Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Haut der zehnjährigen Spes ist so empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel. Wann wird sie ihren Kokon aus Mullverband abwerfen und endlich fliegen können? Mirjam reist in ein Land im Umbruch. Wie erzählt man eine Geschichte, wenn alles in Trümmern liegt? Paul flieht vor seinem Foto auf den Titelseiten. Alles frei erfunden, lautet der Vorwurf, was aber ist die Wahrheit? Achura fürchtet einen Shitstorm, das Ende ihrer politischen Karriere. Aber würde sie zurücknehmen, was sie gesagt hat? Spes, Mirjam, Paul und Achura stehen an einem Wendepunkt. Wie erfindet man sich neu, ohne sich selbst zu verlieren? Reicht die Kraft für eine Utopie, für einen Neuanfang? Amanda Lasker-Berlin erzählt von vier Menschen, die versuchen, sich von Zuschreibungen zu lösen und eine Krise zu überwinden. Rasant ineinandergeschnittene Perspektiven, kollidierende Sichtweisen und Lebensentwürfe erzeugen eine Energie, die sich mit jeder Seite mehr entlädt. Spes heißt Hoffnung ist ein Roman, der vor Gegenwart nur so platzt und der den Blick weitet für das, was wichtig ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Die Haut der zehnjährigen Spes ist so empfindlich wie ein Schmetterlingsflügel. Wann wird sie ihren Kokon aus Mullverband abwerfen und endlich fliegen können?
Mirjam reist in ein Land im Umbruch. Wie erzählt man eine Geschichte, wenn alles in Trümmern liegt?
Paul flieht vor seinem Foto auf den Titelseiten. Alles frei erfunden, lautet der Vorwurf, was aber ist die Wahrheit?
Achura fürchtet einen Shitstorm, das Ende ihrer politischen Karriere. Aber würde sie zurücknehmen, was sie gesagt hat?
Spes, Mirjam, Paul und Achura stehen an einem Wendepunkt. Wie erfindet man sich neu, ohne sich selbst zu verlieren? Reicht die Kraft für eine Utopie, für einen Neuanfang?
Amanda Lasker-Berlin erzählt von vier Menschen, die versuchen, sich von Zuschreibungen zu lösen und eine Krise zu überwinden. Rasant ineinandergeschnittene Perspektiven, kollidierende Sichtweisen und Lebensentwürfe erzeugen eine Energie, die sich mit jeder Seite mehr entlädt. Spes heißt Hoffnung ist ein Roman, der vor Gegenwart nur so platzt und der den Blick weitet für das, was wichtig ist.
AUFBRECHEN
Nacht
Tag
Nacht
Tag
Nacht
EXPLODIEREN
Tag
Nacht
WÄHREND
Während es kälter wird …
VERNARBEN
Tag
Nacht
Tag
Nacht
Tag
für N.
Das Feld ist braun, die Erde nackt. Zwischen den Erdklumpen ist nichts, außer Steinen, die haben sich beim Rennen an Pauls Sohle festgeklammert. Er hält inne, für einen Moment. Um das Feld herum zieht sich ein dünner Streifen aus Gräsern. Der ist stachlig und ohne Blüten. Gleich hinter dem Streifen beginnt das nächste Feld. Das ist genauso abgeerntet und kahl. Bis zum Horizont drücken sich die Felder als Kästchen aneinander. Sie sind von Furchen durchzogen. Nirgendwo wachsen Bäume, nirgendwo schläft ein Dorf. Es ist Herbst, die Luft rau. Pauls Atem kondensiert weiß und steigt auf. Sein Körper ist heiß vom Rennen, seine Seiten stechen.
In der ganzen Landschaft ist niemand. Nur er.
Die Straße, von der er gekommen ist, kann Paul nicht mehr sehen. Das silberfarbene Auto ist weit weg. Die Schlüssel hat er beim Rennen hochgeworfen. Vielleicht sind sie auf diesem Feld gelandet, vielleicht auf dem davor. Alles sieht gleich aus und über ihm ist nichts, außer der blanke Himmel. Der erste Nachtfrost lauert auf dem Feld. Paul fröstelt von außen und glüht innen. Spürt, wie sein Herz wieder anfängt zu rasen. Paul späht nach links und nach rechts. Nach hinten. In die Richtung, aus der er gekommen ist. Vielleicht ist da doch jemand, der ihn sieht. Paul muss weg. Runter von den Feldern. Runter von der freien Fläche. Irgendwo dahin, wo niemand ihn entdecken kann.
