Jagd - Antje Joel - E-Book

Jagd E-Book

Antje Joel

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Beschreibung

Die Autorin und preisgekrönte Reporterin Antje Joel erzählt von einer ungewöhnlichen Passion: der Jagd. Stundenlang liegt sie als Kind vor Kaninchenbauten auf der Lauer, mit sechzehn geht sie das erste Mal zur Jagd - eine lebenslange Faszination ist geweckt. Als ihre beste Freundin, eine Försterin, sich viele Jahre später das Leben nimmt, ist Joel tief erschüttert. Sie erkennt: Der Tod ist uns immer näher, als wir glauben. Und: Sie will sich den eigenen Dämonen stellen. Im Jagdkurs geht sie der gemeinsamen Leidenschaft für die Jagd, die Tiere, die Natur und die Wildnis nach. Sie kundschaftet den schmalen Grat aus zwischen Leben und Tod, zwischen Macht und Ohnmacht, und spürt dem sensiblen Gleichgewicht der Natur nach. Dabei geht sie an ihre Grenzen und noch darüber hinaus. Doch nach und nach lernt sie ihre eigenen Ängste zu verstehen und schließlich auch, sie zu bezwingen. Antje Joel erzählt von der Suche nach sich selbst. Sie weckt unser aller Sehnsucht nach Frieden und Freiheit in der Natur.

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Seitenzahl: 360

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Antje Joel

Jagd

Unsere Versöhnung mit der Natur

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Autorin und preisgekrönte Reporterin Antje Joel erzählt von einer ungewöhnlichen Passion: der Jagd. Stundenlang liegt sie als Kind vor Kaninchenbauten auf der Lauer, mit sechzehn geht sie das erste Mal zur Jagd – eine lebenslange Faszination ist geweckt. Als ihre beste Freundin, eine Försterin, sich viele Jahre später das Leben nimmt, ist Joel tief erschüttert. Sie erkennt: Der Tod ist uns immer näher, als wir glauben. Und: Sie will sich den eigenen Dämonen stellen. Im Jagdkurs geht sie der gemeinsamen Leidenschaft für die Jagd, die Tiere, die Natur und die Wildnis nach. Sie kundschaftet den schmalen Grat aus zwischen Leben und Tod, zwischen Macht und Ohnmacht, und spürt dem sensiblen Gleichgewicht der Natur nach. Dabei geht sie an ihre Grenzen und noch darüber hinaus. Doch nach und nach lernt sie ihre eigenen Ängste zu verstehen und schließlich auch, sie zu bezwingen.

Antje Joel erzählt von der Suche nach sich selbst. Sie weckt unser aller Sehnsucht nach Frieden und Freiheit in der Natur.

 

Über Antje Joel

Antje Joel, geboren 1966, arbeitet seit 1994 als freie Journalistin und Autorin. Ihre Texte erschienen unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der Brigitte, im Tagesspiegel und im Spiegel. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Axel-Springer-Preis und der Egon-Erwin-Kisch-Preis.

«Unsere Vergesslichkeit ist hauptsächlich das Produkt von Supermärkten. Wo wir uns von den Regalen Stücke verarbeiteter Pflanzen und Tiere nehmen, die versteckt sind in Kisten, Dosen und Verpackungen – und in uns die Illusion erzeugen, dass wir essen können, ohne zu ernten; dass Leben erhalten werden kann, ohne dass jemand dafür sterben muss; dass unsere tägliche Existenz nichts mit der Erde zu tun hat. Und dass wir uns von allen anderen Organismen grundlegend unterscheiden.»

Richard K. Nelson: A Hunter’s Heart

Saint Joe River

Idaho 2017

Dies ist das Ende. Die letzten, lächerlichen Minuten. Mein Leben, da rauscht es an mir vorbei, mit hundert Sachen, eiskalt, schmerzhaft. Oder eigentlich: rausche ich vorbei an ihm. Fliege dahin, über weites Weiß. Durch die Dämmerung, durch das Nichts. Ich bin ein Niemand, bin schon weit weg von allem. Und allen. Am weitesten von mir selbst. Noch bin ich nicht tot, was unfassbar ist, aber es gibt kein Leben mehr, nicht mehr wirklich, nicht für mich. Für mich herrscht Stillstand. Bei fünfundsechzig Meilen, hundert Kilometern in der Stunde, mindestens. Was es in diesen Minuten noch gibt: Motorenlärm. Benzingestank. Fahrtwind, der in meinen Augen brennt und in meine Wangen schneidet. Schwarze Fichtenwaldmasse. Felsen. Eine Uferböschung, nah, viel zu nah, keine dreißig Zentimeter. Und jenseits von ihr, in der Tiefe, der Fluss. Saint Joe River.

Vor mir ein Körper, um den ich die Arme schlinge. Tarnfarbene Kleider, in die ich nutzlos meine Finger kralle. Das Visier eines Helmes, meines, das gegen den Helm vor mir schlägt und meinen Kopf in die Schräglage zwingt. Und da ist der Lauf eines Gewehrs. Es ragt über das Schultermassiv vor mir. Verrutscht, wird zurechtgerückt. Einhändig. Alle paar Meter. So wie ich mich einhändig auf dem Sitz des springenden, fliegenden Schneemobils alle paar Meter zurechtrücken muss, um nicht in den Kurven vom glatten Leder zu rutschen. Um nicht gegen die Felswand oder über die Böschung katapultiert zu werden, wenn wir über den nächsten Schneehügel krachen. Ich denke: Ich kann nicht mehr. Wir rasen hier so seit Stunden, immer haarscharf an der Kante. Rasiermesserwind auf den Wangen und in den Augen. Oberschenkel, die von der Anstrengung, an Bord zu bleiben, zittern. Vor Kälte und vom Klammern schmerzende, lahme Finger. Ist das alles noch meins, gehört das noch mir, bin das noch ich?

Ich denke: Egal.

Ich denke: Lass dich fallen.

Ich denke: Das war’s.

Ich denke: Sicher, einer hätte hier heute sterben sollen. Aber doch bitte nicht ich!

Ich muss an Debbie denken, der ich das hier zu verdanken habe, und daran, wie sie mich ein paar Tage zuvor am Telefon hoffnungsfroh gefragt hat: «Wie sind die da oben denn so? Ganz okay oder eher so ein bisschen furchterregend? Wie in Deliverance?» Sie meinte den Filmklassiker aus den frühen Siebzigern von Regisseur John Boorman. Der geht so: Vier Geschäftsleute brechen aus Atlanta zu einem Kanutrip auf dem Cahulawassee River auf, um noch einmal seine Schönheit und die Abgeschiedenheit der Natur ringsum zu genießen, bevor der Fluss per Dammbau geflutet wird. Nur zwei der Jungs haben Wildniserfahrung. Und die von der Wildnis geprägten, isolierten, inzestgeschädigten Einheimischen erweisen sich als so gefährlich wie die Natur selbst. Nur drei der Stadtburschen überleben. Der vierte wird erschossen. Oder ertrinkt im Fluss. Oder beides, in Kombination. Das lässt sich später für seine Begleiter nicht genau rekonstruieren.

