klang ihre Stimme nach wie vor dunkel und abgeklärt, ganz im Gegensatz zur aufgeregten Tonlage ihrer Schwägerin.

»Roisin ist in letzter Zeit eben ein bisschen merkwürdig geworden. In dem Alter durchlaufen sie Phasen. Das ist ganz normal. Kein Grund zur Sorge.«

»Was meinst du mit merkwürdig?« Grace war unsicher. Sie musste sich erst wieder an diese vagen Formulierungen gewöhnen, die man in Irland bevorzugt verwendete. In Dänemark, wo sie die letzten fünf Jahre gelebt und gearbeitet hatte, war man meist viel direkter gewesen, sprachlich gesehen zumindest.

»Na, sie surfte neuerdings ein wenig auf der Fundi-Schiene.«

»Fundi-Schiene?« Grace fuhr sich mit der freien Hand durch das lange Haar, schnappte sich eine Strähne und knabberte an deren dürrem Ende herum.

»Katholischer Fundamentalismus. Ist im Moment ziemlich angesagt.« Oonaghs Stimme klang nun eindeutig belehrend, fand Grace. Sie schluckte.

»Ich war der Meinung, dass wir den hier auf der Insel endlich hinter uns gelassen haben.«

»Ist ja auch nur eine Modeerscheinung, Grace. Total retro und gerade angesagt bei der Jugend. Vorübergehend. Das ist der Unterschied zu früher. Also, mach dir keine Sorgen.«

Sie konnte es nicht mehr hören. Mach dir keine Sorgen. Jeder dritte Satz auf der Insel lautete so. Schamlose Verniedlichung. Sie spürte beißenden Sarkasmus in sich aufsteigen. Vorsicht. Sie durfte nicht unfair werden. Sie war noch keinen Monat wieder zurück. Sie musste den Iren Zeit geben. Sie war selbst Irin, dachte sie, trotz ihrer dänischen Mutter, die es damals aber auch vorgezogen hatte, hier und nicht in Dänemark zu leben. Irland war ihre Heimat. Sie musste sich und dem Land Zeit geben.

Ihre Schwägerin hatte inzwischen weitergeredet. »… aber Declan hatte keine Ahnung, wo Roisin sein könnte. Wir werden morgen früh gleich St. Joseph’s und Roisins Beichtvater Father Antony kontaktieren.«

»Beichtvater? Ich dachte, sie sei zuletzt mehr in der Gothic-Ecke engagiert gewesen. Du weißt schon, diese Gruftis in schwarz, bleich, rot?«

»Bis kurz vor Ostern. Jetzt ist Ende Mai.« Oonagh klang nun wieder völlig unaufgeregt, fast lässig, als habe sie die Situation im Griff.

»Und die Polizei? Habt ihr Gardai informiert?«

Oonaghs Stimme wirkte überrascht, als sie antwortete. »Aber hiermit haben wir ja die Polizei informiert. Du bist doch Garda, oder?«

Grace schüttelte ungläubig den Kopf.

»Aber ich gehöre nicht zur Garda in Dalkey in der Grafschaft Dublin, sondern sitze nun mal in Galway, am entgegengesetzten Ende unserer hübschen Insel. Die ist zwar klein, aber nicht wirklich winzig. Ich könnte sofort morgen früh einen Flieger zu euch nehmen, hier passiert eh nichts im Moment. Ich kann doch nicht so unbeteiligt hier herumsitzen. Es betrifft mich doch genauso.«

Auf einmal spürte Grace, dass sie keine Chance mehr hatte, die aufsteigende Angst zu ignorieren. Den Hörer ans Ohr gepresst, begann sie, unruhig hin- und herzulaufen.

Oonagh schien die Situation inzwischen neu zu überdenken. Sie hatte offensichtlich die Hand über den Hörer gelegt und redete mit Dara.

Vor ein paar Tagen, genauer gesagt, vor einer Woche, hatte Grace ihre neue Stelle als Leiterin des Morddezernats bei Garda, wie sich die unbewaffnete irische Polizei nannte, in Galway angetreten. Grace hatte sofort gespürt, dass einige der neuen Kollegen, vielleicht sogar fast alle, ihr höflich, doch ablehnend gegenüberstanden. Sie hatte bisher versucht, das zu ignorieren, was ihr weitgehend gelungen war. Da kein Mordfall passiert war, der eindeutig in ihre Zuständigkeit gefallen wäre, hatte man sie bisher mit Arbeit verschont oder, weniger nett ausgedrückt, hatte man sie bei der Verteilung der anfallenden Arbeit bisher umgangen. So hatte sie die Zeit zum Kennenlernen der viertgrößten Stadt Irlands und der örtlichen Verhältnisse genutzt. Außerdem hatte sie einiges an Energie aufwenden müssen, ihrem Onkel Jim nicht über den Weg zu laufen.

»Wir werden sofort Garda in Dalkey informieren. Versprochen.« Das war wieder Dara. »Du brauchst wirklich nicht rüberzukommen. Leb dich erst mal ein. Es wird sich alles aufklären. Wir schaffen das allein.«

Grace zögerte einen Moment und saugte an ihrer Unterlippe. »Warum habt ihr mir nicht von Roisins Veränderung erzählt?« Sie zögerte einen Moment. »Das hätte ich als Mutter gern gewusst.«

»Äh …«

Daras »Ähs« hatte sie schon als Kind gehasst.

Blitzschnell übernahm wieder Oonagh das Gespräch, und Grace merkte an ihrem schnellen Atem, dass sie wütend war.

»Weißt du, Grace. Roisin lebt nun schon seit ihrer Geburt bei uns. Wir sehen uns daher eigentlich als ihre Eltern an, auch wenn wir sie nicht adoptiert haben. Das hat dir ja bisher immer gut in den Kram gepasst. Da haben wir, dein Bruder und ich, schon lange kein Gefühl mehr dafür, wie viel oder wie wenig Mutter es bei dir sein darf. Beantwortet das deine Frage? Wir halten dich auf dem Laufenden. Gute Nacht.«

Sie hatte aufgelegt. Grace stand still im Zimmer. Ein Gefühl von Leere und Nutzlosigkeit breitete sich in ihr aus. Schließlich ließ sie sich auf das cremefarbene Ledersofa fallen. Das Leder klebte bei jeder Bewegung an ihrer nackten Haut. Sie fand das Ding abscheulich, doch es war Teil der Möblierung dieses recht teuren Appartements, das sie vorübergehend gemietet hatte. Ihr Blick fiel auf den traurigen bunten Rosenstrauß, dessen Blüten bereits verwelkt waren. Zum Einzug hatte sie ihn sich als Begrüßung auf den niedrigen Holztisch gestellt. Bald würde sie etwas Eigenes finden. Und dann würde sie bleiben. Bald würde ihr Leben in normalen Bahnen laufen. Vielleicht sogar mit Roisin. Sie zog die Knie zu sich ran und ahnte, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.

2

»Junge weibliche Leiche in Salthill, Grace!«

Es war noch früh am Morgen, doch Grace saß bereits an ihrem Schreibtisch in der Polizeizentrale. Was hatte ihr Kollege da gerade gerufen?

Noch bevor sie Rory Coyne um die Ecke biegen sah, hörte sie schon seine kräftige und melodische Stimme im Korridor vor ihrem Büro. Grace wurde noch etwas blasser, als sie heute Morgen sowieso schon war. Schnell stand sie auf und langte nach ihrer großen knallroten Schultertasche, die sie mit dem Fuß unter den Schreibtisch geschoben hatte. Da erschien Rorys leicht gerötetes Gesicht in der Tür.

»Wie alt?« Grace blickte den etwas stämmigen Kollegen fragend an.

Rory zuckte mit den Schultern.

»Der Mann von der Geisterbahn, der sie gefunden hat, hat nur gesagt, jung. Das kann ja alles sein. Wir fahren hin. Die Spurensicherung ist schon auf dem Weg zum Rummelplatz. Toi toi toi, Grace. Dein erster Fall bei uns.«

Er lächelte ihr erwartungsvoll zu. In seiner Stimme schwang eine Spur von Feierlichkeit mit. Dankbar erwiderte sie das Lächeln.

»Auf geht’s, Rory.« Sie warf noch einen Blick zurück auf ihren leeren Schreibtisch. Leere Schreibtische hatte sie schon immer deprimierend gefunden.

