Jacobs Zimmer - Virginia Woolf - E-Book

Jacobs Zimmer E-Book

Virginia Woolf

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Der stille junge Mann«, heißt es von Jacob Flanders, und: »wie besonders er aussieht«. Er hat das College in Cambridge verlassen und lebt in London. Flüchtige Freundschaften und Liebeserlebnisse lassen ihn spüren, wie einsam er mit seinem vielleicht nicht mehr zeitgemäßen Weltbild ist. Mehr und mehr zieht er sich in sein Zimmer und seinen eigenen geistig-seelischen Bereich zurück, liest bis spät in die Nacht Autoren der griechischen und römischen Antike und der elisabethanischen Zeit. Auf einer Reise nach Italien und Griechenland will er die klassischen Kunstdenkmäler als den Ausdruck von Einheit und Größe erleben, der seinem Ideal entspricht. Ist es das, was er erlebt? Nach seiner Rückkehr findet er den Kontakt zur Gegenwart nicht mehr. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen; Jacobs Spur verliert sich in Flandern. In sein Zimmer dringen jetzt durch das offene Fenster die Laute des modernen Lebens. Mit ihrem dritten Roman hat Virginia Woolf den entscheidenden Schritt in ihrer künstlerischen Entwicklung getan. Flüchtige Sinneswahrnehmungen, Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen, wie mit dem Blick des Malers eingefangene Impressionen, das sind die Mittel, die sie nun bewußt einsetzt. Mit vierzig Jahren, schrieb Virginia Woolf in ihr Tagebuch, habe sie herausgefunden, »wie ich es anfangen muß, etwas mit eigener Stimme zu sagen.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 307

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Virginia Woolf

Jacobs Zimmer

Roman

Herausgegeben von Klaus Reichert

Übersetzt von Heidi Zerning

FISCHER E-Books

Inhalt

IIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVNachbemerkung

I

»So blieb eigentlich«, schrieb Betty Flanders und grub die Hacken noch tiefer in den Sand, »nichts anderes als wieder abzureisen.«

Langsam entquoll der Spitze ihrer Goldfeder blaßblaue Tinte und löste den Punkt auf; denn hier stockte ihre Feder; ihre Augen standen still, und langsam füllten sie Tränen. Die ganze Bucht zitterte; der Leuchtturm wackelte; und sie hatte die Illusion, daß der Mast von Mr Connors kleiner Jacht sich verbog wie eine Wachskerze in der Sonne. Sie blinzelte rasch. Unfälle waren etwas Schreckliches. Sie blinzelte noch einmal. Der Mast war gerade; die Wellen waren regelmäßig; der Leuchtturm war lotrecht; aber der Klecks hatte sich ausgebreitet.

»… nichts anderes als wieder abzureisen«, las sie.

»Also wenn Jacob nicht spielen will« (der Schatten von Archer, ihrem ältesten Sohn, fiel über das Briefpapier und sah auf dem Sand blau aus, und sie fröstelte – es war schon der dritte September), »wenn Jacob nicht spielen will« – was für ein scheußlicher Klecks! Es muß schon spät sein.

»Wo ist dieser kleine Quälgeist?« sagte sie. »Ich sehe ihn nicht. Lauf und such ihn. Sag ihm, er soll sofort kommen.« » … doch gottlob«, schrieb sie hastig und bekümmerte sich nicht um den Punkt, »scheint alles zur Zufriedenheit gelöst, wenn wir auch wie Heringe ins Faß gepfercht sind und den Kinderwagen hinausstellen müssen, was die Wirtin natürlich nicht dulden will …«

Solcherart waren Betty Flanders' Briefe an Kapitän Barfoot – etliche Seiten lang, tränenfleckig. Scarborough ist siebenhundert Meilen weit von Cornwall: Kapitän Barfoot ist in Scarborough: Seabrook ist tot. Tränen ließen alle Dahlien in ihrem Garten zu roten Wogen verfließen und blitzten ihr das Gewächshaus in die Augen und bestirnten die Küche mit blinkenden Messern und brachten Mrs Jarvis, die Pfarrersfrau, beim Gottesdienst, während die Choralmelodie erklang und Mrs Flanders sich tief über die Köpfe ihrer kleinen Jungen neigte, auf den Gedanken, daß die Ehe eine Festung ist und Witwen einsam auf weiter Flur umherirren, Steine aufklauben, einzelne goldene Strohhalme auflesen, allein, unbeschützt, arme Geschöpfe. Mrs Flanders war nun seit zwei Jahren Witwe.

 

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer.

 

»Scarborough«, schrieb Mrs Flanders auf den Umschlag und setzte schwungvoll einen kräftigen Strich darunter; es war ihre Heimatstadt; der Mittelpunkt des Universums. Aber eine Briefmarke? Sie stöberte in ihrer Handtasche; hielt sie hoch mit der Öffnung nach unten; kramte dann in ihrem Schoß, alles so energisch, daß Charles Steele unter seinem Panamahut den Pinsel in der Schwebe hielt.

Wie die Fühler eines gereizten Insekts zitterte er regelrecht. Da bewegte sich diese Frau doch – machte gar Anstalten, aufzustehen – der Teufel hole sie! Er versetzte der Leinwand einen hastigen violettschwarzen Tupfer. Denn den brauchte die Landschaft. Sie war zu blaß – Grautöne flossen in Lavendeltöne, und darüber ein einzelner Stern oder eine weiße Möwe akkurat in der Schwebe – zu blaß wie gewöhnlich. Die Kritiker würden sagen, sie sei zu blaß, denn er war ein unbekannter Mann, der wenig beachtet ausstellte, bei den Kindern seiner Wirtinnen beliebt war, ein Kreuz an der Uhrkette trug und sich hoch erfreut zeigte, wenn seine Wirtinnen seine Bilder mochten – was sie oft taten.

 

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer.

 

Verärgert über den Lärm, doch kinderlieb, stocherte Steele nervös in den kleinen dunklen Spiralen auf seiner Palette.

»Deinen Bruder hab ich gesehn – deinen Bruder hab ich gesehn«, sagte er kopfnickend, als Archer, seinen Spaten hinter sich herziehend, an ihm vorbeizockelte und den bebrillten alten Herrn mißmutig anblickte.

