Irische Totenwache - Hannah O'Brien - E-Book
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Irische Totenwache E-Book

Hannah O'Brien

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Beschreibung

Die dunklen Seiten der grünen Insel Der bekannte und beliebte irische Umweltaktivist Cathal Connor wird grausam ermordet aufgefunden. Zuletzt konnte man ihn in einer Talkshow sehen, in der er sich wie immer schlagfertig und originell für den Erhalt der Wälder südlich von Dublin einsetzte. Der irischen Holzlobby war er daher schon lange ein Dorn im Auge. Doch in ihrem fünften Fall stoßen Galways Kommissarin Grace O'Malley und ihr Kollege Rory Coyne bei den Ermittlungen auf einige Ungereimtheiten im angeblich so vorbildhaften Leben des Opfers. Connor führte nicht nur ein Doppelleben mit zwei Familien, sondern hütete auch ein schmutziges Geheimnis. Erst nach und nach ahnt Grace, wie tief sie selbst darin verstrickt ist.

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Hannah O’Brien

Irische Totenwache

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

Für Milla Ivy

Es war ein windiger, trockener Tag. Graínne war mit ihrem Vater Shaun und ihrem Hund stundenlang über Felsen geklettert und über Wiesen gestreift. Sie hatten sich verlaufen und es war spät geworden.

Die kleine Graínne war am Ende so müde gewesen, dass sie fest davon überzeugt war, der steinige Boden wäre ein Himmelbett. Sie bräuchte sich nur noch hinzulegen und auf die Sanftheit der liebevollen grauen Steine zu hoffen, die sie einmummeln würden.

Von Weitem sahen sie einen Wald. Shaun streckte seinen Arm aus und zeigte ihn ihr.

»Wir sollten diesen Wald vor der Dunkelheit noch erreichen, Graínne.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das schaffe ich nicht mehr, Dad. Meine Beine sind so schwer. Ich will mich zu den Steinen legen und ein wenig ruhen. Rusty ist auch sehr müde. Schau, sie hat sich schon hingelegt.«

»Hast du das eben gesehen?« Shaun klang ganz aufgeregt.

Und mit einem Schlag war seine Tochter wieder aufmerksam.

»Nichts habe ich gesehen. Habe ich etwas verpasst?«

»Da drüben, die Bäume, sie haben dir gewinkt!«

Graínne spürte, wie die Aufregung auch von ihr Besitz ergriff.

»Sie können winken?«

»Ich habe es genau gesehen. Die großen Eichen am Waldrand – siehst du es nicht?«

Und als sie näher kamen, hatte Graínne das Gefühl, dass die Bäume sie tatsächlich einluden, zu ihnen zu treten. Sie riss sich von der Hand des Vaters los und rannte auf den Wald zu. Den ersten und den zweiten Baum streifte sie flüchtig, den dritten aber umarmte sie. Sie atmete seinen Duft mit geschlossenen Augen ein, und als sie sie wieder öffnete, konnte sie es kaum fassen: Die Müdigkeit war verschwunden!

»Das ist aber komisch.«

Shaun lachte.

»Ich bin gar nicht mehr müde«, stellte sie fest. »Es ist wie ein Zauber.«

Shaun legte den Kopf in den Nacken und schaute auf die Wipfel der Bäume.

»Oh nein, Graínne, das ist kein Zauber. Die Bäume sind großzügig. Sie schenken uns einen Teil ihrer Kraft. Das darfst du nie vergessen.«

1

»Da sieht man ja den Wald vor lauter Bäumen nicht!«

Der Mann, der das gerade in die Runde der Talkshow geworfen hatte, lehnte sich im Sessel zurück und brach in schallendes Gelächter aus. Die Journalistin neben ihm grinste unverhohlen und signalisierte ihm damit ihre Zustimmung. Als ein paar Sekunden später die Zuschauer im Sendesaal tosenden Applaus spendeten und ebenfalls laut lachten, schaute sich der Moderator amüsiert um.

»Cathal, da scheinen Sie ja mal wieder einen Nerv getroffen zu haben. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Zuschauer, die diese Sendung wie immer live verfolgen, derselben Meinung sind.« Dann wandte er sich an den hageren Mann, der im Sessel neben ihm saß. »Das sieht nicht gut für Sie aus, Éamonn, oder besser, nicht gut für die irische Holzindustrie, wenn man so einen erfahrenen und engagierten Umweltkämpfer wie Cathal Connor als Gegenspieler hat.«

Der Angesprochene, der einen dunkelblauen Pullover unter dem grafitfarbenen Sakko trug, hatte einen leicht verkniffenen Zug um den Mund und schmale Lippen. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Als er sich mit dem Handrücken flüchtig über sein Gesicht strich, konnte man ihm eine gewisse Verzweiflung anmerken. Éamonn Sullivan versuchte trotzdem zu lächeln.

»Cathal und wir, die Irish Norwegian Wood Company, kennen sich in der Tat schon seit vielen Jahren«, sagte er, »und wir vertrauen uns, weil wir …«

Der Umweltschützer hörte sofort auf zu lachen. Er beugte sich zu Sullivan und unterbrach ihn scharf.

»Nun höre sich das einer an! Ich vertraue euch ganz bestimmt nicht. Keinen Zentimeter fruchtbaren Waldbodens würde ich euch anvertrauen! Solange der Staat keine verbindlichen Maßnahmen und Gesetze zum Schutz unseres kleinen, wertvollen Waldbestands verabschiedet, müssen die Iren selbst zu unerbittlichen Hütern der Natur werden, und da bin ich wirklich nicht der Einzige, der …«

»Aber Sie waren einer der ersten, Cathal, man kennt und schätzt Sie im ganzen Land. Sie sind seit Jahren ein Vorbild für viele da draußen!«

Der Moderator Mops Flanaghan nahm einen Schluck Wasser und drehte sich dann abrupt zu der blonden Frau an seiner rechten Seite.

»Laura, Sie als Journalistin und Umweltexpertin aus dem fernen London sehen die Dinge, die sich in unseren irischen Wäldern ereignen, vielleicht ganz anders …?«

Die Angesprochene schlug ihre Beine übereinander und lächelte dünn. »Nein, das tue ich nicht. Ich kann lediglich unterstreichen, was Cathal vorhin sagte: Nur mit rigorosen Kontrollen kann man den Bestand einigermaßen schützen. Besonders im County Wicklow, wo sich die größten und ältesten zusammenhängenden Waldgebiete Irlands befinden. Außerdem sollte man den Export gut im Auge behalten. Da läuft, wie ich gehört habe, zurzeit einiges schief. Und wenn das alles nicht hilft, muss man notfalls auch auf Widerstandsaktionen zurückgreifen. Aber selbstverständlich nur, wenn es keine andere Option mehr gibt.«

»Sie schließen Gewalt nicht aus?«, hakte der Moderator sofort nach.

Nun schlug der stämmige Cathal Connor seine Beine übereinander und lehnte sich zurück. Sein breites Grinsen war auch unter seinem dichten grauen Vollbart gut zu erkennen.

»Oho! Gewalt! Ein raues Wort. Dabei gibt es noch ganz andere gewalttätige Aktionen in unseren Wäldern. Oder wie sollte man die illegalen Abholzungen bei Nacht und Nebel denn sonst bezeichnen, wie sie die Irish Norwegian Wood Company schon seit Langem betreibt? Sie behauptet, die wären ihr gutes Recht, bewegt sich damit aber in einem komplett rechtsfreien Raum. Was passiert denn mit unseren über fünfhundert Jahren alten Eichen, die plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sind, und wo geht das historisch wertvolle Holz überhaupt hin? Soll das etwa Flurpflege sein oder nicht doch eher Gewalt gegen wehrlose Bäume, die keine Nachkommen mehr haben werden, um sie zu rächen?«

Cathal Connor war nun halb aufgestanden und Éamonn Sullivan wich auf seinem Stuhl ein Stück zurück. Einen Moment lang sah es für die Kamera so aus, als würde sich der Umweltschützer im Island-Pullover und der dunklen Jeans auf Sullivan stürzen. Das Publikum verfolgte die Diskussion auf der Bühne wie gebannt. Und auch die gesamte irische Nation saß wie jeden Freitagabend vor dem Bildschirm, um sich die wichtigste Talkshow des irischen Fernsehens anzusehen.

Kommissar Rory Coyne aus Galway und seine Frau Kitty beobachteten den Schlagabtausch von ihrem heimischen Sofa aus.

»Der hat wirklich recht, sag ich doch«, murmelte Rory gerade. »Was da in Wicklow seit Jahren passiert, ist eine Schande. Gut, dass es noch Leute wie Connor gibt, die sich für die Wälder dort einsetzen und ihren Kopf hinhalten.«

Kitty Coyne hatte die Beine aufs Sofa gezogen und hielt sie umschlungen. Sie schaute ihren Mann skeptisch von der Seite an.