Er jagt über das Braun, sackt ein. Das Feld ist feucht vom Regen der letzten Nacht. Paul muss die Füße beim Laufen hochreißen. Er keucht. Muss leise keuchen, niemand darf es hören, niemand darf hören, dass da jemand atmet auf dem Feld. Paul stellt sich vor, dass auf einem der Hochsitze jemand kauert. Jemand, der sonst auf Rehe schießt. Jemand, der weiß, dass Rehe über freie Felder springen. Der sie angefüttert hat, damit sie nah an den Hochsitz kommen. Der abdrückt, als gerade der Kopf gesenkt wird. Und dann zum Tier geht, es anfasst. Spürt: Es ist noch warm und noch nicht ganz tot. Deshalb schießt er noch mal. Direkt in die Schläfe.
Rennend lässt Paul seine Hand an den Hals schnellen. Er tastet ihn ab. Da ist kein Blut, keine Verletzung. Da ist nur Haut. Gesunde, heile Haut. Sie ist ein bisschen uneben. Von den ersten Bartstoppeln, die er nicht wegrasiert hat am Morgen. Schweißperlen hängen darin. Paul wischt sie weg. Rennt weiter. Irgendwo muss er doch kommen, der Wald.
Mirjam streicht mit der Hand über Achuras Haar. Es ist weich, lockig. Im Nachttischlampenlicht wirkt es dunkelbraun und nicht schwarz. Mirjam saugt den Geruch ein. Achura-Haar, denkt sie und legt ihre Wange näher an die Achuras. Achura schläft tief. Vorsichtig fährt Mirjam mit der Hand über Achuras Gesicht. Über die geschlossenen Lider, die Nase, die Lippen. Die Haut ist trocken und bröckelig. Achuras Wimpern sind verklebt. Mirjam überlegt, wie sie aussehen wird, wenn sie später aufwacht. In einigen Stunden. Wie sie dann noch müde mit der Hand das Bett abtastet, die Augen öffnet und merkt: Mirjam ist nicht mehr da.
Mirjam windet sich aus der Decke. Im Schlafzimmer ist es kühl. Sie schleicht zum Fenster. Es ist gekippt, lässt eisige Luft und das Wummern der Straße hinein. Vorsichtig schließt Mirjam es, zieht den Vorhang zu. Achura soll nicht gestört werden von den Lichtern der Stadt. Mirjam sucht ihre Kleidung zusammen. Die abgetragene Jeans, das graue Oberteil mit dem Rundhalsausschnitt. Beim Anziehen muss sie ihren Kopf da durchzwängen. Mirjam tappt ins Bad, schaut sich an im Spiegel. Sie ist blass. Hat Ringe unter den Augen. Sieht nicht aus, als wäre sie bereit, denkt sie kurz. Sie putzt die Zähne, scheuert Achuras Geschmack aus ihrem Mund. Bürstet das Haar, bindet es zusammen. Jetzt sieht sie hart aus, findet sie. Wie eine, der nichts passieren kann.
Im Spiegelschrank liegt Mirjams Schmuck neben der Handcreme. Das goldene Armband mit dem grünen Stein, der silberne Ring. Den hat ihr ihre Mutter nach der Scheidung geschenkt. Die Ohrringe mit den Perlen, die sie eigentlich verschenken wollte, aber dann doch behalten hat. Sie sind so schön. Mirjam räumt den Schmuck in das Holzkästchen mit den Haarklammern und schließt es. Dann muss Achura den Schmuck nicht jeden Tag sehen. Mirjam wird keine Spur hinterlassen in der Wohnung. Ihre Kleidung hat sie in Kartons verstaut und in die Abstellkammer gebracht. Im Flur steht ihr Koffer direkt neben der Tür. Sie muss ihn nur hochnehmen, die Tür hinter sich schließen, und dann ist sie weg.
Für eine Weile lässt Mirjam sich auf den Badewannenrand sinken. Sie beerdigt ihr Gesicht in den Händen. Verdunkelt mit den Fingern die Augen. Aber die können es nicht ganz dunkel machen, die können die Bilder nicht aufhalten. Die Bilder, die vor ihren Augen aufblitzen: ein Flugzeug von innen, der staubige Boden einer Stadt, ihre Füße, die darüber laufen, Hitze, die am Abend durch die Gassen fegt.
Mirjam rappelt sich hoch, wäscht ihr Gesicht mit warmem Wasser, verlässt das Bad, die Wohnung, das Haus. Steht im Lärm der Straße. Springt in die U-Bahn. Sieht nichts, außer den Tunnel, durch den die Bahn rast. Steigt aus am Flughafen. Irgendwo muss Bela sein.