Als sie sich in der Tür an ihm vorbeizwängen wollte, wich Rory zurück. »Tut mir leid. Ich steh im Weg.«

Einen Moment lang schaute sie ihn irritiert an. Sie strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und kräuselte ihre Nase, wie sie es schon als Kind getan hatte. Dann lächelte sie.

»Du stehst nicht im Weg. Ich hätte nicht drängeln sollen. Wenn sich jemand entschuldigt, dann ich.«

Rory blickte sie aus seinen dunklen Augen an und wirkte fast etwas verlegen, als er schnell sagte: »Ich bin froh, dass du hier bist.« Es klang fast wie ein Geständnis.

Grace schaute ihren Kollegen nachdenklich an. Da sie recht groß war, waren sie fast auf Augenhöhe. »Das glaube ich dir sofort. Du kannst nicht lügen. Nur bist du da wahrscheinlich der Einzige hier.«

»Der nicht lügt?«

»Das auch. Ich meinte aber, der sich darüber freut, dass ich hier bin.« Sie ging ihm mit schnellen Schritten voraus. Rory folgte ihr durch den tristen Korridor, der menschenleer war. Vor wenigen Minuten hatte die Nachricht von dem Leichenfund noch eine gewisse Hektik in der Polizeizentrale ausgelöst. Jetzt waren alle in ihren Büros wie in einem weit verzweigten Kaninchenbau verschwunden.

Gemeinsam gingen sie zum Wagen. Grace bat Rory zu fahren, da sie sich noch nicht gut genug auskannte und die Garda-Zentrale mitten in einem unentwirrbaren Knäuel von schmalen Gässchen lag. Zur Freude der vielen Besucher hatte die alte Hafenstadt Galway sich ihren mittelalterlichen Stadtkern bewahren können. Verkehrstechnisch gesehen, war das jedoch eine Katastrophe, vor allem, wenn man es eilig hatte. Die meisten Gassen waren entweder komplett für den Autoverkehr gesperrt oder wiesen ein undurchschaubares Einbahnstraßennetz auf, das sogar Ortskundige zur Verzweiflung brachte.

Der Rummelplatz befand sich im Stadtteil Salthill, an der Uferpromenade, die sich von Galway aus westlich in die Bucht hinein erstreckte. Als sie eintrafen, war bereits alles abgesperrt, und es drängelten sich zahlreiche Schaulustige vor dem gestreiften Band.

»Jesus, schon wieder ein Mord in unserer schönen Stadt!«

Es war eine krächzende Frauenstimme, die aus der Menge heraus geschrien hatte. Grace warf Rory einen fragenden Blick zu. Der winkte ab.

»Der letzte Mord hier liegt fast zwei Jahre zurück. Typische Übertreibung aller Westländer.« Er schmunzelte und strich sich seine Uniformjacke glatt, die über seinem Bauch immer etwas spannte.

Bis auf die leitenden Detectives, zu denen auch Grace gehörte, trugen alle Mitglieder der Garda die vorgeschriebene blaue Uniform. Und nur die Detectives waren bewaffnet, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Garda hatte sich, was das betraf, bei der Staatsgründung 1922 an den ehemaligen englischen Kolonialherren orientiert, die bis heute von einer moralischen Autorität ausgingen, die nicht auf den Einsatz von Waffen begründet sein sollte.

Als sie die Frauenleiche sah, verspürte Grace kurz eine gewisse Erleichterung. Bevor sie heute früh in die Polizeizentrale gegangen war, hatte sie mehrmals vergeblich versucht, ihren Bruder telefonisch zu erreichen, um eventuell Neues von Roisin zu erfahren.

Ein gut aussehendes junges Mädchen mit rotblondem Schopf und Sommersprossen auf der Nase kam in lustigen gelbgrünen Sneakers auf sie zu. Sie streckte Grace die Hand entgegen. »O’Grady. Aisling.«

Fragend zog Grace die Augenbrauen hoch.

»Forensik. Ich war bei deinem Einstand noch in Urlaub. Schön, dass du bei uns bist.« Sie drückte ihre Hand noch etwas fester, bevor sie sie wieder losließ.

Die junge Frau, der sie nie und nimmer die Rechtsmedizinerin angesehen hätte, klang herzlich und ehrlich. Vielleicht war sie doch nicht ganz alleine, dachte Grace beruhigt. »Danke. Ich freue mich auch.«

Sie folgten Aisling zum Fundort der Leiche. Es war ein grellbunt bemalter Geisterbahnwagen, auf dem ein eher lächerlich als gruselig wirkendes, violettes Skelett aufreizend winkte. Die Sitze waren mit einem verblichenen grünen Plastikbezug bespannt und wiesen Risse auf. Grace kniete sich neben die Tote, die unnatürlich verrenkt auf dem Sitz lag, als habe man sie so drapiert.

Die Frau war schätzungsweise um die dreißig und trug keine Alltagskleidung, sondern war eindeutig zum Ausgehen zurechtgemacht. Vielleicht eine Spur zu auffällig. Es wirkte irgendwie verkleidet, fand Grace.

»Wir haben mehrere tiefe Stichwunden im Halsbereich festgestellt. Hier.« O’Grady wies auf die tiefen Einstiche an der Halsschlagader.

»Da wusste jemand, was er tat.« Rory fotografierte und machte sich Notizen. Grace nickte ihm zu. »Großer Blutverlust?«

Aisling zögerte. »Im Moment schwer zu sagen. Ich glaube nicht, dass sie hier ermordet wurde. Sie wurde erst später hier abgelegt. Als man die Bahn heute für die erste Fahrt des Tages überprüfte, haben sie sie gefunden. Im Wagen gab es so gut wie keine Blutspuren. Die Spurensicherung untersucht das noch weiter.«

O’Grady machte sich am Kopf der Leiche zu schaffen. Vorsichtig tastete sie die Kopfhaut der toten Frau ab.

»Schaut mal hier! Das finde ich interessant.« Aisling deutete auf eine Stelle am Hinterkopf der Frau. »Das ist ein richtig großes Hämatom, eine faustdicke Beule. Könnte signifikant sein.«

»Du meinst, möglicherweise tödlich?«

»Vielleicht.« Die junge Ärztin arbeitete konzentriert weiter. Schließlich standen beide Frauen fast gleichzeitig auf.

»Genaues weiß ich erst nach der Obduktion. Machen wir so schnell wie …«, Aisling zögerte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden, »… wie schon lange nicht mehr.«

Sie grinste in Rorys Richtung. Der grinste sofort zurück.

»Ich dachte, ihr habt hier schon länger keine Leiche mehr gehabt?«, wandte Grace ein. Ihre beiden Kollegen wechselten amüsierte Blicke.

»Das stimmt schon. Nicht direkt in Galway. Aber wir kriegen mal ab und zu eine aus Clifden oder Cong geschickt.«

»Geschenkt«, ergänzte die Rechtsmedizinerin und kicherte.

»Das fällt ja auch in unser Gebiet. Alles was im schönen Connemara mausetot gemacht wird.« Sein Kopf deutete eine kleine Kreisbewegung an.

»Aha. Verstehe.«

Aber Grace verstand nicht. Sie konnte mit den Anspielungen ihrer beiden Kollegen nichts anfangen. Deshalb lenkte sie ihre gesamte Aufmerksamkeit wieder auf die Tote.

Die Frau war recht stark geschminkt, auch wenn ein Teil der Schminke nun verschmiert war und das ursprünglich erwünschte Ergebnis entschieden verfälschte. Im Widerspruch dazu stand ihr eher braves halblanges mittelblondes Haar.

»Die Haare«, murmelte Grace, »sie war im letzten Jahr wohl kaum bei einem Friseur gewesen. Die Frisur sieht nach einem Do-it-yourself-Schnitt vor dem Spiegel aus.« Sie hatte das halb zu sich gesprochen, doch Rory sprang sofort darauf an.

»Das steht dann im Gegensatz zu ihrem … na ja, so, wie sie aufgedonnert ist. Sie sieht ja fast wie eine von denen aus, die bei den Races in der Bar des Bay Hotels herumlungern.«

»Du meinst die Nutten, die in Luxushotels anschaffen? Glaubst du, das ist eine Professionelle?« O’Grady klang interessiert. Abwartend schaute Grace ihren Kollegen an. Rory wiegte seinen runden Kopf mit den schwarzen Locken bedächtig hin und her.

