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Prügel - Ein mutiges Buch über häusliche Gewalt und den Weg in die Freiheit In ihrem schonungslos ehrlichen Buch Prügel bricht die preisgekrönte Journalistin Antje Joel das Tabu der häuslichen Gewalt. Sie erzählt offen ihre eigene Geschichte und analysiert den gesellschaftlichen Kontext dieses weit verbreiteten Problems. Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner ermordet, jede dritte Frau erlebt häusliche Gewalt - so auch Antje Joel. Mit 16 lernt sie ihren späteren Mann kennen, der sie bereits nach wenigen Monaten schlägt. Ihre Eltern und viele andere geben ihr die Schuld, was Joel lange Zeit selbst glaubt. Immer wieder kehrt sie zu ihm zurück. In Prügel ergründet Joel, warum sie ihren gewalttätigen Ehemann zunächst nicht verlassen konnte, wie sie sich schließlich befreite und was sich gesellschaftlich ändern muss. Dieses hochaktuelle Buch beleuchtet eindringlich die Mechanismen von Manipulation, toxischer Männlichkeit und Misogynie. Es ist ein wichtiger Beitrag zu einer überfälligen Debatte - nicht nur in Zeiten von Corona, wenn häusliche Gewalt besonders zunimmt. Prügel ist ein mutiges Zeugnis und ein Aufruf zum Handeln.
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2020
Antje Joel
Eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt
«Dies ist die Geschichte, wie mich ein Mann – und später ein zweiter – über Jahre erniedrigte. Mit Blicken, mit Worten, mit Fäusten. Er war nicht irgendein Mann. Er war, wie man so sagt, meiner. Ich war mit ihm verheiratet, drei Jahre. Keine sehr lange Ehe – nur eine entsetzlich lange Zeit, um beleidigt, beschimpft und verprügelt zu werden. Es gibt Frauen, die ertragen solch eine Ehe noch sehr viel länger. Ich sage das ohne Wertung. Meine Geschichte ist nicht besser als die Geschichte irgendeiner anderen von ihrem Partner geschlagenen Frau. Sie ist auch nicht schlimmer. Sie ist einfach das: eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt, wie sie sich täglich in deutschen Familien abspielt.»
Antje Joel, geboren 1966, arbeitet seit 1994 als freie Journalistin und Autorin. Ihre Texte erschienen unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der Brigitte, im Tagesspiegel und im Spiegel. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter der Axel-Springer-Preis und der Egon-Erwin-Kisch-Preis.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Ulrike Gallwitz
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung FinePic®, München
ISBN 978-3-644-40614-8
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Widmung
Motto
Vorwort
Letzter Abend
Ich, Tina
Gewalt gegen Frauen ist kein Frauenproblem
P. wie Picasso
Die perfekte Frau
Die Hölle sind nicht nur die anderen
Grooming
November 2018 – Angst
Traumpaar
Warnhinweise
V wie Verrat
Was mit Frauen «passiert», oder: Der verfluchte «Passiv Irrelevantis»
«Liebe» …
… und andere Mythen
Prügel
Das perfekte Opfer
Eine Art von Freiheit
Gewalt, Sex und Richter, oder: Wie Fakten und Meinungen entstehen
Bad Boys, oder: Der erste Preis ist das Arschloch
Die Schwierigkeit, gutes Eis von Billigware zu unterscheiden
Von armen Piraten und bösen Hexen – wie die Gesellschaft die Rollen im Drama der häuslichen Gewalt besetzt
Hilferufe
Die Fesseln der Unglückseligkeit
Es trifft nicht immer «nur» die Frau
Frauenhaus
Die Kultur von Macht, Zwang und Kontrolle, oder: Warum wir beim Kampf gegen häusliche Gewalt noch immer versagen
Paartherapie
Warum gehen die Männer nicht?
Wird er sich ändern?
Die Zeit, die es braucht
Nachsatz
FÜR UNS ALLE.