Das Fenster in Spes’ Zimmer ist geschlossen. Spes drückt ihre Nase an die Scheibe. Ihr Atem hinterlässt einen Abdruck. Eigentlich sollte Spes schon schlafen, aber sie ist wach und sitzt aufrecht im Bett. Sie will sich das festfrierende Gras ansehen. Wie der Tau auf den Gräsern zu glänzen beginnt. Wie vielleicht sogar Schnee darüber fällt und die stoppelige Wiese ein weiches Feld wird. Im Garten ist es dunkel. Spes kann die Halme nur sehen, wenn eine Katze vorbeiläuft und den Bewegungsmelder auslöst. Die Halme leuchten im kalten Licht. Spes blinzelt und fängt das Bild ein. Spes’ Augen sind eine Fotokamera. Mit der Hand streicht Spes einmal von der Stirn bis zur Nase. Das ist ihr Speichervorgang. Das macht, dass das Bild jetzt archiviert ist, für immer.
Spes’ Arme sind eingepackt. In weiße Binden. Darunter saugt ihre Haut hungrig Creme auf. Die Haut wird nicht satt, auch nicht, als die Creme schon weg ist. Die Haut brennt, damit Spes merkt: Die Haut will mehr. Die Haut will auch an den Binden nagen. Aber die sind zäh. Spes will die Binden abreißen. Das geht nicht. Das darf sie nicht. Das kann sie nicht. Ihre Hände sind auch eingewickelt, sie sind zwei große Fäuste, von denen nur die Daumen abstehen. Wie soll sie damit den Anfang vom Verband finden? Der Haut ist das egal. Die Haut will an die Luft. Eigentlich weiß Spes: Wenn die Haut draußen ist, wird es noch schlimmer. Weil sie dann gar keine Ruhe mehr gibt. Und die Hände nicht aufhören können, den restlichen Körper zu kratzen. Und wenn die Hände kratzen, blutet es und alles tut weh. Wenn die Haut an der Luft ist, muss man sie sofort ersticken mit Creme. Sonst gibt es nur Hautgeschrei.
Der rechte Daumen fummelt an dem Verband der linken Faust. Er schabt, gräbt und hört nicht auf. Spes hat den Anfang gefunden. Die rechte Faust wickelt die linke aus. Das ist das, was Spes wollte. Sie schaut die Haut an. Erkennt nicht viel im Dunkeln. Nur, dass das Rot nachts grau aussieht. Die Haut wird immer grau unter dem Verband, weil das Rotleuchten sich nicht lohnt.
Die Creme steht nicht an Spes’ Bett, sondern auf der anderen Seite des Zimmers im Regal mit den Verbänden und Medikamenten. Da kommt Spes nicht dran. Da darf sie auch nicht dran. Sie darf auch gar nicht alleine aus dem Bett. Wenn sie zur Toilette muss, klingelt sie. Jetzt kann sie nicht mehr zur Toilette müssen, weil der Verband ab ist. Das gibt Ärger.
Die Haut zischt. Die Haut will nass sein. Die Haut will aufsaugen. Spes hat nichts außer etwas Spucke im Mund. Brennen. Immer heftigeres Brennen. Früher, als Spes kleiner war, hat sie gedacht, sie stamme von Feuervögeln ab. Die verbrennen einfach so, wenn sie keine Lust mehr haben auf sich selbst. Jetzt denkt Spes das nicht mehr. Jetzt nimmt Spes ihre Zunge. Und fährt über den Arm. Vielleicht reicht der Haut das ja. Wenigstens kurz.
Paul stolpert und fällt. Er liegt auf der braunen Erde. Schlamm haftet an seinen Händen. So etwas hat er lange nicht mehr gefühlt. Es ist dunkel. Nirgendwo leuchtet eine Laterne. Sein Handy hat den Geist aufgegeben. Es liegt nutzlos in seiner Hosentasche. Paul richtet sich auf und schmiert den Schlamm an seinen Oberschenkeln ab. Bemerkt, dass seine Handflächen aufgerissen sind. Der Dreck brennt in den Wunden. Irgendwo muss er ein Taschentuch haben. Paul durchsucht seine Jacke, er findet nur ein benutztes. Er entscheidet, die Hände brennen zu lassen, und stapft weiter. Diesmal langsamer, vorsichtiger. Nicht, dass er wieder einen Graben zwischen den Feldern übersieht. Wieder stürzt, sich wieder aufraffen muss. Pauls Beine fühlen sich schwer an. Im Handgelenk zieht es. Vielleicht ist es verstaucht, denkt er und umklammert es mit der anderen Hand. Das stabilisiert. Der Mond ist nicht zu sehen. Auch keine Sterne. Paul hat gedacht, der Himmel über dem Nichts wäre mit Sternen nur so übersät. Aber er ist noch zu nah an der Stadt. Die strahlt sogar bis hierher. Die Landschaft liegt in Blautönen übereinander. Sie ist aus Kälte zusammengesetzt. Alles friert, nur der Schlamm nicht.