Grace ärgerte sich über ihre eigene Unsicherheit. Natürlich gab es viele Ähnlichkeiten zwischen Dänemark und Irland, aber mindestens ebenso viele unterschiedliche Alltagsgewohnheiten, Dresscodes und regionale oder traditionelle Verweise. Gerade wenn man im Fall eines Kapitalverbrechens ermittelte, war es wichtig, sich perfekt darin auszukennen. Sie musste sich das alles erst wieder erarbeiten, und sie wusste, dass das ein starkes Argument gegen ihre Einstellung bei Garda gewesen war.

»Könnte sein. Guck mal die Schuhe an«, sagte Rory zögernd.

Die waren auch Grace sofort aufgefallen. Giftgrüne, abenteuerlich hochhackige Stilettos, die an den Fesselriemchen mit Strasssteinchen verziert waren.

»Die gehören ihr nicht«, murmelte Grace mehr zu sich.

»Wie? Die gehören ihr nicht? Sie hat sie doch an.« Rory klang verblüfft. Auch Aisling hielt einen Moment mit ihrer Untersuchung inne und schaute auf.

»Die gehörten ihr nicht. Die hat man ihr angezogen. Wahrscheinlich, nachdem sie tot war. Die sind ihr nämlich mindestens zwei Nummern zu groß.«

Immer noch klang Graces Stimme fast ein wenig unbeteiligt.

Rory pfiff durch die Zähne, und die Gerichtsmedizinerin grinste breit. »Das kannst du so auf Anhieb erkennen?«

Grace nickte und stand auf. Mit der Hand klopfte sie den Staub von ihrem Rock. Sie trug gerne Röcke und Kleider. Obwohl es in ihrem Job praktischer gewesen wäre, schlüpfte sie relativ selten in Hosen. Jeans verabscheute sie geradezu und besaß deshalb auch nur eine einzige, die noch aus ihrer Teenagerzeit stammte, in die sie aber immer noch hineinpasste.

Rory war begeistert. »Das ist super. Sag ich doch. Das fällt keinem Mann auf, zumindest nicht sofort.«

»Und du musst es ja wissen, Rory.« O’Grady stupste ihn vielsagend an. Sie lachte dabei so laut, dass die drei Männer in Weiß von der Spurensicherung kurz ihre Köpfe hoben und sie angrinsten.

»Nun weiht mich doch bitte mal ein.« Grace schaute auffordernd von einem zum anderen.

»Rory hat es mit den Frauen und kennt sich echt aus.«

»Ach?« Sie hatte in ihrem Kollegen in der kurzen Zeit, die sie hier war, nicht unbedingt den Frauenexperten gesehen und schon gar nicht den Schürzenjäger, falls die Rechtsmedizinerin darauf angespielt hatte.

»Rory lebt mit sieben Frauen zusammen. Der weiß, wovon er spricht.« O’Grady drehte sich lachend weg und wandte sich wieder der Toten zu. Sie winkte jemandem von der Spurensicherung.

»Ich lebe mit Mrs Coyne und unseren sechs Töchtern. Das meint sie.«

Er war pinkfarben angelaufen, und Grace überlegte kurz, ob sie lachen durfte. In Irland war man auch an Mordschauplätzen schon mal heiter, ohne dabei pietätlos zu wirken. Das hatte sie seit ihrer Ausbildungszeit in Templemore, der Garda-Akademie in Tipperary, fast vergessen.

In dem Moment klingelte ihr Handy. Alle starrten sie entgeistert an. Ich muss den Klingelton ändern, dachte Grace. Sofort, auf der Stelle. Sie fischte es aus ihrer Tasche und trat ein paar Schritte zur Seite, weg von der Leiche und den anderen.

»Ja?« Ihre Stimme blieb sachlich, als sie dem Anrufer mitteilte, dass sie im Moment nicht sprechen könne. Schließlich sagte sie »Danke, Dara, ich melde mich« und beendete das Gespräch.

»Sind wir hier fertig?«, fragte Rory. Während des kurzen Telefonats hatte er sie aufmerksam beobachtet. Sie nickte abwesend.

»Da ist noch etwas, was wir nicht vergessen dürfen.« Rorys Stimme klang zwar leise, doch bestimmt. Grace ließ das Handy in die Tasche ihres roten Blazers gleiten.

»Das Seidentop, das sie trägt, ist stark zerknittert.« Rory sagte es, als sei es ihm fast peinlich, diese Tatsache besonders hervorzuheben.

Graces Augenbrauen schossen in die Höhe. Sie bückte sich und befühlte vorsichtig den Stoff. »Richtig. Und es ist auf eine ganz bestimmte Weise zerknittert.«

»Ist Knitter nicht gleich Knitter?« Nun klang Rory unsicher.

»Nein. So knittert billige Seide nur, wenn sie nass geworden ist und dann trocknet, ohne gebügelt zu werden.« Grace stand wieder auf.

Wieder pfiff Rory. Das musste sie ihm unbedingt abgewöhnen. Es klang in ihren Ohren irgendwie anzüglich.

»So knittert Seide, wenn man damit zum Beispiel unerwartet in einen Regenguss kommt.«

Rory dachte nach. Grace schaute ihn an und ließ ihm Zeit. War es Zufall oder Absicht gewesen, die Tote hier zu deponieren?, ging es ihr durch den Kopf. Wenn man eine Leiche erfolgreich verschwinden lassen wollte, standen einem hier unmittelbar das Moor und die Berge zur Verfügung. Warum also ausgerechnet auf einem Rummelplatz, wo sie sofort gefunden werden würde? Offensichtlich war es also genau das, was der Mörder beabsichtigt hatte. War das eine Drohung, eine Botschaft?

Rory unterbrach ihre Gedankengänge. »Aber es hat in Galway wundersamerweise seit gut einer Woche nicht mehr geregnet.« Er blinzelte dabei, als habe er gerade ein Geheimnis preisgegeben.

3

Als sie gegen Mittag das Spaniard’s Head betrat, war es noch halb leer. Grace schaute sich im ersten der vier niedrigen Schankräume um und steuerte dann die Bar an, an der sich im Moment niemand aufhielt, weder davor noch dahinter. Sie hatte gehofft, Fitz anzutreffen. Der Mittvierziger erinnerte sie immer ein wenig an diesen österreichischen Schauspieler, der im fernen Hollywood eine Oscar-Karriere gemacht hatte. Fitz sah ihm ähnlich, wirkte immer leicht distanziert, doch humorvoll, mit lachenden Augen. Grace fand ihn, wie sie sich aber nur zögernd eingestand, attraktiv. Nur ein ganz kleines bisschen. Schon als junges Mädchen hatte sie Schwierigkeiten damit gehabt, sich selbst einzugestehen, dass ihr ein Mann gefiel. Das hatte sich fast zwanzig Jahre später nicht geändert. Und auf gar keinen Fall würde sie anderen gegenüber irgendeine Andeutung machen.

Sie hatte gehört, dass Fitz, der mit vollem Namen Padraig Fitzgibbon hieß, aus Limerick stammte und angeblich sogar einen Doktortitel besaß, vor einiger Zeit diesen heruntergekommenen Pub im Zentrum von Galway übernommen hatte. In kürzester Zeit wurde der Spaniard’s Head zu einem der wichtigsten Treffpunkte der Stadt, zu dem es Musiker wie Studenten, Banker, Makler, Touristen und Politiker zog. Schnorrer und Alkoholiker inklusive. Die bildeten, wie in jedem irischen Pub, zusammen mit den Heiligenbildchen grundsätzlich den imaginären Stammtisch. Niemand in Galway hatte den rasanten Erfolg des Pubs erklären können. Die lebendige Universitätsstadt, einst Hort von Piraten und spanischen Möchtegern-Eroberern, besaß immer schon eine unübersehbare Auswahl an exzellenten Einkehrmöglichkeiten.

Auch unternehmungslustige Frauen tummelten sich zu jeder Tageszeit im Pub. In der Mittagszeit strömten sie in dunkelblauem Businessdress und fließenden Blusen in Vierer- oder Fünfergrüppchen aus den Büros der Umgebung hierher. Dann nippten sie an Mineralwassern aus irgendeiner Quelle, die unweigerlich mit »Bally« anfing. Die Stimmung im Spaniard’s Head war immer aufgeräumt, auch schon kurz nachdem sich um elf Uhr morgens die Türen geöffnet hatten.