«Reduzieren Sie mich nicht auf die Opferrolle. Ich bin sehr viel interessanter.»
Glenn Close als Joan Castleman in The Wife (2017)
Dies ist die Geschichte, wie mich ein Mann – und später ein zweiter – über Jahre erniedrigte. Mit Blicken, mit Worten, mit Fäusten. Er war nicht irgendein Mann. Er war, wie man so sagt, meiner. Ich war mit ihm verheiratet, drei Jahre. Keine sehr lange Ehe – nur eine entsetzlich lange Zeit, um beleidigt, beschimpft und verprügelt zu werden. Und sich, wenn man gerade nicht beschimpft und verprügelt wird, vor dem nächsten Beschimpft- und Verprügeltwerden zu fürchten.
Es gibt Frauen, die ertragen solch eine Ehe noch sehr viel länger. 25, 30 Jahre sind keine Seltenheit. Ich sage das ohne Wertung. Meine Geschichte ist nicht besser als die Geschichte irgendeiner anderen von ihrem Partner misshandelten Frau. Sie ist auch nicht schlimmer. Sie ist einfach das: eine ganz gewöhnliche Geschichte häuslicher Gewalt, wie sie sich täglich in ganz gewöhnlichen deutschen Familien abspielt.
Laut Bundeskriminalamt hat beinahe jede zweite Frau in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr eine Form körperlicher und/oder sexueller Gewalt erlebt. Jede dritte Frau erlebt Gewalt durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner. Ein Drittel aller Frauen – da kann man nicht mehr von einer Minderheit sprechen. Von den 313 Frauen, die 2011 in Deutschland ermordet wurden, starb fast jede zweite durch die Hand ihres Partners oder Expartners.
Wenn ich mit meinen drei jetzt erwachsenen Töchtern zusammensitze, weiß ich, dass, statistisch gesehen, eine von uns Gewalt von ihrem Partner erfahren wird. Oder erfahren hat. Diese eine bin schon mal ich.
In anderen westlichen Ländern gelten ähnliche Zahlen. Die Weltgesundheitsorganisation benennt Gewalt gegen Frauen als eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen weltweit. Nach ihrer Einschätzung sind nicht dunkle Gassen und verlassene Parks die gefährlichsten Orte für Frauen. Es ist die Familie.
Jede dritte Frau – das sind lediglich die Frauen, von denen die Polizei weiß, dass sie misshandelt wurden. Oder misshandelt werden. Ihnen gegenüber stehen 81 Prozent aller häuslichen Misshandlungsfälle, die globalen Studien zufolge niemals angezeigt werden. Und nahezu jede zweite Frau schweigt über den häuslichen Terror, den sie erleidet. Frauen schweigen nicht nur gegenüber der Polizei. Sie schweigen auch gegenüber Verwandten, Freunden, Arbeitskollegen. Ich schwieg aus verschiedenen Gründen. Einer war Scham. Ich schämte mich für meine Erbärmlichkeit, so empfand ich es, und für meine Hilflosigkeit. Ich wollte nicht klein, hilflos und erbärmlich sein. In meiner Vorstellung von mir selbst war ich eine ganz andere Frau. Vielleicht hätte ich mich als Geschlagene noch ertragen. Die Schläge waren nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Gefühl der Abhängigkeit. Das Gefühl, dass, wie sehr die Schläge auch schmerzten, es mehr schmerzen würde, wenn der Mann ging. Und weil Gefühle relativ sind, sind sie immer auch absolut. Für den Augenblick und für den, der sie fühlt. Auf keinen Fall wollte ich diese Frau sein, die, statt gegen ihn aufzubegehren, sich ihrem Schläger wimmernd und bettelnd zu Füßen wirft. Die, statt ihre Koffer zu packen und zu gehen, ihn anfleht, sie nicht zu verlassen. Ich war genau diese Frau.