»Was meinst du mit Kopf hinhalten? Hat man ihn etwa bedroht?«

Rory angelte sich von dem Beistelltischchen neben dem Sofa eine Handvoll Erdnüsse und warf sie sich in einem kühnen Bogen in den Mund. Sofort begann er zu husten.

»Rory?«

Sie klopfte ihm hart auf den Rücken, bis er wieder zu Atem kam.

»Nein, zumindest habe ich nirgendwo gelesen, dass er bedroht wird. Aber er mischt sich ein und steht nachts mit seinen Hunden Wache, um die Bäume zu beschützen. Er hat überall seine Spione, die für ihn herausfinden, wo illegal abgeholzt werden soll. Und wenn’s mal scheinbar ganz legal abläuft, hat er garantiert ein paar Stunden später eine Verfügung parat, die das untersagt, und das Katz-und-Maus-Spiel geht von vorne los. Das meine ich.«

Kitty nahm ihr Weinglas und nippte daran.

»Er ist denen im Weg.«

»Sag ich doch. Grace behauptet, das läuft schon seit zwanzig Jahren so. Inzwischen ist er der Hauptfeind der irischen Holzindustrie, sag ich doch.«

Kitty setzte sich auf. »Woher will Grace das denn wissen – die hat doch jahrelang in Dänemark gelebt?«

Rory griff zu seinem Bierglas und nahm einen großen Schluck. Er stellte es auf den Sofatisch und grinste.

»Hab ich dir das nicht erzählt?«

Seine Frau schüttelte heftig den Kopf.

»Die O’Malleys lebten doch vor ungefähr fünfzehn Jahren im County Wicklow. Graces Bruder Dara studierte damals in Dublin, Grace selbst ging noch zur Schule und ihre Mutter Liv lehrte am Trinity. Liv O’Malley war offenbar eine Freundin von Connors Frau – deren Namen ich vergessen habe.«

Kitty sah nachdenklich aus. »Ach, das wusste ich nicht. Und was machte Graces Vater?«

Rory zog die Augenbrauen zusammen. »Der ist damals gestorben.«

»Das klingt, als wäre das eine berufliche Tätigkeit.«

»Machst du bitte mal lauter, ich will nichts verpassen.«

Kitty drückte auf die Fernbedienung, die neben ihr lag.

 

Der Moderator versuchte gerade beschwichtigend auf den Vertreter der Holzindustrie einzuwirken, der vor Zorn puterrot angelaufen war.

»Das hat Cathal nicht persönlich gemeint.«

»Doch, das habe ich!«

Cathal Connor vermittelte den Eindruck, selbst stark wie ein Baum zu sein. Er saß feixend neben Sullivan und genoss es sichtlich, dass sein Nachbar wütend nach Luft schnappte.

»Und ich versichere jedem, der heute zuhört: Wir werden die Zerstörung unserer Natur und unserer Bäume nicht zulassen!«, fuhr er fort. »Die Zeiten Heinrich des Achten sind endgültig vorbei, als man alle Bäume unserer grünen Insel gnadenlos ermordete, damit britische Könige mit ihren Schiffen Herrscher über die Meere werden konnten. Auch wenn sich die britischen Könige heute EU nennen und sogar irische Companies unseren Wald verraten. Jeder, der …«

Hier brandete der Beifall des Publikums auf. Einer nach dem anderen erhob sich und klatschte frenetisch. Ein Mann in der dritten Reihe schwenkte bedrohlich beide Arme. Neben ihm drängelte sich plötzlich jemand Richtung Ausgang. Die englische Journalistin hob den Kopf und blickte überrascht in seine Richtung. Der Moderator wirkte verschreckt und wusste nicht, wie er die Situation unter Kontrolle halten konnte. Er sah sich Hilfe suchend um und klopfte mit der Hand an sein Ohr, das darüber offenbar mit der Regie verbunden war.

Éamonn Sullivan war ebenfalls aufgestanden. Er überlegte anscheinend, ob er die Bühne nun rasch durch den nahen Seitenausgang verlassen sollte. Er wirkte panisch und ängstlich. Die englische Journalistin schien sich dagegen sehr wohl zu fühlen und schaute belustigt in die Runde. Sie genoss jede Sekunde, genau wie Cathal Connor, der sich vertraulich zu ihr gebeugt hatte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Beide brachen in Gelächter aus.

Dann wurde es dunkel auf dem Bildschirm, und ein paar Sekunden später erschienen die Worte »vorübergehende technische Störung«.

 

Jemand erhob sich und schaltete das Gerät aus. Dann war es totenstill und stockdunkel im Raum. Der Fernseher war die einzige Lichtquelle gewesen. Draußen hörte man den Verkehr vorbeirauschen. Es vergingen ein paar Sekunden, bis eine Stimme klar und deutlich sagte: »Das war dein letzter Auftritt.«

2

Cathal Connor war mit Laura Sterne und dem Moderator nach der Sendung noch in die Bar von RTÉ gegangen und hatte ein halbes Pint getrunken. Viele schlugen ihm auf die breiten Schultern, und es war deutlich zu erkennen, wie sehr ihn dieser Zuspruch freute. Sullivan war nirgends zu sehen.

»Fährst du gleich nach Hause?«, fragte die Journalistin, die neben Connor am Tisch saß.

Er überlegte einen Moment lang. Dann sah er auf die Armbanduhr, schielte zur Bar hinüber und nickte.

»Dann kannst du mich ein Stück mitnehmen. Mein Hotel liegt nicht weit von der Ausfahrtsstraße nach Wicklow entfernt. Du fährst doch nach Wicklow, oder?«

Connor kräuselte die Stirn, als wollte er etwas einwenden, doch dann nickte er erneut.

»Aber ich breche jetzt wirklich gleich auf, Laura. Wenn du noch ein wenig bleiben willst, frag jemand anderen oder ruf ein Taxi.«

Cathal Connor griff nach seiner Jacke und zögerte. Wieder warf er einen Blick hinüber zur Bar. Dort saß der Moderator an der Theke und war in ein Gespräch mit einer jungen Frau vertieft. Sie hatte ihr rotes Haar zu einem langen Zopf geflochten, der ihr bis über den Po reichte.

Laura ging zu Flanaghan hinüber und sprach ihn an, während Cathal ein paar Schritte entfernt kurz stehen blieb. Die junge Frau drehte sich halb zu ihm um.

»Du warst gut in der Show. Aber das bist du ja immer.«

Sie wandte sich wieder ihrem Drink zu und wartete nicht auf eine Reaktion von Cathal.

»Ich fahr jetzt zurück ins Hotel, Mops«, sagte Laura. »Cathal nimmt mich mit.«

Der junge Mann nickte unkonzentriert und hob zum Abschied kurz die Hand. Dann wandte er sich wieder seiner attraktiven Gesprächspartnerin zu, die unbeteiligt mit einem pinkfarbenen Strohhalm an ihrem Cocktail sog.

Connor war schon durch die Tür, als Laura ihm hinterherrannte. Erst auf dem Parkplatz direkt vor dem Hauptgebäude hatte sie ihn eingeholt.

»Du hast es aber eilig, Cathal!«

Sie stolperte im Dunkeln über den nassen Asphalt.

Der Umweltschützer reagierte nicht. Er ging zu seinem Van und zwängte sich hinter das Steuer. Dann beugte er sich zur Beifahrertür und öffnete sie. Ehe Laura einstieg, hob sie eine kleine, blaue Reisetasche vom Sitz, die sie ihm reichte.

»Tut mir leid, der Wagen ist ein Saustall. Ich bin im Moment wenig zu Hause und lebe aus dem Koffer.«

Cathal warf die Stofftasche auf die hintere Bank.

»Immer noch Galway?« Sie erhielt keine Antwort von ihm. »Kein Problem, ich hätte ja wirklich ein Taxi nehmen können, aber ich wollte noch etwas mit dir besprechen – ohne die anderen.«

Sie war nun doch noch draußen an der offenen Tür stehen geblieben.

Der stämmige Mann stutzte und schürzte dann die Lippen, als wollte er protestieren. Doch er sagte nichts und verschränkte abwartend die Arme.

»Was gibt es, Laura? Ich bin hundemüde.« Connor hörte sich tatsächlich erschöpft an.

»Wo sind eigentlich deine Hunde?«

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Sie sind zu Hause. Ich nehme sie ja nicht mit ins Studio. – Worum geht es?«

Die Journalistin zögerte einen Augenblick, dann stieg sie zu ihm in den Van. Sie schaute ihn angriffslustig von der Seite an. In ihrer Stimme lag ein Vorwurf.

»Um die Dinge, die in Devils Glen Wood passieren. Die ganzen illegalen Abholzungen, die die Irish Norwegian Wood Company seit Jahren betreibt.«

Er schaute starr geradeaus.

»Das haben wir doch eben vor der ganzen Nation durchgekaut. Hast du etwa gepennt?« Er klang mürrisch. Sie ignorierte es.

»Du hast vorhin nur das ausgebreitet, was offiziell ohnehin schon bekannt ist.«

Er starrte weiter in die Dunkelheit.

Sie hatte sich auf dem Sitz halb zu ihm gedreht.