»Da drüben – beim Felsen«, nuschelte Steele mit dem Pinsel zwischen den Zähnen, drückte ungebranntes Siena aus und blickte unverwandt auf Betty Flanders' Rücken.

»Ja-cob! Ja-cob!« schrie Archer und zockelte wieder weiter.

Die Stimme hatte eine außerordentliche Traurigkeit. Rein von allem Körper, rein von aller Leidenschaft, in die Welt hinausgehend, einsam, unerwidert, sich an Felsen brechend – so klang sie.

 

Steele runzelte die Stirn; war aber angetan von der Wirkung des Schwarz – eben der Ton, der alles zusammenbrachte. »Man kann auch mit Fünfzig noch malen lernen! Schließlich, Tizian …« und so, der richtige Farbton war glücklich gefunden, hob er den Blick und sah zu seinem Entsetzen eine Wolke über der Bucht.

Mrs Flanders stand auf, klopfte ihren Mantel von beiden Seiten ab, um den Sand auszuschütteln, und hob ihren schwarzen Sonnenschirm auf.

 

Der Felsen war einer jener ungeheuer massiven braunen oder eher schwarzen Felsen, die sich aus dem Sand erheben wie etwas Urtümliches. Rauh von krumpeligen Napfschnecken und spärlich bedeckt mit Locken aus getrocknetem Tang, da muß ein kleiner Junge die Beine weit auseinanderstrecken und sich recht heldenhaft fühlen, bevor er den Gipfel erreicht.

Aber dort, oben auf dem Gipfel, ist eine Mulde voll Wasser, mit sandigem Grund; mit einem qualligen Klümpchen an der Wand und ein paar Muscheln. Ein Fisch huscht hindurch. Die Fransen vom gelbbraunen Tang flattern, und hinaus schiebt sich eine opalschalige Krabbe –

»Oh, eine große Krabbe«, murmelte Jacob – und beginnt auf schwächlichen Beinen ihre Reise über den sandigen Grund. Jetzt! Jacob griff ins Wasser. Die Krabbe war kühl und ganz leicht. Aber das Wasser war trübe vom Sand, und so krabbelte Jacob hinunter, und wollte schon springen, seinen Eimer vor sich haltend, da sah er, völlig starr ausgestreckt, Seite an Seite, mit sehr roten Gesichtern, einen Mann und eine Frau, riesengroß.

Ein Mann und eine Frau, riesengroß (es war ein Tag, an dem die Geschäfte früh schlossen), lagen reglos ausgestreckt, die Köpfe auf Taschentüchern, Seite an Seite, nur wenige Fuß weg vom Meer, während zwei oder drei Möwen elegant den einlaufenden Wellen auswichen und sich bei ihren Schuhen niederließen.

Die großen roten Gesichter starrten von ihren Schnupftüchern zu Jacob hinauf. Jacob starrte zu ihnen hinunter. Dann, den Eimer festhaltend, sprang Jacob entschlossen und trabte davon, anfangs sehr gelassen, dann schneller und schneller, sobald die Wellen sahnig nahten und er Haken schlagen mußte, um sie zu vermeiden, und die Möwen stiegen vor ihm auf und schwebten hinaus und ließen sich ein Stückchen weiter wieder nieder. Eine große schwarze Frau saß auf dem Sand. Er rannte zu ihr.

»Nanny! Nanny!« rief er und schluchzte die Wörter auf dem Kamm jedes keuchenden Atemzuges heraus.

Die Wellen umfluteten sie. Sie war ein Fels. Sie war mit jenem Tang bedeckt, der mit einem Knall zerplatzt, wenn man draufdrückt. Er war verloren.

Da stand er. Sein Gesicht sammelte sich. Er wollte schon brüllen, als er zwischen dem schwarzen Reisig und dem Stroh unter der Klippe einen ganzen Schädel sah – vielleicht ein Kuhschädel, vielleicht ein Schädel mit allen Zähnen drin. Schluchzend, aber nicht mehr aus ganzer Seele, lief er weiter und weiter, bis er den Schädel in den Armen hielt.

 

»Da ist er!« rief Mrs Flanders, als sie um den Felsen herumkam und die gesamte Breite des Strandes in wenigen Sekunden durchmaß. »Was hat er denn da aufgegabelt? Leg das hin, Jacob! Wirf das sofort weg! Etwas Scheußliches, das weiß ich. Warum bist du nicht bei uns geblieben? Du ungezogener kleiner Junge! Jetzt leg es hin. Jetzt kommt, alle beide«, und sie fuhr herum, hielt dabei Archer an einer Hand und suchte mit der anderen Jacobs Arm zu packen. Aber der duckte sich und hob den losen Schafsunterkiefer auf.

Sie schwang ihre Handtasche, schloß die Finger fest um ihren Sonnenschirm, hielt Archer bei der Hand und erzählte die Geschichte von der Schießpulverexplosion, bei der der arme Mr Curnow das eine Auge verloren hatte, so eilte Mrs Flanders den steilen Weg hinauf und spürte die ganze Zeit über in den Tiefen ihres Gemüts ein vergrabenes Unbehagen.

Dort auf dem Sand unweit von dem Liebespaar lag der alte Schafsschädel ohne seinen Unterkiefer. Blank, weiß, windgeschmirgelt, sandgescheuert, ein keimfreieres Stück Knochen gab es nirgendwo an der Küste von Cornwall. Die Stranddisteln würden durch seine Augenhöhlen wachsen; er würde sich in Pulver verwandeln, oder ein Golfspieler würde eines schönen Tages beim Schlag nach dem Ball ein wenig Staub zerstieben – Nein, aber nicht in der Pension, dachte Mrs Flanders. Es ist ein großes Experiment, mit kleinen Kindern so weit zu verreisen. Kein Mann ist da, um beim Kinderwagen mitanzufassen. Und Jacob solch ein Wildfang; schon so eigenwillig.