Natürlich ist es hier oben in Nordidaho nicht wie in den Südstaaten, geschweige denn wie in Boormans Film. «Alle sind wahnsinnig nett, und kein Einziger ist debil oder sonst wie gefährlich», habe ich zu der enttäuschten Debbie gesagt. Und das war wahr. Der Grund, dass ich jetzt dennoch an Debbies Frage und den verfluchten Film denken muss, ist die Tatsache, dass darin einer ersäuft. Und dass der Film auf Deutsch Beim Sterben ist jeder der Erste heißt. Wie blöde passend das ist, darüber würde ich sehr gerne lachen. Aber erstens kann ich nicht mehr. Und zweitens ist es hundsgemein traurig, dass, weil ich jetzt und hier beim Sterben tatsächlich die Erste sein werde, ich keinem mehr von diesem lustigen Rendezvous von Hollywoodtitel und Wirklichkeit werde erzählen können. «Weißt du, das Leben ist eine blöde Sau», hat mein alter Freund Bernhard immer gesagt. Und das ist es doch oft genug wirklich. Ich meine: Es gönnt einem nicht mal diese platte, kleine Pointe. «Ich bin froh, wenn es endlich vorbei ist», sagte Bernhard auch. Und ich denke: Ich wäre froh, wenn ich darüber froh sein könnte. Denn dann könnte ich jetzt loslassen. Vom Schneemobil rutschen. Mich von seinem Sitz in die weiße Wildnis katapultieren lassen. Aus und vorbei. Stattdessen klammere ich mich an die Falten von Roberts Tarnanzug, als hätte ich tatsächlich Grund zur Hoffnung. «Wie eine Ertrinkende an eine Ziege!», hat meine Omma immer gesagt.

Wie lange noch? Wie weit bis zurück zum Parkplatz, zum Truck? Wie weit sind wir schon gefahren, über wie viele Kilometer, für wie viele Stunden? Ich weiß es nicht. Jeder Teil der Strecke sieht aus wie der vorherige. Eine endlose Aneinanderreihung von Kurven und Windungen um die Felswand zur Rechten. Immer mit dem Fluss tief unten zur Linken. Schnee, Wald, Dämmerung. Zeit und Raum. Alles ist nichts. Die einzige Stelle, die sich für mich von allen anderen Stellen in diesem Winter-Wildnis-Einerlei unterscheidet, die ich mir zutraue zu erkennen, ist mein Unglücksort. Die Stelle, an der Robert vor Stunden seinen Spaten in den Schnee an der Überböschung gesteckt hat, um sie für die Bergung des nun im Fluss schwimmenden Schneemobils am kommenden Tag zu markieren. Der Ort, an dem ich dachte, ich hätte das für den Tag Schlimmstmögliche erlebt und überstanden. Und von dem wir dann, jetzt zu zweit auf einem Schneemobil, weiterrasten. Tiefer in die Wildnis, in meine Verzweiflung hinein. Haben wir diese Stelle jetzt, auf dem Rückweg, schon passiert?

Ich habe immer gedacht, dass die Natur mir die Angst vor dem Tod nehmen könne. Meine fürchterliche, lähmende, rasende Angst. Ich glaubte allen Ernstes, draußen, in der Natur, könne mir der Tod nicht wirklich etwas anhaben. Ich meine: psychisch. Ich stellte mir vor, dass, wenn es einst so weit wäre, mir das Sterben unter freiem Himmel weniger ausmachen würde. Dass ich es dort als Teil meiner Selbst und des großen Ganzen würde annehmen können. Weil ich ein Teil dieses großen Ganzen sei und es, wenn auch in anderer Form, im Tod bliebe. Und wirklich: Wenn ich mit den Hunden im Wald spazieren ging, bei meinen Pferden war oder am Meer herumsaß, erschien mir mein Sterbenmüssen wunderbar nichtig. Statt der alten verzehrenden Angst und Hoffnungslosigkeit spürte ich einen großen Frieden. Na ja, denke ich jetzt, war ein Selbstbeschiss, alt wie die Zeit. Jetzt, wo das Sterben jede Sekunde Wirklichkeit werden wird und mir der Arsch auf Grundeis geht. Natur ringsherum hin oder her.

Das Schneemobil kippt nach rechts. Die linke Kufe löst sich von der Schneedecke. Für einen Augenblick sehe ich über Roberts Schulter hinweg ihre Spitze grotesk in das Himmelsgrau ragen. Dann wirft sich Robert vor das Bild, nach links. Ich werfe mich mit. Unsere Körper schießen waagerecht über den Schnee hinweg, unsere Köpfe kurz vor der Kliffkante. Jenseits von ihr, in der Tiefe, der Fluß. Ich gebe einen Laut von mir, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn in mir hatte. Ein tiefes, aus der Lunge gepresstes Klagen. Der Motor des Schneemobils röhrt. Es rast, unseren Bemühungen zum Trotz, noch immer auf einer Kufe dahin, und für einen Wimpernschlag denke ich, ich will weinen. Weil das Leben eine blöde Sau und das alles hier so verflucht dämlich und lächerlich ist. Weil wir jetzt jeden Augenblick über die Kante rauschen und ich doch noch in den schwarzen Februarfluten des Saint Joe Rivers ersaufe. Obwohl ich ihm heute schon einmal allerknappstens entkommen bin. «Dem Tod noch mal gerade so von der Schippe gesprungen!», hat meine Omma immer gesagt.

Meine Omma war die weltbeste Dem-Tod-von-der-Schippe-Springerin. Ohne sich auf ein Schneemobil oder auch nur einen Fuß in die Wildnis zu setzen. Das hatte Omma nicht nötig. Sie war einfach nur dick, so richtig. Und herzkrank. Das ist lebensgefährlich genug. Ich kann nicht zählen, wie oft meine Eltern in meinen Kindertagen des Abends mit ernsten Mienen bei mir auf der Bettkannte saßen und sagten: «Mach dich gefasst, deine Omma wird diese Nacht nicht überleben.» Ich machte mich gefasst. So gut das als Neun- und dann Zehn- und dann Elf- und dann Jedes-Jahr-wieder-Jährige geht. Jedes Mal kam der Morgen, und Omma war noch da. Sie frohlockte: «Da bin ich dem Tod wieder von der Schippe gesprungen!» Das eine Mal dann, das sie nicht sprang, war kein Mensch mehr darauf gefasst. Sie schlief am Abend ein, ganz normal, und ratzte dann einfach so weg, für immer. Am Morgen wachte nur noch der Oppa auf, in den Kissen gleich neben ihr. Er schüttelte sie, rief immer wieder ihren Namen und wollte es partout nicht glauben. Die scheußliche Moral von Ommas und überhaupt jedermanns Geschichte ist: Egal, wie oft du dem Tod von der Schippe springst, kein Sieg über ihn ist endgültig. Irgendwann kriegt er dich und uns alle. Das weiß jeder, das weiß sogar ich. Und doch kann ich’s jetzt, wo es so weit ist, nicht fassen.