Grace zog sich auf einen der wenigen schwarzen Barstühle und schaute sich noch einmal um. In der Ecke saßen ein paar junge Leute und versuchten sich an Musik. Ein einsames Banjo klimperte und eine schrille Tin Whistle lamentierte dazu. Grace mochte irische Musik, doch auf fast nüchternen Magen fand sie sie nur schwer genießbar. Ihr Blick fiel auf den großen Bildschirm über der Tür, der wie fast überall ohne Ton lief. In Dänemark waren Fernseher in vielen Kneipen verpönt, es sei denn, man ging in ein dafür ausgewiesenes Etablissement, das sich meist auf Sportprogramme spezialisiert hatte. In Irland dagegen hatte der Fernseher in den Pubs seit den frühesten Tagen der flimmernden Mattscheibe ein Tor zur Welt dargestellt. So hatte es ihr Vater einmal erklärt.

Heute war diese Funktion für die Ryan Air Generation, wie die irischen Medien die jungen Leute, die jedes Wochenende ans andere Ende Europas hüpften, nannten, überflüssig geworden. Der laufende Fernseher blieb jedoch ein Überbleibsel aus jener Zeit, so wie das schlecht gerahmte Bild von John F. Kennedy und die vergilbten Pilgerdrucke von Johannes Paul II., die mit Tesafilm an den Wänden der meisten irischen Gaststätten klebten. Im Spaniard’s Head fehlten zwar Papst wie Präsident, doch der Fernseher lief verlässlich.

Grace verfolgte mit einem Auge die Kochsendung, die gerade lief. Ein hübscher junger Mann im Ringel-T-Shirt mit halblangen goldenen Locken filetierte eine Seezunge. Während er das weiße Fleisch erst tätschelte und es dann vorsichtig mit einer Marinade beträufelte, redete er unaufhörlich. Grace betrachtete den Koch fasziniert, obwohl sie Kochsendungen eigentlich völlig uninteressant fand. Als sie sich wieder zur Bar umdrehte, stand Fitz da und lächelte sie amüsiert an. Hatte er dort etwa schon länger gestanden und sie beobachtet? Sie merkte, dass ihr das peinlich war.

»Hi, Grace. Schön, dich zu sehen. Dich hatte ich heute eigentlich gar nicht erwartet.«

Fitz war dunkelblond mit schon leicht ergrauten Schläfen. Er trug eine randlose runde Brille, die Grace vom ersten Moment unirisch vorkam. In Irland bildeten Menschen mit Brillen immer noch die Ausnahme. Entweder hatten die Nachfahren der Kelten wirklich bessere Augen, oder sie wollten lieber nicht so genau wissen, wie die Welt wirklich aussah.

Fitz trug ein flaschengrünes Jackett aus weichem Cord und sah in Graces Augen umwerfend aus. Innerlich rief sie sich zur Ordnung: Ihr Job war es, über die Kleidung der Toten nachzudenken und nicht den Modegeschmack eines Wirts zu taxieren.

»Was kann ich dir bringen?« Wieder lächelte Fitz sie an.

»Eure selbstgemachte Zitronenlimonade, bitte. Warum hast du mich nicht erwartet heute?«, erwiderte sie jetzt ebenfalls lächelnd.

»Ihr habt doch eine Leiche in Salthill.« Er schenkte ihr aus einer bauchigen Glaskanne die Limonade ein und reichte ihr das schlanke Glas mit der milchigen Flüssigkeit und einem Zitronenrad, in das ein Zweig frische Minze gesteckt war.

»Woher weißt du das? Wir haben der Presse doch noch nichts bekanntgegeben.« Sie fixierte ihn bei ihrer Frage, aber ihre Stimme war nach wie vor freundlich.

Fitz grinste. »Ich hab so meine Quellen. Aber es kommt sicher auch gleich in den Zwölf-Uhr-Nachrichten. Oder wartet ihr bis eins? Wäre wahrscheinlich besser.« Auf einmal wirkte er nervös und schaute in Richtung Eingang. Grace folgte seinem Blick, doch da war nichts zu sehen.

Fitz war früher der leitende Rechtsmediziner bei Garda in Limerick gewesen. Irgendwann, so hieß es, sei er krank geworden, aber Genaues wusste niemand. Grace gegenüber hatte er in einem Gespräch beiläufig einen längeren Klinikaufenthalt vor seinem Umzug nach Galway erwähnt und dabei auch über seine Zeit bei Garda gesprochen. Sie hatte nicht weiter nachgefragt.

»Hm. Ich bin dienstlich hier, nicht zum Vergnügen.« Sie zog ihr Handy hervor und suchte das Bild, das sie von der Leiche gemacht hatte. »Kennst du sie?«

Fitz schaute sich das Foto lange an, bevor er nickte. Sein sonst offenes und fröhliches Gesicht war auf einmal verschlossen.

Er räusperte sich. »Ich bin sicher, ich hab sie hier schon mal gesehen. Wie sie heißt, weiß ich allerdings nicht. Warte. Ja, sie kam ein-, zweimal in Begleitung von dieser Carol. Da bin ich mir hundertprozentig sicher.«

»Und wer ist diese Carol?«

»Tja, sie ist so der Typ ›Monroe aus Mayo‹, würde ich sagen. Blond, auf eine kesse Art. Kennt jeden, und jeder hier kennt sie. Was nicht heißt, dass man sich bei vollem Namen kennt. Aber so ist es hier.« Beide mussten lachen. Sie schaute einen winzigen Moment zu lange in seine grauen Augen. Die Angst, die sie zuvor noch in ihnen gesehen hatte, war wieder verschwunden.

»Sag mal, du weißt, was ich mit ›Monroe aus Mayo‹ meine?«, fragte Fitz sie nach einer kurzen Pause. Wieder schweifte sein Blick kurz zur Tür.

»Klar. Ich bin immerhin aus Mayo. Ursprünglich, meine ich.«

Von der Grafschaft Mayo, die nordwestlich an Galway angrenzte, sprach man bis in die Sechzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts in Irland nur mit dem Zusatz »Mayo, Gott helf uns!«. Dazu bekreuzigte man sich schnell, wie um einen Fluch abzuschütteln. Die Geschichte der Landschaft entlang der Atlantikküste, zwischen dem einzigen Fjord Irlands, dem Killary Harbour im Süden, und der mächtigen Sligo Bay im Norden, war blutgetränkt und von Tod und Elend gezeichnet. In Mayo konnte man bis heute Geistersiedlungen aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert finden. Ein großer Teil der irischen Auswanderer nach Amerika und Australien hatte sich von Mayo aus mit letzter Kraft zu den Auswandererschiffen nach Derry oder Cork durchgeschlagen, um den Hungersnöten zu entkommen, die die ganze Insel heimsuchten. Mayo, das bedeutete über Jahrhunderte hinweg Hoffnungslosigkeit, unvorstellbare Armut, Verzweiflung und Tod.

Aber Mayo besaß auch eine landschaftliche Schönheit, die von einem Besitz ergreifen konnte und fast wehtat. Keltische Legenden waren dort noch heute lebendig geblieben, und gälische Fabelwesen bevölkerten bis in die aufgeklärten digitalen Tage des neuen Jahrtausends diesen magischen Landstrich. Bewohner dieser dünn besiedelten Grafschaft verehrten oft noch ehrfürchtig alte heilige Quellen und Steinkreise. Im sich gern weltstädtisch gebenden Galway dagegen, der nächsten größeren Stadt, waren die Einwohner Mayos deshalb eher als Landeier verschrien. In diese Kategorie fiel der Ausdruck »Monroe aus Mayo«.

Fitz schenkte sich selbst gerade ein Glas Limonade ein, als eine größere Gruppe Franzosen den Pub betrat und sofort die Bar belagerte. Grace wollte den Moment nutzen, um sich zu verabschieden. Sie hatte eine SMS erhalten und rutschte vom Barhocker.

»Fitz …«

Doch Fitz war gerade dabei, nach Fiona zu rufen und die handgeschriebenen Speisekarten an die neuen Gäste auszuteilen. Fiona erschien in der Tür zur Küche. Eine sommersprossige Hünin mittleren Alters mit riesigen Kreolen an den Ohren. Als Grace sie das erste Mal hinter der Theke gesehen hatte, hatte sie sich gefragt, ob die Frau aus einem Traveller Clan stammte. Sie hatte schon viele der irischen Fahrenden kennengelernt, und fast alle ihre Frauen hatten eine unübersehbare Affinität für auffallenden Ohrschmuck gehabt. Gerade nahm Fiona breit lächelnd und in fließendem Französisch die Getränkebestellung an. Die Franzosen gaben sich ihr gegenüber sofort als keltische Bretonen zu erkennen und veranstalteten vor Begeisterung einen ohrenbetäubenden Lärm.