»Wirf das weg, Liebchen, komm«, sagte sie, als sie auf die Straße gelangten; aber Jacob entschlüpfte ihr; und da der Wind auffrischte, zog sie ihre Hutnadel heraus, blickte aufs Meer und steckte sie neu fest. Der Wind frischte auf. Die Wellen zeigten jene Unrast, wie etwas Lebendiges, das unruhig die Peitsche erwartet, von Wellen vor einem Sturm. Die Fischerboote lehnten am Wasserrand. Ein blaßgelbes Licht schoß über die purpurne See; und verlosch. Der Leuchtturm ging an. »Nun kommt«, sagte Betty Flanders. Die Sonne glühte in ihre Gesichter und vergoldete die großen Brombeeren, die schwankend aus der Hecke ragten und die Archer im Vorbeigehen zu pflücken versuchte.

»Nicht trödeln, ihr beiden. Ihr habt nichts zum Umziehen«, sagte Betty, zog sie weiter und sah mit beklommenem Gefühl die so grell zur Schau gestellte Erde, mit den plötzlichen Lichtfunken von Gewächshäusern in Gärten, mit einer Art gelbschwarzer Veränderlichkeit, vor diesem lodernden Sonnenuntergang, dieser erstaunlichen Bewegtheit und Lebendigkeit der Natur, die Betty Flanders anrührte und in ihr Gedanken wachrief an Verantwortung und Gefahr. Sie packte Archers Hand. Pilgerte weiter den Hügel hinauf.

»Woran solltest du mich erinnern?« fragte sie.

»Ich weiß nicht«, sagte Archer.

»Ich weiß es auch nicht«, sagte Betty schlicht und humorvoll, und wer wollte bestreiten, daß solche Gedächtnisschwäche, wenn sie mit Überschwenglichkeit, Mutterwitz, schnurrigen Geschichten, sprunghaftem Wesen und Augenblicken von verblüffendem Wagemut, Humor und Tränenreichtum einhergeht – wer wollte bestreiten, daß in all solcher Hinsicht jede Frau liebenswerter ist als irgendein Mann?

 

So zum Beispiel Betty Flanders.

Sie hatte die Hand an der Gartenpforte.

»Das Fleisch!« rief sie aus und stieß die Klinke runter.

Sie hatte das Fleisch vergessen.

Da am Fenster war Rebecca.

 

 

Die Kärglichkeit von Mrs Pearces Gesellschaftszimmer wurde um zehn Uhr abends vollends hervorgekehrt, wenn eine mächtige Petroleumlampe mitten auf dem Tisch stand. Das grelle Licht fiel auf den Garten; überquerte schnurgerade den Rasen; beleuchtete einen Kindereimer und eine purpurne Aster und machte an der Hecke halt. Mrs Flanders hatte ihr Nähzeug auf dem Tisch gelassen. Da waren ihre großen Rollen weißen Baumwollgarns und ihre Stahlbrille; ihre Nadelbüchse; ihre braune, um eine alte Postkarte gewickelte Wolle. Da waren die Rohrkolben und die Hefte vom Strand;[1] und das von den Stiefeln der Jungen sandige Linoleum. Eine Schnake schoß von Ecke zu Ecke und schlug an die Lampenglocke. Der Wind blies schnurgerade Regenstöße über das Fenster, die silbrig aufblitzten, wenn sie das Licht durchquerten. Ein einzelnes Blatt pochte eilig, hartnäckig ans Glas. Draußen auf dem Meer tobte ein Sturm.

 

Archer konnte nicht schlafen.

Mrs Flanders beugte sich über ihn. »Denk an die Feen«, sagte Betty Flanders. »Denk an die lieben, lieben Vögelchen, die sich in ihre Nester kuscheln. Nun mach die Augen zu und sieh die alte Vogelmutter mit einem Wurm im Schnabel. Nun dreh dich um und mach die Augen zu«, murmelte sie, »und mach die Augen zu.«

Das Haus schien erfüllt von Gurgeln und Rauschen; die Zisterne floß über; Wasser gluckste und quiekste und strudelte durch die Rohre und strömte die Fenster hinunter.

»Was kommt so viel Wasser angestürzt?« murmelte Archer.

»Das ist nur das Badewasser, das abläuft«, sagte Mrs Flanders.

Draußen knackte etwas.

»Ob der Dampfer auch nicht sinkt?« sagte Archer und machte die Augen auf.

»Aber nein doch«, sagte Mrs Flanders. »Der Kapitän ist schon lange im Bett. Mach die Augen zu und denk an die Feen, die fest unter ihren Blumen schlafen.«

 

»Ich dachte schon, er schläft nie ein – solch ein Sturm«, flüsterte sie Rebecca zu, die sich über eine Spirituslampe im kleinen Zimmer nebenan beugte. Draußen rauschte der Wind, aber die kleine Flamme der Spirituslampe brannte ruhig, durch ein aufgestelltes Buch von der Wiege abgeschirmt.

»Hat er sein Fläschchen ausgetrunken?« flüsterte Mrs Flanders, und Rebecca nickte und ging zur Wiege und schlug die Bettdecke auf, und Mrs Flanders beugte sich darüber und sah besorgt nach dem Baby, das ruhig, aber stirnrunzelnd schlief. Das Fenster schlitterte, und Rebecca stahl sich wie eine Katze hinüber und verkeilte es. Die beiden Frauen tuschelten über der Spirituslampe, schmiedeten die ewige Verschwörung der Ruhe und sauberen Fläschchen, während der Wind tobte und plötzlich an den dürftigen Halterungen ruckelte.

Beide schauten sich nach der Wiege um. Ihre Lippen waren geschürzt. Mrs Flanders ging zur Wiege.

»Schläft er?« flüsterte Rebecca mit Blick zur Wiege.

Mrs Flanders nickte.

»Gute Nacht, Rebecca«, murmelte Mrs Flanders, und Rebecca redete sie mit Madam an, obwohl sie Mitverschworene waren, die die ewige Verschwörung der Ruhe und sauberen Fläschchen schmiedeten.

 

Mrs Flanders hatte die Lampe im Gesellschaftszimmer brennen lassen. Ihre Brille lag da, ihr Nähzeug; und ein Brief mit dem Poststempel von Scarborough. Sie hatte auch die Vorhänge nicht zugezogen.

