Irische Sommerküsse - Maja Keaton - E-Book

Irische Sommerküsse E-Book

Maja Keaton

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Exklusiver Sammelband mit den 4 Romanen der "Roseport Lovers" Serie! Hol dir über 1200 Seiten Liebe mit Happy End! Nie wieder mit dem Ex! Hollys Onkel, Ziehvater, Herausgeber, Chefredakteur und Kotzbrocken der "Roseport News" in Personalunion schreckt vor nichts zurück, wenn es darum geht, die Zeitung vor dem endgültigen Aus zu retten. Das Stichwort lautet: Romantik. Nicht gerade das Lieblingsthema der allein an harten Fakten interessierten Reporterin Holly. Also so gar nicht. Doch nach vier Jahren unter Onkelchens Fittiche, ist die künftige Erbin der Zeitung gleichfalls mit allen Wassern gewaschen. Sie nimmt die Idee ihres Onkels zum Anlass, einen Vorteil für sich selbst rauszuschlagen: Die 22-Jährige will nämlich schon lange raus aus dem schnuckeligen Nest, in dem sie seit dem Tod ihrer Eltern bei Onkel und Tante lebt. Holly möchte endlich was von der Welt sehen, austesten, wie, wo und mit wem sie ihr Leben verbringen will. Doch dann kehrt Jack O'Brien, ein ehemaligen Mitbürger, der einst einen Haufen verbrannte Erde in Roseport hinterließ, zurück. Mittlerweile ist er Star der Fernsehserie "Blut und heiße Küsse" ... und Hollys Ex. Und damit so ziemlich der Letzte, der Holly zu ihrem Glück gefehlt hat. Was diesen Traum von einem Mann jedoch nicht daran hindert, wie ein Orkan über Roseport hinwegzufegen, denn er hat schließlich so einiges wieder gut zu machen. Holly will nichts mehr von ihm wissen. Aber was, wenn Jack schmerzvolle Gründe für sein fieses Verhalten in der Vergangenheit hat? HINWEIS: Mit diesem Bundle bekommst du alle vier Romane der "Roseport Lovers Reihe"!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1330

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IRISCHE SOMMERKÜSSE

SAMMELBAND

ALLE 4 ROMANE DER ROSEPORT LOVERS REIHE

MAJA KEATON

IMPRESSUM

Nachdruck, Vervielfältigung und Veröffentlichung - auch auszugsweise - nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages!

Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Copyright © 2023 dieser Ausgabe Obo e-Books Verlag,

alle Rechte vorbehalten.

ein Label der

OBO Management Ltd.

36, St Dminka Street

Victoria, Gozo

VCT 9030 Malta

INHALT

Stürmische Küsse

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Küsse vom Doc

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Irische Geheimnisse

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Ein halbes Jahr später

Rosen für Rosy

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Mehr Bundles

Mehr von Maja Keaton

Über OBO e-Books

STÜRMISCHE KÜSSE

ROSEPORT LOVERS - TEIL 1

WIDMUNG

Gewidmet den Liebenden, den sich nach Liebe Sehnenden sowie allen Liebesroman-Süchtigen.

PROLOG

Sie saß in der ersten Reihe. Zwischen Mr. Halligan, dem Boss der Roseport News, und seinem besten Freund Ethan. Mit ihrem pechschwarzen, in alle Himmelsrichtungen abstehenden, krausen Haar versperrte sie den Leuten, die hinter ihr saßen, die Sicht. Und anstatt dass er als Hamlet das Publikum faszinierte, bekam er seine Augen nicht von ihr. In ihrem schmalen Schoß lag ein kleiner Notizblock, in den sie ab und zu ein paar Worte kritzelte. Zwischen den Worten blickte sie auf. Sie hatte die größten, dunkelsten, schönsten Augen, die er je an einem Menschen gesehen hatte. Augen, die seine Seele berührten.

„Jack? Alles klar?“

Seine Hand steckte in einem weißlichen Gummihandschuh und umfasste eine Hühnerleber. Er nickte.

„Dann setz den geilen Blick auf und zieh das verdammte Geschwür aus der Lady. Und zeig die Eckzähne. – Hey, Sandy, seine Nase glänzt.“

Die dicke Sandy streichelte ihm mit der Puderquaste über die Nase. Wann hatte er das letzte Mal geniest, wenn die Maskenbildnerin ihn mit dem Pinsel kitzelte? Vor einem Jahr, vor zweien? Wann hatte er eigentlich aufgehört, Dinge zu fühlen?

„Jack, verpass deinen Einsatz nicht schon wieder. – Amy, lies ihm seinen Text vor.“

„Mann, hab ich einen Kohldampf! Begleitest du mich nachher zu den Blutkonserven“, las Amy tonlos aus dem Skript vor.

Er nickte zum Zeichen, dass er bereit war, zog die rechte Augenbraue hoch und die Hühnerleber aus der penetrant nach Miss Chanel duftenden Patientin. Dabei kroch er der Anästhesistin mit den Augen in den Ausschnitt, ganz so wie Anthony es von ihm verlangte.

„Und Cut. Für heute sind wir fertig. Wer kommt mit was trinken?“, trötete der Regisseur in die Runde.

Während seine Kolleginnen und Kollegen der Einladung laut plappernd folgten, murmelte er nur „Hab noch was vor“, floh geradewegs in die Garderobe und stürzte sich auf sein Handy.

Gott sei Dank, die Buchungsbestätigung war da!

Ryan. Er musste Ryan eine SMS schicken.

„Hi Ryan“, seine Finger flogen über das Display, „Was hältst du von einem Bier bei Paddy? Ich lande am Freitag, 17:48 eurer Zeit, am Knock International. Holst du mich ab? Danke. Jack.“

Ihm war schlecht. Nicht von dem Stück Eingeweide, das die Requisiteurin ihm mit einem lasziven Augenaufschlag abgenommen hatte, sondern von sich selbst.

1

Holly vergrub ihr Gesicht in beide Hände und fragte sich, was sie wohl in einem früheren Leben verbrochen hatte.

Nicht, dass sie an Wiedergeburt glaubte, doch bei dem, was ihr blühte, hätte sie das Licht der Welt vermutlich besser als Schmeißfliege erblickt. Dann wäre sie mit ihrem grün schillernden Körper auf einem Kuhfladen gelandet und sogar noch glücklich gewesen, weil sie keine Ahnung gehabt hätte, dass sie nicht im Schlaraffenland angekommen war, sondern mitten auf einem Scheißhaufen herumbrummte.

„Hast du eine bessere Idee?“ Die Stimme von Rory Halligan, Onkel und Ziehvater von Holly Halligan sowie Herausgeber, Chefredakteur und Kotzbrocken der Roseport News in Personalunion, donnerte durch den Raum.

Vor so ziemlich genau drei Jahren war das Blatt zum 31. und sicherlich zum letzten Mal in Folge zur beliebtesten Zeitung im gesamten County Mayo gewählt worden. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Sport – die kleine Roseport News hatte alle Themen bedient, und zwar in 1 A Qualität. Aber seit selbst an diesem Zipfel Irlands jede Oma mit einem Smartphone über die saftigen, grünen Weiden trampelte, ging es mit dem Blatt nur noch bergab. Tatsächlich war die einst so renommierte Traditionszeitung zu einem Anzeigenblatt verkommen. Kein Mensch wollte sich mehr gepflegt informieren, geschweige denn einen Cent für einen Haufen Papier ausgeben, den nur noch die Werbung am Leben erhielt. Diejenigen, die noch lasen, steckten ihre Nasen lieber in ein gutes Buch oder glotzten in ihren Ebook-Reader.

Jamie kicherte. Die Fotografin im Team war Hollys beste Freundin, obgleich Holly in dem Moment Zweifel an der Aufrichtigkeit der Freundschaft kamen.

Kapierte die werdende Mutter unter dem Einfluss des Kuschel-Hormons Oxytocin nicht, dass Rory Halligans sogenannte Idee der endgültige Untergang jedes ernst zu nehmenden Journalismus in Roseport und Umgebung bedeutete? Abgesehen von der winzigen Kleinigkeit, dass Holly allein beim Wort Romantik die Tränen kamen. Doch genau darum ging es ihrem Onkel: Seine einzige verbliebene Reporterin sollte statt kritischer Berichterstattung und harter Fakten Woche für Woche eine romantische Artikelserie liefern, die den geradezu idiotischen Titel Stürmische Küsse trug.

„Bisher habe ich immer mitgemacht bei deinen Ideen, habe getan, was nötig war, um das Blatt zu retten, aber das ... Vergiss es!“ Holly stand auf und riss das klapprige Fenster des Raums auf, in dem seit der Gründung der Zeitung durch ihren Urgroßvater die wöchentliche Redaktionssitzung stattfand. Sofort schlugen ihr die salzige Feuchtigkeit entgegen, die der Wind vom nahen Meer bis in die schnuckelige Einkaufsstraße trieb, in der die Redaktion gerade vollends verlotterte.

Als sie ein Kind war, hatten sich bei der Roseport News sieben fest angestellte Reporter die Finger wund geschrieben. Seit der Entlassungswelle vor zwei Jahren arbeiteten neben Onkel Rory nur noch die kurz vor der Pensionierung stehende und täglich drei Äpfel mampfende Sekretärin Mrs. Finnley, Jamie und Holly selbst hier.

„Frauen sind heutzutage die einzigen Lebewesen auf der Welt, die noch lesen. Aber sie verschlingen vorzugsweise und mit schierer Begeisterung Liebesromane.“

„Wir sind aber eine Wochenzeitung und kein Meine-wahre-Liebesgeschichte-Magazin.“

„Diese Serie von Lovestories ist eine geniale Idee! Einen solchen Riecher hatte ich ewig nicht. Das ist richtig-richtig clever!“, schmetterte der Verleger.

