Iron Flowers – Die Rebellinnen - Tracy Banghart - E-Book
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Iron Flowers – Die Rebellinnen E-Book

Tracy Banghart

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Beschreibung

Sie haben keine Rechte. Sie mussten ihre Träume aufgeben. Doch sie kämpfen eisern für Freiheit und Liebe. Sie sind Schwestern, könnten unterschiedlicher nicht sein und sind dennoch unzertrennlich. Nomi ist wild und unerschrocken, Serina schön und anmutig. Und sie ist fest entschlossen, vom Thronfolger zu seiner Grace auserwählt zu werden, und ihr von Armut und Unterdrückung geprägtes Leben gegen eines im prunkvollen Regentenpalast einzutauschen. Doch am Tag der Auswahl kommt alles anders: Die Schwestern werden auseinandergerissen – und ein grauenhaftes Schicksal erwartet sie, auf das sie niemand vorbereitet hat. Die neue Serie für alle »Selection«-Fans: ein aufregendes Setting, junge starke rebellische Frauen, mitreißende Spannung und viel Romantik! Schutzumschlag mit Goldfolienveredelung

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Tracy Banghart

Iron Flowers

Die Rebellinnen

 

Aus dem Amerikanischen von Anna Julia Strüh

 

Biografie

 

 

Als bekennender Fan der Serie »The 100« hat Tracy Banghart mit ihren E-Book-Serien »Rebel Wings« und »By Blood« irgendwann angefangen, selbst Stoffe mit starken Frauenfiguren zu erschaffen und so eine große Fangemeinde gewonnen. Sie wuchs in Maryland, USA auf, studierte in England Buchwissenschaften und lebt heute auf Hawaii.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

1 Serina

2 Nomi

3 Serina

4 Nomi

5 Serina

6 Nomi

7 Serina

8 Nomi

9 Serina

10 Nomi

11 Serina

12 Nomi

13 Serina

14 Nomi

15 Serina

16 Nomi

17 Serina

18 Nomi

19 Serina

20 Nomi

21 Serina

22 Nomi

23 Serina

24 Nomi

25 Serina

26 Nomi

27 Serina

28 Nomi

29 Serina

30 Nomi

31 Serina

32 Nomi

33 Serina

34 Nomi

35 Serina

36 Nomi

37 Serina

38 Nomi

39 Serina

40 Nomi

Danksagung

Für jede Frau, von der verlangt wurde, sich zu setzen und nicht zu widersprechen – und die sich dennoch erhoben hat.

1Serina

Serina Tessaro stand auf den Stufen des Brunnens auf dem zentralen Platz von Lanos, flankiert von neun anderen Mädchen in ihrem Alter, die alle ihre besten Kleider trugen. Ihr strahlendes Lächeln verblasste keinen Moment, obwohl die drückende, mit Kohlenstaub verhangene Abendluft sie zu ersticken drohte.

Signor Pietro musterte jedes der Mädchen eingehend. Er kannte sie alle schon seit ihrer Geburt, hatte sie stets beobachtet, begutachtet und ihr Potential geprüft. Sein graumelierter Schnurrbart zuckte, als er die Lippen schürzte.

Über der rußgeschwärzten Stadt ragte der Umriss der Berge auf. Serinas Familie stand im Schatten am Rande der versammelten Menschenmenge. Nur Nomis gerötete Wangen leuchteten im Licht. Selbst aus dieser Entfernung konnte Serina deutlich die Wut in den Augen ihrer Schwester sehen. Ihr Bruder Renzo hatte Nomi eine Hand auf den Arm gelegt, als wollte er sie zurückhalten. Seinen Gesichtsausdruck konnte Serina nicht erkennen, aber sie war sicher, dass er nicht die freudige Erwartung ihrer Eltern widerspiegelte.

Signor Pietro wandte sich von den auf den Stufen aufgereihten Mädchen ab und richtete das Wort an die Zuschauermenge, die sich auf der Piazza eingefunden hatte. Serina schlug das Herz bis zum Hals, während sie auf sein Urteil wartete, doch sie verbarg ihre Aufregung hinter einer Fassade stiller Gelassenheit. Ihre Mutter hatte sie gelehrt, wie wichtig eine undurchschaubare Maske war.

»Dieses Jahr wird Malachi, der älteste Sohn des Regenten und Thronfolger, seine ersten Graces auswählen. Jede Provinz ernennt eine Anwärterin, die um diese Ehre wetteifern darf. Als Magistrat von Lanos werde ich entscheiden, welche unserer Töchter nach Bellaqua reisen wird.«

Vielleicht legte er eine Pause ein. Vielleicht reizte er die Spannung aus. Doch die Zeit verlangsamte sich nicht so, wie Serina erwartet hatte. Signor Pietro sprach einfach im selben ruhigen, sachlichen Ton weiter, und seine Worte waren: »Ich habe Serina Tessaro auserwählt.«

Die Menge applaudierte. In Mama Tessaros Augen leuchtete Hoffnung auf, Nomi war sichtlich niedergeschlagen.

Wie betäubt trat Serina vor und verbeugte sich tief. Sie konnte es nicht glauben. Sie würde tatsächlich nach Bellaqua reisen. Sie würde aus dem schmutzigen, stickigen Lanos herauskommen.

Wie oft hatte sie sich das schon ausgemalt? Wie sie erstmals mit dem Zug durch die herrlich grüne, üppige Landschaft Viridias fuhr. Wie sie die Stadt des Regenten mit all ihren Kanälen und den riesigen Palazzo aus Marmor erblickte. Wie sie den Thronfolger traf. Er würde äußerst attraktiv sein, wie ein Prinz im Märchen.

Und wenn er sie erwählte, würde sie bis ans Ende ihrer Tage in einem wunderschönen Palast leben. Sie würde nie in einer Fabrik arbeiten müssen wie ihre Mutter oder sich als Dienerin verdingen wie ihre Cousine. Und sie würde auch nicht zu einer Heirat mit irgendeinem wildfremden Mann gezwungen werden, nur weil er am meisten Geld dafür bieten konnte. Sie würde auf prachtvolle Bälle gehen, und es würde ihr an nichts fehlen. Ihrer Familie würde es an nichts fehlen, und selbst Nomi würde ein besseres Leben führen können, auch wenn sie sich noch sehr dagegen sträubte. Als Serinas Zofe könnte auch sie Lanos endlich verlassen.

Signor Pietro schüttelte ihrem Vater die Hand, während Serina die Treppe hinunterstieg. Die Menge löste sich langsam auf. Die anderen Mädchen kehrten zu ihren Familien zurück, ohne auch nur ein Wort mit ihr zu wechseln. Als Serina bei ihrer Familie ankam, zitterte Mama Tessaro vor Aufregung. Früher war sie so groß gewesen wie Serina, doch die langen Jahre, die sie in der Textilfabrik gebeugt an ihrer Nähmaschine sitzen musste, hatten ihren Rücken verkrümmt.

»Meine Blume, ich bin so stolz auf dich.« Sie zog Serina an sich und drückte sie fest. »Du hast unserer Familie große Ehre gemacht.«

Nomi stieß ein leises Schnauben aus.

Serina warf ihr einen warnenden Blick zu. Wenn Signor Pietro sie noch einmal respektlos über den Regenten oder seinen Thronfolger sprechen hörte, würde er sie auspeitschen lassen. Damit hatte er schon gedroht, als Nomi während einer von Serinas ärztlichen Untersuchungen »das ist doch lächerlich« gemurmelt hatte, während der Signor Serina in ihrem Unterhemd inspizierte.

»Danke, Signor«, sagte ihr Vater und verneigte sich.

Der Magistrat stolzierte zu seiner Kutsche, wobei sich sein scharlachroter Umhang im fahlen Lampenlicht bauschte.

»Gehen wir«, sagte ihr Vater. »Wir haben nur zwei Tage, um uns auf die Reise vorzubereiten.« Er steuerte auf die gegenüberliegende Straße zu. Sie wohnten nur ein paar Häuserblocks vom zentralen Platz entfernt.