Fitz hatte sich wieder an Grace gewandt. »Ich vergaß völlig, dass du eine O’Malley bist. Euer Clan ist ja von dort.« Er sagte das eher beiläufig, aber Grace nahm ihm das nicht ganz ab.

Die O’Malleys waren nicht nur einer der ältesten und berühmtesten Clans des Nordwesten Irlands, sondern auch der mächtigste und einflussreichste. Die O’Malleys konnte man weder ignorieren noch »vergessen«. Grace schaute Fitz amüsiert an. Ihre Augen blitzten dabei.

»Soll das ein Kompliment sein, dass du das ›vergessen‹ hast?«

Er lächelte lediglich, drehte sich zur Getränkebatterie um und ignorierte ihre letzte Bemerkung.

Ihr Handy vibrierte in der Jackentasche. Diesmal hatte sie es auf lautlos gestellt. Sie musste heute Abend unbedingt den Klingelton wechseln. Der war eines der zahlreichen, witzig gemeinten Abschiedsgeschenke der dänischen Kollegen gewesen. Sie hatte sich die eingängige Melodie trotzdem nur widerstrebend auf ihr Handy herunterladen lassen. Mit diesem Lied hatte man sie immer auf nette Weise hochgenommen. Mittlerweile war ihr das Kinderlied fast ans Herz gewachsen. Dann hatte sie vergessen, es zu löschen, weil sie sich daran gewöhnt hatte.

Auf dem Weg nach draußen stieß Grace an der Tür mit einem älteren Mann zusammen, den sie, bevor sie ihn sah, schon hatte riechen können. Er war ihr bereits bei einem früheren Besuch aufgefallen. Anzüglich grinste er sie an und trat einen Schritt zur Seite, um ihr Platz zu machen. Mit der rechten Hand beschrieb er eine altmodische Verbeugung. Schnell schlüpfte sie durch die Eingangstür auf die Straße und rief den Anrufer zurück. Es war Rory gewesen, der sich erkundigen wollte, ob man schon einen Hinweis auf die Identität der Toten hatte. Grace erzählte ihm von der wasserstoffblonden Carol. Auch er hatte etwas herausgefunden. Sie verabredeten sich für spätestens in zwei Stunden, und Grace kehrte zurück an die Bar. Sie hatte in der Eile vergessen zu zahlen.

Schon von Weitem sah sie, dass sich der unangenehme Alte mit den Zahnlücken auf dem Stuhl neben ihrem niedergelassen hatte. Sie fing einen Blick von Fitz auf. Plötzlich wirkte er angespannt. Sonst schien er die Lockerheit in Person zu sein. Das war eine der Eigenschaften, die sie an ihm mochte und die sie selbst gern besessen hätte. Sie empfand sich selten als locker und entspannt.

An der Bar ignorierte sie den Neuankömmling, der schon ein Glas Guinness vor sich stehen hatte. Während sie zahlte, fiel ihr Blick wieder auf den Bildschirm. Der blonde Kochengel hatte nun die Seezunge hübsch dekoriert auf einen Teller platziert und redete immer noch ohne Ton und Pause.

Die Stimmung erschien ihr auf einmal anders als noch vor ein paar Minuten. Das Banjo aus der Ecke klang nun eindeutig falsch. Die Bretonen-Gruppe prostete sich grölend zu. Der Lärm und die Enge waren Grace unangenehm. Fitz beugte sich zu ihr hinüber. Sie nahm den schwachen Geruch seines Aftershaves wahr, das sie von irgendwoher kannte. Sie wollte unbedingt etwas sagen, bevor er es tat.

»Ihr habt hier im Fernsehen also auch diese leidigen Kochsendungen?« Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Sie wollte um keinen Preis über ihren Fall reden, schon gar nicht, wenn der stinkende Alte danebenhockte und immer näher zu rücken schien.

Fitz nickte zerstreut. »Wir haben sogar Kochsendungen auf Irisch, wie du siehst. Donal Joyce ist hier ein Star. Er kocht exklusiv für ein gälisches Publikum von schätzungsweise achthunderttausend, die täglich einschalten. Das ist Luxus pur, den man sich hier gönnt. Wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen. Aber warum nicht?«

Der zahnlose Mann neben ihr nuschelte etwas, lachte und zeigte auf den Bildschirm. Grace bemerkte seine dreckigen Fingernägel. Sie konnte ihn nicht verstehen, und Fitz ignorierte ihn. Grace beschloss, das Gleiche zu tun. Schließlich winkte sie Fitz zu.

»Danke und bis bald!«

»Viel Glück!«

Es war ohrenbetäubend laut, und sie bahnte sich so schnell es ging einen Weg durch die Menge Richtung Ausgang.

So hörte sie nicht mehr, wie der Alte im zerschlissenen Regenmantel Fitz zurief: »Das ist also der jüngste Spross der verfluchten O’Malleys! Zur Abwechslung mal gut aussehend und langbeinig. Könnte mit diesem Gesicht glatt nach Hollywood gehen. Jetzt wird es endlich interessant hier!« Dabei lachte er so laut und hässlich, dass sich alle im kleinen Schankraum nach ihm umdrehten.

Fitz musterte ihn kalt und ging in die Küche hinter der Bar. Fionas besorgten Blick übersah er.

4

Rory hatte diskret in der Nase gebohrt, während Grace noch mit dem Redakteur des Irish Independent telefonierte. Morgen früh sollten alle irischen Tageszeitungen und die Online-Ausgaben noch heute ein Foto der Toten veröffentlichen. Graces Assistentin hatte schon das Foto, das dafür in Frage kam, an den allgemeinen Verteiler von Garda gemailt. Kaum hatte Grace den Hörer aufgelegt, klingelte es wieder. Diesmal waren es die Kollegen aus Dalkey. Bevor sie antwortete, warf sie einen kurzen Blick auf Rory, der nun betont angestrengt in seinen Notizen blätterte. Rory und seine handschriftlichen Vermerke, Zettelchen und Heftchen bildeten anscheinend eine untrennbare Einheit. Er raschelte und kritzelte und zwinkerte ihr dabei fröhlich zu.

Grace grinste kurz zurück und meldete sich dann: »Ja, am Apparat.«

Sie wusste schon, dass es über Roisins Aufenthaltsort keine neuen Erkenntnisse gab. Das hatte sie am Morgen von ihrer Schwägerin erfahren. Der Besuch bei Father Anthony hatte wenig gebracht. Allerdings war sich Oonagh sicher, dass der Priester eine Ahnung hatte, wo sich das Mädchen aufhalten könnte. Da müsse man unbedingt noch einmal nachhaken. Außerdem wolle sie Declan, ihren Sohn, noch einmal gründlicher befragen, wenn er aus der Schule komme. Dara sei gestern Abend, weil das Kind schon geschlafen habe, sehr nachsichtig mit ihm umgegangen.

»Natürlich habe ich nichts gegen die Veröffentlichung eines Fotos«, beantwortete Grace die Frage des Kollegen. »Wann soll es denn über die Sender gehen?« Graces Stimme war fest, während sie einen unsicheren Blick auf Rory warf, der ihrem Telefonat jedoch keine weitere Beachtung zu schenken schien.

»Wenn Sie meine Hilfe und Unterstützung benötigen, haben Sie ja auch meine Mobilnummer. Das wäre übrigens sicherer, als mich hier in der Zentrale anzurufen. Ich stecke mitten in einem Mordfall und bin viel unterwegs. Danke«.

Der Kollege aus Dalkey fügte offenbar noch etwas hinzu. Graces Gesichtsausdruck war bis zu diesem Moment neutral und verbindlich gewesen. Jetzt schien sich ihr ganzer Körper auf einmal zu versteifen, und ihre Gesichtszüge verhärteten sich. Ihre türkisgrauen, fast mandelförmigen Augen strahlten immer etwas Rätselhaftes, leicht Distanziertes aus. Die vollen Lippen und die sanft geschwungene, genau richtig große Nase verliehen ihrem Gesicht die Perfektion, um die sie viele Frauen beneideten. Trotzdem besaß es etwas Individuelles, Unverwechselbares, und wenn sie lächelte, und nur dann, zeigte sich auf ihrer rechten Wange ein kleines Grübchen, das sofort wieder verschwand, wenn sie ernst wurde. Grace wünschte sich oft, weniger ernst zu sein. Eigentlich liebte sie es, herumzualbern und zu lachen, doch gab es nicht viele Menschen, mit denen sie diese Leichtigkeit teilen konnte. Rory hatte sie in ihrer ersten Woche schon mehrmals zum Grinsen oder Schmunzeln gebracht. Das tat gut.