Obwohl Holly es nicht sehen konnte, wusste sie, dass der Onkel hinter ihr den Finger mit dem Siegelring hob, der einst ihrem Urgroßvater gehört hatte. Ja, der Herr Verleger wusste schon, welche Knöpfe er drücken musste, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen.

Ein paar Häuser weiter, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, schloss Paddy seinen urigen, von außen irischgrün vertäfelten Pub auf. Der Wirt schien genauso in Gedanken zu sein wie sie selbst. Vielleicht wollte er auch nur so schnell wie möglich ins Warme, denn draußen war es ziemlich ungemütlich.

Holly knallte das Fenster zu und ging langsam zu ihrem Platz zurück.

Richtig-richtig clever wäre es gewesen, gleich nach dem Schulabschluss bei einem namhaften Blatt in Dublin oder in London anzuheuern, vielleicht sogar nach New York zu gehen, zumal ihre Mutter ursprünglich aus den Staaten stammte und Holly noch nie dort gewesen war. Soviel sie wusste, lebten dort sogar entfernte Verwandte von ihr. Ganz davon abgesehen hatte Holly das beste Leaving Certificate aller Zeiten in den Händen gehalten. Der Rektor persönlich hatte es ihr mit den stolzen Worten überreicht: „Damit steht dir die Welt offen, Holly Halligan. Hol sie dir.“

Ihrer Karriere als ernstzunehmende Reporterin hatte nichts im Wege gestanden. Außer diese verdammte Tradition ihrer Familie väterlicherseits und sie selbst, denn in ihrem tiefsten Innern war sie anscheinend ein Landei ersten Ranges.

Und dann war sie ja auch noch bis über beide Ohren verliebt gewesen damals. Als sie noch hautenge T-Shirts trug, neckische Unterwäsche und ein Kettchen mit Herzanhänger um ihren Hals baumelte – und an ihrer linken Hand ein hübscher silberner Ring steckte. Heiraten, Häuschen mit Garten und zwei Kinder, davon hatte sie plötzlich geträumt, statt von Reisen ins Ausland, interessanten Jobs bei großen Redaktionen. Da war ihr das Angebot ihres Onkels, ein Volontariat bei der Roseport News zu machen, gerade recht gekommen.

Sie hatte ein Volontariat bei der Dublin Post abgesagt! Gott, wie selten dämlich! Und dass sie die Familientradition aufrechterhalten würde, hatte sie sich eingeredet. Und dass die Zeitung vor vier Jahren ja auch noch eine gute Adresse war.

„Was ist nun, Holly“, knurrte der Verleger.

Einerseits war sie Onkel Rory und Tante Elizabeth, die sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen hatten, zutiefst dankbar; andererseits widerte sie fast ihr ganzes Leben an. Am allermeisten verabscheute sie sich selbst, weil sie nichts daraus machte.

„Also, ich bin dabei“, sagte Jamie mit einem vorsichtigen Seitenblick auf Holly, die wieder auf ihren Platz zurückgekehrt war.

Holly verdrehte die Augen. Jamie war bei allem dabei.

Ganz besonders war sie dabei gewesen, als Onkel Rory sie mit seinem Sohn Ethan verkuppelt hatte, und zwar in vollem Bewusstsein, dass die ganze Aktion nur gelaufen war, um Jamie, die eine ausgezeichnete Fotografin war, an die verdammte Zeitung zu ketten. Okay, im Gegensatz zu seinem Vater war Ethan groß, schlank, gut aussehend, sympathisch. Das komplette Gegenteil seines Vaters, gegen dessen Willen er Architekt geworden war, statt bei der Zeitung einzusteigen. Aber trotzdem. Familientradition hin oder her – was Onkel Rory mit Holly anstellte, war wie Mittelalter und Frühkapitalismus zusammen. Fast schon Folter.

Fast schon? Für sie war es Folter. Nach allem, was sie in Sachen Liebe erlebt hatte, sowieso. Eine Romantik-Serie ... Gott, der Gerechte!

„Die Auflage befindet sich im Sturzflug. Wir verteilen die Zeitung schon kostenlos. Verdammt, Holly, wir brauchen die Werbeeinnahmen! Weil auch andere ihre Werbeblätter kostenlos verteilen, müssen wir uns etwas Besonderes einfallen lassen, denn sonst laufen uns auch noch die Werbekunden davon. Und dann ist Hängen im Schacht. Schluss, Aus, Feierabend“, polterte Onkel Rory.

Holly schüttelte erst langsam und dann immer entschiedener den Kopf. Nein, nein und nochmals nein!

Sie musste weg von hier. Raus aus Roseport, raus aus dem County, raus aus Irland. Aus purer Loyalität zu dem Lebenswerk ihres Urgroßvaters und aus Dankbarkeit ihrem Onkel gegenüber würde sie nicht all ihre Überzeugungen über Bord werfen und in der irischen Pampa verschrumpeln.

„Ich bin dankbar für alles, was du und Tante Elizabeth für mich getan habt, aber es ist höchste Zeit, meinen eigenen Weg zu gehen“, schmetterte sie innbrünstig.

Gerade mal zu einem billigen Zimmer bei einer privaten Vermieterin hatte sie es gebracht. Von den Männern ganz zu schweigen. Nicht, dass sie ein gesteigertes Interesse am anderen Geschlecht gehabt hätte, denn interessante Exemplare gab es hier ohnehin nicht. Ihr letztes Date lag mehr als ein halbes Jahr zurück. Da war sie doch tatsächlich über einem panierten Seehecht mit Chips und Mayonnaise eingeschlafen, als Tante Elizabeths Großneffe Henry aus Westport ihr im Restaurant eine ganze Schachtel Knöpfe an die Backe gequatscht hatte.

Aber sie wollte nicht auch noch über Männer jammern. Sie wollte überhaupt nicht jammern! Irgendwann würde ihr ein nettes Exemplar über den Weg laufen. Nur würde das ganz bestimmt nicht in Roseport geschehen!

Ihr Onkel schnalzte mit der Zunge. Wie immer, wenn ihm etwas missfiel.

„Du willst also raus in die Welt“, stellte er dann aber zu ihrer Überraschung fest.

Holly musterte das stets wachsame, in den vergangenen Jahren von den Sorgen um die Zeitung und vom Whiskey gezeichnete Gesicht ihres Onkels, während Jamie neben ihr zunehmend hektischer über ihren Bauch streichelte. Aber von der neuerdings ausgebrochenen Harmoniesucht ihrer Freundin würde Holly sich nicht beeinflussen lassen. „Inzwischen bin ich seit vier Jahren bei deiner Zeitung ...“

„Erstens wird das eines Tages deine Zeitung sein. Zweitens habe ich dich als vollwertige Redakteurin angestellt“, unterbrach sie Onkel Rory.

„Du wirst Ersatz für mich finden. Viele würden kostenlos arbeiten, nur um den Einstieg in den Beruf zu kriegen“, gab sie zurück. „Mein Entschluss steht fest: Ich gehe für ein paar Monate nach Dublin, dann nach London und dann sehe ich mir New York an – ganz so wie ich es früher vorhatte. Mit 22 bin ich dafür immer noch jung genug und als Single muss ich auf niemanden Rücksicht nehmen.“

„Und was ist mit mir?“, empörte sich Jamie.

„Mr. Halligan, jetzt tun Sie was, bevor Sie mit Ihren Schnapsideen Ihre Nichte von hier vertreiben“, ließ sich Mrs. Finnley aus dem Sekretariat vernehmen.

Normalerweise kam über die Lippen der Sekretärin nur Nettes, aber dem Verleger gegenüber nahm sie kein Blatt vor den Mund. Seltsamerweise ließ Rory Halligan ihr alles durchgehen. Vermutlich, damit die patente Sekretärin nicht vor der Rente noch das Weite suchte. Dabei suchten hier in der Gegend nur die Wenigsten ihr Glück in der Fremde. Wer hier geboren war, der blieb. Vor allem, wenn er zu den Glücklichen gehörte, die noch eine Arbeit hatten.

Aber Holly würde zu den anderen gehören. Sie würde endlich den Mut aufbringen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, was von der Welt sehen und dabei herausfinden, wie, wo und mit wem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte. Auch wenn die Eltern der Hunger nach der Fremde das Leben gekostet hatte, aber die Beiden waren Kriegsreporter gewesen, was ihr selbst dann doch zu wahnsinnig war. Ihr genügten schon die ganz normalen Nachrichten aus Politik, Wirtschaft und Kultur.

„O-kay“, sagte Onkel Rory.

Drei Augenpaare, einschließlich ihres eigenen, richteten sich auf den kleinen, rundlichen Mann.

O-kay? Rory Halligan sagte nie O-kay. Dieses Wort kam in seinem Wortschatz überhaupt nicht vor. Schon gar nicht würde er es auf diese lang gezogene Weise aussprechen.

„Das heißt, ich habe deinen Segen.“ Holly bemühte sich, den fragenden Unterton nicht durchklingen zu lassen.

„Unter einer Bedingung“, entgegnete er.

„Nur zu, Onkel Rory.“ Auf den Haken war sie mal gespannt.