Paul denkt an den Morgen. An den, der kommen wird. An sein Gesicht, das ab Sonnenaufgang überall sein wird. Und sein abgedruckter Name in voller Länge. Nicht nur ein Kürzel aus drei Buchstaben wie sonst unter seinen Artikeln. In jeder Zeitung werden Fotos von ihm sein, wie er frontal in die Kamera schaut. Mit neutralem, kühlem Blick. Damit alle denken können: Oh Mann, der sieht schon so gestört aus.
Vielleicht entscheiden sie sich auch für sein Bewerbungsfoto. Da sitzt er halb schräg, in Anzug und mit weißem Hemd auf einem Hocker und lacht. Lacht nur mit den Lippen, nicht mit den Augen. Er sieht nett aus. Sieht aus, wie alle auf einem Bewerbungsfoto aussehen: sympathisch normiert.
Paul überlegt, wann er das letzte Mal auf Feldern unterwegs war. Wann er das letzte Mal nachts nicht wusste, wohin mit sich. Paul fällt nichts ein. Nur diese eine Nacht taucht wieder auf. Diese eine Nacht, in der er mit dieser einen Frau durch die bunt beleuchteten Straßen zieht. Sie ist angespannt und versucht nicht mal, es zu verbergen. Sie spricht nicht viel. Braucht, bis sie anfängt aufzutauen. Mit dem grauen Hosenanzug sticht sie in dieser Gegend heraus. Es war ihre Idee, hierherzukommen, und er weiß nicht, warum. Weiß nicht so recht, warum sie mit ihm den Abend verbringen will. Sie, die mit so vielen anderen hier sein könnte. Weil sie eben eine ist, die alle mögen, ohne, dass sie etwas dafür tun muss. So wie Mirjam. Nur ganz anders.
Vielleicht findet sie ihn auf eine lächerliche Art unterhaltsam. Zumindest lacht sie auf, als ihm die gebratenen Nudeln auf die Hose gleiten. Sie isst geschickt mit Stäbchen. Er lächelt unsicher, holt sich eine Gabel von der Theke. Versucht ab und an, ihr in die Augen zu schauen. Sie lässt ihn nicht. Weil sie enttäuscht ist von ihm. Weil sie dachte, privat wäre er ganz anders. Vielleicht besonders lustig oder charmant, oder er würde über Politik diskutieren. Aber er macht nichts, außer gebratene Nudeln zu essen, und das auch noch schlecht. Er versucht ein Gespräch, aber mit Menschen, die er nicht gut kennt, gelingen sie nie. Die Frau ist erst seit einigen Wochen seine Kollegin und in allem so souverän. Fast beiläufig hat sie ihn auf dem Flur gefragt, ob sie mal was machen wollen, nach Feierabend.
Jetzt fragt sie ihn ein bisschen nach seiner Kindheit. Und er erzählt, wie immer, von der Kneipe seiner Mutter und den alten Kerlen, die dort Dart gespielt haben. Erzählt, wie er als Grundschulkind die Pfeile manipuliert hat, wenn einer der Kerle einen dummen Spruch über seine Mutter gemacht hat.
Sie lacht. Sagt, dass sie aufgewachsen ist in diesem Viertel. Dass dieser Imbiss mal ihren Eltern gehört hat, vor langer Zeit. Dass sie deshalb gelegentlich hier herkommt.
Er fotografiert sie, wie sie verträumt in das Aquarium schaut. Fotografiert, wie sich ihr Gesicht in der Scheibe spiegelt. Sie sagt, sie will nicht, dass er ein Foto von ihr hat. Und er sagt: »In Ordnung«. Und fotografiert sie nur noch heimlich. Von hinten, wie sie durch die Straßen geht, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Und so gar nicht in das Viertel passt. So gar nicht in den Ort. Sie muss es hier hassen, denkt Paul. Dass sie hier gerne aufgewachsen ist, glaubt er ihr nicht. Kurz will er seine Hand aus der Manteltasche ziehen und sie über ihre stülpen. Aber dann würde sie »Lass das!« brüllen. Und ihn anfunkeln mit ihren Augen. Und er würde nichts sagen können außer: »Entschuldigung.« Und sich wünschen, er hätte es gar nicht versucht mit der Hand. Nicht bei ihr, sie hat so etwas Heiliges. Oder Berührungen sind für sie etwas Heiliges. Oder vielleicht sind sie auch für ihn heiliger als für sie. Wer weiß.