Warum ich? Warum hier? Warum jetzt? Ich bin nicht herzkrank, nicht dass ich’s wüsste. Und nur ein ganz kleines bisschen übergewichtig. Fürs Erste habe ich nur Asthma. Das hat in meiner Familie sonst keiner. Es ist auch nicht wirklich schlimm, keine pfeifende, rasselnde Rund-um-die-Uhr-Atemlosigkeit. Ich pfeife und rassele und schnaufe nur, wenn ich mich körperlich anstrenge. Oder im Kopf unter Stress gerate. Meine Asthmatabletten, «Davon nehmen Sie morgens und abends je eine», habe ich darum so gut wie abgesetzt. Na ja, nicht nur darum. Nicht in erster Linie. In erster Linie war es so: Die Vorstellung, von nun an auf immer und ewig täglich zwei Pillen schlucken zu müssen, ging mir mehr auf den Keks als meine Schnauferei. Sie behelligte mich mit dem Gefühl, ich sei alt. So gut wie am Ende. Ich fühlte mich, als mutiere ich hinterrücks, über die Asthma-Schiene, zu meiner Mutter und Omma.

 

Und dann haben wir plötzlich genug Gewicht, und das Schneemobil kippt zurück, nach links. Auf den letzten Rutsch. Rast weiter auf zwei Kufen. Über den Schnee, durch die Fichtenwaldfinsternis. Immer noch haarscharf an der Kante. In diesem Moment sehe ich ihn: den Spaten. Er steckt aufrecht in der verschneiten Böschung neben dem Trail. Wir haben ihn nicht passiert, haben ihn nicht übersehen. Sein Anblick erstickt in mir jede Hoffnung. Ich weiß jetzt, was ich die letzten Minuten über nicht wissen wollte: Es sind noch sechzig Kilometer zurück zum Truck. Vierzig Minuten. Ich weiß jetzt: Wir werden es nicht schaffen. Ich werde es nicht schaffen. Es ist vorbei. Schluss mit dem famosen Selbstbeschiss und der Kasperei. Ich bin kein Überlebenskünstler. Kein knallharter Outdoorbrocken. Ich bin ein «Naturfreund» in Anführungsstrichen. Ein Mensch, der an die heilige Verbundenheit mit der Natur, Vibram-Sohlen und Goretex glaubt. Und der überrascht feststellt, dass der Fünf-Kilometer-Spaziergang ihn trotz Zweihundert-Euro-Boots aus der Puste bringt. Und dass der Regen trotz Goretex nass ist.

Ich denke an meine Tochter. Meine mittlere, unglaublich fitte Tochter. Die jeden Tag zäh ihr Sportprogramm abreißt und die vor ein paar Wochen, als ich großartig verkündete, dass ich nach Idaho reisen würde, um in seinen entlegenen, derzeit tiefverschneiten Bergwäldern mit ein paar Trappern auf Jagd zu gehen, die Stirn runzelte und sagte: «Dann solltest du vorher unbedingt mit mir trainieren, damit du fit bist!» Ich fand das ein wenig herablassend, hielt es aber grundsätzlich für eine gute Idee. Leider kam dem Trainingsbeginn stets etwas dazwischen. Die Arbeit. Der Einkauf. Ein Buch. Ein Film. Das Internet. Und vor allem anderen die Erinnerung an frühere Trainingsversuche. Daran, wie mein Schwitzen und Keuchen und Klagen in einem überraschenden Gegensatz zu meinem «relativ fitten» Selbstbild stand. Und so ist meine letzte Erinnerung an diese Tochter, wie sie sich erbost umdreht, davonstapft und ruft: «Dann stirb doch demnächst da oben, auf deinem blöden Berg!» Ist das Reue, was ich jetzt empfinde? Oder nur Selbstmitleid?

Ich denke: Ich bin kein Jäger. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Jagd. Hatte schon vor Jahren scheinbar jedes Interesse an ihr verloren. Meine Waffen verkauft. Vorbei. Ich dachte, das lag daran, dass die Jagd, so wie ich sie in braven deutschen Wäldern erlebt hatte, nicht meinen Vorstellungen von ihr entsprach. Nicht: lebhaft, natürlich, erfrischend. Sondern: behäbig, steril und altbacken. Ich dachte, es lag daran, dass ich mit den Jägern, wie ich sie in ernüchternder Überzahl kennengelernt hatte, nichts gemeinsam hatte. Dass ich ganz anders war als sie. Im besten Sinne. Jetzt, hier, in der echten Wildnis, mit echten Jägern, auf echter Jagd, so wie ich mir immer vorgestellt hatte, dass die Wildnis, die Jagd und die Jäger sein müssten, stellt sich eine Art Vibram-Goretex-Déjà-vu ein. Kalt und schmerzhaft. Und ich denke: Was, wenn das der wahre Grund meines einstweiligen Abschiedes von der Jagd war? Weil ich nicht anders, sondern haargenau wie die anderen bin? Der italienische Autor und Philosoph Umberto Eco hat einmal gesagt, dass, wann immer wir unsinnig denken, reden, handeln, wann immer wir uns selbst betrügen, wir «an den harten Kern der Realität und an die Linien des Widerstands stoßen». Das ist tröstlich. Nur manchmal stoßen wir uns offenbar zu spät.

Ich denke: Die Natur, ich, das war alles ein Missverständnis. Es gibt zwischen uns keine Verbundenheit. Wir sind kein großes Ganzes. Es gibt nur die Natur, in ihrer Allmacht und Gleichgültigkeit. Und es gibt mich und mein absolutes Darin-verloren-Sein. Ich will das alles nicht mehr. Nicht mehr Angst haben und nicht mehr hoffen. Ich will absteigen, mich fallen lassen. Mich auf den harten Schnee betten, in der fremden, feindlichen Dunkelheit. Ich will ein Ende. Wenn’s sein muss, das meine. Es ist kein Gefühl der inneren Ruhe. Nur trostloses Scheißegal. Hoffentlich faselt bei meiner Totenfeier keiner: «Wenigstens starb sie in der Ausübung einer Tätigkeit, die sie liebte!» Hätte ich das letzte Wort, könnte ich noch eine einzige Botschaft vermitteln, es wäre diese: «Meine Lieben, das war mir in den letzten Minuten ein beschissener Trost!» Nämlich: keiner.