Das Licht strahlte hinaus auf das Rasenstück; fiel auf den grünen Kindereimer mit dem goldenen Streifen drum herum und auf die Aster, die daneben heftig zitterte. Denn der Wind brauste über die Küste, warf sich an die Hügel und schwang sich in jähen Böen auf seinen eigenen Rücken. Wie er die kleine Stadt in der Mulde überzog! Wie die Lichter in seinem Zorn zu blinzeln und zu flattern schienen, Lichter im Hafen, Lichter in Schlafzimmerfenstern hoch droben! Und dunkle Wellen vor sich herrollend, raste er über den Atlantik und riß die Sterne über den Schiffen hierhin und dorthin.

Im Gesellschaftszimmer gab es einen Klick. Mr Pearce hatte die Lampe gelöscht. Der Garten ging aus. Er war nur noch ein dunkler Fleck. Jeder Zoll wurde beregnet. Jeder Grashalm wurde vom Regen niedergebogen. Augenlider wären vom Regen fest zugedrückt worden. Auf dem Rücken liegend hätte man nichts gesehen als Wirrwarr und heilloses Durcheinander – Wolken, die wirbelten und wirbelten, und etwas Gelbstichiges und Schwefliges in der Dunkelheit.

Die kleinen Jungen im vorderen Schlafzimmer hatten ihre Decken abgeworfen und lagen unter den Bettüchern. Es war heiß; arg stickig und dampfig. Archer lag ausgestreckt, den einen Arm über das Kissen geworfen. Er glühte; und wenn der schwere Vorhang sich ein wenig bauschte, drehte er sich um und öffnete halb die Augen. Der Wind bewegte sogar die Decke auf der Kommode und ließ ein wenig Licht herein, so daß die scharfe Kante der Kommode sichtbar wurde, die gerade nach oben verlief, bis eine weiße Gestalt sich blähte; und ein Silberstreif sich im Spiegel zeigte.

Im anderen Bett an der Tür lag Jacob und schlief, schlief fest, tief bewußtlos. Der Schafskiefer mit den großen gelben Zähnen drin lag zu seinen Füßen. Er hatte ihn an die eiserne Bettkante getreten.

Draußen strömte der Regen gerader und mächtiger herunter, denn der Wind legte sich in den frühen Morgenstunden. Die Aster war auf die Erde niedergeschlagen. Der Kindereimer war halb voll Regenwasser; und die opalschalige Krabbe kroch langsam am Boden im Kreis, suchte mit ihren schwächlichen Beinen die steile Wand zu erklimmen; versuchte es wieder und fiel zurück, und versuchte es wieder und wieder.

II

»Mrs Flanders« – »Die arme Betty Flanders« – »Die liebe Betty« – »Sie ist immer noch sehr anziehend« – »Merkwürdig, daß sie nicht wieder heiratet!« »Da ist natürlich Kapitän Barfoot – besucht sie jeden Mittwoch so regelmäßig wie ein Uhrwerk und nimmt nie seine Frau mit.«

»Aber das liegt an Ellen Barfoot«, sagten die Damen von Scarborough. »Die macht sich für niemanden Umstände.«

»Ein Mann hat nun mal gern einen Sohn – das steht fest.«

»Manche Geschwülste müssen rausgeschnitten werden; außer denen von der Sorte, die meine Mutter jahrelang erdulden mußte und sich dabei nie auch nur eine Tasse Tee ans Bett bringen ließ.«

(Mrs Barfoot war leidend.)

 

Elizabeth Flanders, von der dies und noch viel mehr gesagt worden war und gesagt werden würde, war natürlich eine Witwe in der Blüte ihrer Jahre. Sie war zwischen vierzig und fünfzig. Jahre und Leid dazwischen; der Tod von Seabrook, ihrem Mann; drei Jungen; Armut; ein Haus am Rande von Scarborough; ihres Bruders, des armen Morty, Sturz und womögliches Hinscheiden – denn wo war er? was war er? Sie beschirmte die Augen und hielt die Straße hinunter Ausschau nach Kapitän Barfoot – ja, da war er, pünktlich wie immer; die Aufmerksamkeiten des Kapitäns – all das machte Betty Flanders reifer, rundete ihre Figur, färbte ihr Gesicht mit Fröhlichkeit und ließ aus keinem für irgend jemand ersichtlichen Grund vielleicht dreimal am Tag ihre Augen überfließen.

Gewiß, es ist nichts Schlimmes, um den Ehemann zu weinen, und der Grabstein, wenn auch schlicht, war solide gearbeitet, und an Sommertagen, wenn die Witwe ihre Jungen mitnahm, um dort zu stehen, brachte man ihr Wohlwollen entgegen. Hüte wurden höher als gewöhnlich gezogen; Ehefrauen drückten den Arm ihres Mannes. Seabrook lag sechs Fuß tief da unten, seit etlichen Jahren tot; in drei Gehäuse eingeschlossen; die Ritzen mit Blei versiegelt, so daß, wären Erde und Holz aus Glas gewesen, zweifellos sogar sein Gesicht drunten sichtbar läge, das wohlgestaltete, backenbärtige Gesicht eines jungen Mannes, der zur Entenjagd aufgebrochen war und sich geweigert hatte, die Stiefel zu wechseln.

»Kaufmann dieser Stadt« stand auf dem Grabstein; doch warum Betty Flanders darauf verfallen war, ihm diesen Titel zu geben, wenn er doch, woran sich viele noch erinnerten, nur drei Monate hinter einem Kontorfenster gesessen hatte und davor Pferde zugeritten, sich an Fuchsjagden beteiligt, ein paar Äcker bestellt und es in Maßen toll getrieben hatte – nun, irgendeinen Titel mußte sie ihm schließlich geben. Ein Beispiel für die Jungen.

War er also nichts gewesen? Eine unbeantwortbare Frage, zumal, auch wenn es nicht Brauch des Leichenbestatters wäre, die Augen zuzudrücken, das Licht so bald aus ihnen schwindet. Anfangs ein Teil von ihr; jetzt Teil einer Gesellschaft, war er aufgegangen in dem Rasen, dem sanftgeneigten Hang, den tausend weißen Steinen, einige schief, andere aufrecht, den vermoderten Kränzen, den Kreuzen aus grünem Blech, den schmalen gelben Wegen und dem Flieder, der im April, mit einem Geruch von Krankenzimmer, über die Friedhofsmauer hing. Seabrook war jetzt all das; und wenn sie, mit aufgeschürztem Rock beim Füttern der Hühner, die Glocke zu Gottesdienst oder Begräbnis hörte, dann war das Seabrooks Stimme – die Stimme der Toten.