»Du hast etwas Entscheidendes ausgelassen.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Du weißt es genau, Cathal, und du weißt auch, dass ich es weiß. Ohne meine Recherche wärst du gar nicht darauf gestoßen.«

»Tara Towers?«, fragte er ausweichend.

Sie nickte.

Connor ließ den Motor an. Als er auf die Stillorgan Road abbog, fuhr ein wendiger kleiner Wagen ebenfalls vom Parkplatz des Senders und schlug denselben Weg wie Connor ein. Die N138 führte direkt zur großen Schnellstraße, die Dublin mit dem Südosten des Landes verband.

Kurz darauf erreichten sie die Zufahrt des großen Hotels, das von den Gästen des irischen Fernsehsenders gern genutzt wurde. Connor hielt am Haupteingang und ließ den Motor laufen.

»Gut, du hast mir geholfen«, räumte er schließlich ein. »Aber über kurz oder lang wäre ich auch selbst dahintergekommen. Ich bin denen ein riesiger Dorn im Auge. Aber solange ich ihnen nichts Konkretes nachweisen kann, halte ich mich besser bedeckt. Da hänge ich nichts an die große Glocke, schon gar nicht im Fernsehen. Aber es wird nicht mehr lange dauern, bis ich alles publik machen kann, und dann werden Köpfe rollen. Verlass dich drauf. Und da ist Éamonn Sullivan nur ein kleiner Fisch.«

Laura Sterne schwieg verschnupft. Doch seine harsche Reaktion schien ihm kurz darauf leidzutun.

»Gute Nacht, Laura. Bitte, sei mir nicht böse. Ich bin einfach völlig erschöpft und muss jetzt ins Bett.«

Er atmete tief aus. Die Journalistin öffnete langsam die Beifahrertür und versuchte seinen Blick zu erhaschen.

»Da bist du nicht der Einzige. Ich bin seit Wochen an einer heißen Geschichte dran, die alles sprengt, was ich bisher gemacht habe. Wenn ich das schaffe, habe ich es geschafft.«

Cathal grinste abschätzig. »Wie schön für dich. Ich wünsche dir alles Gute.«

Sie beugte sich wieder zu ihm und musterte ihn aufmerksam. »Hat man dir gedroht?«

Er sah durch sie hindurch. Sein Blick fiel auf eine Gruppe von Rauchern, die neben dem Hoteleingang stand. Keiner von ihnen nahm Notiz von dem Van mit dem laufenden Motor.

Schließlich schüttelte Cathal den Kopf. »Nein, niemand ahnt etwas.«

Laura griff nach ihrer Tasche und sprang auf den Asphalt.

»Gute Nacht, Cathal, und pass auf dich auf!«

Sie warf die Tür zu und lief zum Eingang des Hotels, ohne sich noch einmal umzuschauen.

Connor wendete den Wagen und fuhr zurück zur Straße. Sie war leer, bis auf einen kleinen dunklen Wagen, der an der nächsten Ecke parkte. Einen Moment lang blieb Connor stehen und überlegte. Dann setzte er den Blinker und fuhr zurück auf die Hauptstraße in Richtung der Umgehungsautobahn. Das war der schnellste Weg zur M4, die ihn nach Galway bringen würde. Gott, er war tatsächlich müde. Wenn er Glück hatte, war er in etwa zwei Stunden da. Cathal Connors Gähnen ging in ein Lächeln über, als er an Galway dachte.

Den kleinen Wagen, der sich vom Straßenrand löste und sich an seine Fersen heftete, bemerkte er nicht.

3

Neun Tage später

 

Grace O’Malley wunderte sich, wie hell es schon war, Mitte März um kurz vor halb acht Uhr morgens. Man hatte sie benachrichtigt, dass in einem Waldstück der Derroura Woods gleich hinter Oughterard von Spaziergängern mit Hunden eine männliche Leiche gefunden worden war. Die Leiche war offenbar schon im Zustand der Verwesung, musste also schon einige Tage dort gelegen haben. Außerdem sei sie »nicht komplett«, was immer der ortsansässige Guard, der die Zentrale informiert hatte, damit meinte.

Die Leiterin des Morddezernats Galways gähnte ausgiebig und rieb sich die Augen. Sie war zu dieser frühen Stunde mit ihrem Kollegen Rory Coyne verabredet, der direkt von zu Hause aus in den Wald von Derrymoyle zum Fundort der Leiche geeilt war.

Hinter der beliebten Kleinstadt Oughterard mit dem besten Metzger der ganzen Gegend und den eleganten viktorianischen Villen, die eine angelsüchtige englische Feudalschicht einst hatte bauen lassen, fuhr sie zunächst in Richtung des Lough Corrib, des größten irischen Sees, und bog dann links auf die kleine Straße ab, die nach Derrymoyle führte.

Am Ortseingang hielt sie kurz an. Einzelne Höfe und große Wochenend-Cottages wechselten sich ab und lagen weit verstreut um den See herum. Ein Ortskern war nicht zu erkennen. Hier war Grace noch nie zuvor gewesen, und sie zögerte, ob sie abbiegen oder noch weiterfahren sollte, um auf das von ihrem Kollegen beschriebene Waldstück zu stoßen.

Da schob ein Mann mit der für ältere Iren unverzichtbaren Tweedkappe sein Fahrrad aus einem Schuppen und kam zielstrebig auf ihren Wagen zu. Grace ließ das Fenster herunter und wollte ihn gerade nach dem Wald fragen, als er sie breit grinsend informierte.

»Guten Morgen, Ma’am. Ihre Kollegen sind schon da. Fahren Sie einfach die Straße weiter bis zum letzten Haus auf der linken Seite. Da zweigt ein winziger Feldweg ab. Sieht man kaum. Folgen Sie dem noch zwei, drei Minuten, dann sehen Sie schon die Bäume und natürlich die Autos von Garda. Ich hab Sie vor Weihnachten im Fernsehen gesehen. Die Leichen in den Kirchen, Gott hab sie selig, das war einsame Spitze.«

Er tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an den Schirm der nach jahrelangem Gebrauch fast farblosen Kopfbedeckung und hob langsam sein Bein über die Mittelstange und den zerfurchten Ledersattel seines Fahrrads. Grace schien es, als kicherte er in sich hinein. Sie zwinkerte ihm zu.

»Vielen Dank für die lückenlose Information. Es wäre schön, wenn Sie noch mehr beizutragen hätten, Mister …« Sie ließ ihre Stimme schweben.

»Pat.«

»Gut, Pat. Wissen Sie sonst noch etwas?«

Der Alte stellte sein Bein wieder zurück auf den Asphalt.

»Wie was, zum Beispiel?«

Er kam noch einen Schritt näher, und Grace konnte jetzt die Tiere an ihm riechen, mit denen er wohl täglich zu tun hatte. Die Kommissarin wusste, wie die Menschen hier auf dem Lande tickten, aber es gab immer wieder Überraschungsmomente.

»Etwas über den Toten zum Beispiel.«

»Den kannte ich nicht. War nicht von hier.«

»Tatsächlich? Das heißt, Sie haben die Leiche gesehen, Pat?«

Nun schaute er sie zweifelnd an. »Nee, aber Dottie hat sie gesehen, das reicht.«

Grace unterdrückte ein Schmunzeln und verabschiedete sich. Er schaute ihrem Wagen hinterher, wie sie im Rückspiegel verfolgen konnte.

Beim letzten Haus bog sie nach links auf einen schlammigen Feldweg ein. Feiner, weißgrüner Dunst lag über den Wiesen und verlieh ihnen ein zauberhaftes Flair, wie ein zart gesponnener Umhang, den eine Hexe gut gelaunt über die Landschaft geworfen hatte. Dieser halbtransparente Nebel verhüllte auch den Wald vor ihr.

Grace beugte sich näher zur Windschutzscheibe und strengte ihre Augen an. Sie fuhr nun Schritt und spähte nach beiden Seiten. Im Dorf war alles noch klar erkennbar gewesen, doch hier, nur ein paar hundert Meter weiter, war die Welt auf einmal in einen fahlen Dunst getaucht, gegen den sich die niedrige, blassgelbe Sonne kaum durchsetzen konnte. Das musste mit der unmittelbaren Nähe zum See zu tun haben, dachte Grace. Vom Wasser her waberten Wolken wie kleine klebrige Segel heran, und als sie sich plötzlich auflösten, sah sie in kurzer Entfernung eine Handvoll Polizeiautos stehen und erkannte auch den grünen Familien-Kleinbus ihres Kollegen Rory. Die Garda-Beamten waren wie Leprechauns irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden.

Grace sprang aus ihrem Wagen und lief dorthin, woher sie Stimmen vernahm.

Es war eine Schonung dicht stehender Kiefern, wie man sie hier im irischen Westen seit den frühen Achtzigerjahren zur raschen Aufforstung verwendete, auch wenn sie nicht besonders gut in die Landschaft passten, wie Grace fand. Erfahrene Bauern hatten ihr erzählt, dass diese Bäume ziemlich nutzlos gegen die Erosion der Böden waren, die durch die Niederschläge und Stürme hier besonders gefährdet waren. Doch solange die EU diese Baumsorte förderte, war niemand an nachhaltigen Alternativen interessiert.