„Na, warte erst mal ab, was ich dir zu sagen habe. Ich will dir nämlich ein Angebot machen.“

„Willst du einen schnelleren Internetanschluss beantragen, damit ich von meinem Schreibtisch aus mit Google Earth die Welt ruckelfrei erkunden kann?“

„Bei der miesen Bezahlung in diesem Hause konntest du kein Geld zurücklegen“, fuhr Onkel Rory ungerührt fort. „Aber mir ist klar, dass ich dich nicht anketten kann – auch wenn es mir allein um dein Wohl geht. Glaub es oder nicht. Wir haben oft genug über deine unverantwortlichen Eltern gesprochen.“

Das hatten sie. Onkel Rory hatte wenig, beziehungsweise gar kein Verständnis für die Abenteuerlust seines Bruders und seiner Schwägerin gezeigt. Ganz so wie all die anderen Menschen, die sie kannte. Eltern, die sich in Todesgefahr begaben, waren nicht gerade Sympathieträger. Schon gar nicht in der katholischen, irischen Pampa.

„Holly“, setzte Onkel Rory seine Rede fort, „ich will dir eine halbjährige Reise finanzieren. Die Fahrt nach Dublin mit der Bahn, Flüge nach London und New York.“

„Du willst was?“ Beinahe hätte Holly sich an ihrer eigenen Spucke verschluckt.

„Das billigste Ticket selbstverständlich. Du weißt, dass ich genügend Leute bei verschiedenen Zeitungen kenne, bei denen du jederzeit unterkommen kannst. Also, ich spreche von Leuten, die dir ein Zimmer und eine Praktikantenstelle zur Verfügung stellen.“

Jamie kniff Holly in die Taille und zwinkerte ihr aufgeregt zu, um ihr zu verstehen zu geben, dass hier etwas ganz fürchterlich faul sein musste.

„Du hast mich schon verstanden“, grunzte ihr Onkel. „Und du hör auf, Holly gegen mich aufzubringen!“, fuhr er seine Schwiegertochter an.

Es dauerte eine Weile, bevor Holly, die normalerweise nicht gerade um Worte verlegen war, den Mund aufbekam. „Aber das tust du doch nicht uneigennützig.“

Onkel Rory lachte. „Ich bin nicht die Wohlfahrt, meine liebe Nichte. Trotzdem kannst du sofort auf die große Reise gehen, das heißt, sobald alles geregelt ist. Ich mache das mit den Unterkünften und den Jobs klar, Mrs. Finnley besorgt die Fahrkarten. Du musst nur noch packen.“

„Verarschen kann ich mich selbst.“

„Ich schicke meinem alten Freund Aaron Lasalle aus Dublin noch heute eine E-Mail – mit Durchschlag an dich, damit du nicht denkst, ich verspreche dir etwas, das ich niemals vorhatte zu halten.“

„Was ist mit London und New York?“ Holly hatte beinahe Schnappatmung.

Onkel Rory verzog die fleischigen Lippen zu einer Mischung aus Grinsen und Schmerz. „Tom Pinter und Mary Lou Catrell schreibe ich auch. Ich verlange nur eins von dir.“

„Was?“ Inzwischen war sie bereit, in Erwägung zu ziehen, dass ihr Onkel es tatsächlich ernst meinte. Immerhin verlangte er etwas für seine Großzügigkeit und er wollte Durchschläge versenden. Sollte er eine linke Tour planen, konnte sie sich immer noch selbständig an die Umsetzung ihres Traums machen, denn mit einem hatte der Mann vollkommen recht: Von ihrem Hungerlohn hatte sie kaum Geld zurücklegen können. Der Gedanke an die dreistellige Zahl auf ihrem Sparbuch würde sie zum Weinen bringen, wenn sie eine von diesen Frauen wäre, denen bei jeder Gelegenheit die Tränchen aus den Augen laufen. „Was soll ich für dich tun?“

„Wie gesagt: Ich habe da eine richtig-richtig gute Idee“, Onkel Rory sah sie aus zusammen gekniffenen Augen an, „Schreiben kannst du auch von unterwegs. Du schickst jede Woche eine Folge dieser Schnulzen-Serie hierher. Jamie sorgt für das dazu passende Titelfoto. Für ein Titelbild und für den Anfang der Geschichte habe ich schon eine Idee.“

* * *

Bis zum kommenden Freitag hatte Holly sich glaubhaft eingeredet, dass das Angebot ihres Onkels für sie besser war als für ihn. Und zwar erstens, weil sie andernfalls vermutlich niemals aus Roseport wegkäme. Zweitens, weil sie sich damit alle Optionen offen hielt. Falls es da draußen schwieriger würde als erwartet, konnte sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren und die bis dahin vermutlich zu einem Rührblättchen für Hausfrauen verkommene Zeitung übernehmen.

Sie fuhr auf den gähnend leeren Parkplatz vor dem International Airport Knock, der einer Großstadt zur Ehre gereicht hätte. Das war auch so eine Sache. Nicht der Wahnsinn, dass ein Dorf sich einen internationalen Flughafen leistete. Also, das auch. Aber diese Geschichte mit dem Kussfoto zu der erfundenen Liebesgeschichte.

„Was für ein Aufwand, hierher zu fahren, um ein Nackenbeißerfoto zu knipsen“, stöhnte Holly.

„Rory geht es doch nicht um das Foto“, kicherte Jamie. „Er will dich verkuppeln. So wie er mich mit Ethan zusammengebracht hat, damit ich für alle Ewigkeit als Sklavin für ihn Fotos schießen muss.“

Das war Holly auch klar. Ihr Onkel war der festen Überzeugung, dass sie nur auf diese Reise gehen wollte, weil sie keinen Mann hatte. Natürlich hätte sie sich dagegen wehren können, dass ausgerechnet sie das weibliche Kussmodel spielen sollte, aber sie hatte das Gefühl gehabt, ihm diesen Gefallen schuldig zu sein. „Tu es für deine Tante. Ich musste es ihr versprechen“, hatte er mit diesem Hundeblick gebettelt.

Sie war gespannt, was für ein Prachtexemplar Tante Elizabeth ihr dieses Mal unterjubeln wollte. Trotz allem war sie Onkel Rory nicht wirklich böse, denn er tat einfach nur alles, was in seiner Macht stand, um seine geliebte Zeitung zu retten. Er wusste, dass er nicht immer gewinnen konnte, und am Ende würde er ihr alles Glück der Welt wünschen, wenn sie in den Zug nach Dublin stieg, was in vier Wochen der Fall sein würde. Onkel Rory hatte nämlich Wort gehalten. Zunächst würde sie für zwei Monate im Gästezimmer einer erfahrenen Redakteurin der Dublin Post unterkommen, die sie bei der Recherche unterstützen sollte. Die Zusagen für London und New York standen noch aus, aber das würde schon noch.

„Wenigstens kommen wir auf diese Weise mal raus“, seufzte Jamie.

„Ein Schwätzchen bei Tee und Cones in Mrs. Vannickles Café wäre mir lieber gewesen.“

„Ich hätte jedenfalls nichts dagegen, wenn du in Roseport bleiben würdest“, gab Jamie zu. „Ehrlich gesagt hoffe ich, dass der Mann eine Granate ist und du dich in ihn verknallst, während ihr so tut, als würdet ihr euch küssen.“

Holly schüttelte sich, während sie den Zündschlüssel abzog. Sie würde sich garantiert in niemanden verknallen. „Kennst du den Mann eigentlich?“

„Ich weiß nur, dass er beim Bodenpersonal beschäftigt ist, gut aussehen soll, dunkle Haare hat und Rory einen Gefallen schuldet. Und, oooh, er wird einen Tweetmantel tragen. Oder eine Tweetjacke.“

„Ich hoffe nur, er weiß, was ein Filmkuss ist.“

„Man wird weder dich, noch ihn auf dem Foto erkennen.“

Holly warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu und stieg aus dem Wagen, um gemeinsam mit ihr zum nahe gelegenen Flughafengebäude zu eilen. In zehn Minuten würde ein Mr. Logan McOwen am vereinbarten Ort in der Ankunftshalle auftauchen. Sie mussten sich sputen, wenn sie vorher das Setting für dieses beknackte Shooting in Augenschein nehmen wollten.

„Vergiss mal das Foto, Holly, und sieh die positiven Aspekte.“

„Ich wäre wohl jetzt kaum hier, wenn ich nicht genau das täte.“

„Wer weiß, vielleicht steckt in dir ja eine verkappte Romanautorin“, phantasierte Jamie. Die Eingangstür schwang auf und die Freundinnen betraten das Flughafengebäude. „Die Frauen werden die Story lieben und nachher werden sie die wöchentlichen Artikel als Buch haben wollen. Und dann wollen sie noch mehr Bücher aus deiner Feder und du wirst berühmt ...“

„Als Zeitungsredakteurin halte ich nicht viel davon, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen.“

„Was für Phantasien hast du?“, fragte Jamie mit hochgezogenen Augenbrauen. „Du hast alles, was eine Autorin braucht: Du kennst unser Land und unsere Leute. Und du hast die große Liebe erlebt. Was brauchst du noch?“

„Das war eine Jugendliebe. Dieser Kerl ...“

„... ist ein ausgewachsenes Arschloch. Ja, ja“, fiel Jamie ihr ins Wort. „Aber, mein Spatz ...“

„Lass uns das Thema wechseln.“

„Natürlich, Spatzilein“, sagte Jamie mit leicht besorgtem Blick, was Holly mit einem ärgerlichen Naserümpfen quittierte. „Ich wollte damit auch bloß andeuten, dass du alles hast, was eine Schriftstellerin braucht, die eine großartige Liebesgeschichte schreiben will.“

„Muss“, korrigierte Holly. „Noch bezweifele ich ernsthaft, dass ich solch einen Kitsch überhaupt hinbekomme.“

„Schwachsinn! Natürlich kriegst du das hin.“ Jamie zeigte auf die Rolltreppe, die Abflug und Ankunftshalle miteinander verband. „Dort wird es geschehen. Am Fuß der Rolltreppe.“

„Hoffentlich hat der Typ keinen Mundgeruch.“

Jamie drückte ihrer Freundin einen liebevollen Schmatz auf die Wange. „Er wird dich nicht wirklich küssen. Wir sprechen alles genauestens ab.“

Zehn Minuten nach dem vereinbarten Termin standen Holly und Jamie immer noch zu zweit neben der Rolltreppe.