Es war schon vorgekommen, daß der Gockel auf ihre Schulter flog und nach ihrem Hals hackte, so daß sie jetzt zu einem Stock griff oder eines der Kinder mitnahm, wenn sie die Hühner füttern ging.

»Möchtest du nicht mein Messer haben, Mutter?« sagte Archer.

Im gleichen Augenblick wie die Glocke erklingend, mischte die Stimme ihres Sohnes Leben und Tod unentwirrbar, jubilierend.

»Was für ein großes Messer für einen kleinen Jungen!« sagte sie. Ihm zu Gefallen nahm sie es. Dann flog der Gockel aus dem Hühnerstall, und Mrs Flanders rief Archer zu, die Pforte zum Küchengarten zu schließen, stellte ihre Mahlzeit zu Boden, lockte gluckend die Hühner, ging geschäftig im Obstgarten umher und wurde von Mrs Cranch gegenüber gesehen, die mit dem Ausschlagen ihrer Matte an der Hauswand einen Augenblick innehielt, um Mrs Page nebenan zu verkünden, daß Mrs Flanders im Obstgarten bei den Hühnern war.

Mrs Page, Mrs Cranch und Mrs Garfit konnten Mrs Flanders im Obstgarten sehen, denn der Obstgarten war ein umzäuntes Stück von Dods Hill;[2] und Dods Hill beherrschte das Dorf. Mit Worten läßt sich die Bedeutung von Dods Hill nicht übertreiben. Er war die Erde; die Welt gegen den Himmel; der Horizont einer Vielzahl von Blicken, am besten von jenen berechenbar, die ihr ganzes Leben im gleichen Dorf zugebracht haben, es höchstens einmal verließen, um auf der Krim zu kämpfen,[3] wie der alte George Garfit, der sich pfeifeschmauchend über seine Gartenpforte lehnte. Der Gang der Sonne wurde an Dods Hill gemessen; die Färbung des Tages wurde dagegengesetzt und danach bestimmt.

»Jetzt geht sie mit dem kleinen John den Hügel hinauf«, sagte Mrs Cranch zu Mrs Garfit, schüttelte ihre Matte ein letztes Mal aus und wuselte ins Haus.

Mrs Flanders öffnete die Pforte des Obstgartens und ging zum Gipfel von Dods Hill mit John an der Hand. Archer und Jacob rannten voraus oder trödelten hinterher; aber sie waren schon im römischen Kastell, als sie dort anlangte, und riefen aus, was es an Schiffen in der Bucht zu sehen gab. Denn man hatte von dort eine herrliche Aussicht – die Moore dahinter, das Meer davor, und das ganze Scarborough von einem Ende zum anderen flach ausgebreitet wie ein Puzzlespiel. Mrs Flanders, die korpulent wurde, setzte sich im Kastell nieder und schaute sich um.

Die gesamte Skala der Veränderungen der Aussicht hätte ihr bekannt sein müssen; wie sie sich im Winter darbot, im Frühling, im Sommer und im Herbst; wie Stürme vom Meer aufkamen; wie die Moore erschauerten und aufleuchteten, wenn die Wolken darüber hinzogen; sie hätte den roten Fleck bemerken müssen, wo die Villen erbaut wurden; und das Kreuz und Quer der Linien, wo die Parzellen abgesteckt wurden; und das Diamantblitzen kleiner Gewächshäuser in der Sonne. Oder sie hätte, falls ihr solche Einzelheiten entgingen, in ihrer Phantasie mit der Goldfärbung des Meeres bei Sonnenuntergang spielen und sich einbilden können, wie es Goldmünzen vom steinigen Strand aufleckte. Kleine Ausflugsdampfer stachen hinein; der schwarze Arm des Piers raffte es zusammen. Die ganze Stadt war blaßrot und golden; kuppelverziert; nebelbekränzt; widerhallend; schrill. Banjos klimperten; die Uferpromenade roch nach Teer, der an den Hacken klebte; Ziegen galoppierten plötzlich mit ihren Wägelchen durch die Menge. Es wurde vermerkt, wie schön die Stadtverwaltung die Blumenbeete angelegt hatte. Manchmal wurde ein Strohhut fortgeweht. Tulpen glühten in der Sonne. Zahlreiche Knickerbockers waren in Reihen ausgestreckt. Purpurne Hauben umsäumten weiche, rosige, verdrossene Gesichter auf Kissen in Rollstühlen. Dreiseitige Reklametafeln wurden von Männern in weißen Kitteln umhergerollt. Kapitän George Boase hatte einen Riesenhai gefangen. So verkündete eine Fläche der dreiseitigen Reklametafeln in roten, blauen und gelben Lettern; und jede Zeile endete mit drei verschiedenfarbigen Ausrufungszeichen.

Also das war ein Grund, hinunter ins Aquarium zu gehen, wo die fahlen Rouleaus, der schale Geruch von Salzgeist, die Bambusstühle, die Tische mit Aschbechern, die kreisenden Fische, die strickende Aufseherin hinter sechs oder sieben Konfektschachteln (oft war sie mit den Fischen stundenlang völlig allein) im Gedächtnis blieben als Teil des Riesenhais, der sich nur als schlaffes gelbes Behältnis darstellte, wie eine leere Gladstone-Reisetasche in einem Wasserbecken. Niemand war je vom Aquarium aufgeheitert worden; aber die Gesichter der Herauskommenden verloren schnell ihren düsteren, eisigen Ausdruck, wenn sie mitbekamen, daß man nur durch Schlangestehen Zugang zum Pier erlangen konnte. Sobald das Drehkreuz passiert war, schritt man ein oder zwei Meter rasch aus; dann verweilten die einen bei dieser Bude, die anderen bei jener. Aber es war die Kapelle, die schließlich alle anzog; selbst die Fischer auf dem unteren Pier schlugen ihre Stände innerhalb ihrer Reichweite auf.

