Iva atmet - Amanda Lasker-Berlin - E-Book

Iva atmet E-Book

Amanda Lasker-Berlin

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Beschreibung

Schweigend überschatten die Köcherbäume das Elternhaus in Dresden, in das Iva zum ersten Mal seit vielen Jahren zurückkehrt. Ihr Vater, ein einflussreicher Richter, hatte die beiden toten Riesen dort einbetoniert, zur Erinnerung an die Kindheit der Großmutter in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Nun liegt der Vater im Sterben, und alte Bilder wirbeln in Iva auf: die Fragen des Bruders nach dem Großvater im Dritten Reich, die verschwörerischen Treffen, bei denen der Vater auf alte Zeiten anstößt, sie und ihre Schwester, die auf der Treppe lauschen. Immer klarer treten die Umrisse einer Täterfamilie zutage, und Iva kann nicht länger die Luft anhalten. Mit Iva atmet widmet sich Amanda Lasker-Berlin großen gesellschaftlichen Themen: der persönliche Umgang mit historischer Schuld, das Schweigen in Familien und die deutschen Kolonialverbrechen. Ohne Pathos und Effekthascherei, dafür mit umso größerer Leichtigkeit und Lebendigkeit verwebt die Autorin ihren Stoff zu einer mitreißenden Geschichte.

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Schweigend überschatten die Köcherbäume das Elternhaus in Dresden, in das Iva zum ersten Mal seit vielen Jahren zurückkehrt. Ihr Vater, ein einflussreicher Richter, hatte die beiden toten Riesen dort einbetoniert, zur Erinnerung an die Kindheit der Großmutter in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Nun liegt der Vater im Sterben, und alte Bilder wirbeln in Iva auf: die Fragen des Bruders nach dem Großvater im Dritten Reich, die verschwörerischen Treffen, bei denen der Vater auf alte Zeiten anstößt, sie und ihre Schwester, die auf der Treppe lauschen. Immer klarer treten die Umrisse einer Täterfamilie zutage, und Iva kann nicht länger die Luft anhalten.

Mit Iva atmet widmet sich Amanda Lasker-Berlin großen gesellschaftlichen Themen: der persönliche Umgang mit historischer Schuld, das Schweigen in Familien und die deutschen Kolonialverbrechen. Ohne Pathos und Effekthascherei, dafür mit umso größerer Leichtigkeit und Lebendigkeit verwebt die Autorin ihren Stoff zu einer mitreißenden Geschichte.

 

 

Inhalt

Erster Tag

1 – Iva gleitet unter die Oberfläche …

2 – Noch einmal zu Roy schauen …

3 – Die Sonne steht über der Autobahn …

4 – Der Haustürschlüssel liegt …

5 – Grün vermummt steht Iva …

6 – Sie öffnet die Augen …

7 – In der Altstadt riecht es anders …

8 – In der Bar stehen die Tische …

Zweiter Tag

1 – Hinter der Fensterscheibe ist Winter …

2 – An die Geschichte, die Großmutter …

3 – In der Eingangshalle …

4 – Iva steht neben dem Auto …

5 – Die Straße ist gelb …

6 – Darf man in deinem Auto …

7 – Der Vater liegt in einem …

8 – Ich glaube nicht, dass ich …

9 – In Alexanders altem Zimmer …

10 – Der Teller mit den Broten …

Dritter Tag

1 – Verklebte Augen …

2 – Die Dezembernacht ist herber …

3 – Mariola streut Salz …

4 – Die Mittagssonne klettert …

5 – Im E-Mail-Postfach ist …

6 – Mariola schaut in den Kochtopf …

7 – Iva und Ismene umarmen sich …

8 – Die Sonne ist vollkommen …

9 – Als der Schlüssel im Schloss knackt …

Siebter Tag

1 – Shlomo sitzt aufrecht im Bett …

2 – Die Bahn fährt von Ost nach West …

3 – Als der Zug in den Bahnhof …

4 – Er liegt da, weder tot …

5 – Ismene wartet in der Kantine …

6 – In dunkler Soße liegen …

7 – Die Endstation der Straßenbahn …

Achter Tag

1 – Es ist schon weit nach Mitternacht …

2 – Unter der Dusche …

3 – Iva liegt in ihrem Bett …

4 – Mit dem Zeichenblock …

5 – Iva wacht auf …

6 – Im Haus der Missionarfamilie …

7 – Die Sommersonne steht tief …

8 – In unzählige Decken gehüllt …

9 – Rote Wasserlachen machen …

Zehnter Tag

1 – Klar steht der Himmel …

2 – Nachdem alle Bögen …

3 – Die Gewitterwolken hängen starr …

4 – Zum Tanzen schaltet Ismene …

5 – Die Großmutter weiß …

6 – Iva sagt den Sauerstoff …

7 – Im Krankenhausflur legt Miez …

8 – Vor dem alten Haus …

Dreizehnter Tag

1 – Der Vater liegt starr …

2 – Das Restaurant in der Neustadt …

3 – Allein im Wald hüpft Iva …

4 – In der Dunkelheit kommt sie …

5 – Dass der Vater tot ist …

Achtzehnter Tag

1 – Nach der Beerdigung …

2 – Während Mariola und Roy …

3 – Am Hauptbahnhof steigt Mariola …

 

ERSTER TAG

 

1

Iva gleitet unter die Oberfläche. Von der steigt Dampf auf, über die ziehen sich Hügel aus Schaum. Ihr Kopf treibt Richtung Grund. Die Muscheln laufen voller Wasser, das macht die Gehörgänge dicht. Iva hört fast nichts. Nur monotones Rauschen und die Schläge des Pulses. Aufgerissene Augen, die von der Seife brennen und auf die dünnen Beine schauen, die viel zu lange im grellbeleuchteten OP-Saal standen, zittrig die Wohnung betraten, aushalten mussten, bei dem Telefonat. Bevor sie sich endlich ins Wasser fallen lassen konnten.