Ich schwieg, weil ich mich fürchtete. Nicht nur vor dem Mann. Jedenfalls nicht mehr, als ich mich ohnehin schon vor ihm fürchtete. Ich fürchtete mich vor meinen Eltern, Freunden, Arbeitskollegen. Vor Stirnrunzeln, hochgezogenen Augenbrauen und Kommentaren. Ich fürchtete mich vor der immer gleichen Frage: «Warum?» Warum schlug er mich? So, als könnte es tatsächlich ein Darum geben. Einen guten Grund. Und wenn es den nicht gab: Warum ließ ich mir das gefallen? Warum stand ich nicht auf und ging? Warum glaubte ich mich von diesem Mann abhängig? Von seinem Wohlgefallen. War ich nicht eine kühle, clevere, selbstbewusste Frau? Ganz sicher war ich diese Frau auch – irgendwo tief in mir drinnen. Hätte es diesen Teil von mir nicht gegeben, wäre ich vielleicht nicht mehr hier.
Es ist ja keiner nur so oder so. Wir sind vielmehr alle so und so. Aber dieses Zugeständnis ist nicht sehr beliebt. Lieber teilen wir andere und uns selbst ein in simple Kategorien. Gut und böse. Hart und weich. Stark und schwach. In dem Versuch, uns das Leben und unser Verständnis von ihm leichter zu machen. Tatsächlich bewirken wir damit das Gegenteil. Wir machen es uns – und anderen – entsetzlich schwer. Hätte ich nicht geglaubt, mich in eine Schublade einordnen zu müssen, hätte ich mir erlauben können, zu erkennen, dass ich beides sein kann, und tatsächlich beides bin, hart und weich, stark und schwach, hätte ich mir ein ehrlicheres Bild von mir gestatten dürfen, wer weiß, welchen Verlauf die Geschichte genommen hätte. Möglicherweise hätte sie gar nicht erst begonnen.
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard hat gesagt: «Sehe dem, was du bist, ins Auge. Nur so kannst du, was du bist, ändern.» Hier ist mein Versuch, das zu tun. Für mich und damit vielleicht für andere. Ich habe zwei gewalttätige Beziehungen durchlebt. Ich schaffte es, meiner Prügelehe zu entkommen. Mehrmals, beim letzten Mal endgültig. Manchmal bin ich mir noch immer nicht sicher, ob ich das wirklich mir selbst verdanke oder nur einem glücklichen Zufall. Ich befreite mich auch aus einer zweiten Ehe, die hauptsächlich von verbaler und mentaler Gewalt geprägt war. Zu körperlichen Übergriffen (Schütteln, Schläge, Würgen) kam es «erst» nach 12 Jahren, zwei Jahre vor dem endgültigen Ende.
Meine Geschichte, wie ich sie hier erzähle, folgt darum nicht einem schnurgeraden Zeitstrahl. Sie ist keine klar umrissene Chronik. Sie wechselt von der Erzählung zur Empirie und dann wieder zurück. Sie ist, hauptsächlich, die Geschichte meiner von verbaler und körperlicher Gewalt geprägten ersten Ehe. Doch ab und an, wo es Sinn macht, fließen Szenen aus meiner zweiten Ehe ein. Die Geschichte meiner ersten Ehe, so viel habe ich im Rückblick auf meine zweite gelernt, ist nicht abgeschlossen. Sie kann es nicht sein, im besten Sinne, denn sie ist nicht nur die Geschichte dieser Ehe. Sie ist meine Geschichte. Sie ist mit mir verwoben, ein Teil von mir. Dass ich sie einmal für abgeschlossen hielt, dass ich sie mir selbst als Vergangenheit und für überwunden verkaufte, machte mich anfällig dafür, sie zu wiederholen. Davor will ich mich und meine Leserinnen wenn möglich bewahren.