Sie geht weiter in den engen Gassen mit den Schaufenstern voller Vibratoren und den Drogenabhängigen auf dem Bürgersteig und er läuft hinterher und weiß: Sie ist enttäuscht von ihm. Sie wird ihn nicht wiedersehen wollen. Weil er zu langweilig ist für sie und zu ruhig. Weil man mit ihm nicht mal über Politik reden kann, weil er immer, wenn sie eine steile These formuliert, murmelt: »Ich bin mir wirklich unsicher, was das angeht.«
Die Gassen winden sich so, dass sie perfekt darin verschwinden kann. Einfach so. Einfach, wie durch Zufall. Sie ist weg und wird sich nicht mehr melden. Wird ihm nur noch zunicken auf dem Flur und wenn sie jemand fragt, wie er eigentlich privat so ist, sagt sie: »Ich glaube, bei dem gibt es kein privat.«
Dann zuckt sie die Achseln, sieht ihn irgendwann auf der Bühne stehen, bei dieser Gala, und denkt dann: Wie absurd, dass es diesen Abend gab.
Achura tut so, als würde sie das Zuziehen der Tür nicht hören. Sie lauscht, wie Mirjams Schritte im Treppenhaus leiser werden. Dann ist es still. Nur das Kühlschranksurren ist zu hören. Sie zieht die Decke über ihren Kopf. Ihr Atem sammelt sich darunter. Unter der Decke ist es warm, doch die Müdigkeit lässt Achura frieren. Sie schaut auf die Uhr. Es sind noch einige Stunden bis zum Morgen. Einige Stunden, bis alles losgehen wird. Bis in ihrem E-Mail-Fach sekündlich neue Nachrichten aufblitzen und ihr Handy dauerhaft vibrieren wird, bis sie stammelnd Worte zusammensuchen muss, um sich bei der Vorsitzenden zu erklären. Bis das Internet überquillt mit Bildern und Memes von ihr. Bis dieses Video viral geht und alle sehen, wie Achura auf dem Klappstuhl auf der Bühne sitzt. Und das sagt.
Sie hat es wirklich gesagt. Zumindest hat sie es gedacht, beim Sprechen. Und was man beim Sprechen denkt, sagt man, oder nicht? Achura dreht sich um, auf die andere Seite. Jetzt liegt sie mit dem Gesicht zur Wand. Sie schiebt die Decke von Mund und Nase. So kann sie freier atmen. Sie starrt auf das gestrichene Weiß, das wirkt grau im Dunkeln. Achura hat es wirklich gesagt. Und für einen kurzen Moment glaubt sie: Damit hatte ich recht.
Das Tageslicht flimmert über der Startbahn. Ein Schwarm Vögel sitzt auf der Wiese neben dem Rollfeld. Mirjam weiß: Manchmal geraten Vogelschwärme in die Triebwerke und sterben in Scharen. Bleibt sitzen, Vögel. Bis wir abgeflogen sind, denkt sie.
Mirjam schaut rüber zu Bela. Der tippt die letzte Nachricht vor dem Abflug. An seine Frau vielleicht, oder an die Redaktion. Bela riecht nach herbem Deo. Nach Aftershave, nach ein bisschen zu viel Parfüm. Mirjam schmunzelt. Vor jeder Reise parfümiert Bela sich vor. Als würde der Geruch dann länger halten. Die ganzen Wochen, die sie nicht da sein werden. Ihr Gepäck liegt im Flugzeugbauch. Nur die Kamera hat Bela mit ins Handgepäck genommen und sie unter dem Sitz verstaut. Der Flugbegleiter geht durch die Reihen, kontrolliert die Gurte. Dann rollt das Flugzeug, beschleunigt auf der Bahn und hebt ab. Auf Mirjams Ohren liegt Druck. Sie schluckt, kaut, schluckt. Das gleicht ihn aus.