Jetzt allerdings schien er geradezu in seine Aufzeichnungen hineinkriechen zu wollen, füllte mit seiner kleinen Schrift in Windeseile ein ganzes Blatt und tat so, als hätte er die Anspannung seiner Kollegin nicht bemerkt.

»Madam, sind Sie noch da? Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?« Der Polizist aus Dalkey schrie in den Hörer.

»Ich habe Sie durchaus verstanden. Aber ich wüsste nicht, was es ändern würde, wenn ich zu Ihnen käme.« Graces Stimme klang hart und abweisend. Rory hob nun doch den Kopf und starrte sie verblüfft an.

»Roisins Pflegeeltern haben alle Vollmachten und wissen, was sie zu tun haben. Wir sind in ununterbrochenem Kontakt. Ich bin hier leider unabkömmlich, was Sie sich als Kollege sicher vorstellen können. Ich erwarte einen lückenlosen Informationsfluss von Garda Dalkey an mich. Guten Tag.« Sie legte auf. Nur mit Mühe hatte sie ihre Stimme noch unter Kontrolle bekommen.

Rory betrachtete seine Kollegin ein paar Sekunden nachdenklich. Als er nach einem tiefen Durchatmen etwas sagen wollte, wurde die Tür zu ihrem Büro ohne vorheriges Klopfen aufgerissen, und ein großer, kräftiger Mann, Ende fünfzig, mit Halbglatze und in einem schwarzen Anzug und ebensolcher Krawatte stürmte herein.

»Du hast eine Leiche, und ich weiß nichts davon?«, polterte er los und stemmte sich mit vollem Gewicht auf die Schreibtischplatte, dass diese knackte.

Grace schaute zu dem Besucher hoch, und augenblicklich schien ihre Ruhe zurückzukehren, die sie kurz zuvor so schmählich im Stich gelassen hatte. Sie verzog ihre vollen Lippen zu einem amüsierten Schmunzeln, das den Mann noch wütender zu machen schien. Seine Augen, die von kleinen roten Äderchen durchzogen waren, richteten sich herausfordernd auf sie. Seine Pupillen tanzten wie harte schwarze Gummibälle.

»Guten Tag, Onkel Jim. Ich habe keine Leiche. Aber es gibt tatsächlich eine. Was willst du hier?« Sie taxierte ihn kühl. In solchen Momenten dominierte das Schiefergrau ihrer Augen. Irritiert schaute er sie einen Moment an, drehte sich dann zu Rory und gab ihm, wie einem Bediensteten, mit einer Handbewegung zu verstehen, das Zimmer zu verlassen. Doch Grace reagierte blitzschnell.

»Guard Coyne bleibt. Wir sind mitten in einer wichtigen Besprechung, zu der du, da sie nicht öffentlich ist, nicht geladen bist, und ich würde dich bitten, wenn du ein privates Gespräch möchtest, einen Termin mit mir zu vereinbaren. Vor heute Abend um acht habe ich jedoch keine Zeit.«

Der Mann war sprachlos. Das nutzte Grace zu einem Nachschlag.

»Offenbar bist du ja bestens informiert, obwohl ich bis zu den Ein-Uhr-Nachrichten eine Nachrichtensperre verhängt habe. Im Moment kann ich nichts für dich tun. Du verstehst ja sicher, dass wir mit den laufenden Ermittlungen noch nicht an die Öffentlichkeit gehen können.« Sie hatte sich wieder ihrem Notebook zugewandt.

»Öffentlichkeit?« Ihr Onkel schwieg einen Moment perplex und musste sich offenbar sammeln. »Ich bin Vorsitzender der regierenden Partei unserer Grafschaft und muss darüber informiert sein, was hier passiert. Das begreifst du doch, mein liebes Mädchen?«, fuhr er in einem deutlich gemäßigteren Tonfall fort.

Rory tat keinen Mucks und beobachtete Grace konzentriert. Diese Situation war doch schneller eingetreten, als er erwartet hatte, obwohl die Uhr sofort nach Auffinden der Leiche zu ticken angefangen hatte. Aber dass er unmittelbar dabei sein durfte, hätte er sich nicht träumen lassen. Obwohl Rory im Stande war, durchaus einiges vorhersehen zu können.

»Lieber Onkel«, das war eindeutig die Replik auf das »liebe Mädchen«, »du wirst zur rechten Zeit genau das erfahren, was du als oberster Ratsherr unseres Sprengels wissen musst.« Sie lächelte ihn verbindlich an und wandte sich dann wieder ihrem Notebook zu.

Jim O’Malley nahm seine Hände vom Schreibtisch und runzelte einen Moment die Stirn. Er wirkte etwas ratlos. Grace schaute wieder auf und ihm direkt in die Augen. Die Gummibälle tanzten. Sie lächelte.

»Es sei denn, du bist hergekommen, um mir etwas zu sagen, was mit dem Mordfall zu tun haben könnte. Dann bist du natürlich höchst willkommen und darfst dich meiner und Kollege Coynes größter Aufmerksamkeit erfreuen.«

Jim O’Malley schaute sie an, als habe sie in einer ihm nicht bekannten Sprache gesprochen. Erst nach einigen Sekunden schien er zu begreifen.

»Ich, wieso ich? Was soll ich denn bitte über den Mordfall wissen?« Er wandte sich abrupt zum Gehen und verließ grußlos das Büro.

Rory hatte ihn fasziniert beobachtet. Der mächtigste Mann der Grafschaft Galway hatte erst einen bühnenreifen Auftritt und dann einen sehr verlegenen Abgang hingelegt. Darauf hatte Rory Jahre gewartet, und er genoss jede einzelne Sekunde.

Doch es war noch nicht vorbei. Ein paar Sekunden später überlegte es sich Jim O’Malley offenbar anders und kehrte noch einmal zurück. Schwer atmend stand er wieder in der Tür. Grace zwang sich, ein paar Sekunden verstreichen zu lassen, dann schaute sie nochmals auf.

»Ist noch etwas? … Onkel Jim?« Zwischen beiden Fragezeichen war eine Zäsur von genau zwei Sekunden.

»Großtante Mary wird in zwei Stunden auf dem Friedhof in Spiddal beerdigt. Wirst du auch da sein?«

Grace schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid. Ich habe wirklich keine Zeit, wie du siehst. Wir stecken in wichtigen Ermittlungen. Außerdem kannte ich sie so gut wie nicht.« Ihre Stimme hatte nichts Provozierendes an sich.

Rorys Blicke gingen wie bei einem Tennisspiel gebannt von einem zum anderen.

»Aber sie ist Familie, Grace. Allein das zählt. Vergiss das nicht.« Dann ging er endgültig mit festen Schritten davon. Rory und Grace schauten sich schweigend an.

 

Am Ende des langen Ganges traf Jim O’Malley auf einen Mann, den er sehr gut kannte. Es war Superintendent Robin Byrne, der oberste Chef des Garda Districts von Galway, Graces unmittelbarer Vorgesetzter. Der hochgewachsene Mann im traditionellen beigen Aran Pullover mit Zopfmuster und Jeans wollte sich sofort wieder umdrehen und in seinem Büro verschwinden, als er den bekannten Politiker auf sich zukommen sah. Aber O’Malley hatte ihn schon erspäht und stürzte sofort auf ihn zu.

»Warte mal, Rob! Was weißt du über die Leiche, die ihr heute Morgen gefunden habt?«

Byrne, in ähnlichem Alter wie O’Malley, aber wesentlich schlanker und drahtiger, schien kurz zu überlegen.

»Nichts, Jim. Und wenn ich was wüsste, könnte ich es dir nicht sagen.«

»Was soll das heißen?« Dem Polizisten gegenüber brauchte Jim O’Malley seine Wut nicht zu verstecken. Robin kannte ihn nur zu gut.