Die Kapelle spielte im maurischen Pavillon. Nummer neun erschien auf der Tafel. Es war eine Walzermelodie. Die blassen Mädchen, die verwitwete alte Dame, die drei Juden, die in der gleichen Pension untergekommen waren, der Dandy, der Major, der Pferdehändler und der Herr in gesicherten Verhältnissen, alle trugen den gleichen unbestimmten, benommenen Gesichtsausdruck, und durch die Ritzen zwischen den Bohlen zu ihren Füßen konnten sie die grünen Sommerwellen friedlich, freundlich die Eisenpfähle des Piers umspülen sehen.

Aber es gab eine Zeit, da all dies überhaupt noch nicht existierte (dachte der junge Mann, der am Geländer lehnte). Hefte deine Augen auf den Damenrock; den grauen zum Beispiel – über den rosa Seidenstrümpfen. Er verändert sich; verhüllt ihre Fesseln – die Neunziger; dann wird er weiter – die Siebziger; jetzt ist er rotglänzend und spannt sich über eine Krinoline – die Sechziger, ein winziger schwarzer Fuß im weißen Baumwollstrumpf lugt hervor. Sitzt sie noch da? Ja – sie ist noch auf dem Pier. Die Seide ist jetzt mit Rosen besetzt, aber irgendwie sieht man nicht mehr so deutlich. Unter uns ist kein Pier mehr. Die schwere Kutsche mag auf der wegezollpflichtigen Straße dahinschaukeln, aber da ist kein Pier, an dem sie anhalten könnte, und wie grau und bewegt ist das Meer im siebzehnten Jahrhundert! Auf zum Museum. Kanonenkugeln; Pfeilspitzen; römisches Glas und eine grünspanzerfressene Zange. Der Reverend Jasper Floyd grub sie auf eigene Kosten Anfang der vierziger Jahre im römischen Kastell auf Dods Hill aus – da ist das kleine Billett mit dem verblichenen Aufdruck.

Und jetzt, was gibt es sonst in Scarborough zu sehen?

 

Mrs Flanders saß auf dem Rundwall des römischen Kastells und flickte Jacobs Kniebundhose; blickte nur davon auf, wenn sie das Fadenende kurz in den Mund nahm oder wenn ein Insekt auf sie zuschoß, ihr ins Ohr dröhnte und fort war.

John kam ein ums andere Mal angetappelt und patschte ihr in den Schoß, was er »Tee« nannte, Gras oder welke Blätter, die sie methodisch, aber geistesabwesend ordnete, die Blütenstände der Gräser zueinanderlegend, in Gedanken bei Archer, der gestern nacht wieder wach gelegen hatte; die Kirchturmuhr ging zehn oder dreizehn Minuten vor; wie schön wäre es, Garfits Morgen Land zu kaufen.

»Das ist ein Blatt vom Knabenkraut, Johnny. Schau, die braunen Pünktchen. Komm, mein Liebchen. Wir müssen nach Hause gehen. Ar-eher! Ja-cob!«

»Ar-cher! Ja-cob!« quäkte Johnny ihr nach, drehte sich auf dem Absatz im Kreis und verstreute Gras und Blätter aus den Händen, als wäre er ein Sämann. Archer und Jacob sprangen hinter dem Wall hervor, wo sie mit der Absicht gekauert hatten, unerwartet auf ihre Mutter loszustürzen, und alle begannen sie langsam nach Hause zu gehen.

»Wer ist das?« sagte Mrs Flanders, die Augen beschirmend.

»Der alte Mann da auf der Straße?« sagte Archer hinunterschauend.

»Das ist kein alter Mann«, sagte Mrs Flanders. »Das ist – nein, er ist es nicht – ich dachte, es wäre der Kapitän, aber es ist Mr Floyd. Nun kommt, Kinder.«

»Ach, zum Deibel mit Mr Floyd!« sagte Jacob und köpfte eine Distel, denn er wußte schon, daß Mr Floyd ihnen Latein beibringen würde, wie er es dann auch drei Jahre lang in seiner freien Zeit tat, aus reiner Freundlichkeit, denn es gab in der Gegend keinen anderen Herrn, den Mrs Flanders um so etwas hätte bitten können, und die älteren Jungen wuchsen ihr über den Kopf und mußten auf die Schule vorbereitet werden, und es war mehr, als die meisten Pfarrer getan hätten, nach dem Tee vorbeizukommen oder sie bei sich in seinem Zimmer zu haben – wie er es gerade einrichten konnte – denn der Kirchsprengel war sehr weitläufig, und Mr Floyd, wie sein Vater vor ihm, suchte auch meilenweit übers Moor entfernte Katen auf und war, wie der alte Mr Floyd, sehr gelehrt, was es so unwahrscheinlich machte – sie hätte sich so etwas nie träumen lassen. Hätte sie es erraten müssen? Aber ganz abgesehen von seiner Gelehrtheit war er acht Jahre jünger als sie. Sie kannte seine Mutter – die alte Mrs Floyd. Sie ging zum Tee zu ihr. Und es war genau an jenem Abend, als sie vom Tee bei der alten Mrs Floyd zurückkam, daß sie den Brief in der Diele vorfand und in die Küche mitnahm, in die sie ging, um Rebecca den Fisch zu geben, überzeugt, es mußte etwas über die Jungen sein.

»Mr Floyd hat ihn selbst vorbeigebracht? – ich glaube, der Käse muß in dem Päckchen in der Diele sein – ach ja, in der Diele –« denn sie las gerade. Nein, es war nicht über die Jungen.

»Ja, bestimmt genug für Fischfrikadellen morgen – Vielleicht wird Kapitän Barfoot –« sie war bei dem Wort »Liebe« angelangt. Sie ging in den Garten und las, an den Walnußbaum gelehnt, um Halt zu finden. Auf und nieder ging ihre Brust. Seabrook trat so lebhaft vor sie hin. Sie schüttelte den Kopf und schaute durch ihre Tränen auf die sich wiegenden Blättchen vor dem gelben Himmel, als drei Gänse, halb rennend, halb fliegend, über den Rasen hasteten mit Johnny dahinter, der einen Stock schwang.

Mrs Flanders wurde rot vor Zorn.