Das Schneemobil springt über einen Buckel gefrorenen Schnees. Kracht auf der anderen Seite auf. Der Aufprall katapultiert mich um ein Haar vom Sitz. Ich hänge an der Seite, an Robert. Wie eine Ertrinkende an der Ziege. Für ein paar Sekunden nur, dann ziehe ich mich mit aller Kraft zurück. Meine Finger in die Falten von Roberts Tarnanzug gekrallt. Meine Beine vor Anstrengung zitternd. Irgendetwas in mir hält hier verflucht und verzweifelt fest. Ich denke: Gegen meinen Willen! Oder? Ich bin nicht sicher. Robert zieht an dem Gewehrriemen über seiner Schulter, ruckt die Waffe vor seiner Brust zurecht. Er dreht sich zu mir. Die Hand unvermindert am Gas. Er lacht. Brüllt Unverständliches über dem Motorenlärm. Ich will ihn bitten, nach vorn zu sehen. Ich will ihn bitten, langsam zu fahren, langsamer, wenigstens das. Ich will ihn bitten, inständig, beide Hände am Lenker zu lassen. Und weil ich längst weiß, dass das alles sinnlos ist, werde ich ihm einfach nur sagen, dass er mich absetzen soll. Gleich hier. Auf der Stelle. Ich halte es keinen Meter weiter aus. Aber wunderlicherweise brülle ich nur über seine Schulter zurück: «Was?!» Robert dreht sich wieder um. Hand am Gas. Und jetzt, beim zweiten Mal, verstehe ich, was er brüllt: «Genießt du die Fahrt?!»

Erster Waffenkontakt

Nordfriesland 1999

Meine Jägerkarriere, wenn sie denn eine war, folgte einem jeder profanen Logik entbehrenden Zickzackverlauf. Ich bin im Weserbergland aufgewachsen, am Rand des Sollings, einer wald- und wildreichen Gegend in Mitteldeutschland. Ich weiß nicht, ob das allein eine gute Voraussetzung fürs Jägerwerden ist. Auf jeden Fall impfte es mich mit einer lebenslangen Sehnsucht nach Wald.

Einmal war ich für ein Magazin auf den Shetlandinseln unterwegs, einer kargen, windgefegten Inselgruppe oberhalb Schottlands. Ich fuhr mit dem Mietwagen kreuz und quer über die Insel, sah mir alles an, war rechtschaffen begeistert, wie man von der Fremde eben leicht zu begeistern ist. Es gab endlose, braungelbe Heidehügel, gesprenkelt mit dem Weiß von Schafen. Es gab Klippen und ein Meer, das gegen schroffe Felsen schäumte. Es gab Papageientaucher, die berühmten Ponys, eine Ortschaft namens «Gott» und das Hinweisschild dorthin: «Gott – 2 km». Ich fuhr ihm neugierig nach. Dann, weil bei Gott nichts los war, immer weiter, so weit, wie man auf kleinen Inseln eben fahren kann. Ich suchte etwas. Irgendetwas fehlte. Das begriff ich in dem Moment, als ich es fand: eine Baumgruppe, krumm und schief und erbärmlich, mitten in der Heidewüste. Kein Wald, aber immerhin Bäume. Es waren die einzigen auf den Inseln.

Als ich am nächsten Tag den Fotografen vom Flughafen abholte, brachte ich ihn geradewegs zu den paar Bäumchen. Auf der Fahrt sagte ich: «Ich habe da etwas Tolles gefunden. Das muss ich dir zeigen. Wart’s ab!» Er ließ sich von meiner Begeisterung anstecken, war voller Neugier. Und stand dann fassungslos vor meinem Glücksfund. Er war Schweizer. Er warf einen Blick auf die krüpplige Gruppe mit ihren krummen, dürftig belaubten Ästchen, dann einen Blick auf mich, dann sagte er: «Weißt du, in der Schweiz haben wir sehr viele Bäume. Ich meine: so richtig dichte Wälder.» Das wusste ich, klar. War ein paarmal schon in der Schweiz gewesen, hatte als Kind auch Heidi gelesen. Ich dachte: Eben deshalb ja musste er diesen Miniwald hier doch so toll finden wie ich! Aber ich sagte nichts mehr. Wir fuhren wortlos zurück zum Hotel. Ich glaube, wir waren beide ein bisschen enttäuscht.

Ich war das tierverrückte Kind eines Paares, das sich, um seine Sofas und starren Gemüter zu schützen, gegen jede Tierhaltung sträubte. Entsprechend verzehrte ich mich nach einem Hund. Meine Eltern gestatteten einen Wellensittich. Als ich acht war, kaufte ich heimlich einen Hamster. Drei Euro, von meinem Taschengeld. Ich versteckte ihn in einem Pappkarton unter meinem Bett. Wie ich meinte: erfolgreich. Bis mein Stiefvater beim Zubettbringen übergangslos sagte: «Und morgen ist das Vieh da unter deinem Bett wieder verschwunden!» Er ließ sich dann, mit viel Betteln und Tränen, doch noch erweichen. Ich kaufte dem Hamster einen Käfig, ein Haus, ein Laufrad. Eine Woche darauf hatte er sich das Leben genommen. Klemmte eines Nachts unbemerkt unter dem Laufrad fest und war doch immer weiter und weiter gelaufen. Als ich ihn morgens fand, war er eine platte Wurst.

Ich weiß nicht, ob es vor oder nach dem Hamstertod war, dass ich meine Fähigkeit entdeckte, mit Tieren zu sprechen. Natürlich nicht hörbar, mit Worten. Nicht, wie ich mit meiner Mutter, dem Stiefvater, mit Lehrern und Schulfreunden sprach. So nichtssagend und alltäglich war meine Beziehung zu den Tieren nicht. Ich verband mich mit ihnen exklusiv, mittels der Übertragung von Gefühl. Über den Geist. Über unsere Seelen. Damals glaubte ich noch an die Seele. Ich war das katholische Kind einer katholischen Mutter, aufgewachsen in einem katholischen Dorf. Das reichte. Hätte damals einer vorgeschlagen, dass meine Tier-Seelen-Durchgeistigkeit mit meiner frühen Katholizismusvergiftung zu tun hatte, ich hätte gelacht. Vielleicht auch getobt. Damals als Kind und noch viele Jahre später. Als Kind, weil ich glaubte, mein Verbundenheitsgefühl sei etwas ganz Eigenes. Später, weil ich gern klüger gewesen wäre als der gewöhnliche «Spirituelle».

Wenn ich als Kind an einer Weide vorbeiging und die Pferde aus der hintersten Weidenecke dicht an den Zaun kamen, wusste ich: Das taten sie wegen mir. Weil ich diese besondere Ausstrahlung, eine spezielle Verbindung zu ihnen hatte. Weil ich speziell war. Ganz und gar anders als alle anderen. Die Kinder, die neben mir am Zaun standen, waren Kinder, die naiv ein paar Ponys streichelten. Ich war diejenige, wegen der die Ponys kamen. Von der sie wussten: Das ist sie! Die Ponys und ich sahen einander in die Augen und wussten Bescheid. Mit Hunden ging es mir ähnlich. Logisch. Ich hatte zu allen Hunden in unserer Nachbarschaft dieses geistig-seelische Dingens aufgebaut, über das die Hunde spürten, dass ich eine Weise war.