Serina atmete tief ein und folgte ihm. Ihr Vater hatte sie nicht einmal angesehen. Sie versuchte, seine Stimmung an seinen angespannten Schultern abzulesen. War er wie ihre Mutter stolz auf sie?

Sie konnte es nicht sagen. Das konnte sie bei ihm nie.

Renzo stieß sie leicht mit dem Arm an. »Du siehst umwerfend aus«, sagte er. »Der Thronfolger wäre schön blöd, wenn er dich nicht auswählt.« Sie warf ihm ein dankbares Lächeln zu. Renzo verstand, wie viel das für sie bedeutete. Für sie alle.

Hochgewachsen und stämmig gebaut, wie er war, konnte man leicht vergessen, dass er fast zwei Jahre jünger war als sie. Nomi und er waren Zwillinge, auch wenn sie sich nicht besonders ähnlich sahen – abgesehen von ihren bernsteinbraunen Augen, die um einiges heller waren als Serinas.

Nomi schlurfte missmutig hinter ihren Geschwistern her wie ein schmollendes Kind. Serina ließ sich ein paar Schritte zurückfallen, so dass sie neben ihrer Schwester lief.

»Das sind gute Neuigkeiten«, murmelte sie leise, damit ihre Eltern sie nicht hörten. Die Straßen waren mittlerweile menschenleer; nach der großen Ankündigung waren alle nach Hause gegangen. Der flackernde Schein der Lampen warf gelbe Lichtkleckse auf die rauen Steinwände der Häuser, an denen sie vorbeikamen. Das dreckige Kopfsteinpflaster zu ihren Füßen war uneben, doch Serina geriet kein einziges Mal ins Stolpern. Ihr kupferfarbenes Kleid strich zart wie ein Windhauch über den Stein.

»Ich will jetzt nicht reden«, knurrte Nomi – offenbar machte sie sich keine großen Sorgen, dass jemand sie hören könnte.

Serina hätte sie am liebsten erwürgt. »Wie kannst du dich darüber nicht freuen? Das verstehe ich nicht. Wir können diese grässliche Stadt endlich verlassen. Vielleicht werden wir sogar im Palast leben. Als meine Zofe wirst du es viel leichter haben als jetzt, wo du dich um die ganze Familie kümmern musst, und wir müssen uns keine Sorgen mehr machen, ob wir genug zu essen haben. Mama kann endlich aufhören zu arbeiten …«

Nomi lief schneller, als versuchte sie, den Worten ihrer Schwester zu entkommen. »Das ist der Unterschied zwischen uns beiden«, sagte sie, die Hände an ihren Seiten zu Fäusten geballt. Eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht. »Ich finde diese Stadt nicht grässlich. Und ich glaube nicht an Märchen. Ich will nicht …«

»Alles, was du willst, ist für uns unerreichbar«, brauste Serina auf – sie hatte genug von Nomis sinnloser Wut. »Du wirst dir nie einen Beruf oder einen Ehemann oder … oder sonst irgendwas aussuchen können. So läuft das nicht.« Es war nicht Serinas Schuld, dass Frauen in Viridia so wenige Wahlmöglichkeiten hatten. Sie hatte vor langem gelernt, dass es nichts nutzte, dagegen anzukämpfen, also machte sie das Beste aus dem, was sie hatte.

Und sie hatte die Chance, eine der meistverehrten Frauen ganz Viridias zu werden. Wenn der Thronfolger sie erwählte, könnte sie die Mutter eines zukünftigen Regenten werden.

»Nichts sollte unerreichbar für uns sein«, erwiderte Nomi, »genau das will ich damit sagen.«

Sie waren immer noch im Strudel ihrer Diskussion vertieft, als sie ihre kleine Wohnung erreichten. Renzo hielt die knarrende Tür für sie auf, und sein hämischer Gesichtsausdruck zeigte, dass er sie gehört hatte. »Nomi, Papa möchte, dass du gleich mit dem Abendessen anfängst.«

Ohne ein Wort stürmte Nomi an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Serina folgte ihr und zog ihre Röcke dicht an sich, damit sie nicht am Türrahmen hängen blieben. Als sie eingetreten war, sah sie, dass der Blick ihrer Schwester auf Renzos Schulbüchern verharrte, die aufgeschlagen auf dem grobgezimmerten Esstisch lagen. Sie stieß Nomi warnend mit der Schulter an. Als ihre Schwester sich nicht regte, räusperte sich Serina demonstrativ.

Nomi blickte zu ihr auf, doch es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen fokussierten. Dann schüttelte sie den Kopf, als müsste sie ihn klären, und eilte zur Spüle.

Serina spähte zu ihren Eltern hinüber, doch die standen ein Stück abseits beim Ofen und unterhielten sich leise. Sie hatten nichts von ihrer Auseinandersetzung mitbekommen. Es gab eine ganze Menge, was sie nicht mitbekamen.

Auf den ersten Blick wirkten Nomi und Serina wie alle anderen Töchter in der kalten Industriestadt Lanos.

Doch Serina hatte ihre Schönheit.

Und Nomi hatte ihr Geheimnis.

Serina hoffte inständig, dass sie gut genug war, um den Thronfolger auf sich aufmerksam zu machen – um ihrer selbst ebenso wie um ihrer Schwester willen. Doch als Renzo die Tür schloss, hallte das dumpfe Krachen tief in ihrem Innern wider. Sie fröstelte, auf einmal von einer kalten Angst erfüllt, die sie nicht benennen konnte.

2Nomi

Der Rikschafahrer trat kräftig in die Pedale, ohne sich von den Löchern im Kopfsteinpflaster oder den erschrockenen Blicken der Passanten beirren zu lassen. Das ständige Schaukeln und Ruckeln schlug Nomi auf den Magen. Oder vielleicht war auch die schwere, drückende Luft, die nach verrottendem Fisch stank, Grund für ihre Übelkeit.

Nein. Sie wusste, was jeden Muskel in ihrem Körper erstarren ließ und ihr den Atem raubte. Je näher sie dem Palazzo kamen, desto fieberhafter wünschte sie, sie würden umkehren. Es war erst zwei Wochen her, dass Signor Pietro Serina auserwählt hatte, und die Tage waren ebenso schnell und schmerzhaft vorübergegangen wie diese letzte holprige Fahrt.

Nomi zuckte zusammen, als Serina ihren Arm plötzlich fester umklammerte, ihre Fingernägel gruben sich in Nomis Haut, als der Wagen über eine kleine Brücke donnerte und beängstigend nah an den Rand schlingerte. Renzo wurde kreidebleich. Er nahm den ganzen Sitz gegenüber von ihnen ein, die Beine wie eine Spinne angezogen, um überhaupt genügend Platz zu haben.

Viel zu bald hielt die Rikscha am Rande der großen Piazza. Nomis Magen krampfte sich zusammen.

Am anderen Ende des von Menschen wimmelnden Platzes glitzerte ein breiter Kanal im Sonnenlicht, gesprenkelt mit Scharen langer, schwarzer Gondeln. Dahinter, auf seiner eigenen Insel, erhob sich der Palazzo des Regenten in den Himmel wie ein goldener Sonnenaufgang. Nomi atmete ein paarmal tief durch. Unter anderen Umständen hätte sie den Anblick von Bellaqua genossen. Aber nicht so. Nicht an diesem Tag.

Renzo drückte dem Fahrer etwas Geld in die Hand und half seinen Schwestern dann aus der Rikscha. Nomi schlotterten die Knie, selbst als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte.

»Jetzt heißt es wohl Abschied nehmen«, sagte Renzo. Er versuchte, lässig zu klingen, doch seine Stimme zitterte. Serina, stets die pflichtbewusste Schwester, hielt den Kopf gesenkt, als er sie in eine höfliche, flüchtige Umarmung zog.