„Meinst du, ich könnte dich ein paar Minuten hier allein lassen?“ Jamie trat seit geraumer Zeit von einem Fuß auf den anderen, ihre Augen schimmerten bereits leicht glasig.

„Hau ab, bevor du dir noch in die Hosen pinkelst“, schmunzelte Holly. Sie sah der Freundin nach, die mit wehendem Mantel und dem Fotoapparat um den Hals davonstürmte.

Den Tweetmantel- oder Tweetjacken-Mann konnte sie auch allein abfangen. Außerdem hegte sie inzwischen sowieso die Vermutung, dass er gar nicht kommen würde. Unter der Handynummer, die Onkel Rory ihnen gegeben hatte, meldete sich ein Hundefrisör. Und natürlich war Rory Halligan um diese Zeit nicht erreichbar. Jeden Freitagnachmittag fuhr er ins türkische Dampfbad nach Newport, wo er, wie er sich ausdrückte, den Rotz der Woche ausschwitzte.

Aus purer Langeweile fuhr Holly mit der Rolltreppe in die Ankunftshalle hinauf und gleich wieder hinunter, als ihr von oben ein hochgewachsener Mann zuwinkte. Das kurzgeschnittene, wellige Haar war straff nach hinten gekämmt und glänzte in diesem schönen dunklen Rotbraun, das bei den Iren so häufig ist. Er trug eine Tweetjacke.

Das war also der Mann, der ihrem Onkel einen Gefallen schuldete. Holly winkte zurück. „Mr. McOwen?“

„Miss Halligan? Mrs. Halligan?“, ertönte eine sympathische Männerstimme vom oberen Ende der Rolltreppe.

Der Tweetjacken-Mann war auf alle Fälle ein ganz anderes Kaliber als Tante Elizabeths Großneffe Henry. Trotzdem – das würde nichts werden. Sie freute sich einfach viel zu sehr auf ihre halbjährige Reise.

„Kommen Sie nach unten, Sir. Wir warten seit einer Ewigkeit auf Sie“, rief sie dem Mann zu, den Onkel Rory ihr nicht nur zum falschen Zeitpunkt lieferte, sondern der zudem ein paar Jährchen zu alt für sie war.

Mr. McOwen sprang geradezu auf die Rolltreppe.

„Es tut mir sehr leid, wenn Sie auf mich warten mussten. Hallo erstmal. Nennen Sie mich Logan. Und, bitte, duzen Sie mich. Ich bin zwar mindestens zehn Jahre älter als Sie, also ich bin 30, aber ... Egal. Ich rede mal wieder zu viel. Guten Tag, Miss, äh, Mrs. Halligan.“

Mr. McOwen, den Holly nun Logan nennen durfte, reichte ihr eine Hand, die perfekt zu seinem absolut gepflegten Äußeren passte. Er war acht Jahre älter als sie, aber sie musste ihm zustimmen: Während er aussah wie 30, musste sie den Ausweis vorzeigen, wenn sie im Getränkemarkt eine Flasche Wein kaufte.

„Ich bin die Miss. Mrs. Halligan ist meine Schwägerin. Zugleich ist sie die Fotografin bei der Roseport News. Die Gute“, Holly sah in die Richtung, in die ihre Freundin vor einer Ewigkeit entschwunden war, „ist anscheinend ins Klo gefallen. Sie erwartet ein Baby.“

„Aha. Dann darf ich wohl Sie küssen“, mutmaßte Logan und lächelte auf eine sehr sympathische, schüchterne Art.

„Aber erst, wenn Jamie hier ist“, beeilte sich Holly zu sagen.

Sie fand das Thema reichlich peinlich, auch wenn es nicht wirklich eklig werden würde, diesen Mann zu küssen. Er erweckte einen netten Eindruck und sah gut aus. Sehr gut, wenn man auf große, breitschultrige, muskulöse Kerle mit zurückgekämmtem, welligem Haar und schmalen Augen stand, bei denen man die Farbe nicht erkennen kann. „Darf ich fragen, warum du meinem Onkel einen Gefallen schuldest?“

In dem Moment kam Jamie angewatschelt und Logan blieb ihr die Antwort schuldig, da ihre Freundin sich mehr oder weniger auf ihn stürzte.

„Logan McOwen ...“ Jamie schüttelte seine Hand, stellte sich vor, knuffte Holly mit einem anzüglichen Grinsen auf dem neuerdings rundlichen Gesicht in die Rippen und erklärte: „Wenn du nichts dagegen hast, duzen wir uns, Logan. Ich bin Jamie. Am besten legen wir gleich los. Der Kuss wird hier unten vor der Rolltreppe stattfinden. Holly kommt runtergefahren, du wartest auf sie und nimmst sie in die Arme. Das ist schon alles.“

„Muss das mit dem Runterfahren sein? Wir drehen doch keinen Film.“ Holly warf ihrer Freundin einen skeptischen Blick zu.

„Aus der Bewegung heraus aufgenommene Fotos wirken realistischer“, Jamie tippte mit dem Fuß auf die silberne Bodenplatte vor der Rolltreppe, „Hier küsst ihr euch. Ich fotografiere von der Seite, so dass man von euren Gesichtern nicht viel erkennt. Großaufnahme, aber alles nur angedeutet. Danach läufst du weg, Logan. Aber nicht rennen, sonst wird es unscharf. Ich fotografiere dich von hinten. Okay?“

Logan nickte.

Holly sah mit zusammengekniffenen Augen zu Jamie. „Wolltest du Logan nicht etwas über die Art des Kusses erklären.“

„Ihr seid erwachsene Menschen. Ihr werdet doch wohl wissen, wie ein Kuss funktioniert.“

„Jamie!“, zischte Holly, doch die Freundin war bereits ein paar Schritte zurückgetreten, bereitete ihre Kamera vor und ignorierte sie.

Oh nein, du Biest, dachte Holly, so kommst du mir nicht davon. Sie wandte sich an Logan. „Weißt du, wie ein Filmkuss geht?“

Logan blickte unergründlich auf sie hinab.

„Darf ich das als ein Nein deuten?“, hakte sie nach.

„Ohne Zunge?“

Holly schnappte nach Luft. „Ganz recht, Logan! Wenn du die Zunge rauslässt, tritt mein Knie in Erscheinung. Eine Aufwärtsbewegung, wenn du verstehst, was ich meine?“

Logan tippte sich mit einem Finger an die Stirn und sagte: „Aye, aye, M’am.“

Obwohl sie es nicht wollte, musste Holly lachen. „Danke, Logan. Diese ganze Geschichte ist mir mehr als peinlich, aber ...“

„Rory hat’s drauf, die Menschen für sich springen zu lassen“, setzte Logan ihren Satz fort. „Er hat mich dabei erwischt, wie ich seinen Wagen angetitscht und mich klammheimlich davongemacht habe. Ich bin übrigens der Pressesprecher des Flughafens und es hätte nicht sehr vorteilhaft ausgesehen, wenn die Story am nächsten Tag in allen Zeitungen erschienen wäre. Aber die Strafe heute nehme ich gern inkauf.“

Onkel Rory war wirklich das größte Schlitzohr, das ihr je unter die Augen gekommen war.

„Also, Logan, du gehst mit deinen Lippen seitlich an Hollys Wange, ohne sie zu berühren. Diese Position hältst du so lange, bis ich das Kommando zum Loslaufen gebe“, erklärte Jamie dann zum Glück doch noch genau, was Logan tun sollte.

Wie vereinbart fuhr Holly mit der Rolltreppe in das obere Stockwerk. Augen zu und durch. Der Mann würde sie nicht mal wirklich berühren. Alles war gut.

Wirklich?

Holly schüttelte den Kopf über sich selbst und konzentrierte sich auf die Stufen der Rolltreppe, die sich vor ihr senkten und im Boden zu verschwinden schienen. Noch vier Stufen.

„Komm schon, Holly, es ist gerade so schön voll“, rief Jamie. „Das gibt eine großartige Kulisse. Und denk dran: Kopf nach rechts, und hier unten: Augen zu!“

Unten war wirklich richtig was los.

„Soll ich rennen?“, rief sie Jamie zu.

„Gute Idee! Tempo, Spatzi!“

Holly eilte die fahrende Treppe hinunter, die Augen immer nach rechts, wie abgesprochen. Unten angekommen, schoss sie ein wenig über die silberne Bodenplatte hinaus. Doch sie sollte ja die Augen schließen. Logan packte das schon. Als Pressesprecher hatte er sicher ein Studium abgeschlossen.

In wenigen Sekunden ist es vorbei, beruhigte sie sich selbst, bevor sie mehr oder weniger gegen ein menschliches Bollwerk bretterte, ein Paar harte Arme sich um ihren Rücken und weiche Lippen sich heißblütig auf die ihren legten.

2

Jack O’Brien schwor sich, nie wieder einen Tropfen Alkohol zu sich zu nehmen. Wobei die Sache in diesem Fall mit einem einzigen Tropfen nicht erklärt war.