Ich schöpfte Froschlaich aus Tümpeln, stellte ihn in einer mit Wasser und Moder gemütlich ausgestatteten Schüssel erwartungsfroh auf den Balkon und weinte, wenn nach Wochen statt lustiger Kaulquappen darin nur fauliger Laichbrei schwamm. Ich ließ mich davon nicht entmutigen. Ich schöpfte, wartete, weinte. Jedes Frühjahr ein paarmal aufs Neue. Ich war eine so erfolglose wie unermüdliche Froschzüchterin. Ich vernichtete Froschlaich in Massen und bester Absicht. Ich trug halbtote Igel und aus dem Nest gefallene Vögel heim. Auch die verlausten. Und die noch nackten. Oder anderswie hoffnungslosen. Ich bettete sie in Pappkartons, stopfte ihnen selbstgerührten Spinnen-Ameisen-Fliegen-Brei in die widerstrebenden Mäuler und schlappen Schnäbel und schützte sie vor Kälte und Räubern. Und vor meinen Eltern, die, das hatte ich längst mit Kummer zur Kenntnis genommen, gewöhnliche Menschen waren, die gewöhnliche Sachen sagten. So was wie: «Wer weiß, was das Vieh für Krankheiten hat!» Oder, schlimmer: «Der stirbt sowieso!» Dass sie mit Letzterem meist recht behielten, sah ich nur den Verstorbenen nach. Wenn überhaupt. Leiden war in meiner Vorstellung von einer gerechten, erträglichen Welt nicht vorgesehen. Sterben schon gar nicht.

Und doch pirschte ich, Ponyversteherin, Hundeverbundene, Tiermutter-Teresa, regelmäßig mit selbstgebasteltem Bogen und Pfeilen hinaus in den Wald. Ich suchte die Eingänge der Kaninchenbauten. Und, wenn ich sie gefunden hatte, einen Platz für mich in der Deckung, gegen den Wind. Da saß ich dann, Stunde um Stunde, weitgehend reglos. Immun gegen Kälte, Regen und gegen die Zeit. Wenn ich glaubte, am Eingang des Baues ein Rascheln zu hören, wenn ich mich überzeugt hatte, dass ich in seinen Schatten Bewegung sah, hob ich den Bogen und legte den Pfeil an die Sehne. Schauer liefen mir über die Arme und über den Rücken. Ich fühlte den harten Schlag meines Herzens gegen die Rippen und in meinem zu engen Hals. Meine Hand, mit dem Pfeil im Anschlag, zitterte. Hätte sich ein Kaninchen aus dem Bau gewagt, ich – Doktor Dolittle – hätte auf es geschossen.

Ich plante seinen Tod mit der gleichen Hingabe, mit der gleichen Leidenschaft, mit der ich, hätte ich es sterbend am Waldrand gefunden, versucht hätte, es im Leben zu halten. Es nahm sich für mich nichts, es war beides das Gleiche. Das verzweifelte Bedürfnis, Leben zu erhalten, und die Bereitschaft, zu töten, sie entsprangen beide dem Verlangen nach Kontrolle.

Ich wurde Jägerin in Nordfriesland, gleich an der dänischen Grenze. Das ist kein Landstrich, der einen, wettermäßig, zu übertriebenen Außer-Haus-Aktivitäten lockt. Es regnet oft. Es ist oft windig. Im Herbst und Winter rasen Stürme über die flachen, nahezu baumlosen Ebenen und drücken das Meer mit Macht gegen die Deiche. Manchmal auch darüber. Oder, wenn’s dicke kommt, mitten hindurch. Ich kannte eine alte Frau auf einem alten Hof, gleich am Meer, die durchwachte die Sturmnächte in jedem Herbst und Winter auf ihrem Dachboden. Sie hatte Stricke um ihre Dachsparren geschlungen, das andere Ende um ihre Hände gewickelt. So saß sie stundenlang allein in der Dunkelheit und Kälte und hielt verbissen ihr Dach gegen das Rasen und Reißen des Sturmes fest. Sie war sechsundsiebzig. Einmal kam sie nach so einer Sturmnacht nach unten: siegreich. Sie hatte alle Sparren gehalten. Dann sah sie: Im Stall stand meterhoch das Wasser. Zwei ihrer Kühe waren ersoffen. Freunde, oder sonst jemanden, der ihr in ihrer Not hätte helfen können, hatte sie nicht. Sie war eine Zugezogene, seit fünfundsechzig Jahren. War in den letzten Kriegsjahren als verirrtes Flüchtlingskind aus dem Ruhrgebiet auf den Hof gekommen. Fand ihre Eltern auch nach dem Krieg nicht wieder, blieb also, wo sie war. Und weil das Bauernpaar selbst keine Kinder hatte, gehörte nach deren Tod der Hof ihr. Ich weiß nicht, ob sie das als Glück empfinden konnte.

Auch ich kam als Verirrte nach Nordfriesland. So wie ich zu den Buddhisten, den Juden und den Cowboys gekommen war. Als Kind hatte ich mit meinen Eltern jeden Feriensommer an der nordfriesischen Küste verbracht. Dass das Wetter dort öfter als anderswo scheiße war, wusste ich also schon. Oder: ich hätte es wissen können, wäre die Erinnerung eine rationale Sache. Stattdessen kaufte ich einen Hof in einem winzigen Friesendorf und stellte mir mein Leben, mit Mann und Kindern, fortan gemütlich vor. Losgelöst von allem. So wie ich meine Kinderferienwochen einst erlebt hatte. Freunde, die mich ungläubig fragten: «In dieses Scheißwetter willst du ziehen?!», belehrte ich mit der Arroganz aller Möchtegern-Erleuchteten und dem Standardspruch meiner Eltern: «Es gibt kein schlechtes Wetter. Nur schlechte Kleidung!»

Meine erste Begegnung im Dorf war, Zufall oder nicht, mit einem Mann in Grün. Er kam die paar Meter vom Haus gegenüber geradelt, in vollem Jägerornat, mit Hund und Knarre, sprang vor unserem Haus ab und lehnte das Rad gegen den Zaun. Ich sah ihm vom Küchenfenster aus zu. Beziehungsweise von dem Fenster, das zu dem Raum gehörte, der einmal unsere Küche werden sollte. Wir wohnten noch nicht wirklich dort. Waren nur eine Woche zum Renovieren gekommen. Mit Kindern – es waren damals erst fünf –, zwei Hunden, Minibus und ein bisschen Sack und Pack. Ich hätte gerne gedacht: «Wie schön, hier will uns der erste gemütliche Friese begrüßen.» Nur leider zitterten mir schon bei seinem Anblick die Knie. Er grüßte nicht oder gab sich sonst wie gemütlich. Er schulterte das Gewehr und blaffte: «Gibt es hier einen Mann!» Ich antwortete wackelig: «Sie dürfen gern auch mit mir sprechen.» Das wollte er nicht. Oder konnte er nicht. Ob das daran lag, dass er so ein alter Knarzfriese war oder Jäger – und zwar einer, wie er im Buche stand – oder einfach nur ein Arschloch oder alles zusammen, weiß ich nicht.