Jetzt treiben sie über dem Keramikboden. Ihre Haut ist durchweicht. Doch die alten Hautpartikel lösen sich nicht vom Knöchel.

Iva kratzt.

Vielleicht schwimmt ein bisschen Haut durchs Wasser. Wie ein kleiner Fisch, könnte ja sein.

Das Wasser ist wärmer, seit Iva alleine in der Wanne liegt. Roy hat seine Körperwärme dagelassen. Damit Iva nicht friert.

Wärme dalassen. Das macht Roy manchmal, wenn Iva neben ihm liegt und ganz kalt ist. Wenn sie mit den Zähnen die oberste Hornschicht der Fingernägel abzieht. Sich nicht traut, die Augen zu schließen.

Iva taucht in den warmen Nebelschwaden auf, atmet tief ein. Lehnt den Nacken an. Überlegt, wie er aussieht, ihr Abdruck auf den beschlagenen Fliesen – vielleicht sind es die Umrisse der krummgeschwungenen Bäume. Die Äste, die sich umeinanderwinden und in den Himmel stechen.

Das Laub in ihrer Lunge liegt auf ordentlichen Haufen, merkt Iva beim Ausatmen. Das beruhigt sie.

Roy tritt ein. Seit Shlomo geboren ist, sind seine Schritte so leise, dass nur Iva sie hören kann. Iva beobachtet ihn. Mit dem Ellbogen wischt er den Badetau vom Spiegelschrank. Sieht sich an. Sein Haar ist noch nass. Er ist schon wieder angezogen, hat sein weißes Hemd über den schmalen Oberkörper gelegt, es schief geknöpft und es nicht bemerkt. Mit seinen Drahtfingern versucht er, etwas Form in die Frisur zu bringen. Atmet enttäuscht aus. Die Locken lassen sich nicht bändigen.

Durch den Spiegel schaut er zu Iva. Sie sitzt in der Wanne. Fängt seinen Blick auf. So haben sie sich lange nicht mehr angesehen. Schnell taucht Iva unter.

Da sind keine Blicke. Da sind nur sie und das Wasser. Das Gefühl von brechenden Halmen unter den Füßen. Dieses Kitzeln von ausgetrocknetem Gras.

Iva schnellt hoch. Fährt mit der Hand über die Füße. Damit es weggeht, das Grasgefühl.

»Als ich gerade nachschauen war, hat er geschlafen«, sagt Roy.

»Mal sehen, wie lange noch«, murmelt Iva, sieht sich schon in einer Viertelstunde den kleinen Shlomo auf dem Arm halten, während Roy hinter sich die Wohnungstür zuzieht.

»Bist du sicher, dass du heute Nacht noch fahren willst?«, fragt Roy und setzt sich auf den Rand der Badewanne. Seine Finger hüpfen zu Iva. Wie Wasserflöhe, die auf Ivas Schulter landen.

»Eigentlich nicht.«

»Dann fahr doch morgen ganz früh.«

Die Flohfinger hüpfen weiter, setzen sich auf Ivas Hals, fühlen den Puls.

»Nein, ich fahr heute Nacht, wenn du von der Vorstellung kommst.«

Kurzes Innehalten. Dann zieht Iva die Hand aus dem Wasser. Legt sie auf seine Jeans. Das hinterlässt einen Abdruck.

»Wer weiß, wie es ihm geht.« Iva blinzelt das Bild weg. Vom Gesicht des Vaters. Das blau ist. Oder vielleicht schon weiß? Aus dem noch Atem stolpert?

Roy sagt nichts. Küsst ihren Mund ganz kurz. Dreht sich zum Spiegel und versucht es noch mal mit den Haaren.

»Das werden die in der Maske schon hinkriegen«, sagt Iva amüsiert.

»Na, hoffen wir mal. Stell dir vor, ich würde mit den Haaren irgendwo hängenbleiben, wenn ich gerade zum Sprung ansetze, und dann würde mein Genick …«

»Roy!«, schnurrt Iva. »Ein Halbtoter am Tag reicht ja wohl.«

»Stimmt.« Mit einem Gummi befestigt er seine Locken sorgfältig im Nacken.

»Sehen grau aus, deine Haare. Sogar, wenn sie nass sind.« Iva wird frech. Er soll zu ihr schauen. So richtig. Nicht nur halb durch den Spiegel.

»Gar nicht! Die sehen schwarz aus, tiefschwarz. Jugendlich schwarz.«

»Rentnerschwarz.«

»Also, Iva, sei lieb zu dem Kleinen.«

»Bin ich immer.«

Roy versucht, nicht skeptisch zu schauen. Aber Iva kennt sein Gesicht.

»Und überleg dir, ob du nicht doch morgen fahren willst.«

»Mach ich nicht.«

»Okay.«

»Hab eine gute Vorstellung. Verheddere dich nicht mit deinen Haaren. Und bis nachher.«

»Bis nachher.«

Sie streichelt noch einmal über sein Bein. Dann sinkt sie hinab.

Spürt wieder das Gras unter den Füßen, wie es kratzt, sie kitzelt. Wie das Laub aufwirbelt in der Lunge. Noch einmal denken: Vielleicht ist das Wasser zu heiß. Und dann schnell auftauchen und nach Luft schnappen.

Iva hustet. Iva hustet laut. Shlomo wacht auf, beginnt zu weinen.

 

2

Noch einmal zu Roy schauen und zu Shlomo. Der schläft auf Roys Arm. Dann den Kofferraum schließen. Darin die Reisetasche mit Kleidung für drei Tage. Obwohl alle wissen: Drei Tage sind zu kurz. Leise, damit Shlomo nicht aufwacht. Der hat so lange geschrien, als Iva mit ihm alleine war. Shlomo ist erst eingeschlafen, als Roy ihn ihr aus den Armen genommen hat. Vielleicht weil Roy so ruhig ist.