Doch Nomi wollte davon nichts wissen. Sie drückte ihren Bruder, so fest sie konnte, vergrub das Gesicht an seiner Schulter und atmete tief seinen vertrauten, tröstlichen Duft ein. Ihre Beine und ihr Magen beruhigten sich endlich, aber nur ein wenig. Er würde in Bellaqua bis zur Ernennung der Graces warten. Vielleicht würde sie ihn schon in wenigen Stunden wiedersehen – oder nie wieder. Diese Ungewissheit war unerträglich.

»Soll ich versuchen, euch mit Gedankenkraft zu befreien, wenn Serina auserwählt wird?«, fragte er scherzhaft, doch in seiner Stimme lag ein bitterernster Unterton.

Schön wär’s … Nomi schlang die Arme noch einmal fest um ihn, ehe sie sich von ihm löste. Sie wechselten einen besorgten Blick.

»Komm schon, Nomi«, sagte Serina leise. Ein Mann in schwarzgoldener Tracht streckte ihr die Hand entgegen. Mit gesenktem Blick umfasste sie seinen Arm.

Nomi stockte der Atem. Sie war noch nicht bereit.

Renzo schien sie ohne Worte zu verstehen. Mit einem tapferen Lächeln küsste er sie auf die Wange und eilte davon, damit sie sich nicht dazu durchringen musste, ihn zu verlassen. Die Trennung fühlte sich an wie ein Messerstich ins Herz.

»Jetzt komm«, murmelte Serina erneut.

Widerwillig drehte sich Nomi um und folgte ihrer Schwester durch die Menge. Der schwarzgolden gekleidete Gondoliere führte sie über die Piazza zum großen Kanal, wo seine Gondel mit den anderen sanft im Wasser schaukelte. Er half erst Serina, dann Nomi ins Boot und auf die weichen, goldverzierten Polster. Um sie herum glitten unzählige andere Mädchen in Gondeln übers Wasser – ihre farbenprächtigen Kleider kennzeichneten sie als Anwärterinnen.

Die Zuschauer, die der Prozession zusahen, lachten und jubelten. Ein Kind warf Blumen in die Luft, als Nomi und Serina vom Rand des Kanals davontrieben. All die Aufmerksamkeit und die umherschwebenden rosaroten Blüten brachten Serina zum Lächeln.

Nomi konnte den besonnenen Gesichtsausdruck ihrer Schwester nicht ertragen. Er passte so gar nicht zu dem Aufruhr, der in ihrem Innern wütete. Sie wollte zurück an Land springen, zu Renzo laufen und auf schnellstem Wege aus der Stadt fliehen. Alles wäre ihr lieber gewesen, als zum Palast des Regenten gebracht zu werden wie ein unwillig gegebenes Opfer für einen uralten Gott. Doch genau das war das Problem: Serina war willig.

Nomi wischte sich über die Augen und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Mit der anderen Hand umklammerte sie mit eisernem Griff ihre Habe. »Was, wenn wir Renzo nie wiedersehen?«

»Das wäre ein Segen«, erwiderte Serina. Doch ihre Stimme zitterte. Eine tiefe Falte furchte ihre Stirn, während sie zusah, wie der Palast immer näher kam, und ihre Mundwinkel waren angespannt. Vielleicht war sie doch nicht so ruhig, wie es schien. In etwas sanfterem Ton fügte sie hinzu: »Das weißt du.«

»Aber ich wünsche mir trotzdem, es müsste nicht so kommen«, murmelte Nomi, gerade als die Gondel am Rand des Kanals anstieß. Einige der Mädchen waren bereits ausgestiegen und eilten die Treppe hoch, die zum Palazzo des Regenten hinaufführte. Die Zypressen, die den Kanal säumten, waren mit winzigen Glöckchen behängt, die in der sanften Brise leise schellten.

Während Nomi die gewaltige Treppe vor dem Palazzo hinaufstieg, als letzte in einer langen Reihe von Mädchen in farbenfrohen, feinen Kleidern, verfluchte sie den Thronfolger, der oben wartete. Sie würde er ganz sicher nicht beachten – und auch keine der anderen Dienerinnen –, aber ihr ganzes Leben hing davon ab, dass er ihre Schwester zur Kenntnis nahm.

Serina schwebte vor ihr die Stufen hinauf, ihr hüftlanges braunes Haar wallte ihr offen und wunderschön glänzend über den Rücken. Ihr Kleid, ein filigranes Flickwerk aus verschiedenen Stoffen, das ihre Mutter im Schweiße ihres Angesichts geschneidert hatte, wogte wie Wasser. Sie zeigte kein Anzeichen von Erschöpfung, nichts deutete darauf hin, dass sie sieben lange Tage in einem ruckelnden Zug, eine Nacht in einem schäbigen Hotelzimmer und einen ganzen Tag mit fieberhaften Vorbereitungen für den Ball des Thronfolgers verbracht hatte.

Nomi umfasste ihre Tasche fester. Sie bemühte sich, nicht auf den Marmorstufen zu stolpern, während sie verstohlen zum Regenten – so krankhaft dürr und rigoros – und seinen beiden Söhnen hinaufspähte. Malachi, der Thronfolger, trug eine weiße, goldbestickte Uniform, die seine muskulöse Statur zur Geltung brachte. Seine hervortretenden Wangenknochen und kurzgeschnittenen braunen Haare verliehen seinem Gesicht einen harten Ausdruck, doch seine weichen Lippen milderten die Strenge etwas. Selbst Nomi musste zugeben, dass er gutaussehend war, wenn auch furchteinflößend. Er beobachtete seine potentiellen Graces genau, durchbohrte sie förmlich mit seinen dunklen Augen, wenn sie an ihm vorbeikamen.

Sein jüngerer Bruder Asa spähte auf den Kanal hinaus. Sein dunkles Haar war länger als das seines Bruders und zerzaust, als würde er sich ständig mit der Hand hindurchfahren.

Nomi hätte den Kopf senken sollen, als sie die Männer erreichte, doch sie machte sich nicht die Mühe. Wie erwartet nahm sie ohnehin keiner zur Kenntnis. Alle hatten nur Augen für Serinas glänzende Haare und schwingende Hüften, als sie an ihnen vorbeistolzierte. Manchmal ärgerte es Nomi, dass Serina unweigerlich alle Blicke auf sich zog. Doch dieses Mal war sie froh, unsichtbar zu sein. Sie beneidete ihre Schwester nicht um ihre Aufgabe oder den eisigen Blick, mit dem der Regent sie taxierte.

Als Nomi im Schatten der Veranda ankam, außer Sichtweite der Männer, entspannte sie sich ein wenig. Die Anwärterinnen und ihre Dienerinnen betraten eine kunstvoll geschmückte Galerie, die zu einer massiven, mit Schnitzereien verzierten Tür führte.

Nomi und Serina suchten sich einen Platz an der Wand.

»Lass mich noch einmal dein Make-up überprüfen«, sagte Nomi. Sosehr sie sich auch wünschte, sie wäre irgendwo anders, hatte sie immer noch eine Aufgabe zu erfüllen. Das hatten sie beide.

»Wie schätzt du unsere Chancen ein?«, murmelte Serina und schaute verstohlen zu einem Mädchen ganz in der Nähe, deren Dienerin gerade ihr leuchtend orangefarbenes Kleid zurechtzupfte.

Zu gerne hätte Nomi ihrer Schwester gesagt, was sie wirklich dachte: dass sie auf der Stelle ohne ein Wort verschwinden sollten. Dass sie nach Lanos zurückkehren oder, noch besser, ganz woandershin gehen sollten – an einen Ort, wo sie entschieden, was sie machen wollten, wo Nomi nicht immer nur Hausarbeiten erledigen und Serina sich nicht stundenlang schönmachen und Unterricht im Tanzen und höflicher Etikette nehmen musste. Doch Nomi kannte die Wahrheit genauso gut wie ihre Schwester: Einen solchen Ort gab es nicht. Ganz gleich, wo sie auch hingingen, ihre Wahlmöglichkeiten waren immer dieselben. Sie konnten Fabrikarbeiterinnen werden, Dienerinnen oder Ehefrauen. Es sei denn, Serina wurde zur Grace erwählt.