Auf jeden Fall: Ein Mann musste ran! Wenn es denn einen gab. Irgendeinen. Weil: «Verheiratet sind Sie ja sicher nicht!» Das sagte er tatsächlich. Mit Blick auf den Hund, den Kleinbus und mich. «Doch», sagte ich, «seit zehn Jahren.» Ich hatte amüsiert klingen wollen, schaffte aber nur «gekränkt». Er machte ein Wer’s-glaubt-wird-selig-Gesicht. Als dann der Mann, der zu jener Zeit rechtmäßig meiner war, endlich da war, konnte der Jäger seine nächste Ausrufefrage stellen: «Ist der Hund da Ihrer!» Gemeint war Schröder, der schwarze Labradorirgendwas, der gerade sein Bein in Fahrradnähe hob. «Der ist meiner!», rief ich, ein bisschen schadenfroh. Und dann ging es los: «Der Hund darf sich nicht unangeleint außerhalb ihres Grundstücks bewegen!» Nein, auch nicht genau vorm Haus, nicht mal einen Meter. Verordnung sowieso, Absatz dies und das. Er hatte sie alle im Kopf und auf Abruf parat. Ich nahm an: für den Ernstfall. Der waren jetzt wir, Schröder und ich. «Sehe ich den Hund außerhalb des umzäunten Grundstücks laufen, melde ich das dem Ordnungsamt. Und der Polizei.» Später lernten wir, dass beide ihn natürlich schon kannten. Zur Genüge. Aber weil er um all die Verordnungen wusste, mit all ihren Absätzen, und weil er ihnen auch sonst furchtbar unangenehm war, sprangen sie doch immer wieder für ihn los.

Schießen durfte er in seiner Eigenschaft als der Jagdpächter auch. Und zwar nicht nur Rehe. «Das hier ist mein Revier!» Und zu seinem Revier gehörte, wie ich zu meiner Überraschung erfuhr, auch meine Weide. Die drei mit Bäumen und Büschen gesäumten Hektar Land hinter dem Haus, auf denen meine Pferde grasten. Wegen denen ich das Haus in erster Linie gekauft hatte. Darauf durfte er herumballern, wie er und seine Verordnung es für richtig hielten. So sagte er es natürlich nicht. Denn er gehörte ja zu den Korrekten. Was er sagte, war: «Das Grundstück ist Teil der Pacht, auf der ich das Jagdrecht ausübe.» Ich konnte es nicht glauben. Ich bezahlte das Land, und dieser grüne Großkotz hier durfte darüber mit seiner Knarre ungefragt herrschen? Wo gab’s denn so was! Und nach welchem Recht? Der Großkotz sagte: «Sie müssen sich mal besser informieren!»

Er war noch nicht fertig. Hatten wir etwa auch eine Katze? In diesem Fall: «Sehe ich die mehr als zweihundert Meter von den Häusern entfernt, erschieße ich sie.» Ich hatte – noch – keine Katze. Aber umso mehr Angst um Schröder. Den hatte ich etwa zwei Jahre zuvor von einem groben Mann im fleckigen Unterhemd aus dessen rostigem Baustahlmattenzwinger freigekauft. Da war Schröder schon ein erwachsener Hund. Und mit einem unheilbaren Drang nach Freiheit versaut.

Bevor wir auf das Friesendorf zogen, hatten wir in der Lüneburger Heide gewohnt. In einem Haus mit Ställen und Weide, an einem großen Wald gelegen. In dem ging Schröder gern spazieren. Allein. Wann immer sich die Gelegenheit bot. Sie bot sich immer dann, wenn ich ihn für eine Sekunde aus den Augen ließ. Ich drehte mich um, und zack, Schröder war weg. Nicht mehr zu sehen. Dieser Hund, der sich jedes Mal, wenn ich aufs Klo ging, leise weinend draußen vor die Badezimmertür legte und auch sonst so tat, als könne er keine Minute ohne mich an seiner Seite überleben, konnte gar nicht abwarten, so weit wie möglich von meiner Seite wegzukommen. Rufen half auch nicht. Zumindest nicht, sobald er wusste, dass er außer Sichtweite war. Sobald er in meiner Stimme und meinem Tonfall hörte, dass er außer Sichtweite war. So stellte ich mir das vor. Ich versuchte also, ihn zu rufen, als sähe ich ihn. Nicht bittend, mit hoher Stimme: «Schröder? Schröööö-derrrr?!» Sondern im Polterbass: «Schröder! Komm jetzt hierher!» Aber natürlich hörte Schröder nicht nur heraus, dass ich ihn nicht mehr sah. Er hörte auch, dass ich nur so tat, als sähe ich ihn. Er war ja ein Hund. Ich stand dann da, rufend, pfeifend, unerhört, blöde. Und stellte mir vor, wie Schröder, unsichtbar, gar nicht weit, weiter und immer weiter lief. Und musste lachen.

Nach ein, zwei oder drei Stunden kam er zurück. Die ersten Male durchsuchte ich seinen schwarzen Pelz noch nach Blutspuren. Fremden Blutspuren. Nur für den Fall. Aber da war nichts, nie. Und ich dachte: Solange er kein Schaf, Reh oder weiß ich was ermordet und solange er wieder zurückkommt, geht mich eigentlich nichts an, was Schröder in seiner Freizeit macht. Ich gönnte ihm nach den Jahren hinter Baustahlgittern diese Zeit und die Freiheit. Ziellos, zeitlos durch Wald und Feld zu streifen. Tat ich doch selbst gern. Mit Schröder, wenn er Lust auf Gesellschaft hatte. Oder allein. Oder, das am liebsten, zu Pferd. Man sah sehr viel mehr von da oben.

Wenn wir durch die Heide ritten, kreuzten oft Rehe unsere Wege. Einmal eine Hirschkuh. Die Wildschweine, die des Nachts unseren Vorgarten zerwühlten, begegneten mir dagegen nie. Ich sah nur, wo sie wohnten. Oder wo sie ihre Freizeit verbrachten. Die Zeit, die nicht beherrscht von Nahrungssuche und Fortpflanzungsbusiness war. Etwas abseits des Weges, in einem Waldteil, in dem nur in einigem Abstand alte Buchen und ein paar Eichen standen, wo kein Buschwerk, kein Dickicht, der Wald also licht und sein Boden dauerhaft mit goldbraunem Laub bedeckt war, lag ihre Suhle. Eine morastige, nach starken Regenfällen wassergefüllte Senke. In deren Schlamm wühlten sie und wälzten sich, um sich abzukühlen und ihre Haut mit der später trockenen, harten Dreckschicht gegen Parasiten zu schützen. Die umstehenden Stämme waren auf Wildschweinhöhe weißgrau gefärbt, schlammgestrichen. Ihre Rinde von den Zähnen und schubbernden Leibern der Schweine zum Teil abgescheuert. «Malbäume» heißen sie. Wusste ich das damals schon?