»Hierher, Grace! Hier liegt der Tote!«

Es war Rorys melodische Stimme, die ihr entgegenschallte. Der Kommissar hatte sich neben die Gerichtsmedizinerin Aisling O’Grady gekniet und winkte seiner Chefin zu. Neben ihm stand in einer blauen Garda-Uniform die elfenhafte Sergeant Donovan, die seit dem Tod ihrer Kollegin Sheridan deren Posten übernommen hatte. Ihre hellblonden krausen Löckchen quollen unter der Polizeimütze hervor. Donovan lächelte die Kommissarin an.

»Guten Morgen, Ma’am!«

Grace erwiderte ihr Lächeln und wünschte allen ebenfalls einen Guten Morgen.

Rory kratzte sich hinter dem Ohr und stand auf.

»Dem Zustand der Leiche nach zu urteilen könnte sie schon ein paar Tage hier gelegen haben. Die Spurensicherung versucht gerade festzustellen, ob der Fundort auch der Tatort ist. Da gibt es erhebliche Zweifel.«

Rorys kompakte Figur verhinderte den Blick auf den Toten.

»Wo sind die Zeugen, die ihn gefunden haben?«, fragte Grace.

Der blonde Sergeant antwortete blitzschnell. »Die haben wir für zehn in die Zentrale bestellt. Ohne ihre Hunde.«

Die Kommissarin warf Donovan einen fragenden Blick zu.

»Sie wohnen in Oughterard, und das hier ist ihr tägliches Gassi-Gebiet.«

Um Graces Mund zuckte es. »Aha. Na, dann wollen wir mal …«

Rory war einen Schritt zur Seite getreten und gab nun den Blick auf die Leiche frei, die auf dem feuchten Waldboden lag.

»Oh!« Grace wich instinktiv zurück und starrte ungläubig auf den toten Körper vor ihr. »Das ist ja …« Sie brach ab.

»Wir wollten es dir nicht vorher sagen, Grace. Wir waren alle schockiert, wie du dir denken kannst.«

Die Kommissarin schluckte und ging langsam in die Knie, um die Leiche besser in Augenschein nehmen zu können.

Dann blickte sie zu ihrem Kollegen. »Aber was zum Teufel hat dieser Pat gemeint?«

Nun schaute Rory verwirrt. »Pat …?«

Die Kommissarin runzelte die Stirn. »Dieser Farmer, dem ich gerade im Dorf begegnet bin. Er wusste über den Leichenfund schon genau Bescheid.«

Sie beugte sich über den Oberkörper des toten Mannes.

»Er hat gesagt, dass er den Toten nicht kennt, weil der nicht aus der Gegend sei. Und eine gewisse Dottie, die die Leiche offenbar selbst gesehen hat, hat ihm genau das bestätigt.«

»Dottie?«

Alle schwiegen unsicher.

Grace stand langsam auf, ging auf Rory zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann sagte sie mit rauer Stimme: »Wie kann man so etwas behaupten, wenn der Tote keinen Kopf mehr hat?«

4

Grace beendete erschöpft ihr Telefonat. Sie hatte mehr als zehn Gespräche an diesem Vormittag geführt, das letzte mit ihren Kollegen in Dublin.

Rory Coyne schaute sie erwartungsvoll an. »Und was meinen die?«

Die Kommissarin drehte sich auf ihrem Stuhl.

»Sie sagen, sie schicken DNA-Proben zu uns rüber, damit Aisling die abgleichen kann.« Sie schien nachzudenken.

»Das ist sinnvoll, sag ich doch. Rein vom Körperbau her könnte er es tatsächlich sein, aber solange wir keinen Kopf dazu haben, müssen wir seine Identität anders abklären. Da ist die DNA naheliegend. Aber dich beschäftigt etwas anderes, nicht wahr?«

Rory betrachtete seine Chefin aufmerksam. Er trug seit Kurzem nicht mehr die geliebte Uniform, die er aufgrund seines Ranges sowieso schon längst hätte ablegen können. Dabei hatte er es immer bequem gefunden, sich morgens nicht den Kopf darüber zerbrechen zu müssen, was er anziehen sollte. Die Modernisierung der gesamten Garda-Ausstattung zu Beginn des Jahres hatte ihn schließlich umgestimmt. Er fand die neue Uniform viel zu schick und völlig unangebracht. Auch hatte ihm seine Frau Kitty in der Eingewöhnungszeit ihre Hilfe angeboten, was die Auswahl möglicher Kleidungsstücke betraf. Allerdings hatte sie betont, dass sie ihm auf keinen Fall jeden Abend die Kleidung für den kommenden Tag bereitlegen würde. Schließlich sei Kommissar Coyne ein erwachsener Mann und kein Kind mehr und würde auch im Beruf seine Entscheidungen allein treffen. Das hatte gesessen.

»Dich beschäftigt etwas anderes«, wiederholte Rory.

Grace hielt den Drehstuhl an und nickte.

»Wenn er es tatsächlich ist, werden sie ihn haben wollen. Mit Sicherheit.«

Rory lachte laut auf.

»Das überrascht mich nicht. Das ist typisch für Dublin. Die wollen sich immer vordrängen, immer die Sahnehäubchen abschlecken«, knurrte er.

Grace musste grinsen. »Wie weit ist es mit uns gekommen, wenn wir kopflose Leichen als Sahnehäubchen bezeichnen … Betonung auf Häubchen.«

Rory stutzte einen Moment, gab ihr dann jedoch lächelnd recht.

»Wenn der Mord hier in Galway passiert ist, gehört er uns, ganz klar. Wir schicken ja auch keine Leiche, mag sie noch so französisch sein, nach Paris zurück, nur weil der hier Ermordete dort geboren wurde. Wie lange ist Connor denn schon als vermisst gemeldet?«

Grace rief etwas auf ihrem Pad auf und starrte auf das Display.

»Zehn Tage. Man hat ihn das letzte Mal nach seinem TV-Auftritt am vierten März lebend gesehen, als er einen anderen Gast der Talkshow im Hotel absetzte. Danach verläuft seine Spur im Sand. Connor verschwand in der Nacht vom vierten auf den fünften März. Er kam nie zu Hause an.«

»Und wo genau ist sein Zuhause?«

Grace blickte auf. »In der Nähe von Glendalough in Wicklow. Zumindest war es das früher.«

Rory zog ungeduldig an seinem neuen grünen Schlips mit den weißen Punkten, den er sich am Morgen umgebunden hatte. Er hatte mittlerweile beschlossen, ihn zu hassen.

»Du meinst, als deine Familie noch dort gelebt hat? Vor fast zwanzig Jahren?«, fragte er.

»Ja. Wir wohnten einen knappen Kilometer weiter südlich auf einem Hof, und die Connors etwas näher bei Glendalough. Mit dem Auto zwei, drei Minuten von uns entfernt.«

Grace O’Malley runzelte die Stirn, als müsste sie sich sehr konzentrieren, um sich zu erinnern.

»Hast du ihn gut gekannt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wie man sich halt so kennt als Nachbarn. Ich hatte nicht viel mit seiner Familie zu tun. Sie hatten zwei Kinder, die waren aber zehn Jahre jünger als ich, also uninteressant für einen Teenager. Das einzig Interessante an ihnen waren ihre Labradore. Ich hatte ja selbst einen Hund. Mein Vater erzählte manchmal von Cathal und seinen Aktionen für den Umweltschutz. Manchmal tranken sie auch ein Pint zusammen im Pub im Dorf. Damals hatte nur meine Mutter mehr Kontakt zu ihnen. Sie war mit Connors Frau befreundet. Ich müsste sie mal anrufen.«

»Connors Frau?«

Grace blickte überrascht auf. »Nein, meine Mutter, meine ich. Für Connors Frau ist es zu früh, solange wir nicht sicher sind, dass es sich bei unserem Toten wirklich um ihn handelt.«

»Wie heißt seine Frau?«

Grace stand auf und kam um den Schreibtisch herum.

»Ich versuche schon die ganze Zeit mir ihren Namen ins Gedächtnis zu rufen.« Sie überlegte eine Weile. »Ist mir einfach entfallen. Irgendwas Patriotisches, erinnere ich mich verschwommen.«

Grace strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und blickte zu ihrem Kollegen. »Sie war eine merkwürdige Frau.«

Rorys Interesse war sofort geweckt. »Was meinst du mit merkwürdig?«

Er wühlte in seinen Hosentaschen nach einem seiner eingerollten Zettelchen, die er für die Aufzeichnung seiner Ermittlungsergebnisse verwendete.