»Das heißt, wir haben eine Nachrichtensperre, die …«, er schaute kurz auf seine große Taucheruhr am rechten Handgelenk, »… in genau fünf Minuten abläuft.« Dann wollte er in der nächsten Tür verschwinden. Doch Jim hielt ihn an seinem grobmaschigen Pullover fest.

»Du machst Witze, Rob. Aber mir ist gerade überhaupt nicht zum Spaßen. Ich will wissen, was hier passiert, und zwar sofort. So, wie ich das gewöhnt bin.« In seinen Worten vermischten sich Trotz und Befehl.

Robin Byrne musterte ihn spöttisch. Dann drehte er die Augen in Richtung der schmutzig gelben Decke des langen Korridors, die dringend gestrichen werden müsste. »Tja …« Er zog das Wörtchen bedeutungsvoll in die Länge. »Dann hättest du dafür sorgen müssen, dass hier alles seinen gewohnten Gang geht, mein Lieber, so, wie du das gewöhnt bist. Deine Nichte, die du hier gegen den Rat anderer von außen hereingeholt hast, hat eine absolute Nachrichtensperre verhängt, und die gilt, darauf legt sie großen Wert, für alle. Sie hat eben, wie dir sicher bekannt ist, den berühmten O’Malley-Dickschädel. Nun müssen wir alle damit leben. Auch du. Guten Tag noch.«

Damit wandte er sich ab und verschwand schnell hinter der Tür seines Büros, damit O’Malley sein Lachen nicht mitbekam.

Wutschnaubend steuerte der Politiker nun Richtung Ausgang. Als er den dort wachhabenden Polizisten passierte, dem er kurz zunickte und der mit erhobener Hand zurückgrüßte, meldete sich sein Handy. Er fummelte es aus seiner schwarzen Jacketttasche, die bereits etwas zerknittert war. Jemand hatte ihm eine SMS geschickt. In der grellen Sonne musste er seine Hand schützend über das Display halten, bevor er die Nachricht lesen konnte. Er wurde blass, als er die Worte entziffert hatte: »Kennst du eine Annie McDoughall?«

5

Kurze Zeit später lief Grace über den Parkplatz. Die Sonne war wieder herausgekommen, und ein makellos blauer Himmel spannte sich über die Bucht und die Stadt. Vom Atlantik her wehte eine stete sanfte Brise. Sie atmete tief durch. Die Luft hier war für sie immer noch wie ein Tonikum nach all den Jahren in der Stadt. Selbst wenn an regnerischen und nebligen Tagen der Hauch von Torffeuer die Luft zusätzlich sättigte, empfand sie das nicht als unangenehm.

Grace liebte diesen Geruch und sog ihn tief ein. Es war der Geruch ihrer Kindheit, wenn sie die Schulferien bei den Großeltern auf Achill Island verbrachte. Ganze Tage streifte sie über Wiesen und lief mit den Hunden die endlosen Sandstrände entlang. Wenn sie dann gegen Abend ins Dorf zurückkehrte, hing genau dieser Geruch in der feuchten nebligen Luft und lockte sie ins Haus.

Grace riss sich von ihren Erinnerungen los. Jetzt musste sie sich beeilen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Auf der Straße stieß sie fast mit Fitz zusammen. Er hielt sie lachend fest. »Zu dir wollte ich gerade.«

Grace schaute ihn verwundert an, schüttelte jedoch nicht seine Hand ab, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte.

»Mir ist etwas zu Carol eingefallen, was euch vielleicht weiterhilft.« Fitz hatte sich daran erinnert, dass Carol wohl einmal erwähnt hatte, dass sie im Bay Hotel an der Rezeption aushalf. Es konnte auch sein, dass sie dort fest angestellt war, aber aus irgendeinem Grund war er der Meinung, dass sie beruflich etwas anderes machte. »Die meisten Iren haben ja mittlerweile mindestens zwei Jobs, wie du weißt. Sonst kriegen wir unsere Schulden nicht weg«, grinste er.

»Danke, dass du gekommen bist. Ich sag Rory Bescheid, dass er sich darum kümmert. Ich muss noch schnell in die Forensik. Kommst du ein Stück mit?« Grace war schon weitergegangen, in der Annahme, dass er ihr folgen würde. Als er nicht antwortete, schaute sie sich um und bemerkte, dass er hinter ihr zurückgeblieben war. Fitz stand mitten auf dem Bürgersteig und rührte sich nicht.

»Fitz?« Besorgt ging sie zu ihm zurück. »Ist etwas?«

Er hatte seine Augen auf den Boden gerichtet und sich ein wenig nach unten geneigt, als suche er dort etwas. Plötzlich richtete er sich wieder auf und lächelte sie in seiner gewohnt freundlichen Art an. Doch auf seiner Stirn standen ein paar winzige Schweißperlen. Grace merkte, wie sehr er sich bemühte, fröhlich zu wirken. Etwas hatte ihn ganz offensichtlich erschreckt. Seltsam.

Warum wollen wir Iren immer als fröhlich erscheinen?, dachte sich Grace. Locker und spritzig, immer einen Witz auf den Lippen, auch wenn uns zum Heulen ist und wir uns lieber verkriechen würden? Unsere Traurigkeit und tiefe Sehnsucht verbannen wir in unsere Musik. Da ist sie sicher verpackt. Dort können wir Trauer auskosten und zelebrieren. Und damit auch noch Geld verdienen.

»… verbringe ich viel Zeit mit den Kindern.« Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

»Kinder?« Sie war nicht nur überrascht, sondern merkte, wie es ihr einen kleinen Stich versetzte. Wie kam er plötzlich auf Kinder? Hatte sie den Faden verloren oder war es einer dieser irischen Tricks, durch sprunghafte Monologe unangenehme Themen zu umschiffen und von ihnen abzulenken?

»Hab ich doch gerade gesagt. Meine zwei Neffen. Wir unternehmen oft etwas zusammen. Die Jungs angeln so gern, und dann fahren wir raus zum Eriff. Kennst du sicher.«

Natürlich kannte sie den schönsten Fluss Mayos. An wie vielen Nachmittagen hatte sie an seinen Ufern gespielt. Wie ein schmales silbernes Band schlängelte er sich durch die grün melierten Wiesen am Fuß der Sheaf Mountains, ganz im Süden der Grafschaft, wo sich Galway und Mayo aneinanderrieben. In ihrer Kindheit war er noch voller wilder Lachse gewesen – lange bevor die Lachsfarmen der Nachbarschaft den Wildlachsbestand dezimiert hatten. Sie hatte in hohen Gummistiefeln, die ihr fast bis zum Po reichten, zusammen mit Shaun, ihrem angelverrückten Vater, im Wasser gestanden. Kindheitsbilder, die sie zu überrollen schienen. Sie sagte nichts, riss sich dann aber zusammen und versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren.

»Ich dachte einen Moment, du sprichst von deinen Kindern?« Sie sah ihn fragend an.

»Ich? Nein. Ich habe keine Kinder. Nicht dass ich wüsste, zumindest.« Er grinste leicht anzüglich, was gar nicht zu ihm passte, wie sie fand. »Aber eine Familie zu haben, eine richtige Familie, das wäre schon etwas Wunderbares.« Das klang, als hätte ihre Frage längst verdrängte Sehnsüchte wieder hervorgeholt. Sie war etwas irritiert und wusste sich auf seinen abrupten Stimmungswechsel keinen Reim zu machen.

»Möchtest du mal Kinder, Grace?« Seine Frage kam so plötzlich und unvermittelt, dass sie keine Chance hatte, ihr auszuweichen. Sie schluckte.

»Ich habe bereits ein Kind. Eine Tochter.«

Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Und wo hast du sie …«, er suchte nach dem richtigen Wort, das ihm aber nicht einfallen wollte, »… wo hast du sie versteckt?« Fitz merkte selbst, dass das eine unpassende Formulierung war, doch nun war es gesagt. Er grinste unbeholfen. Sofort verfinsterte sich Graces Miene.

»In Dalkey, wenn du es wirklich wissen willst.«

»In Dalkey? Warum in Dalkey und nicht hier?«

In ihr kämpften Verzweiflung und Ohnmacht. Zwei Möwen jagten sich kreischend über ihr am Himmel. Ihre Antwort kam hart und schnell. »Schickes Ambiente, teures Pflaster. Gute Schulen. Hohe Einbruchrate, aber ansonsten ziemlich gewaltfrei. Ist doch was, oder? Sie lebt bei meinem älteren Bruder mit seiner Familie.« Sie versuchte, unbeteiligt zu klingen.