Paul wacht auf dem Metallsitz einer Bushaltestelle auf. Sein Hals brennt, er hat Durst. Vielleicht auch Hunger. Es ist hell geworden. Trüb, aber hell und so, als wäre der Himmel bereit für einen Schwall Regen. Pauls Füße sind eisig. Er bewegt sie, um sie aufzutauen. Will aufstehen, bleibt aber sitzen. Nicht, dass er umknickt. Im Tageslicht schaut er auf seine Hände. Er hat Schürfwunden in beiden Handflächen. In der rechten Hand hat sich schon Kruste gebildet. In ihr sind die Kratzer weniger tief als in der linken. Da hat es zwar aufgehört zu bluten, aber die Haut ist offen. In der Jackentasche sucht Paul nach seiner Brille und findet sie gleich. Er hat nur Brille, Geldbeutel und das funktionslose Handy dabei. Und den Haustürschlüssel zu seiner Wohnung. Ob er den noch einmal benutzen wird? Paul glaubt nicht. Setzt die Brille auf und späht auf den Fahrplan. Er hat keine Ahnung, wie spät es ist. Erkennt, dass jede Stunde ein Bus kommen soll. Aber erst ab acht. Paul überlegt, ob er warten soll. Ob es vielleicht erst sechs Uhr ist oder vielleicht schon kurz vor oder kurz nach acht. Mag sein, dass der erste Bus an ihm vorbeigerauscht ist, als er geschlafen hat. Paul weiß nicht viel über den Morgen. Weiß nicht, wann die Sonne aufgeht, in diesem Monat. Normalerweise ist er so früh noch nicht wach. Normalerweise liegt er um diese Zeit im Bett. In dem warmen Wasserbett. Das strahlt von unten Hitze ab. Neben ihm schläft der Hund. Erst wollte Paul nicht, dass er mit ins Bett kommt. Dann hat er sich dran gewöhnt. An die nasse Schnauze neben ihm. An das Hundeschnarchen. Und nach ein paar Wochen konnte Paul ohne den warmen Hundekörper neben sich nicht mehr einschlafen. Jetzt ist der Hund alleine in der Wohnung. Vielleicht hätte Paul ihn doch mitnehmen können, vielleicht wäre es gegangen, vielleicht hätte er nicht direkt ins Auto springen und davonrasen müssen, sondern es geschafft, noch einmal in die Wohnung zu kommen, den Hund an die Leine zu nehmen, damit der mitkommt. Gemeinsam mit dem Hund wäre das Verschwinden vielleicht leichter, denkt Paul. Aber der Hund ist nicht da. Er will nicht an ihn denken, sich nicht vorstellen, wie er schon alles vollgepinkelt hat, wie er auf Paul wartet und jault. So lange, bis die in den angrenzenden Wohnungen die Polizei rufen. In dem Neubau in der Innenstadt sind die Leute geräuschempfindlich.
Alle werden denken: Paul ist tot. Werden denken: Paul hat sich umgebracht. Sie werden sein Auto finden am Straßenrand. Dann werden sie zu dem See gehen. An dem hat Paul seinen Pullover am Ufer liegen lassen. Und ein Paar Schuhe. Taucher werden kommen. Ihn nicht aufspüren können. Irgendwann wird es ihnen egal sein. In der Wohnung entdeckt niemand einen Abschiedsbrief. In der Wohnung ist nur der einsame Hund.
Alle werden sagen: Hätte ich an seiner Stelle auch gemacht. Das ist das Beste für ihn. Der wird doch seines Lebens nicht mehr froh.
Jemand wird einen Artikel über ihn schreiben. Darin wird stehen: Dass seine Leiche noch nicht gefunden wurde, verwundert nicht. Er hat noch nie Spuren hinterlassen. Warum sollte er beim Sterben damit anfangen?
Darunter drucken sie sein Bewerbungsbild. Das, auf dem er lacht. Für Tote nimmt man nettere Bilder. Weil man mit ihnen mehr Mitleid hat als mit den Lebenden.
In Pauls Füßen schmerzt die Kälte. Er hätte diese Schuhe am Seeufer stehen lassen sollen und nicht die gefütterten für den Winter.
Paul weiß noch, wie er mit diesem Jugendlichen an einem ähnlichen See sitzt und der Jugendliche versucht, nicht vor Paul zu weinen. Und es dann doch macht. Weil er eben ein Jugendlicher ist. Paul denkt daran, wie er sich als Jugendlicher auch nicht zusammenreißen konnte und ständig heimlich geweint hat.
Der Junge ist nervös. Der Junge will eigentlich nicht sprechen, mit niemandem. Der Junge will nicht, dass es Fotos von ihm gibt. Paul verspricht: »Ich mache nur ein Foto von dem See. Nicht von dir.«
Der Junge nickt. Starrt auf das glatte Wasser. Darauf spiegeln sich Baumkronen. Der See wirft keine einzige Welle. Es ist windstill. Zeit scheint nicht zu vergehen. Der Junge mag, dass Paul so ruhig ist. Anders ist als die anderen, die ihn mit Fragen löchern, die sich wichtigmachen. So tun, als würden sie ihn verstehen. Unsicher schielt der Jugendliche zu Paul herüber, tastet mit den Augen das Gesicht ab. Die markanten Wangenknochen, das spitze Kinn. Der klare Blick. Niemand spricht. Warum auch. Paul fragt nichts. Paul hat sich auch keine Fragen überlegt. Er hat sich nur entspannt an einen der morschen Bäume am Ufer gelehnt und schaut auf die Wasseroberfläche.