Diesem Ort wohnte etwas inne. Das Pferd schnaubte, scheute, sprang zur Seite. Wollte hier unter keinen Umständen verweilen, am liebsten nicht mal an der Stelle vorbei. Mich zog sie an. «Magisch». Das ist so ein Wort. Aber natürlich hatte der Ort – beziehungsweise seine Wirkung auf mich und das Pferd – nichts mit Magie zu tun. Ich ging oft auf eigenen Füßen dorthin. Grub und stocherte in dem Schlamm, in dem die Schweine gegraben hatten. Fragte mich: Wann? Vor wie langer Zeit? Der Schlamm gab das nicht her. Ich befühlte ihre Spuren. Die Abdrücke ihrer Hufe am Senkenrand. Ich strich mit der flachen Hand über die schlammbedeckten Stämme. Saß eine ganze Weile einfach so da, auf einem Baumstumpf, und stellte mir den Ort vor. Des Nachts, wenn ihn die Schweine beherrschten. Die überhaupt erst von uns, den Menschen, in ein Nachtleben abgedrängt worden waren. Am Tag war nicht länger Platz für uns beide. Der Kulturfolger Schwein hatte sich dem gebeugt.

Nachts, stellte ich mir vor, wäre die Suhle ein anderer Ort. Fremd. Fern. Zugehörig zu einer anderen Welt: der Welt der Schweine. Zu der ich keinen Zutritt hatte. An der ich keinen Anteil hatte. Ich dachte: Das Pferd, schnaubend, scheuend, springend, hatte das gewusst. Und Schröder. Der auf seinen Streifzügen vielleicht auch hierher, zur Kuhle, kam. Allein.

Jäger hatte es selbstverständlich auch in dem Heidewald gegeben. An zwei Samstagvormittagen in jedem Jahr kam der Graf, dem das Haus, der Wald, die Schweine und anderen Tiere darin gehörten, mit einem Traktor vorgefahren. Dahinter hatte er einen Anhänger gekoppelt, oben offen, auf dem sich seine Jagdgesellschaft drängte. Sie sahen genauso aus, wie man sich eine solche Gesellschaft vorstellt: Auf dem Kopf grau und sonst grün, gewandet in Loden und Leder. Mit Knarren, Keksen, Kaffee und anderem Trinkzeugs beladen. Sie stiegen vor unserem Haus vom Hänger, mit viel Halali und Trara. Stiefelten hochherrschaftlich auf und ab. Wickelten Schokoriegel aus buntem Papier und ließen es achtlos auf den Weg vor dem Haus oder in den Vorgarten fallen, schlürften Kaffee aus Pappbechern mit wer weiß was noch drin. Palaverten, schimpften, lachten. Warteten auf die Männer in den Jeeps, mit den Hunden. Waren die endlich angekommen, setzte die Gesellschaft sich ihre grünen Hütchen auf die Köpfe, schulterte ihre Knarren, und dann ging es auf, in den Wald, zu den Schweinen. Hurra. Die Natur sollte was erleben!

Für die Dauer ihres «Jagdvergnügens», so nannten sie es damals noch leichtfertig, war uns «Normalsterblichen» der Zutritt zum Wald verboten. Es drohte Gefahr für Leib und Leben, nicht nur für Schweine. Selbstverständlich verachtete ich das alles. Als «Normalsterbliche». Das war ein Ausdruck, den meine Eltern gern benutzten. In Bezug auf sich, mich und die vielen anderen machtlosen Seelen. Wenn der Graf seine Gesellschaft kurz nach Einbruch der Dunkelheit wieder einsammelte, fehlte es ihnen nicht nur an Balance, sondern oft auch an Hunden. Drahtige Terrier, die leuchtend orangefarbene Westen trugen und die Stunden nach dem Jagdabschluss-Tuten mehr oder weniger orientierungslos bei uns auf dem Hof aufliefen, winselnd und aufgeregt im Kreis herumschnüffelnd. Ihre Jagdherren saßen da längst schon weit weg in der Kneipe beim Essen. Wir lasen ihre Hunde, ihre vor dem Haus leergeschossenen Schrotpatronen und ihr leergefressenes Schokopapier auf. Ich verachtete das alles. Und ich verachtete die Jäger. Beinahe so, wie ich später, im Friesischen, meinen Nachbarn verachtete, wenn er wieder, mit Verordnungen und Knarre bewaffnet, vor mir stand. Ihn verachtete ich allerdings mehr. Denn vor ihm hatte ich Angst.

Vielleicht war das ein Grund, warum ich mich knapp zwei Jahre später bei der nordfriesischen Jägerschaft zum Jagdkurs anmeldete. Beinahe zu meiner eigenen Überraschung.

Unter Wölfen

Nordfriesland 2001

Am Anfang war Magda. Magda fragte, Magda drohte, Magda befahl: «Raus mit der Sprache! Warum wollt ihr Jäger werden? Reihum aufstellen und euch bekennen!» Und so standen wir da. Einer nach dem anderen musste antworten, reihum. Ich wette, ich war nicht die Einzige, der bei dieser Frage die Knie wackelten. Dass jedem die Stimme zitterte, war ja leicht zu hören. Warum wollten wir Jäger werden. Was war das überhaupt für eine Scheißfrage? Was konnte, sollte, wollte man darauf sagen? Ich meine: ehrlich?

Ich war hier sowieso falsch. Aber so was von. Man musste sich ja nur mal umsehen in der Bude: blauweiße Friesenkacheln, düsteres Eichendekor, Butzenscheiben. Eine norddeutsche Bauernspelunke von der finstersten Sorte. Und dann diese Magda. Mit ihren kurzen Beinen, den dicken Brüsten und dem weißgelben Haar. Ende sechzig, grob geschätzt. Und mit dieser typischen Wasserwelle oder wie man das nennt, was der Kleinstadtfrisör seinen Bauernladys da Halblockiges auf den Schädel zaubert. Neben ihr thronte ein bärtiger Fettsack im Karohemd, der schon vom Sitzen am Kneipentisch und der ganzen Bierglas-rauf-Bierglas-runter-Arie schwer aus der Puste war. Stützte immer wieder mal die Hände auf die Schenkel und lehnte sich schnaufend zurück, um seiner armen Lunge Platz zu machen. Vielleicht rauchte er auch. Klar war: In den Wald schaffte der’s nicht mehr! Wem wollte er das erzählen? Den Dritten im Bunde erinnere ich gar nicht mehr. Nur dass da ein Dritter war. So gesehen war er die traurigste Gestalt von den dreien. Aber der Dicke und der Dritte waren ja ohnehin nur die Statisten. Das Sagen hatte Magda. Gar keine Frage.