Er wollte gar nicht erst versuchen, darüber nachzudenken, wie viele Whiskeys er sich in den vergangenen 24 Stunden hinter die Binsen gekippt hatte. In seinem Kopf rackerte sich ein Presslufthammer ab und zerlegte offenbar jedes einzelne Alkoholmolekül in Staub.

Dagegen kamen auch die beiden Aspirin nicht an, die ihm dieses blondierte Mäuschen von einer Stewardess im Austausch gegen zwei Autogramme überlassen hatten. Eins hatte er in ihr Notizbuch kritzeln müssen, das andere auf ihren Hintern. Jawohl! Auf ihren Hintern. In der Kombüse. Sie hatte sich außerdem auffällig unauffällig an ihn gepresst und ihm ihre schlauchbootförmigen Lippen entgegengestreckt, aber daraus war nichts geworden.

Er sah jetzt noch die in die Wand eingebaute Kaffeemaschine vor sich, die in ihm einen Würgereiz ausgelöst hatte, während er den silbernen Kugelschreiber mit dem aufgedruckten Logo der Airline über nackte, sehr weiße Haut bewegte. Bei dieser Aktion war er bereits so blau gewesen, dass er sich nicht mal mehr erinnerte, ob seine Schreibunterlage eher apfel- oder birnenförmiger Natur gewesen war.

Zum Glück durfte er endlich das letzte verdammte Flugzeug verlassen.

Die Stewardessen standen in Reih und Glied und grüßten ihn zum Abschied besonders freundlich. Er hielt den Kopf gesenkt. Sollten sie ihn für einen arroganten Arsch halten. Er hängte sich den Riemen der Sporttasche über die Schulter und stolperte auf die Flugbrücke.

Am schlimmsten war der Flug von L.A. nach New York gewesen. Er hatte keine Ahnung, wie viele seiner kaum erkennbaren Unterschriften er in Zeitschriften, auf Postkarten, abgerissene Zettelchen und T-Shirts gekritzelt hatte. Gut möglich, dass er sogar Klopapier beschriften musste. Nach dem Check-In war er gleich aufs Klo gerannt und hatte sich dort so lange verbarrikadiert, bis die verängstigt klingende Klofrau mit der Polizei drohte. Danach hatte er geglaubt, nur noch die halbe Stunde bis zum Boarding überstehen zu müssen. An der Bar ließ es sich vergleichsweise gut aushalten. Da hatte er die ersten zwei, drei oder auch vier Whiskeys gekippt. Aber weit gefehlt. Als die Boeing erst mal in der Luft war und die Leute ihre Sicherheitsgurte lösen durften, waren sie wie bei einer Prozession an seinem Platz vorbeimarschiert.

Die Autogrammjägerei hörte nicht mal auf, als er bereits eine Kotztüte im Gesicht hatte. Eine Frau hatte ihn sogar gefragt, ob sie die Tüte halten sollte. Es war widerlich, wozu Menschen sich hinreißen ließen, wenn ihnen ein Filmstar gegenüberstand, beziehungsweise, wie in seinem Fall, total verzweifelt und schier am Ende vor Übelkeit in einem Flugzeugsitz vor ihnen kauerte.

Aber er wollte niemandem die Schuld in die Schuhe schieben. Er selbst hätte es ja vermeiden können, denn das wäre alles nicht passiert, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß, wenn er rechtzeitig gebucht hätte. So musste er den Horror, der hinter ihm lag, wohl als gerechte Strafe für alle seine Sünden sehen. Sofern das überhaupt langte.

Wenn er sonst flog, also dann, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, saß er in der First Class oder in der Business Class. Aber dieses Mal war er mehr oder weniger aus L.A. geflohen, hatte zwischen zwei Takes einfach einen x-beliebigen Flug gebucht, den ersten und einzigen, der an diesem Tag nach Knock ging. Das hieß, dreimal hatte er umsteigen müssen. Das bedeutete drei Spießrutenläufe durch Flughafengänge, beinahe 24 Stunden unterwegs zu sein und unzählige Whiskeys, damit er nicht irgendwo da oben über den Wolken den Notausgang entriegelte und sich in den Atlantik stürzte. Aber jetzt hatte er es ja hinter sich, sogar die Autogrammjägerinnen und –jäger hatte er abgeschüttelt. Bei der letzten Zwischenlandung in London hatte er sich nämlich die Haare färben und einen anderen Haarschnitt verpassen lassen.

Das würde sein Hofstaat natürlich sofort ändern, sobald er wieder in Hollywood eintrudelte. Aber jetzt war er erst mal braunhaarig wie Johnny Depp statt blond-gesträhnt wie Brad Pitt. Wobei er Johnnys wallende Mähne gegen Brads Kurzhaarfrisur getauscht hatte. Dazu hatte er sich die größte Sonnenbrille auf die Nase gesetzt, die er am Flughafen kaufen konnte, die Bartstoppeln wuchern lassen und sich einen dicken Schal um den Hals gebunden, hinter dem er sein Gesicht zusätzlich verstecken konnte.

In einer Schaufensterscheibe sah er, dass er aussah wie jemand, der nicht erkannt werden wollte. Aber es wirkte. Endlich ließen sie ihn in Ruhe, was jedoch auch damit zusammen hängen konnte, dass er in Europa nicht annähernd so bekannt war wie in Amerika, wo ihn quasi jeder Hund auf der Straße aus zehn Meilen Entfernung erschnüffelte.

Jack war heilfroh, dass er nur mit Handgepäck reiste. Nachdem die letzte von 60 Folgen der vierten Staffel abgedreht war, hatte er einfach seine Kreditkarten und ein paar Toilettenutensilien in die rote Sporttasche geworfen, die ihm Sandy aus der Maske netterweise geliehen hatte, und war zum Flughafen gerast. Gleich vom Set aus war er getürmt, bevor ihn Saundra abfangen und ihn vor die Kameras der Werbeheinis zerren konnte.

Gott, er war so verdammt fix und alle. Der ganze Hollywood-Scheiß, die Partys, die Glitzerwelt gingen ihm dermaßen auf die Nerven. Ausgelaugt war er. Oder ausgebrannt. Außerdem brannte seine Kehle, und zwar sehr unangenehm.

Er nickte dem Zollbeamten zu und betrat inmitten einer Gruppe Touristen die Ankunftshalle.

Der Putzmann im Herrenklo, wo er sich wie ein Geisteskranker die Zähne geschrubbt hatte, um die Whiskeyfahne zu lindern, hatte ihm den Tipp gegeben, in die Abflughalle hochzufahren, weil man dort schneller an ein Taxi kam. Das war zwar nicht nötig, da er von seinem einzigen verbliebenen Freund in Irland abgeholt wurde. Trotzdem gab er dem Putzmann ein Trinkgeld, was der ihm mit der Frage dankte, ob es sein könnte, dass er Jack O’Brien wäre. Der Jack O’Brien. Und da hatte er einfach verneint und dem Kerl den 10-Dollar-Schein in die Hand gedrückt. „Was soll ich denn damit?“, hatte ihm der Putzmann hinterhergerufen. „Wer wechselt mir den Lappen?“

Während des Klo-Flashbacks hatte Jack plötzlich eine Erscheinung.

Ihn traf sozusagen der Schlag. Mitten in der Bewegung blieb er stehen. Er blinzelte verstört, doch so sehr er seine Augen auch zukniff und wieder öffnete, das Bild wollte nicht verschwinden. Nicht, dass er es gern loswerden wollte. Aber das konnte ganz einfach nicht sein. Jack starrte geradewegs in Richtung der langsam hinabfahrenden Rolltreppe.

Von oben kam wie ein Engel aus dem Himmel Holly herabgefahren. Das war Holly wie sie leibt und lebt. Es sei denn, er hatte Halluzinationen. Eine Art Delirium, was gut möglich war.

Doch das pechschwarze, krause Haar der jungen Frau auf der Rolltreppe stand genau wie früher in alle Himmelsrichtungen, als hätte sie ihre Finger in eine Steckdose gesteckt. Sie trug denselben olivgrünen Parka, den sie schon damals ständig anhatte und den sie sich mit dem Schreiben kleinerer Artikel für die Zeitung ihres Onkels verdient hatte. Die rechte Tasche war ausgebeult, denn Holly hatte immer einen dieser Handteller großen Notizblocks bei sich, die mit der Ringbindung. Einen ganz einfachen Block. Nur liniiert musste er sein, denn karierte Blocks hasste sie. Sie behauptete, dass sie bei Karos immer an Mathe denken musste und dass sie dabei die Worte vergaß. Dabei war sie ebenfalls ein As in Mathe gewesen. Holly war überhaupt in allem ein As. Sie konnte im Kopf eine Gleichung mit vier Unbekannten lösen. Und wenn man sie fragte, wie dieses oder jenes Wort geschrieben wurde – Holly war ein wandelnder Duden. Einen Zeitungsartikel für die Titelseite schrieb sie innerhalb von zwanzig Minuten runter. Und er war perfekt.

So perfekt wie sie.

Kein Zweifel, sie war es. Holly Halligan würde er sogar mit drei Promille im Blut erkennen.

Sie würde ihn nicht sehen wollen, soviel war klar. Außer Ryan, seinem alten Studienkollegen und letzten Freund wartete in seiner Heimat kein Mensch auf ihn. Nicht nach dem, was damals vorgefallen war. Selbst sein vom Alkohol vollkommen vernebeltes Gehirn sagte ihm, dass sie vollkommen recht hatte. Er an ihrer Stelle hätte sich auch nicht sehen wollen. Manchmal wollte er sich ja selbst nicht ins Gesicht sehen. Besonders seit ihm vor einiger Zeit klar geworden war, dass all der Ruhm und das viele Geld nichts bedeuteten. Alles nur Schein und ... Ruhm und Geld brachten einem einen Haufen Freunde. Sogenannte Freunde. In Wirklichkeit war er der einsamste Mann unter der Sonne Kaliforniens.