Er weiß, dass der Junge anfängt zu reden, wenn er spürt, dass Paul auf nichts hinauswill. Wenn er merkt, dass Paul nichts von ihm erwartet.
»Hast du Geschwister?«, fragt der Junge.
»Drei.«
»Drei?«
»Ja.«
»Warum hast du drei Geschwister?«
Paul lacht. Zieht ein Kaugummi aus seiner Hosentasche, reicht es dem Jungen. Der nimmt es, wickelt das Papier ab. Knetet das Kaugummi mit den Fingern.
»Da musst du meine Eltern fragen«, antwortet Paul.
»Ist ungewöhnlich, oder nicht? Drei Geschwister.«
»Alles ist ungewöhnlich.«
»Würdest du sagen, ich habe Geschwister?«, fragt der Junge.
»Hm«, überlegt Paul. »Ich würde sagen, du hast einen verstorbenen Bruder.«
»Schreibst du das so?«
»Wenn du das möchtest.«
»Was würdest du über deine Geschwister schreiben?«, fragt der Junge.
»Drei Arschlöcher.«
Der Junge lacht. Das Kaugummi in seinen Fingern ist weich geworden, von der Nervosität.
»Würdest du das über meinen Bruder auch schreiben?«
»Nein. Der ist ja kein Arschloch.«
»Du musst nichts Nettes sagen.«
»Über Tote sagt man immer nettere Sachen«, murmelt Paul.
»Aber wenn du ehrlich wärst, würdest du schreiben, ein Arschloch hat sich umgebracht?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Weiß ich nicht.«
Die beiden schweigen. Schauen in den Himmel. Da sind Wolken, durch die die Sonne nicht dringt.
»Würdest du schreiben, dass mein Bruder ein sadistisches Arschloch war?«
»So würde ich das nicht formulieren.«
»Sondern?«
»Ich würde eine Frage stellen. Ich würde mich fragen, was war los mit diesem Jungen?«
»Würdest du das auch fragen, wenn mein Bruder sich nicht umgebracht hätte?«
»Wahrscheinlich nicht.«
Der Junge versucht bitter zu lachen, aber er kann nur krächzen. Kann nur versuchen, wie ein Erwachsener auszusehen, kann nur versuchen, so bitter zu sein. Paul sieht: Der Junge ist alles andere als bitter.
»Dein Bruder hat diese Politikerin ganz schön fertiggemacht«, sagt Paul.
»Ja.«
»Tut dir das leid?«
»Für wen?«
»Für die Politikerin.«
»Keine Ahnung.«
»Meinst du, deinem Bruder tat das leid?«
»Nein.«
»Er hat sich umgebracht.«
»Aber nicht deswegen.«
»Sicher?«
»Ja. Seine Freundin hat sich von ihm getrennt. Damit kam er nicht klar.«
»Das ist doch total Neunziger, sich wegen der Freundin umzubringen. Das macht doch heute keiner mehr.«
»Doch.«
Paul steht auf, tritt näher an den See. Der Junge folgt ihm. Stellt sich nah neben ihn. Das Gerippe eines toten Baumes ragt über die Wasseroberfläche. Paul holt die Kamera hervor. Fotografiert die Spiegelung im Wasser. Das Gerippe sieht aus wie ein zerborstener Brustkorb. Unsicher tritt der Junge näher heran, merkt nicht, dass er sich im Wasser spiegelt. Merkt nicht, dass Paul ihn fotografiert. Sein verschwommenes Gesicht, seinen zittrigen Körper. Seine seltsame Kleidung. Das Verkrampfte, das Steife.
Paul schaut die Straße hinunter. Da kommt kein Bus. Da wird vielleicht auch gar kein Bus kommen. Bestimmt wurde die Haltestelle dichtgemacht und man hat nur vergessen, den Fahrplan abzuhängen. Paul steht auf. Er muss weiter. Die Beine fühlen sich wacklig an bei den ersten Schritten. Dann tauen sie auf. Über den Feldern steht Nebel. Kurz denkt Paul: Im Nebel müsste ich sein.