Iva geht zu den beiden, legt die Arme um sie. Und Roy seinen Arm auf ihren Rücken.

Roys Körper ist müde. Erschöpft von der Vorstellung. Davon, sich in alle Richtungen zu biegen und ins Publikum zu strahlen und in Gedanken ganz woanders zu sein.

Iva küsst Roy, streichelt Shlomo, steigt ein. Und ist weg.

Es ist schon Nacht. Da sind keine Farben. Auch nicht in den Ampeln. Die sind aus. Nur die Scheinwerfer tasten die Straße ab. Reflektieren den Frost. Der hat sich die Autos am Straßenrand gepackt, der hat die Grashalme zwischen Bordstein und Gehweg steif werden lassen. Iva fährt langsam. Von Kälte überzogene Äste, die starr in den Himmel stechen. Ob zwischen den geschichteten Wolken ein nacktes Stück Schwarz ist?

Schneller werden auf der Autobahn. Der Motor heult laut. Das Auto ist alt. Und die Fahrbahn viel zu leer. Es gibt nur das dunkelblaue Auto und die Fahrbahnmarkierung. Sie schaltet das Radio ein.

Kurz überlegen, wie lange es her ist, dass sie das letzte Mal so lange allein war. Eine ganze Nacht ohne Roy und Shlomo. Nur sie und die Fahrbahn und ein Vater, dem Blut ausläuft im Hirn. So wie vor sieben Jahren beim ersten Schlaganfall. Da ist sie doch auch hingefahren, oder nicht?

Das Radio redet von Schnee, von Eis. Mahnt zur Vorsicht. Auf dem Beifahrersitz liegen Bananen, eine Thermoskanne Tee, eine Tafel Schokolade. Die hat Roy ihr hingelegt.

Vor sieben Jahren liegt der Vater einfach so in einer Einkaufspassage auf dem Boden. Wird ins Krankenhaus gebracht. Wird untersucht. Wird aber nie mehr, wie er vorher war.

Das ist gut, oder nicht, denkt Iva. Dass von diesem Menschen nicht mehr übrig ist als ein maroder Körper. Der nicht mehr alleine essen kann und sich nicht alleine waschen. Der vielleicht noch Sprache hat, aber mit dem Mund keine Worte mehr bilden kann.

Das letzte Telefonat vor eineinhalb Jahren.

»Hallo Vater, hier ist Iva. Ich wollte, also, ich, ähm, ich wollte nur sagen, dass ich ein Kind bekommen habe, letzte Woche. Er heißt Shlomo.«

Ein Vater, der nichts sagt, der nichts macht, nicht mal ein Geräusch, und die Pflegerin, die »Glückwunsch« murmelt.

Und Iva, die sagt: »Wir würden uns über Unterstützung freuen. Also finanzielle.«

Die Pflegerin, die laut schluckt und Worte sucht. Der Vater, der nichts macht, nur in den Hörer atmet. Und Iva, die entscheidet: Ich rufe nicht mehr an.

Jedes Jahr eine Weihnachtskarte aus dem Briefkasten fischen. In der steht: »Fröhliche Weihnachten von Ihrem Vater. Und Mariola.«

Und Roy, der jedes Jahr sagt: »Nächstes Jahr müssen wir endlich dran denken, der Pflegerin auch eine Karte zu schicken.« Und Iva und Roy, die es dann jedes Mal vergessen.

Ob Jette und Alexander auch solche Karten bekommen, überlegt Iva und überholt einen LKW, der fährt ihr zu langsam.

Alexander bestimmt nicht, von dem weiß die Pflegerin wahrscheinlich gar nichts. Und von Jette kennt Iva nur ein Postfach. Das steht in der Infobox von ihrem Kanal.

Manchmal, wenn Iva einen Tag freihat, schnappt sie sich Shlomo und den Laptop. Legt das Kind auf ihre Brust und den Laptop auf den Bauch und tippt Jettes Namen ein und stößt auf Videos, in denen Jette redet. In denen sie nichts macht, außer dasitzen und grinsen und reden. Über die vegane Selbstversorgergemeinschaft in Thailand. Über ihre Partner, Freiheit, ihre Tochter, die kennt Iva nur aus den Videos.

Es gibt Videos, die heißen: »Was in meiner Kindheit falsch gelaufen ist« oder: »Meine Bindungsängste«. Die klickt Iva nicht an. Wird nur wütend und überlegt, einen Kommentar darunterzuschreiben. Einen gemeinen, richtig gemeinen. Streichelt aber lieber über Shlomos Kopf, das beruhigt.

An Alexander denkt Iva fast nie. Weil er auftaucht, sobald man an ihn denkt. Deshalb besser Alexander ignorieren, ihn vergessen und sicher sein: Alexander wird es schon gut gehen.

Iva reißt die Augen auf. Die Dunkelheit beißt ihr scharf ins Gesicht, will sie vertreiben. Aber Iva hält dagegen an, bleibt wach. Auch als die Nacht näher und näher an die Windschutzscheibe kommt, sich auf sie legt und durch einen Spalt ins Innere des Autos gelangt. Iva beschleunigt. Will durch die Nacht hindurchfahren und die Morgendämmerung erwischen.

 

3

Die Sonne steht über der Autobahn, blendet. Iva fährt auf die Raststätte, stellt das Auto ab und schaut in den Himmel. Die Wintersonne ist schwach. Iva ist müde. Es ist fünf. Da ruft Shlomo sonst immer das erste Mal. Oder singt oder plappert. Roy holt ihn dann ins Bett, legt ihn zwischen Iva und sich. Und Iva sagt jeden Morgen: »Ich habe gelesen, das soll man nicht machen.«

Und Roy ist das egal, weil er die Erziehungsratgeber, die Iva liest, nicht mag.