Dies ist kein Opferbuch. Das Opfersein überlasse ich meinen Exmännern. Sie füllten diese Rolle ausgezeichnet, nicht nur ihrer eigenen Überzeugung nach. Das ist typisch für gewalttätige Männer: Die wahren Leidtragenden sind aus ihrer Sicht stets sie. Sie sind in der Beziehung die Unschuldigen und die Gesunden. Sie brauchen keine Therapie – was sie brauchen, ist eine neue Frau. Die richtige. Die Frau, die sie versteht. Die sie zu nehmen weiß. Die sie nicht «zum Äußersten treibt». Sie brauchen eine Frau, die sie «glücklich macht» und an der sie – wenn sie darin versagt, und das wird sie – ihr Unglück auslassen können.
Heute weiß ich, dass es unzählige früheste Warnhinweise gibt, dass der neue Freund mit ziemlicher Sicherheit zuschlagen oder auf andere Weise gewalttätig werden wird. Damals war mein Denken und Fühlen von Dutzenden dämlicher Liebesromane und -filme vernebelt. Die Universität Michigan hat in einer Studie mit dem Titel «Ich habe das nur getan, weil ich niemals aufgehört habe, dich zu lieben» bestätigt: Romantische Komödien verdrehen unsere Wahrnehmung bezüglich dessen, was angemessenes soziales Verhalten bzw. Werben um einen anderen ist. Frauen, die gern romantische Komödien sehen – die Studie nennt als Beispiele die Kassenknüller Verrückt nach Mary und Tatsächlich … Liebe –, sind eher bereit, aggressives männliches Verhalten zu tolerieren und als romantisch zu werten. Filme, die aggressives Werben als negativ darstellen, führen dagegen dazu, dass Frauen aggressivem Verhalten gegenüber weniger tolerant sind. «Romantische Komödien, die aggressives Werben als ‹Liebesbeweis› verharmlosen, können dazu führen, dass Frauen nicht auf ihre Instinkte hören», sagt die Studienleiterin Julia R. Lippmann. «Das ist ein Problem, da Studien zeigen, dass unsere Instinkte wertvolle Instrumente sind, die uns vor Gefahren schützen.»
Die ganz große, einzigartige Liebe, und noch dazu auf den ersten Blick, also: die augenblickliche, absolute «Gewissheit», dass dieser Mann der Richtige ist, und seine Beteuerungen, er empfinde es umgekehrt ganz genauso, gehören zu den frühen Alarmzeichen. Ich dachte bei beiden Männern, dass es das wäre, was ich fühlte. Beim zweiten nicht mehr augenblicklich, was meine Chance gewesen wäre, rechtzeitig zu entkommen. Stattdessen machte ich mir bald vor, dass er nun wirklich die große Liebe sei. Ich dachte, das müsste so sein. Man müsste ganz genau so und nicht anders empfinden, wenn man sicher sein wollte, dass einer der Richtige war. Darunter hätte ich keinen Mann genommen. Um dieses Muster zu ändern, begann ich eine Therapie. Das fiel mir nicht leicht. Ich glaubte, Therapien seien für andere Menschen. Für solche, die’s nötig haben. So war ich aufgewachsen, und dieses Denken hatte ich so für mich übernommen. Therapiebedürftig zu sein, ist in Deutschland auch heute nicht cool. Wir sind nicht sehr gut mit Emotionen. Vor allem nicht mit denen, die wir als «negativ» abgestempelt haben. Wie Schwäche. Und Angst.
Zwischen meiner zweiten Scheidung und meiner Therapie lagen fünf Jahre und ein Umzug ins Ausland. Vielleicht hat es geholfen, dass ich über mich und meine Schwächen in einer anderen Sprache sprechen konnte. Vielleicht war ich so weiter von mir entfernt, gab es mir das nötige Maß an Distanz, um die Therapie aufzunehmen.