Oh, Mann. Jetzt versank er auch noch im Selbstmitleid!

Er sollte zu Holly hingehen, sie begrüßen. Sich bei ihr entschuldigen! Jetzt sofort. Egal, ob er blau war.

Drei Jahre waren vergangen, seit er sie im schlimmsten Moment seines Lebens verlassen hatte. Aber heilte die Zeit nicht alle Wunden? Auch die ganz tiefen? In seinem Zustand wollte er darüber kein endgültiges Urteil fällen.

Mit einem Mal kam Bewegung in Holly. Plötzlich stürmte sie die Rolltreppe hinunter. Ihr Haar, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, die eine Schwarze gewesen war, bewegte sich bei jedem Schritt in der Luft wie ein gigantisches Vogelnest.

Sie rannte wie verrückt, und zwar direkt auf ihn zu. Sie hatte ihn entdeckt – und sie hatte ihm verziehen. Würde sie sonst so rennen?

Sein Herz, das er nach einer Reihe belangloser Beziehungen und unzähliger One Night Stands schon für abgestorben gehalten hatte, machte einen Satz und klopfte ihm bis zum Hals, als er sich ebenfalls in Bewegung setzte.

Schneller und schneller lief er.

Bilder aus vergangenen Zeiten blitzten durch sein Hirn. Wie ein dünnes Mädchen mit Afrofrisur aus dem Publikum des winzigen Theaters in Roseport zu ihm aufsah, ihm applaudierte und ihn immer wieder mit ihren riesigen braunen Augen einfing.

Nur der Regisseur hatte bemerkt, dass die Sätze immer ein wenig langsamer kamen als sonst. Damals war er gerade zwanzig gewesen und sie sechzehn.

Nach der Vorstellung war er enttäuscht gewesen, denn sie wollte ihn nur interviewen, wollte einen Exklusiv-Bericht, obwohl er noch gar nicht bekannt gewesen war. Kein Wort von einem Autogramm, kein Augenaufschlag.

Doch später hatte er doch noch Hollys Herz erobert. Zwei Jahre nach dem Augenkontakt im Theater, um genau zu sein.

Und dann hatte er es ihr gebrochen.

Aber so wie sie die Rolltreppe hinunter hechtete, würde alles werden wie früher. Nun, nicht alles, denn Tote konnten nicht wieder auferstehen. Nicht im wahren Leben. Aber die Sache mit Holly, die würde wieder in Ordnung kommen.

Er fand sie noch genau so schön wie früher, wenn nicht schöner. Sie war erwachsen geworden, Frau statt Mädchen.

Seine Hände legten sich um ihre Schultern. Durch den dicken Parka hindurch spürte er ihre Wirbelsäule, jeden einzelnen Wirbel, wenn er mit den Händen auf- und abwanderte.

Ihm fiel selbst auf, wie total bekloppt sein Gedanke war, dass sie die schönsten Wirbel der Welt hatte. Und er hatte weiß Gott viele Wirbel gefühlt und viele Brüste hatten sich gegen seinen Oberkörper gedrückt, den er seinem unbeugsamen Personal Trainer zu verdanken hatte. Am liebsten hätte er Holly an Ort und Stelle die verdammte dicke Jacke vom Leib gerissen.

Er konnte seine Augen nicht von ihrem schönen, glatten Gesicht abwenden. Ganz feine Poren hatte ihre ungeschminkte Karamellhaut. Die langen, geschwungenen Wimpern lagen auf ihren leicht geröteten Wangen. Warum nur hielt sie die Augen geschlossen, wollte sie ihn nicht sehen oder war sie ebenso von ihren Gefühlen überwältigt wie er?

Auch seine Lider senkten sich. Wie von selbst fanden seine Lippen ihre und er dankte Gott oder wem auch immer dafür, dass er sich noch vor wenigen Minuten die Zähne geputzt hatte. Nicht auszudenken, wenn er sie gleich bei der Begrüßung mit einer Alkoholfahne betäubt hätte.

Sie schien überhaupt nichts von seinem Zustand mitzubekommen. Zum Glück! Und dann zischte sie plötzlich: „Jetzt reicht’s aber, Logan. Verpiss dich! Oder muss ich mein Knie bemühen?“

3

„Was bildet der sich ein! Dieser verdammte Sausack! Ein Filmkuss bedeutet: Lippen neben die Mundwinkel, möglichst ohne Berührung. Du hast es dem Dreckskerl noch genau erklärt! Trotzdem nutzt er die Situation aus. Der Typ sieht aus, als könnte er kein Wässerchen trüben, aber in Wirklichkeit fällt er über alles her, was nicht schnell genug auf die Bäume kommt. Ich habe seine Zunge genau gespürt! Der hat sich richtig ins Zeug gelegt! Das war das gefundene Fressen für ihn! Vermutlich ist er seit Ewigkeiten Single und findet niemanden, der auf ihn reinfällt. Und Onkel Rory glaubt auch noch, er könnte mich mit diesem Flughafenlügner verkuppeln, der mir dann drei rothaarige Schreihälse andreht. Und ich texte bis ans Ende meiner Tage schwachsinnige Artikel, damit diese verlotterte, längst tote Roseport News überlebt“, schnauzte Holly.

Sie öffnete ihre Augen, drehte den Kopf nach links – und blickte direkt in die Gesichter von Jamie und ... Logan McOwen.

Ein zischendes Geräusch entstand, als Holly tief einatmete. Hatte sie den unverschämten Mistkerl nicht gerade verjagt? „Was ...? Wer ...?“, stammelte sie verwirrt.

„Gute Frage“, murmelte Jamie. Auch die Freundin schien einigermaßen durcheinander. Sie starrte über ihre Kamera hinweg in Richtung Ausgang.

Holly sah ebenfalls dorthin, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.

„Da ist wohl eine Entschuldigung fällig“, meldete sich Logan. Seine Miene wirkte versteinert.

„Ein Filmkuss war abgemacht“, schnaufte Holly.

„Logan hat dich überhaupt nicht geküsst. Er hat die ganze Zeit brav neben mir gestanden“, sagte Jamie nachdenklich.

„Du willst mich doch verarschen.“

„Leider nein.“

Holly rieb sich die Augen. Sie hatte die Sache mit dem Kuss nur geträumt. Sie war gar nicht die Rolltreppe hoch- und danach gleich wieder hinuntergefahren. Sie hatte sich alles nur eingebildet. Ihr Gehirn hatte es ihr vorgegaukelt. Es hatte ihr diesen Kuss, diesen unglaublichen Kuss vorgespielt. Dieser Kuss, der sie fast von den Socken gehauen hätte. Ihr Herz pochte wie wahnsinnig, ihre Wangen glühten. Und alles nur von einer Einbildung. Das einzige, das echt war, war ihr Ausbruch gewesen. Das durfte nicht wahr sein, dass sie diesem netten Logan McOwen unterstellt hatte, die Situation ausgenutzt zu haben, während sie durchdrehte. War das peinlich!

Sie musste sich ganz, ganz schnell entschuldigen.

„Tut mir leid, Logan. Ich wollte dich nicht beschimpfen. Ich dachte, ich wäre die Rolltreppe hinuntergefahren. So wie Jamie mich angewiesen hatte. Kopf nach rechts. Also, ich bin erst hochgefahren, dann runter. Aber ... Aber ... Es tut mir so leid. Ich muss das geträumt haben“, strömten die Worte nur so aus ihr heraus. Diese Sache war nicht nur peinlich, sondern hochnotpeinlich. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nicht so unglaublich irre aufgeführt. Sie konnte nichts anderes tun, als Jamie und Logan verwirrt anzustarren.

Doch die Beiden starrten nicht minder verwirrt zurück.

„Was ist los mit euch?“, keuchte Holly. Als immer noch niemand etwas sagte, bat Holly ihre Freundin, sie in den Arm zu kneifen. „Ich weiß, so etwas sagen sie sonst nur in schlechten Filmen, aber würdest du das für mich tun? Würdest du in meinen Arm zwicken?“

„Kannst du haben“, meinte Jamie und zerquetschte Hollys Oberarm, so dass diese das Gesicht schmerzhaft verzog. „Ich kann dir aber auch einen Beweis liefern.“

Jamie hielt Holly das Display ihrer Kamera unter die Nase.

Holly war schon so weit gewesen, wirklich zu glauben, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte. Aber die Fotos, die Jamie ihr präsentierte, passten zu dem, was sie sich einbildete, gerade erlebt zu haben.

Das war eindeutig ihr Profil, auch wenn ein Fremder es wahrscheinlich nicht erkennen würde. In eindeutiger Pose an ihr Gesicht geschmiegt war ein Mann. Ein sonnengebräunter, unrasierter Kerl mit einer dunklen Trendfrisur. Wie auf dem Titelbild eines modernen Groschenromans.

„Dann war das gar kein Traum“, hauchte sie.

„Nein, Holly. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann dich küsste, bevor Logan sich dazwischen werfen konnte. Du bist mein Zeuge, Logan“, versicherte sich Jamie bei dem Flughafensprecher.

„Ich kann den Ablauf des Geschehens nur bestätigten“, sagte Logan förmlich.