»In diesen Jacken finde ich rein gar nichts mehr«, brummelte er. »In meiner Uniform herrschte wenigstens Ordnung.«

Grace beobachtete ihn amüsiert. »Diesen Eindruck hatte ich nicht gerade, Rory. Du neigst zur Romantisierung deiner alten Uniform, wenn ich das einmal anmerken darf.«

Er warf ihr einen halbernst gemeinten empörten Blick zu. »Was an Connors Frau war merkwürdig?«

Grace hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

»Sie war, glaube ich, Chemielehrerin an einer dieser teuren Privatschulen in Dublin 4.«

Nun hatte er endlich einen Streifen Papier und einen Stift gefunden. Er beugte sich über den Schreibtisch und notierte sich etwas.

»Das ist an sich ja noch nicht merkwürdig.« Er versuchte, gelassen zu klingen und sich nicht anmerken zu lassen, dass er etwas gereizt war. Das Fehlen der Uniform nagte mehr an ihm, als er zugab.

»Natürlich nicht.« Grace kehrte zu ihrem Drehsessel zurück und setzte sich. Sie sog an ihrer Unterlippe.

»Ich habe mich damals immer gewundert, dass meine Mutter sich so gut mit ihr verstand, das weiß ich noch. Eigentlich konnte Liv Leute wie Erin nicht ausstehen … Jetzt weiß ich es wieder! Sie hieß Erin. Wie der gälische Name von Irland.«

Grace klang erleichtert.

»Sie war einer dieser Menschen, die sich für alles und jeden einsetzen und interessieren. Auch ungefragt.«

Rory hob die Augenbrauen. »Aber das kann doch ein durchaus schöner menschlicher Zug sein, oder?«

Grace lachte abfällig. »Ja, nur bei ihr war es nicht echt. In Wirklichkeit waren ihr alle egal, sogar ihre Kinder, und ihr großes Engagement für ich weiß nicht was alles, war nur geheuchelt. Erin interessierte sich ausschließlich für sich selbst, behauptete aber das glatte Gegenteil.«

»Hat deine Mutter das nicht gemerkt?«

Grace wog den Kopf hin und her. »Das ist ja das Kuriose. Normalerweise durchschaut meine Mutter solche Leute sofort, aber in diesem Fall …«

»Frag sie doch einfach mal.«

Grace nickte. »Das werde ich. Was haben eigentlich die Spaziergänger ausgesagt, die den Toten gefunden haben? Du hast sie doch vernommen?«

Rory rollte seinen Zettel zusammen und ließ ihn in die Innentasche seiner Cordjacke gleiten.

»Normalerweise gehen sie mit ihren drei Hunden jeden zweiten Tag dorthin. Aber leider waren sie bis gestern in Urlaub und über eine Woche nicht mehr in diesem Waldstück. Was wirklich bedauerlich ist, denn sonst hätten sie ihn sicher schon früher gefunden.«

»Falls er dort schon gelegen hätte.«

Rory warf ihr einen Blick zu. »Ihre letzte Runde vor dem Urlaub fand einen Tag nach Connors Verschwinden statt, da haben die Tiere nichts aufgestöbert. Es handelt sich um einen Border Collie, eine zottelige Promenadenmischung und einen Beagle. Die drei verschwanden heute im Nu im Gebüsch und schlugen kurz darauf an. Das Ehepaar, sie heißen MacNamara, folgte den Hunden, denn dieses Verhalten sei angeblich ungewöhnlich für die Tiere. Und so fanden sie unsere Leiche, bewacht von aufgeregten, aber disziplinierten Vierpfötern. Sie verständigten uns sofort per Handy. Und dann tauchte die Nachbarin dort auf.«

Grace bedankte sich, als es plötzlich an ihrer Bürotür klopfte. Es war Sergeant Donovan. Sie hielt etwas in der Hand und legte es vor der Kommissarin auf den Tisch.

»Das haben sie in der Nähe der Leiche gefunden, Ma’am.«

Grace und Rory beugten sich gleichzeitig über die Plastiktüte.

»Was ist das?« Die Kommissarin hielt die Tüte gegen das Licht.

»Ein schmales weinrotes Lederetui. Aber leer.« Rory schnalzte mit der Zunge.

»Kann schon ewig dort gelegen haben und muss nicht unbedingt mit unserem Fall zu tun haben, Rory. Aber wir nehmen alles. Danke, Sergeant«, sagte Grace.

Die junge Frau wandte sich zur Tür und schien zu zögern.

»Ist noch etwas?«

Sie drehte sich langsam um, als befände sie sich in einer Art Traum.

»Und was, wenn der Tote tatsächlich Cathal Connor ist?«, murmelte sie.

Rory kniff beide Augen zusammen, während Grace verwundert die Brauen hob.

»Was soll dann sein? Wir untersuchen den Fall genau wie jeden anderen. Was dachten Sie denn, Sergeant?«

Die kleine Polizistin, die fast wie ein Schulmädchen aussah, stellte ihre zierlichen Füße so, als wollte sie gleich eine Ballettnummer vorführen und in die Höhe springen.

»Das meinte ich nicht, Ma’am. Mr Connor ist doch aus Wicklow. Er lebt und arbeitet dort, nicht wahr? Aber Wicklow liegt ganz am anderen Ende von Irland.«

Grace und Rory tauschten verwunderte Blicke und nickten dann beide in Donovans Richtung.

»Was wollte er hier in Galway? Egal, ob lebendig oder tot. Was zum Teufel wollte er hier? Und warum wurde er ausgerechnet hier ermordet? Das könnte doch wichtig sein, oder?«

5

Wenige Stunden später wussten sie, dass es sich bei der kopflosen Leiche tatsächlich um den beliebten Umweltschützer Cathal Connor handelte. Kurz nachdem die Nachricht eingetroffen war, hatte Robin Byrne, der Chef von Gardai Galway, auch schon seinen Kollegen aus Dublin am Hals, beziehungsweise am Telefon, der auf die Überführung der Leiche nach Dublin bestand. Robin war ruhig, sachlich und unnachgiebig geblieben.

»Taylor war im Grunde klar, dass er keine Chance hatte, die Leiche einzusacken. Galway ist Galway und nicht Dublin. Dass er es trotzdem versuchen würde, war vorauszusehen und durchaus informativ.«

Byrnes lange Gestalt lehnte an der offenen Tür von Graces kleinem Büro. Neben ihm stand Kommissar Kevin Day. Er hatte seine Lesebrille auf der Nase und sein Gesichtsausdruck war finster, als er sprach.

»Wenn es sich um irgendeinen kopflosen Paddie, Michael oder Jimmy gehandelt hätte – glaubt ihr, dass sich Phoenix Park bei uns gemeldet hätte? Aber Cathal Connor, Irlands Retter und furchtloser Rächer wehrloser Bäume, das ist selbstverständlich etwas anderes! Das ist ein Sahnehäubchen!«

Rory, der den Kollegen eigentlich nicht ausstehen konnte und selten dazu neigte, ihm bei irgendetwas zuzustimmen, nickte vom Büro aus heftig. Grace grinste und zwinkerte Rory heimlich zu.

»Aber wenn sich herausstellt, dass er in Dublin ermordet und erst danach hierhergebracht wurde, steht er denen selbstverständlich zu.« Robin Byrne hob warnend den Finger, doch niemand schenkte ihm Beachtung. »Also los, an die Arbeit! Und bringt mir endlich den Kopf!«

Byrne und Kevin Day schlenderten den Korridor entlang zurück zu ihren Büros.

»Das hört sich eher nach Heinrich dem Achten an als nach Garda-Arbeit im dritten Jahrtausend«, murmelte Grace gedankenverloren, während sie ihre Tasche packte.

Rory stand abwartend an der Tür. »Genau den hat Connor bei seinem letzten Auftritt im Fernsehen auch erwähnt. Komisch, dass du das jetzt sagst.«

Einen Moment lang sah Grace ihren Kollegen irritiert an. »Wen hat er erwähnt?«

Rory knöpfte sich umständlich die neue Jacke zu. »Na, Heinrich den Achten. Mrs Coyne und ich haben die Talkshow an dem Abend verfolgt. Connor lag im Clinch mit der Holzindustrie. Es ging mal wieder hoch her!«

Grace stemmte ihre Arme in die Taille. »Was hatte das mit Heinrich dem Achten zu tun?«

Der Inspektor schaute sie treuherzig an. »Mit diesem König begann die Vernichtung der irischen Wälder, weil er das Holz für den Bau der britischen Flotte brauchte. Das weiß jedes Schulkind bei uns. Und zweihundert Jahre später waren die irischen Wälder Geschichte. Das wenige, was noch übrig geblieben war, holzten später die Viktorianer ab.«

Grace dachte nach. »Stimmt, das haben wir in der Schule auch gelernt. Aber der Tudorkönig wurde eigentlich für etwas anderes bekannt …«

Rory nickte. »Ja, für seine zahlreichen Ehen, die fast immer damit endeten, dass die einst geliebte Angetraute geköpft wurde.«

Er machte eine müde Handbewegung auf der Höhe seines Halses.

»Puh – wie Connor«, seufzte Grace.

Nun zog sich Rory eines seiner karierten Taschentücher aus der Jackentasche und fuhr sich damit über die Stirn.