Ich begann die Therapie überhaupt erst aufgrund der nächsten Beziehungskatastrophe. Dass ich der entkam, lag nicht daran, dass ich in letzter Sekunde das Ruder rumgerissen hätte. Ich suchte den Therapeuten nicht auf, um mich gerade so eben noch vor diesem Mann zu bewahren. Ich ging zur Therapie, tränenüberströmt, weil der Mann mich früh fallengelassen hatte. Da saß ich dann in der Dachstube im Sessel gegenüber einem Therapeuten aus Wales und weinte, wie schrecklich und menschlich wertlos ich sei. Unfähig, diesen neuen Mann zu halten. Oder überhaupt zu irgendeiner Beziehung.
Ich weinte: «Ich glaube nicht mal, dass dieser Mann mich mochte.» – «Wie kommen Sie darauf?», fragte der Therapeut. – «Er kritisierte mich ständig, er suchte geradezu nach Fehlern. Sosehr ich mich auch bemüht habe, ich konnte einfach nichts richtig machen.» – Der Therapeut schaute amüsiert. «Aber Sie wollten trotzdem mit ihm zusammen sein?» – Ich rief: «Nicht trotzdem. Sondern deswegen!» Und dann lachten wir beide. Obwohl das natürlich alles andere als lustig war.
Ich saß in dieser Dachstube einmal wöchentlich über sechs Jahre. Ich sprach dort nicht nur über meine verschiedenen Männer. Eigentlich waren sie nur am Rande Thema. Es ging vielmehr um mich: Wer ich bin. Wie ich wurde, wer ich bin. Unter welchen Umständen und mit welchen Vorbildern und Wertvorstellungen ich aufgewachsen bin. Und wie das meine Beziehungen prägte. Ich sah mir die Ehe meiner Mutter und meines Stiefvaters an, die ich lange Jahre für perfekt hielt. Für erstrebenswert. So, wie meine Mutter und mein Stiefvater ihre Ehe für nahezu perfekt halten. Für ein gutes Beispiel. «Von uns hast du das nicht gelernt, Mädchen!» So sagen sie es. Und sie glauben das tatsächlich. Sie sind überzeugt, dass sie ihr Bestes getan haben dafür, dass ich niemals in einer Gewaltbeziehung hätte «enden» müssen – auch das ist eine ihrer Formulierungen. Obwohl ja keine dieser Beziehungen mein Ende war. Es war nur das Ende meiner Beziehungen, der jeweils akuten und, bis auf weiteres, aller möglichen. Denn: Nach dem Ende der zweiten Ehe blieb ich Single. Ich bin’s jetzt im 17. Jahr.
Ich habe mir auch die Beziehungen in und mit unserer weiteren Familie angeschaut. Mit Geschwistern, Großeltern, Tanten, Cousinen. Unser Verständnis von Nähe. Die Art, wie wir miteinander kommunizieren. Öfter: worüber wir schweigen. Die Art, wie wir Konflikte austragen. Oder: verschleppen. Und so, wie sich meine Geschichte gerade überall in Deutschland und auf der ganzen Welt vieltausendfach wiederholt, glaube ich, dass die Strukturen in meiner Familie schrecklich gewöhnlich sind. Wie sollte es auch anders sein?
Sicher, es gibt auch Frauen, die Männer schlagen. Oder auf andere Art und Weise quälen. Von ihnen wird hier jedoch kaum die Rede sein. Nicht, weil ich das Phänomen unterschlagen wollte. Oder weil ich es für weniger schlimm hielte, wenn eine Frau einen ihr psychisch unterlegenen Mann manipuliert, kontrolliert, beschimpft, beleidigt und/oder verprügelt. Sondern weil ich diese Form der Beziehung nicht erlebt habe. Ich kann nur von dem erzählen, was ich kenne. Und das will ich tun. Nicht zum ersten Mal. Aber erstmals unter meinem Namen.