Wenn Shlomo so nah bei Iva liegt, kann sie nicht mehr schlafen. Was, wenn sie sich im Schlaf auf ihn legt, aus Versehen, oder sie hustet und er erschrickt und schreit, nur wegen ihr.

Sie schaut Shlomos Körper an. Beobachtet, wie seine Lider zucken, wie er atmet, so regelmäßig. Und so weich ist, im Gesicht. Manchmal küsst sie seine Finger, mal sein Gesicht oder den runden Kinderbauch. Wenn er wach ist, legt sie eine Hand auf seine Brust. Das soll Kinder beruhigen, hat sie gelesen, und Iva glaubt alles, was sie liest über Kinder, und kauft seit der Schwangerschaft zu jedem Abschnitt ein neues Buch. Markiert die wichtigen Stellen und klebt Post-its in verschiedenen Farben ein. Damit sie alles schnell findet. Wenn mal was ist mit Shlomo. Auf dem Nachttisch liegt ein kleines Handbuch, das Iva sich zusammengestellt hat, griffbereit.

Ob Shlomo merkt, dass sie nicht da ist, fragt sich Iva. Stellt sich den kleinen Körper vor, der im Bett sitzt und guckt. Der die Augen aufreißt und »Mama« sagt.

Beim Tanken atmet Iva tief ein. Die Luft ist schwer vom Benzin. Sie liebt den Geruch. Bleibt länger stehen, als sie müsste. Kauft dann den ersten Kaffee und bezahlt das Benzin. Einmal gähnen und dann weiterfahren. In den Morgen.

 

4

Der Haustürschlüssel liegt in Ivas Jackentasche. Mit der Hand umschließt sie ihn. Er wird warm, feucht vom Schweiß. Zögernd vor der Tür stehen, den Schlüssel noch eine Weile in der Tasche lassen. Zu den Köcherbäumen schauen. Zu den beiden, die rechts und links das Portal flankieren. Die tot sind, seit so vielen Jahren. Die nicht verrotten können, weil die Chemikalie um ihren Stamm sie daran hindert. Von den Bäumen aus wandern Schatten über den ganzen Vorgarten. Vielleicht hat Iva deshalb immer gefroren.

Iva steht auf den Stufen. Links und rechts von ihr ein Köcherbaum. Das macht das breite Portal auf einmal eng. Iva weiß noch: Der Vater rammt den Spaten wütend in die Erde. Beschädigt Wurzeln, flucht. Die Köcherbäume sind so fest verankert vor dem Haus in Wuppertal. Aus dem Fenster sticht der Blick der Großmutter, fliegen Worte wie: Kruppstahl und Leder.

Der Vater hackt in die Wurzeln, will die Bäume zu Fall bringen. Die müssen aus der Erde, die müssen mit nach Dresden. Sonst zieht die Großmutter nicht um. Sonst bleibt sie allein in der Wuppertal-Villa. Durch die Gardinen des Küchenfensters schaut die Mutter, bleibt verschwommen hinter dem Stoff. Und der Vater schimpft weiter, und Alexander hält Iva die Hand vor den Mund, damit sie nicht loslacht und der Vater sie bemerkt. Vier Tage lang drischt der Vater auf die Wurzeln ein, vier Tage feuert die Großmutter ihn durch ihr Fenster an, hocken Iva und Alexander in ihren Zimmern und beobachten den Vater. Dann fallen die Bäume. Werden aufgeladen und von einem Lastwagen nach Dresden gefahren. Sterben während der Fahrt.

Tote Bäume schlagen keine Wurzeln mehr. Der Vater betoniert sie ein, bestreicht sie mit Chemie. Damit die Bäume nicht verrotten. Hofft, dass die Großmutter es nicht merkt. Doch die merkt alles, riecht die Chemie, riecht den Beton. Stirbt kurz nach den Bäumen.

In Ivas Handfläche drücken sich die Zähne des Schlüssels tiefer in die Haut. Einen Moment noch aushalten, dann lässt Iva ihn los. Legt die Hand auf den Baum, drückt ihre Nase daran. Der Baum riecht nicht mehr nach Chemie, auch nicht nach Holz. Einfach nur nach Winterluft. Iva spürt ihren Puls. Als Kind denkt sie: Das ist der Herzschlag vom Baum. Jeden Tag nach der Schule und vor dem Hausbetreten überprüft sie ihn. Für Iva lebt der Baum. Bis sie versteht, dass das ihr eigenes Herz ist, was sie schlagen hört.

Iva legt den Finger auf die Klingel und drückt und hört: Es scheppert genau wie früher.

Tapsige Schritte, der Schlüssel, der von innen mehrfach gedreht wird. Das Portal wird aufgezogen, das braucht Kraft. Mariola taucht in der Tür auf. Sieht anders aus, als Iva sie vom Vorstellungsgespräch in Erinnerung hat. Die Haare sind rot, bis auf ein paar graue Stellen. Ein pinker Rollkragenpullover und eine weite Jeans. Hausschuhe, die ganz weich aussehen. Vielleicht, weil sie auf dem harten Marmorboden stehen, von dem das ganze Jahr Kälte abstrahlt.

Unter Mariolas Augen sind dunkle Ringe und Falten, an denen Iva erkennen kann, dass Mariola früher mehr gelacht hat.

»Hallo«, sagt Iva. Ihre Stimme ist rau. Räuspern macht es nicht besser.

»Hallo, Iva.« Mariola strahlt. Tritt zur Seite, um Iva einzulassen. Aber Iva bleibt auf der Fußmatte stehen. Lässt die Fersen in der Matte versinken. Wie als Kind. Da zögerte sie auch den Moment des Hausbetretens heraus.