In Viridia galten die Graces als höchster Maßstab, was Schönheit, Eleganz und Gehorsam anbetraf. Alle jungen Mädchen sollten danach streben, so zu werden wie sie.

Für Nomi und Serina war die Ernennung zur Grace zweifellos ein Fahrschein in ein anderes Leben, doch in einem stimmten sie nicht überein: Ihre Schwester glaubte, dieses andere Leben wäre besser, aber Nomi war anderer Meinung.

»Ich denke, wir werden so oder so etwas verlieren«, seufzte sie niedergeschlagen und wischte einen winzigen Kajalfleck in Serinas Augenwinkel weg.

»Sag das nicht«, entgegnete Serina in warnendem Ton. »Hör auf …«

»Womit? Mir vorzustellen, wie du dem Thronfolger vorgeführt wirst, als wärst du sein Besitz?«, flüsterte sie aufgebracht. Ihre Hände zitterten, als sie Serinas Haare glattstrich. Sie und ihre Schwester hatten beide braune Haare, olivfarbene Haut und die hohen Wangenknochen ihrer Mutter. Doch irgendwie ließen die gleichen Gesichtszüge, die Serina ihre Schönheit verliehen, Nomi schmächtig und unelegant wirken. Serina war etwas Besonderes, Nomi nicht.

»Es geht nicht darum, sein Besitz zu werden, sondern sich seine Bewunderung und sein Verlangen zu verdienen«, erwiderte Serina und setzte ein Lächeln auf, als sie merkte, dass einige der Mädchen argwöhnisch zu ihnen hinübersahen. »Das ist unsere Chance auf ein besseres Leben.«

»Was ist daran besser?« Nomi schüttelte den Kopf. Hilflose Wut brodelte in ihrem Innern. »Serina, uns sollte so etwas nicht aufgezwungen …«

Serina trat noch näher an sie heran. »Lächle mich an, als würdest du dich freuen. Als wärst du genau wie die anderen Mädchen hier.«

Nomi starrte ihre Schwester überrascht an. Serina war so schön, wenn sie wütend wurde, mit geröteten Wangen und blitzenden Augen. Sie war so viel interessanter, wenn sie sich nicht in ein Korsett zwängte und artig die Augen niederschlug.

Das gedämpfte Gemurmel der Anwärterinnen und ihrer Dienerinnen verstummte abrupt, als eine Frau am anderen Ende des Raums auf ein kleines Podium stieg. Ihr cremefarbenes Seidenkleid betonte ihre würdevolle, elegante Ausstrahlung. »Mein Name ist Ines. Ich bin die Oberste Grace.« Ihre Stimme war sanft wie Musik. »Der Thronfolger fühlt sich geehrt, dass ihr seinetwegen so weit gereist seid. Es tut ihm sehr leid, dass er nur drei von euch einladen kann, hier im Palazzo zu bleiben. Aber seid versichert, dass ihr alle gesegnet seid.«

Nomi hatte es immer seltsam gefunden, dass der Regent alle drei Jahre drei Graces auswählte und nicht jedes Jahr eine. Andererseits nahm die Wahl auch so schon das ganze Land in Beschlag; die Magistrate verbrachten Monate damit, die Anwärterinnen ihrer Provinz auf Herz und Nieren zu prüfen, und der Regent organisierte Bälle und andere Festivitäten, um die neuen Graces nach ihrer Ernennung der ganzen Welt zu präsentieren.

Der derzeitige Regent hatte beinahe vierzig Graces. Doch Gerüchten zufolge stand es nicht gut um seine Gesundheit, und dieses Jahr hatte er erstmals verlauten lassen, dass er selbst keine Graces auswählen würde. Stattdessen würde der Thronfolger seine erste Wahl treffen. Viele vermuteten, das hieße, der Regent würde bald zurücktreten und seinem Sohn die Herrschaft über Viridia überlassen.

»Der Ball wird in Kürze beginnen.« Ines’ schwere goldene Armreife klimperten, als sie die Hände hob. »Anwärterinnen, es ist so weit.«

Serina schloss Nomi in die Arme und drückte sie fest. »Sei brav«, schärfte sie ihr ein.

»Um mich mache ich mir keine Sorgen«, erwiderte Nomi und umarmte ihre Schwester ebenso fest.

Eine nach der anderen wurden die Mädchen aufgerufen, die Türen geöffnet und hinter ihnen geschlossen. Und dann plötzlich war Serinas großer Moment gekommen. Zwei Männer des Regenten zogen die gigantischen Türen weit auf und gaben den Blick auf die leuchtende Pracht des Ballsaals frei. Eine tiefe Stimme rief: »Serina Tessaro von Lanos.« Ohne sich noch einmal umzuschauen, schritt Serina ins Licht.

Nomis Herz machte einen schmerzhaften Satz, als ihre Schwester verschwand.

Sie legte ihre Tasche an der Wand ab, wo die anderen Dienerinnen ihre Sachen zurückgelassen hatten, und stellte sich unbeholfen in eine Ecke. Einige der Mädchen fanden sich auf dem Balkon zusammen, um zu plaudern. Die anderen sanken auf Stühle oder wanderten umher und bestaunten die prachtvolle Umgebung.

Nomi hatte das Gefühl, als würden sich die Wände um sie zusammenziehen, das Funkeln und Glitzern tat ihr in der Seele weh. Alles hier war so anders als zu Hause. Sie war erst eine Woche fort, doch sie vermisste es, vom leisen Rumoren ihres Bruders wach zu werden, der seine Bücher für den langen Schulweg zusammensammelte. Sie vermisste die kurzen Momente der Freiheit, wenn sie mit ihren Aufgaben fertig war und sich ausruhen konnte, ohne dass ihre Mutter sie ausschimpfte. Sie vermisste den Geschmack des eisig kalten, schneetreibenden Windes in der Abenddämmerung, der die Welt noch vor dem Morgen völlig verändern würde. Ja, selbst die knarrenden Rohre und die winzigen rußbedeckten Fenster ihres Elternhauses in der Fabrikstraße fehlten ihr.

Ein Teil von ihr hoffte inständig, sie würden nach Hause geschickt werden. Dass sie in ihre kleine, schäbige Wohnung zurückkehren könnte. Doch sie wusste, das würde die unvermeidliche Trennung von ihrer Familie nur hinauszögern.

Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass sie womöglich ihr ganzes restliches Leben so zubringen würde: in einem wunderschönen Raum eingesperrt, darauf wartend, dass Serina zurückkam – ihr eigenes Leben nicht mehr als eine Fußnote. Unerheblich. Unsichtbar. Vergessen.

In ihren Augen brannten Tränen. Befangen blickte sie sich um, doch niemand achtete auf sie. Vielleicht würde sie sich besser fühlen, wenn sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und sich einen Moment zurückzog.

Kurz entschlossen ging sie auf den Gang hinaus, um nach den Waschräumen zu suchen. Mit jedem Schritt ließ die Beklemmung in ihrer Brust etwas nach.

Als Nomi um eine Ecke bog, fiel ihr die Inneneinrichtung eines Raums ins Auge. Tiefe, gepolsterte Sessel, ein elegant gemusterter Teppich. Und schier endlose Bücherregale aus prächtigem Mahagoni, in denen sich unzählige in Gold eingefasste Werke türmten. Bücher. Mehr, als sie je gesehen hatte. Ehe Nomi richtig begriff, was sie da tat, lief sie auf den Raum zu. Vor der halbgeöffneten Tür blieb sie einen Moment stehen und lauschte. Dann atmete sie tief durch und schlüpfte hinein.