„Da hörst du es! Also, Spatzi, raus mit der Sprache: Wer war der Kerl?“

„Wie bitte?“ Holly starrte ihre Freundin an. Jetzt sollte sie den Mann auch noch kennen?

„Also bitte. Wir fahren eine Stunde durch die Landschaft, nur um am Flughafen ein Foto für eine erfundene Lovestory zu stellen und dann gibt es jemanden in deinem Leben ...“

„Jetzt mach mal halblang, Jamie. Ich dachte, es wäre Logan. Jetzt glaub mir schon!“

Jamie betrachtete die Freundin mit schräg gelegtem Kopf. „Okay. Dann ist uns folgendes passiert: Rory besorgt uns das zu der erfundenen Story mit dem wunderbaren Titel Stürmische Küsse passende Model – und was passiert? Uns läuft zufällig freiwillig ein anderes Model vor die Linse. Ja, wie geil ist das denn? Beziehungsweise: Klingt das irgendwie wahrscheinlich?“

Holly zuckte mit den Schultern. Sie fasste es ja selbst nicht.

„Also, ich finde das gar nicht gut“, meldete sich Logan zu Wort, während Holly sich nach diesem Mann, der sie soeben geküsst hatte, umsah. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wonach sie Ausschau halten sollte. Sie kannte ja bloß die Farbe seiner Haut, einen Ausschnitt von seiner Frisur und die Bartstoppeln. Und auch diese Merkmale kannte sie nur von Jamies Foto.

„Da hinten ist er. Am Ausgang. Neben der Autovermietung mit den orangefarbenen Lichtern“, sagte Logan plötzlich.

„Da steht er seit er von hier weggerannt ist.“ Jamie zeigte mit dem Finger in die Richtung, in die Logan sah.

Holly folgte Jamies Finger. Und dann rannten sie zu dritt los. Selbst Jamies Watschelgang verwandelte sich plötzlich in einen eleganten Sprint.

„Er hatte einen riesigen Vorsprung“, keuchte Jamie. Wie Holly und Logan sah sie dem schwarzen Mercedes hinterher, in den der Unbekannte gesprungen war und mit dem er nun davonfuhr.

„Jemand hat hier auf ihn gewartet“, keuchte Logan.

„Überleg schon, Holly, erkennst du ihn vielleicht am Laufstil?“ Jamie blickte der Freundin eindringlich ins Gesicht.

„Ich habe dir bereits gesagt, dass ich den Typen nicht kenne“, fauchte Holly, die ihr Gehirn bereits während des Sprints zermartert hatte, wer der Mann gewesen sein könnte. Doch sie hatte keinen blassen Schimmer. Da hatte sich jemand geirrt. Eine Verwechslung. Vielleicht besaß sie ja einen heimlichen Verehrer, was eigentlich ein schöner Gedanke war. Andererseits ... Dieser Kuss hatte sich unglaublich angefühlt. Er hatte ihr gefallen.

„Frischer Atem, Lippen halt, die Hände auf meinem Rücken ...“, überlegte sie laut.

„Ja? Holly? Die Hände auf deinem Rücken ...“, wiederholte Jamie.

Holly schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Nein! Unmöglich! Sie musste sich irren. Jack war in Amerika. Vor drei Jahren war er aus Roseport abgehauen, hatte ein neues Leben begonnen und sich seitdem nicht wieder in Irland blicken lassen. Und dann die dunklen Haare, die Bartstoppeln ... Nein. Jack war nicht hier.

„Erde an Holly.“ Jamie wedelte mit der Hand vor dem Gesicht der Freundin herum.

„Ich habe gerade etwas ganz Dummes gedacht“, gab Holly zu. „Aber es ist ganz und gar unmöglich.“

„Was meinst du?“, zischte Jamie aufgeregt. „Hast du den Mann erkannt?“

„Also, meine Damen, wie geht es jetzt weiter?“, meldete sich Logan. „Ich habe bei Mr. Halligan eine Schuld zu begleichen. Machen wir jetzt das geplante Foto?“

„Eigentlich haben wir ja jetzt ein Foto ...“ Jamie warf Holly einen fragenden Blick zu.

„Aber es ist nicht das Foto, das geplant war“, wandte Logan ein. „Und was ist mit den anderen Fotos?“

„Von welchen anderen Fotos sprichst du?“ Holly runzelte die Stirn. Logan war ein netter Kerl, gut aussehend und sympathisch, und es war unübersehbar, dass er an ihr interessiert war. Aber in wenigen Wochen fuhr sie nach Dublin. Sie konnte keinen Verehrer gebrauchen. Das hieß, inzwischen waren ja möglicherweise gleich zwei Typen hinter ihr her.

„Ich denke, es wird eine Artikelserie.“ Logan zog eine Augenbraue fragend in die Höhe, was ein bisschen hilflos und darum umso süßer an diesem riesigen Kerl aussah.

„Holly, Logan, zurück in den Airport“, befahl Jamie. „Onkel Rory reißt uns den Kopf ab, wenn wir unseren Auftrag nicht erfüllen. An der anderen Geschichte bleiben wir allerdings dran.“ Das Letzte flüsterte sie Holly ins Ohr.

* * *

Als Holly am Abend mit ihrem Laptop und einer Tasse Tee aufrecht auf ihrem schmalen Bett saß, hatte sie immer noch das Gefühl, nicht ganz bei Verstand zu sein.

Eigentlich hatte sie eine Liste der Dinge machen wollen, die sie mit nach Dublin nehmen würde, während sie total übersüßten Kirschtee trank. Sie hatte die Vorfreude genießen wollen. Doch nichts davon funktionierte. Der Tee war inzwischen kalt und die Vorfreude blieb komplett aus. Sie konnte sich nicht mal auf diese Reise konzentrieren, die ihrem Leben sicher ganz neue Impulse geben würde, es möglicherweise komplett veränderte.

Jamie hatte ihr per E-Mail die Fotos vom Flughafen geschickt. Nun lagen Hollys Augen wie festgefroren auf das Kussfoto mit dem Unbekannten gerichtet.

Die Fotos, auf denen sie mit Logan abgebildet war, waren brillant. Man konnte wirklich nichts und zugleich alles erkennen. Dabei hatte sich Onkel Rorys Model brav an die Anweisungen gehalten. Und genau so hatte sich der Kuss angefühlt. Angenehm und anständig, was sie Logan hoch anrechnete. Es gab keine hinterhältige Berührung, kein winziges Streicheln, nichts, das sie hätte beanstanden können. Er hatte gar nicht erst versucht, sich etwas zu stehlen, das ihm nicht zustand. Sehr brav.

Logan McOwen war ein feiner Kerl und Holly hätte nichts dagegen, für weitere Artikelfotos mit ihm zusammen Modell zu stehen. In seinen Armen zu liegen, hatte ihr sogar unerwartet ein Gefühl von Geborgenheit gegeben. Dennoch war sie bald in Dublin und Jamie würde sich ein anderes weibliches Model suchen müssen, das mit Logan vor der Kamera posierte.

Also, alles kein Problem, jedenfalls nicht ihres.

Das Problem begann, wenn sie an den ersten Kuss dachte, an den, von dem sie angenommen hatte, dass Logan ihn ihr gegeben hatte.

Wenn sie die Augen schloss, schmeckte sie förmlich die frische Zahnpasta und spürte zugleich die warmen, festen und doch so weichen Lippen. Wäre dieses Weiche nicht gewesen, dann ... Holly schüttelte den Kopf. Immer wieder sagte sie sich, dass das nicht sein konnte. Und doch kam sie ebenso häufig wieder auf denselben Gedanken zurück.

Du spinnst, schalt sie sich selbst. Der Mann auf dem Foto war dunkelhaarig. Außerdem war sein Haar raspelkurz und Jack hatte kurzes Haar gehasst.

Einfallslose Kurzhaarfrisuren seien was für Landeier, hatte er immer behauptet. Wenn man auffallen wollte, musste man ein echter Typ sein. Mit einer Null-Acht-Fünfzehn-Männerfrisur, womöglich noch mit einer Maschine wie im Knast produziert, sah einer aus wie der andere. Das war seine Meinung gewesen, von der er auch dann nicht abgewichen war, wenn Holly ihm in den vielen Zeitschriften, die sie damals verschlungen hatte, Beispiele für äußerst leckere Kerle mit kurzen Haaren gezeigt hatte. Um ein echter Typ zu sein, hatte Jack sein Haar stets auf einer Länge gehalten, die ihn verwegen erscheinen ließ, aber doch weit davon entfernt war, aus ihm einen Hippie zu machen.

Wie sie von diversen Internet-Recherchen wusste, hatte er sich äußerlich kaum verändert. Er schien nach wie vor mittelgroß zu sein, sehr schlank, wenn auch noch durchtrainierter, und das Haar, von dem ihm stets eine Strähne in die Stirn fiel, war blond mit hellblonden Strähnen, die die Natur ihm geschenkt hatte, auch wenn es aussah, als hätte ein begnadeter Friseur sein Meisterwerk an ihm vollbracht.

Holly hatte ihn keineswegs gestalkt, nachdem er vor drei Jahren das Haus seiner Großmutter total überstürzt an einen Investor verkauft hatte und von einen auf den anderen Tag aus Irland verschwunden war. Obwohl sie als Journalistin arbeitete und ein As war im Recherchieren, war sie nicht der Typ, der einem Mann nachspionierte. Dazu war sie zu stolz und sie hätte sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können, wenn sie es doch getan hätte. Verzweifelte Mäuschen ohne Selbstbewusstsein waren ihr ein Gräuel.