»Wollen Sie nicht reinkommen, Iva?« Der Akzent der Pflegerin ist stark. Iva mag, wie die Worte tanzen.

»Ich … also …« Iva tastet mit ihren Augen den Türrahmen ab. Das dunkle Holz schüchtert sie ein.

»Kommen Sie herein. Sie sind bestimmt müde. Wollen Sie Kaffee oder Tee? Ich habe alles da. Ich hab auch Brot und …«

»Danke. Mariola. Aber …« Ivas Blick gleitet an Mariola vorbei. Drängt sich in die Eingangshalle. Da ist der Steinboden, die hohen Wände, enge Fenster, die kaum Licht hereinlassen.

»Ich fahre, glaube ich, erst ins Krankenhaus«, sagt sie schnell. »Sie meinten, meinem Vater geht es sehr schlecht?«

»Ja, es geht ihm schlecht. Erst war er ganz normal. So, wie er eben ist, und hat gegessen, alles. Aber dann höre ich auf einmal einen Krach. Ich erschreck mich und schaue nach ihm. Und er hängt so im Stuhl. Reagiert nicht. Gar nichts. Natürlich habe ich mich erschreckt. Gleich im Krankenhaus angerufen. Wollen Sie nicht hereinkommen?«

»Nein, ich …«

»Sie haben ihn mitgenommen ins Krankenhaus. Ich war einmal da. Habe Wäsche gebracht und alles. Aber gut sieht es nicht aus.«

»Dann ist es wirklich das Beste, wenn ich erst mal hinfahre.«

»Zimmernummer hab ich, kann ich Ihnen geben, warte.«

Mariola verschwindet im Haus. Die Tür steht weit offen. Jetzt kann Iva die gesamte Eingangshalle sehen. Der große Spiegel hängt noch genau gegenüber der Haustür. So wie damals. Jeder, der das Haus betritt, muss sich anschauen. Iva weiß noch:

An den Samstagabenden bewundern sich die schönen Frauen und Männer im Spiegel. Streifen ihre Jacken ab, drücken sie der Mutter in die Hand. Lachen schrill. Die Frauen bewegen sich weich, die Männer sind steif. Verschwinden mit dem Vater im Kaminzimmer. Die Mutter räumt die Mäntel auf. Bleibt vor dem großen Spiegel stehen. Sieht klein aus in ihm. Guckt hoch zu den Kindern. Jette, Alexander und Iva hocken auf der Treppe. Ihre Schlafanzüge schmiegen sich an das verschnörkelte Geländer.

»Ihr müsst ins Bett«, zischt die Mutter. Dreht sich nicht um zu den Kindern, tut so, als würde sie vor dem Spiegel ihren Lippenstift nachziehen. »Geht schnell, bevor der Vater euch entdeckt.« Ein Nicken von Iva und Jette und ein Alexander, der starr sitzenbleibt. Die Mutter, die nicht nachschaut, ob die Kinder gehen, sondern selbst im Kaminzimmer verschwindet. Dumpfe Gesprächsfetzen, hartes Lachen. Iva, Jette und Alexander, die mitlachen. Nicht wissen, über was. Die stumm werden, wenn die Mutter aus dem Kaminzimmer stürzt, weint. An ihnen vorbeirennt, die Treppe hoch. Der Vater, der die Tür zum Kaminzimmer zuzieht. Ab dann wird gesungen. Aus dem Singen wird Grölen und aus dem Grölen Lallen. Torkelnde Männer und Frauen, die wieder auftauchen in der Eingangshalle. Sich ihre Mäntel überwerfen und auf einmal verzerrt aussehen im Spiegel. Ob sie das merken, fragt Iva sich. Oder ist sie die Einzige, die das sieht?

Hirschgeweihe und ausgestopfte Tiere hängen an den restlichen Wänden.

Wenn Shlomo hier wäre, würde er die Hand ausstrecken, das Fell streicheln und »Ei, Ei« murmeln.

Aus dem Haus weht Heizungsluft. Zum Glück heizt Mariola, denkt Iva.

Eilig kommt Mariola auf Iva zu, drückt ihr einen Zettel in die Hand.

»Da steht die Zimmernummer drauf und der Name vom Arzt. Und Sie wollen wirklich keinen Tee, Iva?«

»Nein, ich fahr jetzt los. Danke.«

Iva dreht sich um. Fährt beiläufig mit der Hand über den Köcherbaumstamm. Kann keinen Herzschlag spüren. Sie hört, wie Mariola die Tür zuzieht. Die Schlösser wieder verriegelt.

Schnell läuft Iva den gepflasterten Weg von der Haustür zur Straße entlang. Zwischen den Fugen friert Moos. Die Laterne neben dem Tor zur Straße leuchtet, obwohl es schon hell ist. Die Zeitschaltuhr muss kaputt sein.

Iva hat das dunkelblaue Auto halb auf dem Gehweg geparkt. Genau vor der Einfahrt. Sieht aus wie ein Fluchtwagen, denkt Iva.

 

5

Grün vermummt steht Iva vor dem Bett des Vaters. Ihr Atem prallt am Mundschutz ab, gelangt durch die Nase wieder in den Körper. Kaum neuer Sauerstoff.

In die Nase des Vaters führen Schläuche. Pflaster halten sie an der Haut.

Ein Bildschirm illustriert seine Herzschläge. Grün auf schwarz zieht sich die Linie gleichmäßig über den Monitor.

Iva liest sie ab.

Das Gehirn des Vaters hat erst vor wenigen Stunden aufgehört zu bluten. Jetzt liegt es brach.

Iva betrachtet den Verlauf der Schläuche, legt eine Hand auf den Arm des Vaters. Der Plastikhandschuh trennt ihre und seine Haut. Sein behaarter Arm fühlt sich unecht an durch das Plastik. Als gehörte er keinem echten Menschen. Das beruhigt sie.