Die gesamte Welt tat sich vor ihr auf. Reihen um Reihen von Bücherregalen ragten bis zur Decke empor. In der Luft hing der schwere Geruch von Pfeifenrauch. Nomi atmete tief ein und ließ die Stille des Raums, seine Verheißung, durch sich hindurchströmen. Auf zittrigen Beinen schlich sie zu den Regalen und strich mit kribbelnden Fingern über die dicken Ledereinbände. Die mit Blattgold geprägten Titel schimmerten im matten Licht. Sie zeichnete die Wörter nach, von denen ihr einige völlig fremd waren. Ihre Hand verharrte auf einem schmalen Buch, das von den dicken schwarzen Wälzern zu beiden Seiten fast verschlungen wurde. Ein leises Keuchen kam ihr über die Lippen, als sie es erkannte. Die Legenden von Viridia.

Sogleich stieg eine Erinnerung in ihr auf. In dem Herbst, in dem Nomi und Renzo zwölf geworden waren, hatte er dieses Buch bekommen, und sie hatte unbedingt wissen wollen, was darin stand.

Doch Frauen war es strengstens verboten, lesen zu lernen. Sie durften so gut wie gar nichts außer Kinder kriegen, in der Fabrik schuften und die Häuser reicher Männer putzen.

Aber Nomi ließ nicht locker. Und Renzo konnte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit seinem Wissen zu prahlen. Langsam, aber sicher hatte er ihr Lesen beigebracht.

Die folgenden Monate waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Nacht für Nacht hatten sie sich im Licht einer flackernden Kerze dicht zusammengekauert, während Nomi mit stockender Stimme wieder und wieder die Geschichte vom Mond und ihrer Geliebten las, über die Schrecken der Tiefe und ihr absolutes Lieblingsmärchen: die Geschichte zweier Brüder, die von einer mysteriösen tätowierten Frau mit einem goldenen Auge auseinandergebracht wurden.

Nur Serina kannte ihr Geheimnis. Renzo hatte sie einmal gefragt, ob sie auch lesen lernen wollte. Doch sie ließ sich lieber immer und immer wieder dieselben Geschichten vorlesen, während sie sich im Sticken übte. Als der Frühling kam, hatte Renzos Schule das Buch der Legenden gegen ein Mathematikbuch eingetauscht, und von da an erzählten sich Nomi und Serina die Geschichten aus dem Gedächtnis. Doch das war einfach nicht das Gleiche.

Jetzt nahm sie das Buch aus dem Regal und strich über die auf dem Einband geprägten Buchstaben. Es war aus demselben weichen Leder wie Renzos Buch, nur ohne die abgewetzten Ecken und den abgegriffenen Einband. Sie drückte das Buch an ihre Brust und dachte an all die Nächte zurück, die sie mit ihrem Bruder über seinen Seiten gebrütet hatte – wie sie ihm nach und nach die Bedeutung und Aussprache jedes einzelnen Wortes entlockt hatte.

Dieses Buch war ihr Zuhause, mehr als es der Palazzo mit seiner prunkvollen Einrichtung je sein könnte.

Sie konnte es nicht zurücklassen. Ein kleines Märchenbuch würde doch bestimmt niemand vermissen. Es verschwand so schnell, so mühelos unter ihrem Kleid, dass sie sich fast einreden konnte, das Buch hätte es so gewollt, nicht sie selbst. Die Arme schützend vor der Brust verschränkt, eilte sie auf den Gang hinaus.

Sie war schon fast zurück in der Galerie, als plötzlich zwei Männer um die Ecke direkt vor ihr bogen.

Der Thronfolger und sein Bruder.

Nomi senkte den Kopf und wartete, dass die Männer an ihr vorbeigingen. Ihre Arme schlangen sich fester um das versteckte Buch.

»… sollte ich entscheiden, nicht die Magistrate«, sagte der Thronfolger hörbar wütend. Als er sie sah, unterbrach er sich abrupt.

Nomi hätte vor ihm knicksen sollen. Sie hätte den Kopf gesenkt halten sollen wie jede andere Dienerin. Doch sie war überrascht, unvorbereitet, und ohne es zu wollen, begegnete sie seinem Blick.

Die Augen des Thronfolgers waren dunkelbraun und strahlten eine stille Intensität aus. Er starrte sie an, als könnte er ihre Geschichte enträtseln, ihre geheimen Hoffnungen – einfach alles. Mit einem einzigen Blick legte er sie bloß.

Heftig errötend riss sie den Blick von ihm los.

»Wer bist du?«, wollte Malachi wissen.

»Nomi Tessaro«, murmelte sie.

»Und was hast du hier zu suchen, Nomi Tessaro?« Seine Stimme war von Misstrauen erfüllt.

Nomi neigte den Kopf. »Ich … ich bin eine Dienerin. Ich wollte nur …« Ihre Stimme stockte. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie hätte tun sollen. Das Buch brannte ein Loch in ihre Brust.

»Komm, Malachi, wir sind spät dran«, sagte Asa ungeduldig und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sein schwarzer Anzug wirkte wie ein Schatten des weißen Anzugs seines Bruders, mit derselben goldenen Stickerei, doch irgendetwas an ihm wirkte viel gelöster, fast unordentlich.

Malachi ignorierte seinen Bruder und trat näher an Nomi heran, zwang sie mit seinem muskulösen Körper dazu, näher an die Wand zu rücken. »Du wolltest nur was?«

Der Versuch, sie einzuschüchtern, hatte die gegenteilige Wirkung. Nomi reagierte gereizt, und eine vertraute, instinktive Wut erlangte einen Moment die Oberhand über ihre Panik.

Ihre Schultern strafften sich. Sie reckte das Kinn und begegnete dem stechenden Blick des Thronfolgers, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine unerschütterliche Entschlossenheit ging von ihr aus. »Ich war auf der Toilette«, verkündete sie unumwunden. »Sie ist gleich dort drüben«, fügte sie hinzu und deutete ans andere Ende des Korridors, »wenn ihr auch mal müsst.«

Asa prustete, doch der Thronfolger wirkte alles andere als amüsiert. Seine Wangen röteten sich vor Wut.

Entsetzen wallte in Nomi auf, ein bitteres Grauen, das ihr die Kehle zuschnürte. Hastig senkte sie den Blick. Serina hatte sie gebeten, sich zu benehmen. Doch dazu war sie nicht imstande, keine zehn Minuten. Die Dreistigkeit, so etwas zu sagen … der trotzige Ausdruck, den der Thronfolger zweifellos in ihren Augen gesehen hatte …

»Du kannst gehen«, sagte Malachi schließlich, doch es fühlte sich eher wie eine Verurteilung an denn wie eine Begnadigung.

Nomi hastete in die Galerie zurück, während die Männer ihren Weg fortsetzten; das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die harten Kanten des Buchs, das sie gestohlen hatte, gruben sich schmerzhaft in ihre Haut.

Sie eilte in die Ecke, wo sie ihre Tasche zurückgelassen hatte, und verstaute das Buch zwischen ihren Sachen. Sie war sich fast sicher, dass der Thronfolger es nicht gesehen hatte. Aber ihre Unverschämtheit war auch so belastend genug.

Den Rest des Abends wartete sie, den Blick starr auf die offene Tür geheftet, und fragte sich, wann ihre Welt enden würde.

3Serina

Serinas erster Ball war fast genauso, wie sie ihn sich erträumt hatte. In dem riesigen Saal herrschte ein Trubel, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Die Anwärterinnen tummelten sich in ihren glitzernden, bunten Gewändern auf der Tanzfläche wie ein bunter Fischschwarm. Die verspiegelten Wände und allgegenwärtigen Goldverzierungen reflektierten das Licht Dutzender Kristallkronleuchter. In einer Ecke, an einer Wand aus bogenförmigen Durchgängen, die zur Terrasse führten, saßen Musiker; ihre Finger bewegten sich so schnell über die Instrumente, dass Serina ihnen kaum folgen konnte.

Dieser Saal war so völlig anders als das beengte Wohnzimmer, wo sie unter Anleitung mit Renzo als Partner tanzen gelernt hatte. Sie hatten keine Musik gehabt – nur das unablässige Händeklatschen des Lehrers, das ihnen den Takt vorgab.