Stattdessen war Holly wütend geworden, hatte sich in die Arbeit bei der Zeitung gestürzt, was ihr innerhalb kürzester Zeit reichlich Berufserfahrung und Übung eingebracht hatte.

Erst ein ganzes Jahr, nachdem Jack weg war und seine Freunde, Eltern und sie traurig und ratlos zurückgelassen hatte, erlaubte sie sich, ihm ein wenig nachzuspionieren. Durch das Internet war das kein Problem gewesen. Im Netz schwirrten Tausende von Fotos mit seinem Gesicht umher, oft stand irgendeine abgemagerte Hollywood-Schönheit neben ihm. Die Suchmaschineneinträge über ihn überschritten die zwei-Millionen-Marke. Jack O’Brien, ihr früherer Verlobter, war ein internationaler Superstar.

Komischerweise hatte er mit seiner total lächerlichen Serie Blut und heiße Küsse fast überall auf der Welt Furore gemacht. Nur in Irland war von seinem Erfolg als Vampir, der zur Tarnung als Arzt arbeitete, um möglichst unkompliziert an Blut zu kommen, nichts angekommen.

Holly klappte den Deckel ihres Laptops zu, um sich nicht weiter dummen Gedanken hinzugeben, die zu nichts führten. Sie sprang aus dem Bett, um den Tee aufzuwärmen.

Umstandslos kippte sie den kalt gewordenen Kirschtee in einen Blechtopf und erhitzte ihn unter Zufuhr von reichlich Zucker auf der einzelnen Kochplatte, die auf dem kleinen Holztisch unter dem Fenster stand, der ihr zugleich als Schreibtisch diente. Dazu verschlang sie gleich zwei Schokoriegel, ihr Abendessen. Über ihre grauenhaften Essgewohnheiten tröstete sie sich regelmäßig mit dem Gedanken hinweg, dass anderswo auf der Welt Menschen glückselig wären, wenn sie so viele nährstoffarme Lebensmittel zu beißen bekämen wie sie.

In dem Moment klingelte das Telefon. Es war Jamie.

„Kommt das Baby?“, fragte Holly schmatzend.

„Stopfst du wieder Schokoriegel in dich rein?“, kam es zurück.

Holly warf einen Blick auf die Küchenwanduhr, eine der wenigen Stücke, die sie von ihren Eltern besaß. „Es ist fast Mitternacht. Brauchen werdende Mütter nicht viel Schlaf?“

„Klappe!“, schnaufte Jamie.

„Ah, Ethan ist unterwegs.“ Holly konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ethan war eine absolut treue Seele, vermutlich die treueste Seele ganz Irlands, aber Jamie unterstellte ihm alle drei Tage, sie zu betrügen. Dabei hätte innerhalb weniger Stunden auch der letzte Bewohner aus dem County davon gewusst. Und nun saß ihre Freundin aufrecht auf dem Sofa und beobachtete die Haustür, um in Kürze wie eine Furie mit wüsten Verdächtigungen über ihren Mann herzufallen.

„Stimmt“, gab Jamie zurück. „Aber er ist nicht allein.“

„Ist Ethan bei Paddy?“ Der Pub war eine der wenigen Möglichkeiten in Roseport und Umgebung, am Abend etwas anderes als eine einsame Nachtwanderung zu unternehmen oder die Bevölkerungsentwicklung anzukurbeln.

„Wo sonst? Und jetzt ...“

„Dann kannst du ja unbesorgt sein. Bei Paddy hängen nur Kerle und die versoffene Orla rum. Mit ihren 76 Lenzen wird sie Ethan schon nicht hinter die Theke zerren. Außerdem schließt Paddy in wenigen Minuten.“

„Bist du jetzt fertig?“

„Womit?“

„Damit, mich immerzu zu unterbrechen.“

„Wolltest du mit mir über etwas anderes reden als über Ethans angebliche Untreue?“ Holly schob sich das letzte Stück ihres Schokoriegels in den Mund.

„Als ich sagte, Ethan wäre nicht allein bei Paddy, wollte ich dir etwas mitteilen, das dich interessieren könnte“, sagte Jamie geheimnisvoll.

Da Jamie, außer wenn es um Ethans nicht existente Frauengeschichten ging, nicht gerade zu Übertreibungen, Hirngespinsten und sonstigen halbgaren Wahrheiten neigte, wurde Holly schlagartig sehr still, während der letzte Rest der Vollmilchschokolade auf ihrer Zunge zerging.

„Ethan hat mir erst eine SMS geschickt und danach eine MMS und danach noch eine SMS.“

„Geht es vielleicht noch ein wenig spannender?“ Holly linste zu Schokoriegel Nummer 3, zögerte kurz und schnappte dann schnell danach, um sogleich die knisternde Verpackung zu zerfetzen und in die cremige Schokolade zu beißen.

„Nimm nur genügend Nervennahrung zu dir“, lachte Jamie, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „In SMS 1 steht: Es wird heute später, gehe gleich auf ein Bier zu Paddy. Diese SMS kam ungefähr zu dem Zeitpunkt, als wir vom Flughafen losfuhren, aber ich hab sie erst nach dem Duschen entdeckt.“

„Jetzt sag schon, mit wem Ethan bei Paddy ist“, schmatzte Holly, denn dass Jamie ihr mitteilen wollte, wer mit ihrem Mann ein Bier nach dem anderen kippte, war ja wohl klar.

„Die MMS leite ich dir jetzt weiter. Moment. Weg ist sie. Schau nach! In der zweiten SMS steht: Kennst du diesen Mann?“

Mit zitternden Fingern öffnete Holly das empfangene Foto und spürte sogleich, wie sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht verschwand.

Auf dem Display erschien derselbe Mann wie auf dem zufälligen Kussfoto vom Flughafen. Nur dass sie dieses Mal sein Gesicht in voller Pracht vor sich sah und ihm überdies direkt in die funkelnden grünen Augen blicken konnte.

Oh, wie gut sie diese Augen kannte! Sie hatten sich bis auf alle Ewigkeit in ihr Gehirn eingebrannt. Holly vergaß ganz, dass sie noch einen halben Schokoriegel zu vertilgen hatte.

„Deinem Schweigen entnehme ich, dass du ihn erkannt hast“, ließ sich Jamie nach einer Schweigeminute vernehmen.

Holly schluckte.

„Du willst mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass du nicht schon am Flughafen wusstest, mit wem du es zu tun hast.“

„Ich hatte keine Ahnung. Ich habe wirklich gedacht, dass Logan sich eine Unverschämtheit herausnimmt.“ Holly starrte immer noch auf das Foto. Die dunklen Haare, die Bartstoppeln, der dicke Schal. Sie erkannte ihn wirklich nur an den Augen.

„Aber einen Kuss erkennt man doch!“, schimpfte Jamie ungläubig.

„Ich schwöre, ich habe nicht im Traum daran geglaubt, dass er es sein könnte. Mein Gott, es ist drei Jahre her. Guck dir den Mann an: Er sieht vollkommen verändert aus. Nur die Augen sind dieselben. Und die Lippen, aber wegen der piekenden Bartstoppeln ... Aber, verdammt, warum sollte Jack herkommen und mich küssen? Was sollte das? Ich verstehe das nicht. Und warum ausgerechnet an dem Tag ...“

„... an dem wir sowieso am Flughafen sind“, fiel Jamie ihr ins Wort. „Ausgerechnet zu der Zeit, wo ein Flieger aus L.A. landet. Das heißt, erst musste Jack noch in New York, Amsterdam und in Zürich zwischenlanden.“

„Denkst du etwa, dass ich ...?“

„... dass du dich mit ihm verabredet hast?“

„Denkst du das?“ Der Schokoriegel war in ihrer Hand geschmolzen. Holly sah zwischen dem Schokoladenmatsch und Jacks Augen hin und her.

„Blödsinn! So verpeilt ist nicht mal eine Schwangere. Weißt du, was ich glaube?“

„Onkel Rory! Das ist es! Onkel Rory hat das irgendwie eingefädelt!“ Holly sprang auf, um die geschmolzene Schokolade an einem Küchentuch abzuwischen. „Dieser Mistkerl! Aber warum zum Teufel hat Jack mich geküsst?“

Jack war nach L.A. gegangen, um Karriere zu machen. Holly war ihm damals vollkommen egal gewesen, denn sonst hätte er ja wohl wenigstens versucht, sie zum Mitkommen zu bewegen. Aber er hatte nur gesagt: „Ich muss das tun. Das ist meine große Chance. Bis bald, Holly.“ Das waren seine letzten Worte gewesen. Sie selbst war sprachlos gewesen, als er sie zum Abschied geküsst hatte und sie vor dem Haus ihres Onkels stehen ließ. Gleich danach war er zum Flughafen gefahren, wie ihr einen Tag später klar geworden war, als seine Eltern in der Redaktion aufgekreuzt waren und sie gefragt hatte, ob sie wüsste, wo Jack war. Sie hatten Jacks Worten keinen Glauben geschenkt. Sie hatten einfach nicht glauben können und wollen, dass ihr einziger Sohn nur zwei Wochen nach dem Tod seiner Zwillingsschwester nach Amerika ausgewandert war.

Binnen weniger Wochen hatten es die Spatzen von den Dächern gepfiffen, dass Jack mit der rothaarigen Anästhesistin aus der verblödeten Fernsehserie zusammen war, in der er einen blutrünstigen Chefarzt mimte. Von da an hörte sie von den Leuten in Roseport alle paar Tage Neues über Jacks Weibergeschichten. Anscheinend wechselte er die Frauen häufiger als seine Unterwäsche.