In der desinfizierten Luft brennen die müden Augen. Iva hält sie offen. Sie heftet ihren Blick auf die Pergamenthaut des Vaters. Will den Verlauf der Adern darunter verfolgen. Doch das ganze Gesicht ist blau. Nur die Ringe unter den Augenhöhlen sind dunkelgrau. Die Falten tiefer, als Iva sie in Erinnerung hatte. Iva will mit dem Fingernagel die Rillen auf der Stirn nachfahren. Doch im Gesicht berührt man den Vater nicht.

Über seinem Körper eine schwere Decke. Ob sie ihn erdrückt, überlegt Iva. Sie hebt die Decke einen Spalt an. Prüft, ob der alte Korpus schon zerbrochen ist. Doch er sieht heil aus. Sie lässt die Decke wieder fallen, schaut ihn noch einmal an. Er erinnert sie an die Großmutter kurz vor ihrem Tod. Daran, wie sie aufhört zu sprechen. Nach dem Tod der Köcherbäume. Wie sie nur noch dasitzt am Fenster. Die Sonne auf die geschlossenen Lider fällt.

Als Kind findet Iva den Tod der Großmutter nicht schlimm. Die Großmutter hat sich aufgelöst. Konturen verloren und Farben. Bis sie weg war. Einfach so.

Der Vater ist da. Liegt als Koloss auf dem metallenen Bett. Lässt sich von den Beatmungsgeräten Luft einpumpen, lässt sich durch Schläuche Energie in den Körper flößen. Und macht nichts, nur liegen.

Iva muss raus. Schält sich im Krankenhausflur aus der grünen Schutzkleidung. Wirft sie weg, desinfiziert ihre Hände. Automatisiert, wie sie das bei der Arbeit macht. Iva liebt das Sterile.

An den Flurwänden hängen Chagalldrucke. Neben den Plastikstühlen steht eine verwahrloste Zimmerpflanze. Iva lässt sich auf einen Stuhl fallen, mustert die kaputten Pflanzenblätter. Die sind zerpflückt. Von den nervösen Angehörigen. Eigentlich will Iva nichts abrupfen. Hat dann aber doch ein Blatt zwischen den Fingern. Zerhackt es mit den Nägeln, beobachtet den Sud, der aus den Fasern läuft.

Die grelle Flurbeleuchtung trocknet Ivas Augen aus. Die Augen können nicht mehr. Iva schließt sie kurz. In der Jackentasche vibriert ihr Smartphone. Sie greift danach. Starrt auf den hellen Bildschirm. Das Bild von Roy mit Shlomo. Iva lächelt, entsperrt das Telefon mit ihrem Finger. Fühlt sich ein bisschen wacher. Da ist eine Nachricht von Roy.

»Lebt dein Vater noch?«

»Ja«, antwortet sie.

»Kannst du telefonieren?«

»Bin noch im Krankenhaus. Warte auf einen Arzt.«

»Okay.«

»Ich ruf dich nachher an. Bin müde. Wie geht’s dir?«

»Wie geht’s dir?«

»Roy, ich meine: Wie geht’s dir?«

»Iva, ich meine: Wie geht es dir?«

»Mir geht’s gut. Müde. Sonst alles okay.«

»Und, wie ist es mit deinem Vater?«

»Der liegt auf der Intensivstation. Deshalb kann er mich nicht ärgern.«

»Iva, Iva …«

»Er liegt wirklich auf der Intensivstation.«

»Machst du dir Sorgen?«

»Machst du dir Sorgen, Roy?«

»Na ja, er ist ja dein Vater …«

»Und dein Schwiegervater. Wenn du dir keine Sorgen machst, muss ich mir auch keine machen.«

»Ein klarer Fall von Iva-Logik.«

»Roy?«

»Ja.«

»Ach, nichts.«

»Was?«

»Die Bäume von meiner Großmutter stehen immer noch vor dem Haus.«

Roy antwortet nicht.

Iva fügt »Wie geht’s euch?« hinzu.

»Wir denken, du hättest Dienst, und werden uns nachher wundern, dass du nicht wiederkommst.«

»Wie geht’s Shlomo?«

»Gut, ich mäste ihn mit Süßigkeiten.«

»Als ob. Was macht er gerade?«

»Einen Moment.«

Iva wartet eine Weile. Mit dem Smartphone nimmt Roy eine Sprachnachricht auf, sendet sie Iva.

Als sie ihr Telefon ans Ohr hält, hört sie, wie Shlomo eine Melodie singt. Dann leise ist für einen Moment und anfängt, mit der Hand auf einen Kochtopf zu schlagen.

»Shlomo!«

»Meinst du, dass dein Vater stirbt?«, sendet Roy.

»Kann ich nicht ausschließen.«

»Also ja?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was ist, wenn er stirbt?«

»Dann ist er tot.«

»Iva, ich meine das anders …«

»Wir würden ein fettes Haus in Dresden erben.«

»Iva!«

»Der Arzt kommt. Ich ruf nachher an.«

»Bis nachher.«

Iva lässt das Telefon in ihre Jacke gleiten. Der Gang ist leer, kein Arzt zu sehen. Iva lässt das zerpflückte Blatt in den Blumentopf rieseln.

 

6

Sie öffnet die Augen. Erholt schauen sie an die weiße Wand. Den Körper umhüllt eine dünne Decke. Aus dem kleinen Radio kommt ruhige Musik. Iva hat den Klassiksender eingeschaltet. Dabei kann sie am besten aufwachen.

Das Fenster ist gekippt. Ab und zu das Surren eines Autos.

Aus dem Wald kommt nichts außer der Stille.