»Wie oft soll ich es dir noch sagen?« schrie sie und packte ihn und entriß ihm den Stock.

»Aber sie waren ausgebüxt!« schrie er und suchte sich zu entwinden.

»Du bist ein sehr ungezogener Junge. Ich habe es dir schon tausendmal gesagt. Du sollst die Gänse nicht scheuchen!« sagte sie, und Mr Floyds Brief in der Hand zerknüllend, hielt sie Johnny fest und trieb die Gänse zurück in den Obstgarten.

»Wie könnte ich an Heirat denken!« sagte sie bitter zu sich, als sie das Gatter mit einer Drahtschlinge festmachte. Sie hatte rote Haare bei Männern noch nie gemocht, dachte sie, sich die Erscheinung von Mr Floyd am Abend, nachdem die Jungen zu Bett waren, vor Augen führend. Dann schob sie ihren Nähkasten fort, zog das Löschpapier heran und las Mr Floyds Brief noch einmal, und ihre Brust ging auf und nieder, als sie zu dem Wort »Liebe« gelangte, aber diesmal nicht so rasch, denn sie sah Johnny die Gänse scheuchen und wußte, daß es ihr unmöglich war, irgend jemanden zu heiraten – ganz zu schweigen von Mr Floyd, der so viel jünger war als sie, aber solch ein reizender Mann – und dazu so gelehrt.

»Lieber Mr Floyd«, schrieb sie – »Habe ich auch an den Käse gedacht?« fragte sie sich und legte den Federhalter nieder. Doch, sie hatte Rebecca gesagt, daß der Käse in der Diele war. »Ich bin höchst überrascht …« schrieb sie.

Aber der Brief, den Mr Floyd auf dem Tisch vorfand, als er früh am nächsten Morgen aufstand, begann nicht »Ich bin höchst überrascht«, und es war ein so mütterlicher, ehrerbietiger, widerspruchsvoller, wehmütiger Brief, daß er ihn viele Jahre lang aufhob; bis lange nach seiner Heirat mit Miss Wimbush, aus Andover; bis lange, nachdem er das Dorf verlassen hatte. Denn er ersuchte um eine Gemeinde in Sheffield, die ihm gegeben wurde; und er forderte, nachdem er Archer, Jacob und John zum Abschied hatte kommen lassen, sie auf, sich in seinem Arbeitszimmer zur Erinnerung an ihn auszusuchen, was sie wollten. Archer wählte ein Federmesser, denn er mochte nichts allzu Gutes wählen; Jacob wählte Byrons Werke in einem Band; John, der noch zu klein war, um die rechte Wahl zu treffen, wählte Mr Floyds Kätzchen, was seine Brüder für eine törichte Wahl hielten, doch Mr Floyd stand ihm bei und sagte: »Es hat Fell wie du.« Dann sprach Mr Floyd von der Königlichen Marine (zu der Archer gehen sollte); und von Rugby[4] (wohin Jacob gehen sollte); und am nächsten Tag erhielt er ein Silbertablett und ging – erst nach Sheffield, wo er Miss Wimbush kennenlernte, die bei ihrem Onkel zu Besuch war, dann nach Hackney – dann ans Maresfield House, dessen Rektor er wurde, und schließlich, nachdem er Herausgeber einer weithin bekannten Reihe von Biographien bedeutender Kirchenmänner geworden war, setzte er sich mit Frau und Tochter in Hampstead zur Ruhe und ist oft beim Füttern der Enten am Leg of Mutton Pond[5] zu sehen. Was den Brief von Mrs Flanders anbelangt – als er ihn neulich suchte, konnte er ihn nicht finden und mochte seine Frau nicht fragen, ob sie ihn weggetan hatte. Unlängst begegnete er Jacob in Piccadilly und erkannte ihn nach drei Sekunden. Aber Jacob war zu einem so prächtigen jungen Mann herangewachsen, daß Mr Floyd ihn nicht auf der Straße ansprechen mochte.

 

»Du liebes bißchen«, sagte Mrs Flanders, als sie im Scarborough and Harrogate Courier[6] las, daß Reverend Andrew Floyd, usw. usw., zum Rektor von Maresfield House ernannt worden war, »das muß unser Mr Floyd sein.«

Eine leichte Beklommenheit senkte sich über den Tisch. Jacob nahm sich gerade von der Marmelade; der Briefträger plauderte in der Küche mit Rebecca; eine Biene umsummte die gelbe Blume, die am offenen Fenster nickte. Sie waren alle am Leben, mit anderen Worten, während der arme Mr Floyd Rektor von Maresfield House wurde.

Mrs Flanders stand auf und ging hinüber zum Kamingitter und kraulte Topas am Hals hinter den Ohren.

»Armer Topas«, sagte sie (denn Mr Floyds Kätzchen war jetzt ein sehr alter Kater, ein bißchen räudig hinter den Ohren, und würde demnächst eingeschläfert werden müssen).

»Armer alter Topas«, sagte Mrs Flanders, als er sich in der Sonne streckte, und sie lächelte bei dem Gedanken, wie sie ihn hatte kastrieren lassen und wie sie rote Haare bei Männern nicht mochte. Lächelnd ging sie in die Küche.

Jacob wischte sich mit einem ziemlich schmutzigen Taschentuch das Gesicht. Er ging hinauf in sein Zimmer.

 

Der Hirschkäfer stirbt langsam (es war John, der die Käfer sammelte). Auch am zweiten Tag waren seine Beine noch beweglich. Aber die Schmetterlinge waren tot. Ein Hauch von faulen Eiern hatte die weißlich-gewölkten Gelblinge besiegt, die über den Obstgarten stiebten und Dods Hill hinauf und fort aufs Moor hinaus, jetzt hinter einem Ginsterbusch verschwunden, dann in wilder Jagd wieder weiter unter sengender Sonne. Ein Kaisermantel sonnte sich auf einem weißen Stein im römischen Kastell. Aus dem Tal kam der Klang der Kirchenglocken. In Scarborough aßen sie alle Roastbeef; denn es war Sonntag, als Jacob die weißlich-gewölkten Gelblinge auf dem Kleefeld fing, acht Meilen von zu Hause entfernt.