»Das wäre ja ein Ding, Grace. Ich glaube aber, die Connors führten eine Bilderbuchehe. Ich tippe eher auf Éamonn Sullivan und seine Schergen.«

Graces Augenbrauen fuhren fragend in die Höhe.

»Der Typ von der Holzindustrie. Wie heißt die Firma noch?« Rory überlegte einen Moment lang. »Ich hab’s gleich. Es hat mit den Beatles zu tun …«

Der Kommissar runzelte angestrengt die Stirn, die nun trocken war.

Grace musste lächeln. »Rory, deine Gedanken möchte ich manchmal haben. Aber nur manchmal, schränke ich ein. Was verbindet die Beatles mit der irischen Holzindustrie?«

»Moment, ich hab’s gleich.« Er befeuchtete seinen Zeigefinger und hielt ihn in die Luft.

»Prüfst du jetzt den Luftdruck?«

Plötzlich strahlte er seine Chefin an. »Norwegian Wood. Das ist es. Die Irish Norwegian Wood Company. Cathal Connor ging denen mit seinen Umweltaktionen gewaltig auf die Nerven.«

Rory fischte eine gestreifte Bommelmütze aus seiner Aktentasche und zog sie sich über.

»In einer Stunde geht ein Garda-Helikopter«, sagte er. »Da gibt es noch einen Notsitz für mich. Ich will mal versuchen, Connors letzte zehn Tage zu rekonstruieren, und fange bei RTÉ und in Wicklow damit an. Du kannst die Sache ja inzwischen von der anderen Seite aufrollen und hier vor Ort beginnen. Kopfgeldjägerei eingeschlossen. Vielleicht treffen wir uns in der Mitte.«

Der Inspektor musste grinsen.

»Halte mich auf dem Laufenden, Rory. Irgendwie habe ich kein gutes Gefühl bei diesem Fall«, sagte Grace.

Rory, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, drehte sich noch einmal um.

»Wieso?«

Die Kommissarin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Es scheint um viel mehr zu gehen, als man auf den ersten Blick sieht.«

Rory trat einen Schritt auf sie zu und senkte die Stimme. »Ist das nicht immer so, Grace? Bei fast jedem Mord?«

Einen Moment lang herrschte Stille zwischen ihnen. Dann wurde weiter hinten im Gang die Tür aufgerissen und man hörte einen kräftigen Fluch. Ein wütender Kevin Day kam aus seinem Büro geschossen. Sein bärtiges Gesicht war gerötet.

»Gut, dass ich euch noch erwische! Rob erhielt eben per Mail die Info, dass Taylor sein Team aus Dublin zu uns auf den Weg geschickt hat. Er hat nicht mal auf Robins Antwort gewartet. Was glaubt der, wer er ist!«

Es folgte ein weiterer lauter Fluch, der durch den langen Korridor hallte.

Grace sah Rory an. In ihrer dunklen Stimme lag ein Hauch von Triumph.

»Was habe ich gesagt, Rory? Und das ist erst der Anfang.«

6

»Sein Kopf wurde mit einem scharfen Werkzeug säuberlich vom Rumpf abgetrennt – schau mal, hier!«

Die Gerichtsmedizinerin Aisling O’Grady zeigte auf Rissstellen in der Haut, die sich wie ein blutiger Kragen um den Hals des Opfers gelegt hatten.

»Du meinst also wirklich abgetrennt, nicht abgeschlagen, wie mit einem Beil?«, vergewisserte sich Grace. »Das klingt ja wie bei einem Scharfrichter im Mittelalter.«

Die junge Ärztin kniff kurz die Augen zusammen. »Ja, so ähnlich.«

Grace ging zum anderen Ende der nackten Leiche und schaute sich die Füße genauer an.

»Ihm fehlt ein Teil des linken großen Zehs«, stellte sie fest.

Aisling stemmte die Arme in die Hüften.

»Das nennt man eine Brachydaktylie. Ist gar nicht so selten. Die erblich bedingte Verkürzung eines Fingers oder Zehs. Ich habe das im Obduktionsbericht erwähnt.«

Die Kommissarin runzelte die Stirn. »Sieht wie angeknabbert aus.«

»Angeknabbert?« Aisling rümpfte die Nase.

»Und wie lange lag er dort schon?«

Die junge Frau hatte ihr rotblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine grüne Haube übergezogen, in der gleichen Farbe wie die Tunika, die sie trug. Ihr Mundschutz war ebenfalls grün.

»Schwer zu sagen. Kaum mehr als drei, vier Tage, würde ich mal vermuten. Vielleicht sogar weniger. Aber das ist eher geraten, aufgrund der schlechten Witterungsverhältnisse der letzten Woche. Zumindest kann ich mit Sicherheit sagen, dass er vor ungefähr acht bis neun Tagen gestorben ist.«

»Also relativ rasch nach seinem Verschwinden.«

Aisling nickte. »Sieht so aus.«

»Und wie wurde Connor getötet?«

Aislings Blick fiel wieder auf das obere Ende des Torsos, der in einem blutverkrusteten Stumpf endete.

»Jedenfalls nicht durch die Enthauptung. Den Kopf verlor er erst nach seinem Tod. Ihm wurde irgendwas injiziert. Ich habe im Rücken eine Einstichwunde gefunden, was bei dem Verwesungsgrad der Leiche ein absoluter Glücksfall ist. Aber was es war, werden wir erst morgen erfahren, wenn ich die Laborergebnisse bekomme.«

Grace ging ein paar Schritte durch den Obduktionsraum und legte die Fingerspitzen an ihre Nase, um sich besser zu konzentrieren. Sie überlegte.

»Normalerweise wird der Kopf nur abgetrennt, wenn man die Identität der Leiche verschleiern will. Das kann bei diesem Mord allerdings kaum eine Rolle gespielt haben. Dafür war Connor zu bekannt und sein Verschwinden auf unserer doch recht übersichtlichen Insel viel zu auffällig. Immerhin scheint es eine verwertbare Information über den Täter zu sein. Wir müssen auf jeden Fall weiter nach dem Kopf suchen – auch im See, der ja nicht weit von der Fundstelle entfernt ist.«

Aisling hatte sich über ihren Laptop gebeugt und gab etwas ein.

»Gut, dann hoffen wir mal, dass es sich nicht bloß um eine Trophäe handelt.«

Die Kommissarin hob irritiert den Kopf. »Wie meinst du das?«

Die Medizinerin grinste. »Salome und Johannes, Judith und Holofernes – in alten Mythen und Legenden waren Frauen häufig auf die Köpfe von Männern scharf. Für die ganz private Vitrine. Und nicht zum Herumzeigen. Das solltest du dir merken. Natürlich nur, wenn der Mörder es als Statement meinte.«

Grace wiegte den Kopf. »Also aus Rache?«

Aisling schaute perplex.

Plötzlich meldete sich Graces Handy. Sie fischte es aus der Innentasche ihres Regenmantels.

»Ja, was gibt es? – Ich komme rüber und vernehme die beiden selbst. Danke.«

Die Kommissarin stand schon in der Tür. Sie hatte es auf einmal eilig. Die Forensikerin zog ihre Haube tiefer und untersuchte noch einmal den großen Zeh des Opfers.

»Angeknabbert?«, murmelte sie kopfschüttelnd.

 

Fünf Minuten später war Grace im Verhörraum der Garda-Zentrale, wo zwei ältere Leute aus Derrymoyle saßen und auf ihre Befragung warteten. Sergeant Donovan hatte ihnen eine Tasse Tee gebracht. Die weißhaarige Frau, die sich als Dorothy Kennedy vorgestellt hatte, rührte sich gerade zwei Löffel Zucker hinein und nahm einen kräftigen Schluck. Sie wirkte sehr zufrieden. Ihr Nachbar, der mit vollem Namen Patrick Buckley hieß, schaute sich aufmerksam in dem kahlen Raum um.

»Mrs Kennedy, bitte erzählen Sie mir alles«, begann die Kommissarin.

»Wollen Sie die kurze oder die lange Version?«

Die Frau stellte ihre Tasse auf den Tisch zurück. Grace lächelte sie an.

»Alles, was für uns wichtig ist. Knapp, aber präzise. Ich bin sicher, Sie wissen, worauf es ankommt.«

Damit lehnte die Kommissarin sich zurück und wartete ab. Die Zeugin war etwa Mitte siebzig, trug eine Brille mit Goldrand und hatte sorgfältig gelegtes Haar. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit einer weißen Bluse darunter, und Grace überlegte, ob sich Dorothy Kennedy extra für ihren Auftritt bei Gardai in Schale geworfen hatte. Wenn ja, schien das auf ihren Nachbarn keinerlei Einfluss gehabt zu haben, denn Pat trug dieselben verbeulten Altmännerhosen und den löchrigen Pullover, den sie schon am frühen Morgen an ihm gesehen hatte und der einen würzig abgestandenen Stallgeruch verströmte, der ihn wie eine kleine Stinkkugel umhüllte.