Hier brauste und toste die Musik, und Serina tanzte lächelnd in den Armen der feingekleideten Hofchargen des Regenten, außer sich vor Freude, dass sie sich im Mittelpunkt all dieser Pracht befand, als Teil des farbenfrohen Fischschwarms.

Doch das Märchen hatte einen Fehler. Der Thronfolger ließ sich nicht blicken.

Als die Musiker eine kurze Pause machten, zog sie sich in eine Ecke zurück, um wieder zu Atem zu kommen. Ihr Korsett war eng geschnürt, um ihre Rundungen zu betonen, doch sie hatte das Gefühl zu ersticken. Während sie sich ausruhte, ließ sie den Blick schweifen. Die Graces des Regenten waren leicht zu erkennen. Im Gegensatz zu den Anwärterinnen bewegten sie sich durch den Raum, als würden sie dort hingehören, und gingen spielend mit all der Aufmerksamkeit um, die ihnen entgegen gebracht wurde. Einige von ihnen standen auf hohen, kreisförmigen Podesten, in leuchtend violette Seidengewänder gekleidet, emporgehoben – im wahrsten Sinne des Wortes – als der Inbegriff weiblicher Perfektion. Serina starrte sie an, überwältigt von der Selbstkontrolle, die es erfordern musste, so vollkommen still zu stehen.

Genau darauf war Serina ihr ganzes Leben getrimmt worden; ihr Training hatte begonnen, noch bevor sie alt genug war, die Rolle einer Grace richtig zu begreifen. Von dem Moment an, als sie zum ersten Mal mit Renzo über den staubigen Boden getanzt war, hatte die Bürde der Erwartung auf ihren Schultern gelastet. Schon damals hatte sie gewusst, dass ihre Ernennung zur Grace das Leben ihrer Eltern für immer verändern würde, dass das die größte Ehre war, die einem Mädchen in Viridia zuteilwerden konnte, dass ihre Mutter, die fast blind war, weil sie in der Fabrik stundenlang am Stück auf ihre Näharbeiten starren musste, dann endlich aufhören könnte zu arbeiten. Dass ihr Bruder sich dadurch vielleicht irgendwann eine Heirat würde leisten können.

Und vor allem konnte sie so auf ihre starrköpfige Schwester aufpassen. Nomi war schlau, zu schlau; sie begehrte viel zu oft gegen Autoritäten und Regeln auf. Ihre Schwester war eine Träumerin, sie selbst eine Realistin, und sie würde alles tun, damit es so blieb – um Nomis feuriges Temperament zu bewahren, aber sie gleichzeitig auch zu schützen. Nichts machte Serina mehr Angst als die Vorstellung, dass ihre Schwester eines Tages ein zu großes Risiko eingehen und erwischt werden könnte.

Nomi sah diese Chance nicht als Geschenk, aber sie schon. Sie wünschte sich mehr als alles andere, eine Grace zu werden, so dass Nomi als ihre Zofe an ihrer Seite bleiben konnte.

Ein Mädchen in einem Kleid mit Blumenmuster, unter dem ihre Beine anmutig hervorsahen, blieb neben Serina stehen. »Das alles ist ziemlich überwältigend, nicht wahr?«

Serina warf der Fremden einen flüchtigen Seitenblick zu: weiche Gesichtszüge, hübsche blaue Augen, eigenartig silbrig blonde Haare, die im Licht der Kronleuchter schimmerten.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, antwortete Serina und blickte sich erneut um – bestimmt würde der Thronfolger jeden Moment in Erscheinung treten.

»Ich habe noch nie so etwas wie dein Kleid gesehen«, sagte das Mädchen. »Hat das deine Mutter für dich gemacht?« Es dauerte einen Moment, bis Serina den giftigen Unterton in ihrer lieblichen Stimme ausmachte.

Sie setzte ein wohlwollendes Lächeln auf. Sie würde ganz sicher nicht zugeben, dass ihr Kleid tatsächlich von ihrer Mutter geschneidert worden war.

»Es sieht so … interessant aus«, fuhr das Mädchen fort. »In Bellaqua hat schon lange niemand mehr Blau getragen.« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, sah sie zur Tanzfläche.

Serina folgte ihrem Blick. Das Mädchen hatte recht: Der Saal war ein Meer von Rosa, Violett und Gelb. Und die meisten der Kleider waren bodenlang und mit reichlich Brokat verziert. Viel formeller als das halblange, wallende Kleid und die goldenen Sandalen, die sie selbst trug.

Serina reckte das Kinn und entgegnete mit einem lässigen Schulterzucken: »Da kann ich mich wohl glücklich schätzen, schließlich ist Blau die Lieblingsfarbe des Thronfolgers.« Natürlich war das eine Lüge; Serina hatte keine Ahnung, was die Lieblingsfarbe des Thronfolgers war. Aber der völlig verblüffte Gesichtsausdruck des Mädchens war die kleine Flunkerei wert. Ohne ein weiteres Wort ging sie davon und ließ das Mädchen mit offenem Mund stehen.

Plötzlich wogte eine Welle der Aufregung durch den Ballsaal. Als Serina sich umwandte, sah sie Malachi endlich eintreffen, Prinz Asa an seiner Seite.

Der Thronfolger blickte sich um, musterte jede der Anwärterinnen prüfend. Serina schlug die Augen nieder, lange bevor sein forschender Blick sie erreichte. Eine Handvoll Anwärterinnen drängten näher zu ihm. Ines erschien an seiner Seite. Das Mädchen, mit dem Serina geredet hatte, eilte den anderen nach, doch Serina blieb, wo sie war. Sie wollte nicht riskieren, in der Menge unterzugehen. Stattdessen ging sie gemächlich zur Terrasse und sah zu, wie die letzten Sonnenstrahlen über den Himmel zogen. Das Licht war wunderschön, hell und golden, und sie wusste, dass es ihre Haut erstrahlen lassen würde.

Weit unter der Terrasse schimmerten die Kanäle im rosigen Schein der Abenddämmerung. Ihr ganzes Leben lang hatte Serina Geschichten über Bellaqua gehört. An der südlichen Spitze Viridias gelegen, war die Hauptstadt die Hochburg der königlichen Familie und ihre größte Errungenschaft. Der erste Regent hatte sie nach dem Vorbild einer alten Stadt im Norden erbaut, die bei der Großen Flut zerstört worden war. Jetzt, da Serina sie zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, konnte sie ihre atemberaubende Schönheit nicht leugnen; aber sie hatte auch etwas Kaltes an sich – etwas Entlegenes, Unnahbares.

Schließlich erreichte Ines sie. »Malachi, dies ist Serina Tessaro von Lanos.«

Serina wandte sich von der Balustrade ab und vollführte ihren tiefsten, anmutigsten Knicks. Als sie sich wieder aufrichtete, hob sie den Blick nur bis zu Malachis Lippen, die im Gegensatz zu seinem kantigen, stoppeligen Kinn weich und voll waren. Es wäre unhöflich, ihm direkt in die Augen zu sehen.

»Es ist mir eine Ehre, hier zu sein, und ich kann es kaum erwarten, Euch zu dienen, Eure Eminenz«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.

»Serina Tessaro? Das ist dein Name?«, fragte er schroff.

Sie neigte leicht den Kopf, wie sie es gelernt hatte, wie eine Blume im Wind. »Ja, Eure Eminenz«, sagte sie und drehte sich ein kleines Stück zur Seite, so dass das Licht ihre Wangenknochen zur Geltung brachte.

»Tanz mit mir«, befahl er.

Heiße Nervosität durchzuckte sie wie ein Blitzschlag. »Es wäre mir eine Ehre, Eure Eminenz.«

Seine Hand schloss sich um ihre, und er zog sie auf die Tanzfläche, wo die Musiker ein schnelles, ausgelassenes Lied anstimmten. Sie wirbelte von ihm weg und zurück in seine Arme. Während Serina mit dem Thronfolger über die Tanzfläche fegte, spürte sie die neidischen Blicke der anderen Anwärterinnen auf sich. Ihre Füße bewegten sich rasend schnell im Rhythmus der vertrauten Tanzschritte, und ihre Haut kribbelte überall, wo der Thronfolger sie berührte.