Zwanzig Jahre Jagdlehrgangsleiterin. Und, bei Gott, in denen hatte sie gelernt, die jagdtauglichen Schüler von den hoffnungslosen Fällen zu unterscheiden. Notfalls am ersten Abend. Ihr machte keiner was vor. Dafür mussten wir unsere – womöglich finsteren – Beweggründe gar nicht erst bekennen. Sie hatte auch so den Durchblick. Von dem konnten wir, ob wir ihr das glauben wollten oder nicht, nur profitieren. «Zum Beispiel», warnte Magda. «Wenn hier einer in schmierigen Stiefeln zum Unterricht kommt, dann weiß ich, der verdirbt in so einem Aufzug später auch seinen Kameraden die Jagd.» Wird also gar nicht erst eingeladen. Kann darum auch gerne von Anfang an wegbleiben. «Da hat er sich eine Menge Zeit und Geld gespart.» Die Gebühren hier waren in der Tat nicht von Pappe. Schon tausend Mark allein für den Lehrgang. Den Euro gab es noch nicht, in jenem September, anno 2000. Er existierte nur als vage Bedrohung. Als die wenig willkommene Aussicht darauf, dass – o weh! – demnächst mal wieder alles anders werden würde auf der Welt. In unser aller Leben. Heute denke ich manchmal: Ich war bei der Jägerschaft zur besten Zeit in den besten Händen. Zu einer Zeit, in der die große globale Veränderung drohte – der Euro, das Internet und was sonst noch alles –, floh ich in den muffigen Schoß des Ewiggleichen. Und natürlich wollte der mich nicht haben.

«Mit den tausend Mark Lehrgangsgebühren ist noch lange nicht Schluss!» Magda begann zu rechnen: «Die Kosten für Munition, das sind noch einmal leicht dreihundert Mark. Plus die Prüfungsgebühr, dreihundertfünfzig Mark.» Dann noch hier und da ein paar Hundert für die Lehrgangsfahrten. «Auf denen haben wir immer viel Spaß», drohte Magda, «schon darum darf keiner fehlen.» Und dann, nicht zuletzt, das Bußgeld! Magda klopfte auf die Plastikente mit Schlitz im Rücken vor uns auf dem Tisch. «Wer kann mir sagen, was das für eine Ente ist?» Wir schwiegen. Magda schnaufte. Der Dicke an ihrer Seite setzte sich auf. Nahm die Hände von den Schenkeln und verschränkte die mächtigen Arme vor seiner mächtigen Brust. Wohlwollend angesichts so viel Unwissens. Magda drehte sich mit «Na, das kann ja noch heiter werden»-Miene zu ihm. Dann zurück zu uns. «Das ist ein Stockerpel, im Prachtkleid!» Wir atmeten aus. Stockerpel, Prachtkleid, aber natürlich, ja! Jetzt, wo die Gefahr der Blamage vorbei war, war uns das allen wieder sonnenklar. Diese Art Entlein – grau, mit brauner Brust und metallisch schimmerndem knallgrünem Kopf – sah man doch auf jedem Parkteich herumpaddeln. Gab’s ja nicht, dass einer nicht wusste, dass das ein Stockerpel war!

Tatsächlich hatten die meisten von uns nicht die Klappe gehalten, weil wir, wie von Magda vermutet, zu blöde waren. Sondern, viel besser, weil uns Ehr- und andere Furcht die Kehle zuschnürten. Das sollte überhaupt unsere Grundhaltung für die Dauer des Kurses werden. Jedenfalls die der meisten. Man könnte auch sagen: die der Cleveren unter uns. Genau wie im richtigen Leben.

Der Stockerpel in seinem Plastikprachtkleid war beinahe lebensgroß. Umso mehr Kohle passte rein. Ein Bußgeld war fällig für Zuspätkommer. Und Schmierstiefelträger. Und andere Möchtegern-Rebellen gegen die Ordnung. Die Höhe des Bußgelds bestimmte Magda. Von Fall zu Fall, von Abend zu Abend, indem sie den Erpel vom Tisch an ihr Ohr hob und kräftig schüttelte. Faustregel in etwa war: Je hohler der Erpel klang, umso mehr hatte einer zu blechen. Weil: «Das Geld brauchen wir zum Feiern, für unsere Ausflüge und so Sachen. Also stellt euch nicht an.» Wer in Blue Jeans zum Unterricht kam, zahlte meistens zwei Mark. Manchmal drei. Fünf eher selten, aber es kam vor. Wann immer der Erpel an Magdas Ohr hohl genug klang.

Magda sagte tatsächlich «Blu-Jiens». Mit einem hartem «J», wie in «Jäger». Und einem langen, spitzen «iieh». Schon aussprachetechnisch ließ sie keinen Zweifel: Blu-Jiens-Träger waren ihr ein Gräuel. Nicht nur hier, in ihrem Unterricht, sondern überhaupt. Die konnten, würden, die mussten was erleben. Wenigstens schon mal da, wo es in Magdas uneingeschränkter Macht stand, sie was erleben zu lassen. Auf ihrem Hoheitsgebiet. In ihrem Revier. Zwanzig Jahre Lehrgangsleiterin einer nordnorddeutschen Jägerschaft sollten nicht umsonst gewesen sein. Magda würde Ordnung schaffen, aussieben. Der Rest (von uns) würde sich fügen. Sie selbst ging mit bestem Beispiel voran. In Hemden und Cargo-Hosen und Waidmannsgrün. Nicht nur im Unterricht. Sondern überhaupt. «Jäger ist man nicht nur an ein paar Abenden in der Woche», lehrte Magda. «Jäger ist man hier!» Sie schlug sich mit der Faust auf die linke Seite der Brust. Ihre Stiefel waren stets makellos.

Wir waren achtzehn an diesem ersten Abend. Ein Autoverkäufer, zwei Unternehmer, eine Studentin, vier Schüler, ein Metzger, zwei Bauern, ein Schmied, drei Soldaten, ein Zahnarzt mit seiner Pädagogen-Ehefrau. Und ich, die Journalistin. Die besser nicht bekannte, dass sie Journalistin war. Fürs Erste. Das war mir klar. «Buchautorin», sagte ich darum, als sie uns reihum nach unserem Broterwerb fragten. Was für sie, die Jäger, keinen Deut besser war. Das war mir nicht klar.

Zu uns an den Tisch hatten sie einen kleinen, ausgewählten Trupp aus dem Vorjahreslehrgang gesetzt: drei glücklich Bestandene, die uns Mut zusprachen. Und den Verlierer. Der in diesem Jahr einen neuen, kostspieligen Versuch seiner Jägerwerdung unternahm und uns, so ganz nebenbei, als schlechtes Beispiel diente. Wir lernten: Er war in der mündlichen Prüfung abgestürzt. Magda hob die Schultern. «So was passiert leider immer wieder mal. Obwohl wir bemüht sind, euch alle da durchzubringen. Wir wollen, dass ihr besteht!» Das sei gar keine Frage. Für sie. Und den dicken Ulli, mit Bart und im Karohemd, neben ihr. «Nicht wahr, Ulli!» Ulli nickte. Viel mehr hatte er über die kommenden acht Monate hier nicht zu tun. Das war gleich am ersten Abend zu sehen. Magda wiederholte mit Nachdruck, diesmal in Richtung Verlierer: «Wir wollen, dass ihr besteht!» Auch er nickte. «Du warst selbst schuld, nicht wahr? Hast viele Fehlstunden gehabt.» Verlierernicken. «Na, dieses Jahr wird das besser. Du musst kommen und mitmachen, dann klappt das auch. Ihr müsst alle kommen und mitmachen. Wer nicht kommt, der kann auch nicht bestehen.» Wir alle nickten.