Rebecca hatte den Totenkopfschwärmer in der Küche gefangen.

Ein starker Kampfergeruch drang aus den Schmetterlingskästen.

In den Kampfergeruch mischte sich der unverkennbare Geruch von Tang. Gelbbraune Bänder hingen an der Tür. Die Sonne brannte darauf nieder.

Die Vorderflügel des Falters, den Jacob hielt, waren eindeutig mit nierenförmigen Flecken von rötlichgelber Färbung gezeichnet. Aber auf dem Hinterflügel war kein Mondfleck. Der Baum war in der Nacht umgestürzt, als er ihn gefangen hatte. Eine Salve von Pistolenschüssen hatte plötzlich mitten im tiefsten Wald gekracht. Und seine Mutter hatte ihn für einen Einbrecher gehalten, als er spät nach Hause kam. Der einzige ihrer Söhne, der ihr niemals gehorchte, sagte sie.

Morris[7] nannte ihn »ein außerordentlich ortsgebundenes Insekt, das an feuchten oder sumpfigen Plätzen anzutreffen ist«. Aber Morris irrt sich manchmal. Manchmal trug Jacob, mit sehr dünner Feder, auf dem Rand eine Korrektur ein.

Der Baum war umgestürzt, obwohl es eine windstille Nacht war, und die auf dem Boden abgestellte Laterne hatte das immer noch grüne Laub beleuchtet und das welke Buchenlaub. Es war ein trockener Platz. Eine Kröte war da. Und das Rote Ordensband hatte das Licht umkreist und aufgeblitzt und das Weite gesucht. Das Rote Ordensband war nicht zurückgekehrt, obwohl Jacob gewartet hatte. Es war nach zwölf, als er über den Rasen ging und seine Mutter im hell erleuchteten Zimmer sah, patiencelegend, aufgeblieben.

»Wie du mich geängstigt hast!« hatte sie geschrien. Sie dachte, etwas Entsetzliches sei geschehen. Und er weckte Rebecca, die so früh aufstehen mußte.

Bleich stand er da, aus tiefster Dunkelheit gekommen, im warmen Zimmer, und blinzelte ins Licht.

Nein, es konnte kein Gelbgerändertes Ordensband sein.

Der Rasenmäher war nie richtig geölt. Barnet wendete ihn unter Jacobs Fenster, und er quietschte – quietschte und ratterte über den Rasen und quietschte wieder.

Jetzt bewölkte es sich.

Da kam die Sonne wieder, gleißend.

Sie fiel wie ein Auge auf die Steigbügel, und ruhte dann plötzlich und doch sehr sanft auf dem Bett, auf dem Wecker und auf dem offenstehenden Schmetterlingskasten. Die weißlich-gewölkten Gelblinge waren über das Moor gestiebt; dann im Zickzack über den purpurnen Klee. Die Kaisermäntel paradierten an den Hecken entlang. Die Bläulinge ließen sich auf Knöchelchen auf dem Torf nieder, unter der sengenden Sonne, und die Distelfalter und die Tagpfauenaugen labten sich an blutigen Eingeweiden, die ein Habicht fallengelassen hatte. Meilenweit fort von zu Hause, zwischen Weberkarden in einer Mulde unterhalb einer Ruine, hatte er die Kommafalter gefunden. Er hatte einen weißen Admiral höher und höher um eine Eiche kreisen sehen, aber er hatte ihn nicht fangen können. Eine alte Frau, die allein in einer Kate hauste, hoch droben, hatte ihm von einem purpurnen Schmetterling erzählt, der jeden Sommer in ihren Garten kam. Die Fuchsjungen spielten im Stechginster am frühen Morgen, erzählte sie ihm. Und wenn man bei Tagesanbruch hinausschaute, konnte man immer zwei Dachse sehen. Manchmal stießen sie sich gegenseitig zu Boden wie zwei balgende Jungen, sagte sie.

 

»Du gehst mir heute nachmittag nicht weit, Jacob«, sagte seine Mutter, den Kopf zur Tür hereinsteckend, »denn der Kapitän kommt heute, um sich zu verabschieden.« Es war der letzte Tag der Osterferien.

 

Der Mittwoch war Kapitän Barfoots Tag. Er kleidete sich sehr sorgfältig in blaues Kammgarn, nahm seinen gummibeschuhten Krückstock – denn er hinkte und ihm fehlten zwei Finger an der linken Hand, da er seinem Lande gedient hatte – und verließ das Haus mit der Fahnenstange um genau vier Uhr nachmittags.

Um drei hatte Mr Dickens, der Rollstuhlmann, Mrs Barfoot abgeholt.

»Weiter«, sagte sie stets zu Mr Dickens, nachdem sie eine Viertelstunde auf der Strandpromenade gesessen hatte. Und darauf: »Das genügt, danke, Mr Dickens.« Auf den ersten Befehl suchte er stets die Sonne; auf den zweiten hielt er den Rollstuhl dort im hellen Streifen an.

Selbst ein Alteingesessener, verband ihn viel mit Mrs Barfoot – James Coppards Tochter. Der Trinkbrunnen, wo die West Street in die Broad Street mündet, ist von James Coppard gestiftet, der zur Zeit von Königin Victorias Thronjubiläum[8] Bürgermeister war, und Coppard steht gemalt auf städtischen Sprengwagen und über Schaufenstern und auf den Zinkläden an den Fenstern der Konsultationsräume von Anwälten. Aber Ellen Barfoot besuchte nie das Aquarium (obwohl sie Kapitän Boase gekannt hatte, der den Hai so hübsch gefangen hatte), und wenn die Männer mit den Reklametafeln vorbeikamen, warf sie ihnen verächtliche Blicke zu, denn sie wußte, daß sie die Pierrots oder die Zeno-Brüder oder Daisy Budd mit ihren dressierten Seehunden nie sehen würde. Denn Ellen Barfoot in ihrem Rollstuhl auf der Strandpromenade war eine Gefangene – Gefangene der Zivilisation – und alle Stäbe ihres Käfigs fielen an sonnigen Tagen quer über die Promenade, wenn das Rathaus, die Textilgeschäfte, das Schwimmbad und die Ehrenhalle den Boden mit Schatten in Streifen teilten.