Die Dunkelheit klebt im Zimmer zwischen den wenigen Möbeln. Iva hat fast alles mitgenommen, als sie damals ausgezogen ist. Als sie nach Düsseldorf gegangen ist, zum Medizinstudium. Jetzt stehen da nur das schmale Bett, die Kommode und der massive Schrank. Unterhalb des Fensters ist eine Kiste mit Kinderbüchern. Die würde Iva nie mitnehmen und mit Shlomo lesen.

Ein Windstoß erreicht Ivas Gesicht, wischt ihr die letzte Müdigkeit von der Stirn. In ihrem Körper kribbelt es. Ihr wird warm. Mit einer Hand schiebt sie die Decke weg. In ihrem karierten Oversizehemd liegt sie da, stellt sich vor, wie sie jetzt von außen betrachtet aussieht. Die blonden glatten Haare. Fast transparente Lippen. Die dünnen Beinchen sind nackt.

Nach der Geburt hatte Iva sich die Haare noch heller gefärbt und ganz kurz geschnitten. Zum Neufühlen. Ivas Haare werden seitdem nie länger als fünfzehn Zentimeter.

Sie nimmt ihr Smartphone. Schaut auf die Uhr. Es ist einundzwanzig Uhr. Zu früh, um richtig zu schlafen, und zu spät zum im Wald spazieren. Iva hat ihn vermisst, den Wald. In dem sie die Orientierung verlieren kann. In dem wilder Bärlauch wächst im Sommer, in dem sie Roy so intensiv gespürt hat wie nirgendwo sonst. Iva ist vielleicht mehr für den Wald gekommen als für den schlafenden Vater.

Iva weiß nicht mehr, was man macht an einem Abend in Dresden. An einem Abend allein.

Unten im Haus spricht Mariola schnelles Polnisch am Telefon. Kurz lauscht Iva. Mariolas Stimme klingt besorgt. In dem Haus sind die Wände dick. Trotzdem gelangt jedes Geräusch dahin, wo es nicht hinkommen soll. Als Kind macht Iva die Wasserleitungen dafür verantwortlich. Jetzt glaubt sie eher, dass zwischen den Steinmauern Hohlräume sind.

Iva zieht das Karohemd glatter, zupft die Haare zurecht, schaut in den Spiegel, der am Kleiderschrank angebracht ist. Sie sieht frisch aus, wundert sich darüber.

Über dem Bett hängt ein Bild, das ihre Großmutter gemalt hat. Alle sind sich einig, dass das eines der schlechteren Bilder der Großmutter ist. Sie hat es kurz vor dem Sterben gemalt. Nur Iva mag es. Weil die Farben ungewollt verlaufen, der Strich grob ist. Weil da zwei Köcherbäume stehen in afrikanischer Landschaft. Mit Ästen, die weit über das Bild hinausreichen, denkt Iva. Ein Kind ist im Hintergrund. Zwischen den Wolken. Über dem Gesicht des Kindes hängen rosafarbene Schlieren. Es hält die Hände offen nach oben.

Vielleicht verabschiedet es sich von der Welt.

Vor dem Umzug nach Düsseldorf überlegt Iva, das Bild mitzunehmen, es in ihr Studierendenzimmer zu hängen. Bekommt es aber beim ersten Versuch nicht von der Wand. Entscheidet, es dazulassen, und träumt seitdem so oft von dem Kind. In den Wolken.

Iva reißt ihren Blick vom Bild. Sie hat sich schon zu oft in ihm verloren.

Ihre Fußgelenke knacksen, als sie die alte Treppe hinunterläuft. Mit den Fingerspitzen berührt sie die Nasen der ausgestopften Tiere. Das macht sie schon als Kind. Und träumt sich zurück nach Wuppertal. In das Haus, in dem sie wohnt, bis sie zwölf ist. In die Stadt, in der Roy jeden Winter in ihrer Schulklasse sitzt. Und die Köcherbäume noch lebendig sind.

Iva nimmt ihre Jacke von der Garderobe. Der grüne Parka ist zu dünn für diese Jahreszeit. Ab und zu mag sie es, dem Wetter ausgeliefert zu sein und an nichts anderes zu denken als an ihre Körpertemperatur.

Iva überlegt, ob sie Mariola sagen soll, dass sie noch mal weggeht. Ob sie sie fragen sollte, ob sie mit in die Stadt will. Mariola spricht noch immer am Telefon. Iva schleicht sich aus dem Haus.

Am Himmel funkeln die toten Sterne halbherzig.

 

7

In der Altstadt riecht es anders als auf dem Waldhügel. Die Luft ist dicker. An diesem Abend ist kaum jemand unterwegs. Die meisten Touristen sind schon in ihre Hotels gekrochen, die Einheimischen tummeln sich in der Neustadt oder ihren Betten. Nur einige Pelzträger lungern vor den Schaufenstern herum.

Den Parka zieht sie enger um den Körper, versucht, irgendwie den Hals zu schützen. Zwischen den barocken Gebäuden pikst die Kälte. Iva ist ruhig. Ganz anders als im Alltag, in dem sie in OP-Sälen steht, durch die Krankenhausflure huscht, ein kleines Kind ständig etwas braucht. Etwas, das Iva vielleicht nicht hat, denkt sie manchmal und streitet dann mit Roy. Der findet, Shlomo ist das entspannteste Kind, das man haben kann. Das gar nichts fordert und dem man jedes Bedürfnis ansehen kann. Und Iva sagt dann gar nichts mehr und rast mit dem Auto in die Klinik, knöpft den Kittel zu und fragt sich, woher sie denn auch wissen soll, wie man eine Mutter ist.

Auf dem Dresdener Kopfsteinpflaster machen Ivas weiche Sohlen keine Geräusche. Ihr wird nicht warm durchs Laufen. Aber sie will noch nicht in eine Bar gehen. Iva will die Elbe sehen, sonst nichts. Die Wellen sind aufgewirbelt vom Novemberwind.