»Also, ich bin heute Morgen in der Dämmerung, das muss ungefähr kurz vor sieben gewesen sein, wie immer zu unserer Lichtung gelaufen, um nach den Narzissen zu schauen.«

»Nach den Narzissen, genau.«

Grace hob den Kopf und wunderte sich, dass Pat auf einmal sprach.

»Nach den Narzissen?«, hakte sie nach.

Mrs Kennedy nickte bekräftigend.

»Selbstverständlich. Sie müssen wissen, dass wir seit Generationen mit unserem Nachbardorf Baurisheen eine Art Wettkampf haben, bei wem im März die ersten Narzissen blühen. Es müssen immer mindestens siebzehn sein, sonst gilt es nicht.«

»Siebzehn, genau«, echote Pat.

Die Kommissarin schaute verblüfft von einem zum anderen. Es war, als hätten sie die Nummer einstudiert und konnten sie nun endlich zum Besten geben.

»Warum gerade siebzehn?« Grace biss sich auf die Lippen.

Mrs Kennedys Augen weiteten sich. »Wegen Patrick natürlich, unserem heiligen Patrick. Sein Todestag ist doch der siebzehnte März, unser Nationalfeiertag. In drei Tagen.«

»Unser Nationalfeiertag, genau.« Pat klang unbeirrt und gut gelaunt.

Grace unterdrückte ein Seufzen. »Fahren Sie bitte fort, Mrs Kennedy.«

»Dottie.«

»Dottie, genau.«

Die Kommissarin machte eine Handbewegung in Richtung Pat Buckley.

»Wir müssen sicherstellen, dass niemand aus dem Nachbarort unsere Narzissen zerstört oder behindert«, fuhr Dottie eifrig fort.

»Behindert, genau.«

»Wie denn?« Graces Stimme verriet ein gewisses Maß an Verblüffung.

»Am Blühen hindert, zum Beispiel indem er die Blüte einfach in der Nacht abknipst.«

»Abknipst.« Pat ließ an dieser Stelle das »genau« weg und zischte beim »st« am Ende, offenbar um diese Aussage dramatisch zu unterstreichen.

»Gerade als wir auf dem Weg zur Lichtung waren, um die Narzissen zu überprüfen, sah ich die MacNamaras mit ihren Hunden.« Die Zeugin holte tief Luft.

»Mit ihren Hunden, genau.«

»Wir kennen uns ja und grüßen immer freundlich, doch dieses Mal war etwas anders. Die beiden waren ganz aufgeregt und zeigten mir den Toten.«

»Den Toten, genau.«

An dieser entscheidenden Stelle unterbrach die Kommissarin die Vorführung. »Und Sie haben ihn sofort als nicht ansässig erkannt?«

»Das ist korrekt, Superintendent.«

»Aber wie war das möglich? Die Leiche war doch ohne Kopf.«

Nun breitete sich Stille im Raum aus, und nachdem Dottie Kennedy sich mit einem weiteren Schluck Tee gestärkt hatte, sah sie Grace triumphierend an.

»Ich kenne jeden einzelnen Einwohner von Derrymoyle und Baurisheen«, sagte sie stolz. »Das schließt die Bewohner der Feriencottages im Sommer natürlich mit ein. Und sein Körper passt zu keinem von ihnen.«

»Zu keinem, genau«, echote es wieder von der Seite her.

»Ich kann mir Körper sehr gut merken, sie sind unverwechselbar. Der Kopf ist lediglich eine Art Dekoration, müssen Sie wissen.«

Grace musste schlucken und beugte sich dann leicht über den Tisch, um Dotties kleine Augen hinter der Brille zu erkennen.

»Wie weit von Ihrem Weg zu den Narzissen lag der Tote denn entfernt?«

»Wie weit? Nun, man konnte ihn klar und deutlich von dort aus erkennen. Es war ja schon hell und ich sehe noch sehr gut. Warum fragen Sie?«

Pat sagte nichts. Er hatte den Kopf zu seiner Nachbarin gedreht und starrte sie voller Bewunderung an.

»Das bedeutet, dass Sie ihn eigentlich auch an den vergangenen Tagen dort hätten sehen müssen, auf Ihrem Weg zu den Narzissen.«

Dorothy Kennedy wuchs ein paar Zentimeter auf ihrem Stuhl, als sie sich streckte und nun aufrecht hinsetzte.

»Mit Sicherheit, Superintendent, was glauben Sie denn? Und ich hätte Gardai selbstverständlich auf der Stelle davon in Kenntnis gesetzt. Nur konnte ich das nicht.«

»Ach, und warum nicht?« Grace bemühte sich, nicht allzu ratlos zu klingen.

»Warum nicht? Weil dort niemand lag.«

Pat zögerte einen Moment. Dann kam es: »Weil dort niemand lag. Genau.«

7

Rory hatte sich in Dublin einen Mietwagen genommen und fuhr nun über die N11 südlich in Richtung Wicklow.

Wicklow war 1606 als letzte der irischen Grafschaften gegründet worden, erinnerte er sich aus dem Schulunterricht, während er aufgeräumt den alten Folksong summte – »Follow me down to Carlow« –, der das genau daneben liegende County Carlow besang. Für Wicklow hatte er einfach kein Lied parat, verspürte aber den Drang, laut und herzhaft zu singen oder wenigstens zu summen, als er schon von Weitem die imposante Bergkette von Wicklow erspähte.

Rory war lange nicht mehr in Irlands Garten gewesen, wie diese Region auch gern genannt wurde. Hier lagen auf wenigen Quadratkilometern hohe Berge und viele kleine Seen eng beieinander, und Wicklow war im Vergleich zu den meisten anderen irischen Countys auch ein waldreiches Gebiet. Im Osten begrenzte die Irische See die sogenannte »Wiese der Wikinger«, eine Bezeichnung, aus der Wicklows Name entstanden war.

Glendalough, das inmitten dieser Berglandschaft an einem malerischen See lag, war einst Rückzugsort heiliger Männer gewesen.

Kurz hinter Glendalough merkte Rory, dass er sich verfahren hatte. Er hielt am Straßenrand, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Der Kommissar hasste Navis und zog greifbare Karten vor, die beim Auseinanderfalten knisterten und knackten und meist genau dort einen blinden Fleck im abgegriffenen Falz hatten, wo man dringend etwas suchte. Und die sich fast immer als störrisch erwiesen, wenn man sie wieder zusammenfalten wollte, was er ihnen aber durchaus gestattete, wenn sie es nicht zu sehr übertrieben.

Wo führte der asphaltierte Weg hin, den er eben links der Hauptstraße gesehen hatte? Rory beugte sich noch tiefer über die Karte. War es eine reguläre Straße gewesen mit einer anständigen Ziffer oder eher ein nicht registrierter Feld- und Wirtschaftsweg? Da klopfte es an seinem Fenster. Die Scheibe war von innen beschlagen und Rory konnte durch den Schleier nur vage etwas Rotes leuchten sehen. Erwartungsvoll drückte er auf den Öffner und das Fenster surrte herunter.

Vor der Fahrertür stand eine Frau, deren Alter Rory nicht hätte schätzen können. Sie hatte etwas Altes und gleichzeitig etwas sehr Junges an sich. Vor allem ihr flächiges Gesicht, das neugierig zu ihm herunterschaute. Es wirkte jugendlich und war fast ohne Falten und Narben. Doch die hellbraunen Augen strahlten eine Weisheit oder vielleicht auch nur ein Wissen aus, die man nur bei alten Menschen finden konnte. Haare sah er keine.

Rory war verblüfft über die Gestalt, die in ein knallrotes Schultertuch gehüllt war, wie es in Irland bis in die Fünfzigerjahre von vielen Frauen auf dem Land getragen wurde. Seine Großmutter hatte diese Art von Kleidungsstück noch zur Messe umgelegt. Die Frau schien Rory aus der Zeit gefallen zu sein.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Ihre Stimme war mindestens genauso verblüffend, fand der Kommissar. Sie flüsterte, war aber trotzdem laut und gut vernehmbar. Rory musste einen Moment lang mit seiner Verwunderung kämpfen, bevor er antworten konnte.

»Ich weiß nicht genau, wo ich mich gerade befinde.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Irgendwo hier müsste es sein. Stimmt das?«

Die Frau beugte sich zu ihm herein, und Rory nahm den Geruch von Moos und Waldboden wahr, der sie wie ein exklusives Parfüm umhüllte.

»Wir sind genau hier, und das Haus der Connors liegt etwa dreihundert Meter weiter auf der rechten Seite. Da geht ein kleiner Weg ab, den müssen Sie nehmen. Das kann man nicht verfehlen.«

Sie zog den Kopf und den Oberkörper wieder zurück.