»Du kommst aus Lanos?«, fragte er, als die Musik langsamer wurde. Sie hatte erwartet, dass er gleich zum nächsten Mädchen übergehen würde, doch das tat er nicht. Stattdessen zog er sie an sich. Er roch herrlich, nach Zuckerwatte und Gewürzwein.

»Ja, Eure Eminenz. Oben in den Bergen. Dort ist es zu dieser Jahreszeit immer noch kalt.«

»Wohnst du bei deinen Eltern? Hast du Brüder? Schwestern?« Inzwischen bewegten sie sich kaum noch, wiegten sich nur ganz leicht im Takt der Musik. Seine Hände umfassten ihre Hüfte, und die Hitze seines Körpers drang durch die hauchdünnen Schichten ihres Kleids.

»Ja, ich wohne bei meinen Eltern. Ich habe einen Bruder und eine Schwester, beide jünger als ich. Meine Schwester ist als meine Zofe mit mir hergekommen, Eure Eminenz.«

Das Lied endete, und diesmal ließ der Thronfolger sie los. Die Wärme seiner Hände blieb noch lange zurück, in ihre Haut eingeprägt.

Sie knickste erneut. »Danke für den Tanz, Eure Eminenz.«

»Es war mir ein Vergnügen.« Damit wandte er sich ab, bahnte sich einen Weg zwischen den anderen Tänzern hindurch und verschwand.

Als Serina auf die Terrasse zurückkehrte, ging sie jeden Satz und jede Berührung noch einmal im Kopf durch, analysierte ihre Darbietung bis ins kleinste Detail. Er hatte durchaus interessiert gewirkt. Er hatte sie in den Armen gehalten. Sie hatte darauf geachtet, dass sie sich stets im vorteilhaften Licht hielt. Zum ersten Mal, seitdem sie sich auf die lange Reise nach Bellaqua gemacht hatten, fühlte Serina, wie sich die Anspannung in ihren Schultern löste. Sie hatte ihre Aufgabe erfüllt – ja, sie hatte ihre Sache sogar sehr gut gemacht. Vielleicht würde er sie tatsächlich erwählen.

Und wenn er es tat?

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er war genauso attraktiv, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

Ein aufgeregtes Gemurmel ging durch den Ballsaal und riss sie aus ihren Gedanken. Serina blickte sich nach dem Thronfolger um. Doch sie sah nur Hofchargen und Graces, keine Spur von seiner weißgoldenen Uniform. Ein paar der Anwärterinnen starrten sie feindselig an.

Die Erkenntnis durchflutete sie wie das letzte Licht der Abendsonne: Malachi war bereits gegangen, und sie war die Einzige, die er zum Tanz aufgefordert hatte.

 

Als die Anwärterinnen in den Wartebereich zurückkehrten, hatte Serina kaum einen Moment zum Durchatmen, bevor Nomi sich auf sie stürzte. Sie packte Serina am Arm und zerrte sie in eine Ecke, die halb verborgen hinter einer gigantischen Pflanze in einer kunstvoll bemalten Urne lag. Sie wirkte nervös und leicht panisch.

Serina nahm ihre Hände und drückte sie sanft, um sie zu beruhigen. »Alles okay«, sagte sie atemlos. »Es lief gut – sogar besser, als ich gehofft hatte. Kein Grund zur Sorge.«

Nomis Gesicht wirkte eher gequält als erleichtert, doch ehe Serina sie fragen konnte, was los war, betrat Ines den Raum und alles wurde still. »Meine Blumen«, wandte sie sich an die Anwärterinnen. »Der Thronfolger war von euch allen sehr angetan. Eure unvergleichliche Schönheit und Anmut haben ihm die Entscheidung sehr schwergemacht, doch nach langer Unterredung mit den Magistraten eurer Heimatprovinzen und eingehender Überlegung hat er seine Wahl getroffen.

Sobald ich die diesjährigen Graces bekanntgegeben habe, zeige ich ihnen ihre Gemächer. Ihr anderen bleibt hier, während wir eure Rückreise zur Piazza von Bellaqua arrangieren, wo eure Familien auf euch warten. An alle, die bei uns bleiben: Eure Familien werden über euren Erfolg in Kenntnis gesetzt. Und natürlich könnt ihr ihnen, sobald ihr möchtet, über die Schreiber des Palazzos eine Nachricht zukommen lassen.«

Serina drückte die Hand ihrer Schwester. Es war so weit. In wenigen Augenblicken würde ihr altes Leben enden und ein neues beginnen. Die anderen Anwärterinnen traten nervös auf der Stelle und tuschelten mit ihren Dienerinnen. Serina schlug das Herz bis zum Hals.

»Maris Azaria, du wurdest vom Thronfolger erwählt.«

Serina suchte mit den Augen die Menge ab, doch es war nicht schwer, Maris zu finden – sie war in Tränen ausgebrochen und schlang die Arme fest um ihr glitzerndes pinksilbernes Kleid. Ihr glattes, hüftlanges schwarzes Haar fiel ihr wie ein Vorhang vor das Gesicht. Ob sie vor Freude weinte, konnte Serina nicht sagen.

»Noch zwei«, flüsterte sie Nomi zu. Sie hatten noch zwei Chancen.

Ines wartete, bis wieder Stille einkehrte. »Cassia Runetti, du wurdest auserwählt.« Sie nickte einem Mädchen in der Nähe des Podiums zu.

Das Mädchen, mit dem Serina gesprochen hatte. Cassias hübscher Mund klappte auf, ihre Augen wurden groß, und dann lachte sie ausgelassen, dass ihre silbrig blonden Haare wogten. Serina erkannte auf den ersten Blick, dass ihr Kleid von bester Qualität war, wie auch ihre gefährlich hohen Stöckelschuhe. Sie kam wahrscheinlich aus einer der wohlhabenden Städte im Osten wie Sola oder Goldlagune.

Wieder erhob sich aufgeregtes Gemurmel. Nun fehlte nur noch ein Name. Als Ines sich räusperte, hielt Serina den Atem an.

»Die dritte und letzte der Graces des Thronfolgers wird … Nomi Tessaro.«

Serina fiel ein Stein vom Herzen. Ich hab’s geschafft! Der Gedanke erfüllte sie mit großer Erleichterung und Freude. Aber … da lag ein Fehler vor. Serina wandte sich Ines zu und lächelte. »Serina Tessaro.«

Doch die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Nein, meine Blume. Du wurdest nicht erwählt«, sagte sie, und ihre Worte hallten durch die verwunderte Stille, die sich im Saal ausgebreitet hatte.

Serinas Sicht verschwamm; die Worte der Obersten Grace hatten ihr den Atem verschlagen. Ines blickte sie direkt an und verkündete: »Deine Dienerin wurde erwählt. Deine Schwester. Nomi Tessaro.«

Überall im Saal wurden empörte, wütende Stimmen laut.

Serina starrte erst ihre Schwester, dann Ines ungläubig an, ihr Herz hämmerte wie wild. Alle Blicke richteten sich auf Nomi. Deren Augen waren weit aufgerissen, und ihre Haare lösten sich aus ihrem langen Zopf. Ihr schlichtes braunes Kleid war an einer Hüfte hochgerutscht, so dass der Saum schief hing. Selbst hier, in ihren schönsten Kleidern, wirkte Nomi so wild und unbezähmbar wie eh und je. Ein Mädchen, das die Graces und alles, wofür sie standen, aus tiefstem Herzen hasste – und jetzt war sie eine von ihnen.

4Nomi

Nomi schwankte, sie bekam keine Luft. Das war ein Fehler. Wie könnte das kein Fehler sein?