Er sah sie überrascht von der Seite an. Sie wollte sich umdrehen. Ihre langen Haare wurden ihr durch eine plötzliche Böe übers Gesicht geweht und verdeckten es halb.

»Und warum lebt sie bei deinem Bruder und nicht bei dir?« Grace ließ die Haare über ihr Gesicht streichen, ohne sie zu entfernen, als sie ihm antwortete. Der Haarschleier kam ihr gerade recht.

»So ist das doch immer gewesen bei den braven Iren, oder? Mädchen aus gutem Haus wird jung schwanger. Das Kind wächst weit weg von zu Hause bei Verwandten auf. Gesicht und Name gewahrt, alles bestens, und abgetrieben wurde auch nicht. Mindestens einen Cent für den Klingelbeutel und zehn Ave Marias frei. Nicht zu vergessen die Umschiffung des Fegefeuers. Mein Interesse an einer eigenen Familie tendiert, wie du dir vielleicht vorstellen kannst, gegen null.«

Sie drehte sich um, ließ ihn einfach stehen und gab ihm keine Chance, etwas auf ihre Wutrede zu erwidern. Grace hätte gar nicht sagen können, warum sie so heftig reagiert hatte, und, was ihr fast noch unverständlicher war, warum sie Fitz, den sie wirklich mochte, fast eine komplette Lüge über Roisin und sich aufgetischt hatte. Ja, sie war als Zwanzigjährige ungeplant schwanger geworden und konnte sich, so kurz nach dem Tod ihres Vaters, nicht zu einer Abtreibung entscheiden. Damals hatte sie geglaubt, dass das neue Leben die Trauer über den Verlust des Vaters etwas auffangen würde. Eigentlich hatte sich ihre Mutter erst einmal um das Baby kümmern wollen, doch das war dann durch deren Krankheit nicht möglich gewesen. Grace hatte gerade den begehrten Ausbildungsplatz bei Gardai bekommen, und so war das Angebot ihres Bruders und seiner Frau, die kleine Roisin zu sich zu nehmen, ein Glücksfall gewesen. Etwas später wurde Daras Sohn Declan geboren. Roisin hatte ein Brüderchen bekommen. Nun waren sie eine richtige Familie, die Grace nicht auseinanderreißen wollte. Was konnte eine ehrgeizige alleinerziehende junge Polizistin, der eine vielversprechende Karriere bevorstand, einem Kleinkind wirklich bieten? Sicherlich nicht ein beschauliches Familienleben und einen süßen Bruder. Als sie sich entschloss, nach einer Zusatzausbildung im europolizeilichen Dienst von London nach Dänemark zu gehen, war Roisin längst eingeschult und sah in ihr eher die junge Tante, bei der sie hin und wieder die Ferien verbrachte. Mutter war sie in dem Sinn nie für Roisin gewesen. In Irland war so etwas nach wie vor nichts Ungewöhnliches. Und bis zur Pubertät war eigentlich auch alles gut verlaufen. Aber auf einmal lief es nicht mehr so, wie es sich alle gewünscht hatten.

Grace überquerte gedankenverloren die Straße. Ein Auto bremste scharf, und sie schreckte auf. Fast wäre sie direkt in den Wagen gelaufen. Der Fahrer ließ die Scheibe herunter und beugte sich freundlich zu ihr. Er zeigte in den blauen Himmel.

»Toller Tag, heute! Passen Sie auf, dass es so bleibt!« Langsam fuhr er weiter und winkte ihr zu.

Sie war wirklich wieder in Irland.

6

Die Rezeption des Bay Hotels lag an diesem strahlenden frühen Nachmittag lichtdurchflutet und menschenverlassen da. Links vom Eingang der gläsernen Drehtüren stand in einer smaragdschimmernden hohen Bodenvase ein Strauß lachsfarbener Lilien, der einen betäubenden Duft verströmte. Als Rory an ihm vorbeiging, hielt er kurz an, inhalierte den Duft und schnupperte dann an den Blütenkelchen. Rory liebte alle Blumen, doch Lilien hatten es ihm besonders angetan, genau wie Pfingstrosen, die seine Frau mit Hingabe in ihrem Garten züchtete und für die sie in fast jedem Jahr auf der Galway Flower Show Preise einheimste.

Rory marschierte auf die lange Rezeption in der Lobby zu, ein modernes Holz- und Chromkonstrukt, das ihm nicht sonderlich gefiel. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn es sein Designer großspurig »Connemara Future« getauft hätte, um seine Einfallslosigkeit zu überspielen. Ein ärgerliches Phänomen, das ihm immer häufiger begegnete. Dort angekommen, entdeckte er einen weißen Fussel auf seinem rechten Arm. Behutsam löste er ihn ab und steckte ihn in seine Tasche. Eine Schale aus nussbraunem Connemara Holz bot kleine rote Äpfel an. Rory bediente sich und polierte ihn mit einem karierten Taschentuch, das er aus der Uniformtasche zog. Es war weit und breit niemand zu sehen, deshalb drückte er auf die Portiersglocke, die gleich neben den Äpfeln zu finden war.

Das Luxushotel hatte 2008, im letzten Tigerjahr, seine Pforten geöffnet. Zu einem Zeitpunkt, als man die bevorstehende Krise schon riechen konnte, wenn der Wind ungünstig stand und aus isländischer Richtung pfiff. Die »Tigerjahre« oder auch »der keltische Tiger« wie man hier den Wirtschaftsaufschwung seit Mitte der Neunzigerjahre nannte, hatte Irland einen nie zuvor gekannten Wohlstand beschert. Für einige zumindest. Galways Hotelbetten waren in den letzten zehn Jahren nicht nur zahlenmäßig explodiert, sondern hatten auch einen Imagewandel erfahren: von strapazierfähig, bügelfrei, langweilig zu individuell, anspruchsvoll mit irischem Leinen aus feinsten Produktionsstätten. Im Bay war es immerhin Doppelfaden aus ägyptischer Baumwolle gewesen. Mehr ging wirklich nicht.

Rory war erst einmal hier Gast gewesen. Das war im März um St. Patrick’s herum, zur Abschlussfeier von Frank O’Neill, Graces Vorgänger im Amt. Nach fast vierzig Jahren bei Garda in Galway hatte man ihn endlich in den Ruhestand in ein gediegenes Cottage bei Clifden verabschiedet. Nun würde O’Neill angeln können, bis er schwarz wird, dachte Rory gehässig.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?« Der junge Mann im blauen Blazer mit dem Bay Hotel Emblem an der Brusttasche hörte sich an wie ein Dienstleister aus dem Callcenter einer Möbelkette im Dubliner Umland. Mit dieser feinen, wohldosierten Mischung aus ehrlichem Engagement und kompletter Teilnahmslosigkeit.

Rory hielt ihm ein Foto der Leiche hin und fragte, ob ihm diese Frau bekannt sei. Der junge Mann schaute es sich lange und aufmerksam an und erkundigte sich dann, ob er es den Kollegen zeigen könne, die schon länger hier arbeiteten. Rory zog begeistert die Augenbrauen hoch. So viel Eigeninitiative war heute rar, fand er, und musste unbedingt unterstützt werden.

»Das ist eine hervorragende Idee, Colin.« Der Vorname stand auf einem Namensschild unter dem Brusttaschenemblem.

Colin verschwand mit dem Foto in ein Büro hinter dem Empfang.

Rory wartete an der Rezeption und blieb während der ganzen Zeit der einzige Gast. Harte Zeiten für Hotels, ging es ihm durch den Kopf. Da hatten sich einige Investoren doch offenbar gründlich verkalkuliert. Sein Blick fiel auf eine imposante Infotafel, die die Raumverteilung für Konferenzen oder Tagungen in den zahlreichen Sälen verkünden sollte. Aber bis auf einen einzigen Hinweis herrschte auch dort gähnende Leere. Die »Blue Finn Company« tagte heute im Twelve Bens Room, las er. Nie gehört. Darunter standen interessanterweise chinesische oder japanische Schriftzeichen. Was mag ein Unternehmen wohl produzieren, wenn es sich »Blaue Flosse« nannte? Wohl kaum Ölsardinen.

Colin kehrte zurück. Noch bevor er wieder in Rorys Hörweite war, schüttelte der junge Mann schon bedauernd den Kopf.