Rory staunte noch mehr. »Woher wissen Sie, dass ich auf der Suche nach den Connors bin?«

Die Frau im roten Tuch lächelte breit. »Wer hierherkommt, will mit Sicherheit zum Haus der Connors. Bis Glendalough fahren viele, die nicht von hier sind, aber wer bis hierher weiterfährt, hat keine andere Wahl. Dem bleiben nur noch die Connors. Und seit Cathal abgetaucht ist, sowieso. Einen schönen Tag noch.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Einen Moment, bitte.«

Der Kommissar schnallte sich ab und öffnete die Fahrertür, um auszusteigen. Die Frau hielt inne, legte den Kopf schief und wartete. Kurz darauf stand Rory neben ihr und hielt ihr seinen Ausweis vor die Nase. Sie lächelte wieder.

»Dachte ich’s mir doch, ein Guard. Noch dazu ein sehr sympathischer. Schade, dass Sie keine Uniform tragen. Das würde Ihnen stehen.«

Rory sah einen Moment lang an sich herab und nickte dann mit einem wehmütigen Gesichtsausdruck.

»Warum sagten Sie, Cathal sei ›abgetaucht‹?«, fuhr er schließlich fort.

Die Frau lächelte immer noch. »Ich hätte auch ›verschwunden‹ sagen können.«

»Haben Sie aber nicht. Abtauchen hört sich planvoller an als einfach verschwinden.«

Sie zog die beiden Tuchzipfel, die seitlich herunterbaumelten, enger um ihren Körper, als wäre ihr plötzlich kalt, und warf Rory einen amüsierten Blick zu.

»Da ist was dran. Cathal war ein Mann mit vielen Plänen, Guard.«

»War?«

Jetzt zuckte sie mit den Schultern. »Das habe ich nur so dahingesagt. Wie man etwas einfach so sagt. Einen schönen Tag noch, es wird heute sicher nicht mehr regnen.«

Und damit steuerte sie entschlossen auf die Büsche am Straßenrand zu.

»Wie heißen Sie?«, rief Rory ihr hinterher.

In dem Moment fuhr ein Lastwagen mit einer Ladung Baumstämme ratternd an ihm vorbei. Als er die Sicht auf die Straße wieder freigegeben hatte, war die Rote verschwunden.

Merkwürdige Erscheinung, dachte Rory, aber weit kann sie nicht sein. Die finde ich wieder, wenn es nötig sein sollte. Er stieg ein und folgte der Wegbeschreibung der Unbekannten.

 

Kurz darauf parkte er vor einem hübschen kompakten Herrenhaus aus viktorianischer Zeit. Die Ostküste Irlands hatte viele solcher alten Villen aufzuweisen. Von hier aus war der Weg für die ehemaligen Kolonialherren über die Irische See ins Heimatland England kurz gewesen, und viele hatten sich mit großen oder auch bescheidenen Anwesen in Wicklow niedergelassen. Das Land war ertragreicher als der karge Boden des irischen Westens, doch die wilde, dicht bewaldete Gegend südlich der Hauptstadt Dublin bot über Jahrhunderte auch vielen Rebellen Unterschlupf. Hier war der Widerstand gegen die englischen Besatzer besonders heftig gewesen.

Vor dem einstöckigen Herrenhaus blühte eigelbfarbener Ginster, und zahllose Narzissen hatten schon ihre gelben Hauben aufgesetzt und wiegten sich anmutig in einer sanften Brise.

Rory atmete tief die salzige Meeresluft ein. Auch wenn man das Meer von hier aus nicht sehen konnte, war es überall in Wicklow zu spüren. Die Vegetation schien in ihrer Entwicklung ein paar Tage weiter als in Galway zu sein, und der weiche, samtgrüne Rasen wirkte gepflegter und umhegter als so mancher in Rorys westlicher Heimat.

Der Kommissar wusste, dass die Iren nicht den gleichen Hang zum aufwendigen Gärtnern hatten wie die Briten. Das mochte zum einen mit der Rauheit des Klimas, zum anderen mit dem meist felsigen Boden zu tun haben, möglicherweise war aber auch ein Schuss keltische Liebe zur ungebändigten Spontanität der Natur mit im Spiel.

Die großen und kleinen kunstvoll angelegten Landschaftsgärten, wie man sie überall in England finden und bewundern konnte, gab es hauptsächlich hier an der Ostküste.

Der Garten dieser Villa, das konnte der Kommissar gleich erkennen, war ein besonders schönes Exemplar englisch inspirierter irischer Gartenkunst. Rory war noch nicht ganz fertig damit, all die Beete gebührend zu bewundern, als die Tür aufging und eine kleine Frau mit breiten Schultern, schmalen Hüften und einem belustigten Gesichtsausdruck aus dem Haus trat. Sie hatte schwarzes Haar, helle Augen und diese blasse, fast durchscheinende Haut, die mehr noch als rotes Haar und Sommersprossen typisch für die Menschen dieser Gegend war.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Rory hatte versucht, Erin Connor von unterwegs aus anzurufen, um seinen Besuch anzukündigen, aber es war niemand ans Telefon gegangen und auch kein Anrufbeantworter angesprungen.

Der Inspektor stellte sich vor und Erin bat ihn ins Haus. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck war auch jetzt nicht verschwunden. Im Flur sah er drei Decken, offenbar Hundebetten, auf dem Boden liegen und zwei Wasserschälchen. Einen Hund konnte er jedoch nicht entdecken.

Die Frau bat ihn in die Küche, weil sie dort wohl mit der Vorbereitung des Dinners beschäftigt war und später noch Gäste erwartete.

»Ich nehme an, Sie haben Neuigkeiten von Cathal.« Sie schaute kurz auf, während sie Zucchini hobelte.

Rory empfand die wie beiläufig hingeworfene Frage beim Gemüseschneiden als ziemlich abgebrüht. Als hätte sie sich nach einem verloren gegangenen Regenschirm erkundigt und wäre an einer Antwort nicht wirklich interessiert.

Der Kommissar lehnte sich an die Türöffnung zum Esszimmer. Er warf einen kurzen Blick hinein und sah, dass der Tisch für sechs Personen festlich gedeckt war.

»Das ist richtig. Wir haben ihn gefunden.«

Nun hielt sie doch inne und ein »Oh!« entfuhr ihr.

Rory hatte sich entschlossen, erst einmal nichts zu sagen und ihre Reaktion abzuwarten.

Erin Connor fuhr sich durch das halblange Haar und schien zu überlegen. »Geht es ihm gut?«

»Nein. Er ist tot.«

Sie hielt sich kurz die Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte. Wie furchtbar!«

Erin griff zum Gemüsehobel und raspelte weiter. Rory gab seinen Platz an der Tür auf und kam langsam näher.

»Sie scheinen vom Tod Ihres Mannes nicht sonderlich betroffen zu sein, Mrs Connor. Gardai hat noch einige Fragen an Sie, wie Sie sich denken können.«

Sie unterbrach ihre Küchenarbeit nicht.

»Fragen Sie ruhig. Aber ob und inwieweit ich von der Nachricht vom Tod meines Mannes betroffen bin, können Sie nicht beurteilen, Kommissar Coyne. Ich bitte Sie, sich zurückzuhalten und keine falschen oder voreiligen Schlüsse zu ziehen. Also, fragen Sie!«

Rory musste ihr im Stillen recht geben.

»Wann genau haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«

Erin Connor schaute ihm in die Augen.

»Das habe ich bereits mehrfach bei Garda angegeben. Zwei Tage vor seinem Verschwinden, also vor zwölf Tagen.«

»Warum war er vorher nicht hier bei Ihnen, in Ihrem gemeinsamen Zuhause?«

»Autsch!« Sie hatte sich aus Versehen in die Hand geritzt und leckte sich nun das Blut ab.

Dann musterte sie ihn kühl und nahm die verletzte Hand von den Lippen.

»Cathal war viel unterwegs, er war ja so etwas wie ein Nationalheiliger, zuständig für Holz. Dafür musste er ständig reisen. Deshalb war er nicht hier.«

Rory trat noch einen Schritt näher. »Sie fragen mich gar nicht, wo wir ihn gefunden haben?«

»Dann frage ich Sie eben jetzt: Wo hat man ihn gefunden?«

»In der Nähe von Galway. Können Sie sich das erklären?«

»In der Nähe von Galway? Sieh einer an! Und nein, es überrascht mich nicht.«

Der Kommissar hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Eine umwerfend gut aussehende junge Frau stand in der Tür zur Küche, die Arme verschränkt. Sie lächelte dasselbe Lächeln, das auch Erin Connor permanent im Gesicht hatte.

»Wir sind deshalb nicht überrascht, weil mein Vater eine Geliebte in Galway hatte.«

Rory war wie vom Donner gerührt. Die junge Frau, die Anfang zwanzig sein mochte, verzog ihren Mund zu einem noch breiteren Lächeln und reichte ihm die Hand.

»Ich bin Kelly Connor.«

»Und wann haben Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen?«

Die junge Frau überlegte. Ihre Mutter warf ihr einen abwartenden Blick zu und biss sich dabei leicht auf die Unterlippe.

»Das muss ebenfalls vor zwölf Tagen gewesen sein. Ja, vor zwölf Tagen war er hier. Wenn Sie weitere Fragen haben – ich bin oben in meinem Zimmer.«