Um sie herum geriet alles in Aufruhr. Manche der Anwärterinnen waren in Tränen ausgebrochen, andere starrten sie wütend an. Ines war bereits auf dem Weg zur Tür, gefolgt von den anderen frisch gekürten Graces und ihren Dienerinnen.

Die Oberste Grace warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. Wie betäubt bückte sich Nomi und hob ihre Tasche auf. Serina riss sie ihr aus der Hand.

»Aber ich …«

»Nomi, du bist jetzt eine Grace«, fauchte ihre Schwester und marschierte ohne ein weiteres Wort zur Tür.

Nomi folgte ihr, weil sie nicht klar denken konnte und weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Ich bin keine Grace. Das war eine Halluzination. Ein Fiebertraum.

Ein Albtraum.

Ines führte sie den Gang hinunter, in die entgegengesetzte Richtung der Bibliothek.

»Was ist passiert?«, flüsterte Serina. Ihre Wangen waren feuerrot.

»Ich weiß es nicht.« Nomi rieb sich fieberhaft den Nacken. Die Haut fühlte sich zu straff gespannt an, ihre Kehle wie zugeschnürt. »Ist das überhaupt erlaubt? Signor Pietro hat dich ausgewählt, nicht mich.«

»Es ist der Wille des Thronfolgers.« Ines’ schneidende Stimme ließ sie beide verstummen.

Nomi strauchelte, stolperte fast über ihre eigenen Füße. Sie war unhöflich zum Thronfolger gewesen. Frech. Er hatte gewusst, dass sie nur eine Dienerin war, und dennoch hatte er aus einem Raum voller wunderschöner Frauen ausgerechnet sie gewählt?

Nomi fühlte sich nicht geschmeichelt. Sie hatte schreckliche Angst.

Ines führte die Mädchen durch schier endlose Korridore und eine Treppe nach der anderen hinauf, bis Nomi das Blut in den Ohren rauschte und sie völlig außer Atem war. Irgendwann fasste Serina sie am Arm, vielleicht um sie zu stützen.

Schließlich erreichten sie eine Flügeltür, in die riesige Pfingstrosen und verschlungene Ranken eingeschnitzt waren, bewacht von einem Mann in schwarzer Uniform. Mit ausdruckslosem Gesicht drückte er die Türen für sie auf.

Goldenes Licht erhellte den mit Elfenbein und Gold verkleideten, kreisförmig angelegten Raum. Marmortorbögen, umrahmt von spinnenhaften Farnpflanzen in bemalten Vasen, ließen das Labyrinth dahinter erahnen. In der Mitte standen cremefarbene Diwane, auf denen sich karmesinrote Samtkissen türmten. Cassia, eine der neuen Graces, stieß ein verzücktes Seufzen aus und drückte die Hände an die Brust.

»Hier treffen wir uns vor festlichen Veranstaltungen«, erklärte Ines, »und der Abgesandte des Thronfolgers wird hier auf euch warten, wenn ihr eingeladen wurdet, Malachi privat zu besuchen.«

Nomi schluckte schwer. Festlichkeiten einen Hauch von Eleganz zu verleihen war nicht die einzige Aufgabe einer Grace. Von ihnen wurde auch erwartet, dem Thronfolger privat zu Willen zu sein.

Nomi kämpfte gegen eine Welle von Übelkeit an. Sie sollte Serina dienen, nicht dem Thronfolger. Dafür war sie all die Jahre ausgebildet worden, während Serina gelernt hatte zu tanzen und Harfe zu spielen.

Darauf war sie nicht vorbereitet. Das wollte sie nicht.

»Unsere Gemächer sind groß«, fuhr Ines fort. »Ihr könnt die Gärten und Strände des Palasts nach Belieben nutzen, aber ihr dürft diese Räume niemals ohne männliche Begleitung verlassen. Solche kleinen Ausflüge kann ich für euch arrangieren. Hin und wieder reisen wir nach Bellaqua, doch nur zu besonderen Anlässen, und diese Exkursionen werden immer vom Thronfolger oder dem Regenten arrangiert.

Als Graces ist es unsere Aufgabe, anderen zu gefallen, doch es ist ebenso wichtig, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Wir brauchen einander. Das werdet ihr schon bald sehen.« In Ines’ Stimme lag ein seltsamer Unterton, doch Nomi war zu aufgebracht, um die verborgene Botschaft – wenn es denn tatsächlich eine gab – zu entschlüsseln.

Ines führte sie in ein Labyrinth pastellgelb und rosafarben dekorierter Wohnzimmer mit schweren Damastvorhängen und filigranen Möbeln. Gewölbte Türdurchgänge führten in geflieste Badebereiche, auf weiträumige Balkone mit Balustraden aus Marmor, in einen riesigen Speisesaal und in gewaltige begehbare Kleiderschränke, gefüllt mit den schönsten Gewändern und Negligés, die die Textilarbeiter in Lanos je kreiert hatten. Nomi wusste genau, wie kostbar diese Kleider waren – ihre Mutter und so viele andere schufteten sich fast zu Tode, um sie zu schneidern. Serina hatte ihr erzählt, dass die Graces im Luxus lebten, doch das hier übertraf selbst ihre wildesten Vorstellungen.

In jedem Raum spielten Graces Heilige und Seefahrer oder stickten, still bewacht von Männern in weißer Uniform. Nomi war sicher, dass diese Männer alles beobachteten, belauschten und dem Regenten berichteten. Manche der Graces spazierten die Terrassen entlang oder unterhielten sich leise bei einer winzigen Tasse dampfend heißen Kaffees. Obwohl sich hier Dutzende Frauen aufhielten, herrschte in den Räumen eine fast unheimliche Stille, die nicht von Gelächter oder lauten Stimmen gestört wurde.

Nomi hasste das alles. Den Exzess. Die Stille. Das aufgesetzte Lächeln, das die Frauen selbst hier zur Schau trugen. Als Dienerin hätte sie in dieser Welt überleben können – unsichtbar zu sein bedeutete ein gewisses Maß an Freiheit –, doch sie würde sich nie zur Ruhe zwingen können wie die Graces. Wie Serina es konnte.

Als Ines den Graces und ihren Dienerinnen schließlich ihre Zimmer zeigte, wankte Nomi vor Erschöpfung, und in ihrem Kopf schwirrten unzählige Fragen, die in die Stille hinauszustürzen drohten.

»In euren Zimmern stehen Erfrischungen bereit«, sagte Ines. »Zum Frühstück werdet ihr geweckt. Zofen, morgen früh werde ich euch der Obersten Dienerin vorstellen. Sie wird euch eure Pflichten erklären.« Mit fragendem Blick wandte sie sich an Nomi. »Ich nehme an, deine Schwester soll deine Zofe werden? Andernfalls wird dir vom Palastpersonal eine zugewiesen.«

Nomis Zunge war so trocken, dass sie an ihrer Mundhöhle festklebte, doch irgendwie brachte sie mit erstickter Stimme hervor: »Ich will Serina.«

Dann endlich waren die Schwestern allein. In ihrem Schlafzimmer war es kühl, eine stetige Brise wehte durchs offene Fenster herein. Darunter stand ein großes Federbett, dessen schwere goldene Vorhänge gleichzeitig als Gardinen dienten. Kerzen brannten auf der Kommode und erfüllten den Raum mit ihrem zarten Duft: Rosen und Vanille. Neben den Kerzen stand eine Platte mit frischem Obst und Brot. Draußen vor dem Fenster hing der Mond am Horizont, sein Spiegelbild tanzte über die unruhige See. Von dieser Seite des Palazzos sah man nur den endlosen Ozean, nicht Bellaquas Glanz und Pracht.

Nomi wandte sich zu ihrer Schwester um. Sie wollte ihr so viel sagen, doch ihre Kehle war immer noch wie zugeschnürt. Niedergeschlagen sank sie aufs Bett.

»Was ist passiert?« Serina bückte sich, zerrte ungestüm an den Riemchen ihrer Sandalen und riss sie sich von den Füßen.