Stöhnend spuckt die Maschine Kaffee in eine Tasse. Dabei stößt sie kleine Dampfwolken aus. Die riechen nach Kalk. Draußen ist es hell. Alle wimmeln über die Straßen. Nur Achura ist drinnen. Als Einzige vielleicht. Ihr Handy liegt in ihrer Hand, es ist auf laut gestellt. Nur einmal hat es vibriert, weil ihr DHL-Paket bald geliefert wird. Achura hat ihr E-Mail-Postfach wieder und wieder kontrolliert. Darin finden sich nur Newsletter und Einladungen zu Konferenzen. Auf YouTube hat sie ihren Namen eingegeben, aber da kommen nur die Beiträge, die sie schon kennt: Achura im Regionalfernsehen; Achura, wie sie der Ministerpräsidentin Blumen überreicht; Achura, wie sie in einem Fernsehsender ein kurzes Statement abgibt. Kein Video von gestern. Auch in der Newsspalte bei Google ist nichts. Einen einzigen Kommentar findet sie auf der Website der Jugendorganisation ihrer Partei. Da steht:
»Wir danken auch unserer Abgeordneten für ihr Kommen, die Rede und das Gespräch zu unserem Herbstfest gestern. Danke!«
Sie haben kein Foto von ihr hochgeladen und kein Video. Nicht das Redemanuskript oder ein Zitat aus dem Gespräch auf der Bühne nach der Rede.
Vielleicht hat niemand ihre Rede und das moderierte Gespräch auf den Klappstühlen danach mitbekommen. Vielleicht standen alle einfach nur nah an der Bühne und waren in Gedanken ganz woanders. Bei den Bratwürsten draußen, dem Bierstand. Oder haben es egal gefunden, was Achura gesagt hat. Sie wählen sie eh. Es ist ihr Wahlkreis. Vielleicht waren alle schon ziemlich betrunken und haben nur darauf gewartet, dass das offizielle Programm endlich vorbei ist.
Achura denkt an ihre Zeit bei der Jugendorganisation. Da hat sie entweder brav Tee getrunken und alle Redebeiträge aufgesaugt, wie ein Schwamm, hat die anderen in Gespräche verwickelt und sich an die Fersen von den Abgeordneten geheftet. Oder sie hat sich volllaufen lassen. So richtig. Hat morgens angefangen mit Bier und nachmittags weitergemacht mit Wein und abends getanzt bei Schnaps.
Gestern muss ein Volllauftag gewesen sein, sonst hätten sie sich doch schon alle empört. Oder nicht?
Vielleicht haben sie kein Video hochgeladen, weil sie vergessen haben, eins zu machen. In der Jugendorganisation sind manche noch so verträumt. Bauen die Kamera auf, vergessen dann aber, auf Record zu drücken. Oder es gibt ein Video und sie teilen es nicht. Weil sie genau wissen, was darauf ist. Weil sie gesehen haben, wie Achura sich nach der Rede auf den schwarzen Klappstuhl auf der Bühne setzt. Wie die Studentin ihr das Mikrofon reicht. Wie die Studentin anfängt zu moderieren und Achura charmant lacht über die Frage und sie beantwortet, ganz nett. Wie sie irgendwann immer nervöser wird. Wie der Speichel zu viel wird in ihrem Mund. Und keinen Platz lässt für gescheite Worte. Wie ihre Lippen beben bei diesem einen Thema. Da kann sie nicht ruhig bleiben. Egal, ob sie auf einer Bühne oder mit Mirjam in der Küche diskutiert. Egal, wie sehr sie sich anstrengt, wie sie darum kämpft, sich zusammenzureißen.
Ich kann das doch, mit dem Zusammenreißen, denkt sie. Das habe ich mir doch beigebracht. Das muss ich doch endlich schaffen. Auch bei diesem Thema.
Wie sie keine Worte findet, in dem Moment auf der Bühne. Wie sie denkt: Halte das Mikro weg vom Mund. Aber ihre Hand krampft darum. Unter ihren Achseln sammelt sich Schweiß. Sie trägt ein ärmelloses Top, damit das Schwitzen nicht so auffällt wie bei einem T-Shirt. Das hat sie gelernt in all den Jahren.
Die Studentin starrt Achura an. Nach ihrem Satz. Ist perplex, versteckt sich hinter den Moderationskarten, sucht eine neue Frage, ein neues Thema. Aber dann hakt sie doch nach. Weil sie das nicht so stehen lassen kann. Natürlich nicht.
Achura spürt, wie sie wütend wird. Wie ihr Blut durch den Körper rast, heiß. Wie ihre Haut glüht und die Augen brennen. Wie die richtigen Wörter, wie die sanften, die, mit denen man jeden auf seine Seite ziehen kann, nicht mehr da sind. So als würde Achura sie nicht kennen. Achura stottert herum, denkt, sucht. Findet nichts. Da hockt nur dieser eine Satz in ihrem Hals. Der wird dicker und dicker, der drückt ihr die Luft ab, der will raus. Der wird sich nicht verstecken hinter Höflichkeiten. Weil man in dieser Frage nicht höflich sein darf. Weil man es manchmal auch sagen muss, wie es ist.
Achura hustet. Achura bricht das Haspeln ab, schweigt kurz, sagt dann, was sie denkt. Ganz laut und ganz klar.