Eine Weile konzentriert sie sich auf die verschiedenen Schwarztöne im Nachtwasser. Sie erinnert sich, wie sie einmal mit der Großmutter hier steht. An dem Abend, an dem die Bäume einbetoniert werden und Iva all ihre Kraft braucht, um den Rollstuhl der Großmutter so nah wie möglich an das Wasser zu schieben.

Es ist Ende Juli und die Sonne reflektiert beim Untergehen. Die zittrigen Hände der Großmutter hat Iva unter die Decke gelegt. Sie will die dürren Finger nicht sehen.

Ivas zwölfjähriger Körper steht jugendlich verformt da. Sie versucht, ihre kleinen Brüste zu verbergen. Klappt deshalb die Schultern nach vorne. Zieht den Bauch ein. Hasst ihr Sommerkleid. Das ist rosa, da ist ein Pferd drauf. Das hat die Mutter gekauft. Als klar wurde, dass sie nach Dresden ziehen werden. Und die Mutter panisch in alle Geschäfte rennt, weil sie sich sicher ist: Im Osten gibt es nichts. Wende hin oder her.

Iva beobachtet die Wellen. Monoton schwappen sie auf und ab. Spürt, dass die Großmutter etwas sagen möchte, aber nicht mehr kann. Ihre knorrigen Kiefer liegen so schwer aufeinander. Deshalb pfeift die Großmutter die Worte. Durch einen dünnen Spalt zwischen den Lippen. Iva muss raten, was sie meint.

»Südwest?«, fragt Iva, schaut genau hin, vielleicht nickt die Großmutter leicht.

Iva weiß nichts über Südwest. Nur, dass man das nicht mehr sagt. Dass man Namibia sagen soll und die Großmutter das nicht mehr lernt. Iva weiß, dass die Großmutter da groß geworden ist und dass der Vater schimpft, wenn Alexander sagt: »Meine Oma ist Afrikanerin.« Und korrigiert: »Deine Großmutter ist Deutsche.«

Iva weiß auch, dass die Großmutter irgendwann nach Deutschland gezogen ist. Wegen Krieg oder so. Sie stellt sich vor, wie die Großmutter an der Reling steht. Von einem prächtigen Schiff mit Segeln. Ihr weißes Kleid wirbelt um sie. Sieht aus wie in einem alten Film. Die Großmutter hat nur einen braunen Lederkoffer dabei. In den hat sie ihr altes Leben gestopft. Einmal winkt sie noch und denkt: »Auf Wiedersehen, Deutsch-Südwestafrika.«

Iva mag die Vorstellung, auch wenn sie weiß, dass es ganz anders gewesen sein muss. Sonst hätte die Großmutter ihr ja davon erzählt.

Manchmal, wenn Iva genau hinhört, kann sie am Pfeifen der Großmutter erkennen, wie sie als Kind war. Kann sich vorstellen, wie die Großmutter durch die Landschaft flitzt. Um den Waterberg herum. Wie ihre Zöpfe flattern. Wie sie lacht. Wie ihre Stimme klingt.

Ganz selten, wenn die Großmutter in ihrem dunklen Ohrensessel sitzt, durchs Fenster die Köcherbäume beobachtet, erkennt Iva auch ein anderes Mädchen. Ein Mädchen, das panisch durch das hohe Gras läuft, sich nicht traut, sich umzudrehen.

Der Atem der Großmutter wird dann holprig. Iva zieht die Vorhänge zu. Damit die Köcherbäume nicht mehr zu sehen sind.

Iva schaltet der Großmutter den Fernseher an. In dem flimmert es bunt. Sie haucht in ihre rotgefrorenen Hände, blickt noch kurz ins Wasser. Dann dreht sie um. Jetzt braucht sie wirklich einen Tee.

 

8

In der Bar stehen die Tische eng beieinander. Überall Porzellanfiguren, Lämpchen, Kissen mit Spitze.

Iva sucht sich ein Schnörkelsofa aus. Von ihrem Platz in der Ecke kann sie die schummrige Bar überblicken. Betrachtet ein junges Paar. Das bemüht sich krampfhaft um einen schönen Abend. Ihre Körper sind mit den Sesseln verwachsen. Sie können sich nicht annähern, selbst wenn sie es wollten.

Iva fläzt sich ins Sofa, wuschelt ihre Haare durch und liest die Karte. Ihre Hüfte schiebt sie weit nach vorne, liegt fast. Die Beine sind ausgestreckt. Am liebsten würde sie noch aus den Schuhen schlüpfen.

Der Jazz ist ein bisschen laut, findet Iva und folgt mit den Blicken der Bedienung. Die huscht durch die engen Freiräume zwischen den Tischen. Nur einmal hält sie inne, betrachtet die junge Frau, die sich in einem Ohrensessel eingeigelt hat. Mit langen Fingern umklammert sie eine dampfende Tasse.

Ihre angewinkelten Beine umhüllt eine Decke. Der Oberkörper steckt in einem engen grauen Pullover. Der zeichnet ihren weichen Körper ab. Den schweren, feingezeichneten Kopf hat sie auf die hochgezogene Schulter gelegt.

Am Sessel lehnt ein Geigenkoffer. Voller Kratzer und Schlammspritzer. Iva stellt sich vor, wie die Frau mit dem Fahrrad durch eine Pfütze gerast ist, den Geigenkasten auf dem Rücken.

Die Geigenkastenfrau starrt in die Kerze auf dem Tisch. Nippt verloren an ihrem Kakao. Der Schokoladenduft schwebt bis zu Iva hinüber.

Iva erinnert das an Roy. Daran, wie er manchmal an der gläsernen Balkontür hockt, mit den Augen versucht, die Sonnenstrahlen hochzuklettern. Dazu ein Glas Wein. Und der immer gleiche Gedanke. Dieselbe Frage seit Jahren. Gibt es so was wie ein Zuhause für Roy?