Ich habe zweimal zuvor in deutschen und Schweizer Magazinen meine Geschichte aufgeschrieben. Zuerst 1997, in einem Spiegel Spezial zum Thema «Liebe». Die Geschichte erschien unter dem Titel «Ich schlage nur dich». Das war ein Satz, den mein erster Mann zu mir gesagt hat, nachdem er mich wieder einmal grün und blau geschlagen hatte und er mich, nicht lange darauf, wieder in den Armen hielt. «Ich schlage nur dich!» Das war seine Liebeserklärung an mich. Das Versprechen meiner Einzigartigkeit und der Einzigartigkeit unserer «Liebe», das ich nicht hinterfragte. Es ist ein trauriges Merkmal vieler gewalttätiger Beziehungen, dass die Partner sie ‹gewöhnlichen, langweiligen› Beziehungen für überlegen halten.
Als ich die Geschichte für den Spiegel schrieb, wussten nicht einmal die Redakteure, dass es meine Geschichte war. Ich behauptete, die Frau in der Geschichte sei eine andere. Eine Frau, die ich mehrfach zu Gesprächen getroffen hatte und deren Namen ich in der Geschichte nicht nannte. Die beiden Hauptprotagonisten hießen durch den Text hindurch nur «Sie» und «Er». Zu jener Zeit war ich seit zehn Jahren von meinem ersten Mann geschieden und seit acht Jahren wieder verheiratet. Mit einem Mann, der mich (noch) nicht schlug und den ich für den «Mann meines Lebens» hielt. Für die subtilere Art seiner Gewalt war ich taub und blind. Ich nehme an, einerseits, weil es eine Form der Gewalt war, der ich meine Kindheit über ausgesetzt gewesen war und die mir darum auf die falsche Art vertraut war. Also: für mich gefährlich normal. Andererseits war ich überzeugt, die Mechanismen partnerschaftlicher Gewalt durchschaut und mich aus ihrem Hexenkreislauf befreit zu haben. Ich hatte Robin Norwoods Klassiker «Wenn Frauen zu sehr lieben – Die heimliche Sucht, gebraucht zu werden» gelesen, Vorträge zum Thema «Gewalt in Beziehungen» gehalten und fühlte mich blöde gewappnet.
Was ich vergessen hatte, oder vielleicht nicht willens oder in der Lage war zu sehen, war, dass ich mein Trauma nicht verarbeitet hatte. Dass sich nichts groß verändert hatte. Nicht außerhalb von mir und nicht in mir drin. Tatsächlich war ich anfälliger als je zuvor. Ich war 23 und geschieden. Ich hatte zwei noch sehr junge Söhne, drei und anderthalb Jahre alt. Mein Exmann zahlte nicht nur keinen Unterhalt, er war, ein halbes Jahr nachdem ich ihn mit den Kindern verlassen hatte, verschwunden. Ich hatte keine abgeschlossene Ausbildung, keine Arbeit. Ich war abhängig von Sozialhilfe. Was, wie ich von meinen Arbeitereltern früh gelernt hatte und jetzt immer wieder von ihnen zu hören bekam, beschämend war. Für sie so sehr wie für mich. Ich fürchtete mich davor, finanziell nie «auf die Beine» zu kommen, und holte mein Abitur nach. Anschließend wollte ich studieren. Was an sich eine gute Sache war, aber die Aussicht, das alles ohne Unterstützung und mit zwei kleinen Kindern schaffen zu müssen, war beängstigend. Ich fühlte mich oft an meiner Grenze und, schlimmer noch, ausgegrenzt von der scheinbar allgegenwärtigen Familienglückseligkeit. Donnerstags ging ich mit meinen Kindern zum Bastelnachmittag der katholischen Kirche und heulte, wenn ich am Abend allein in meiner Wohnung saß. Weil ich mir all die anderen Bastelmütter und Kinder vorstellte, wie sie heim zu einem Mann und Vater gingen.
Ich kann die Erleichterung kaum angemessen in Worte fassen, die ich empfand, als noch mal einer kam, der mich wollte. Dieser hier musste der Mann meines Lebens sein. Ich hatte gar keine andere Wahl. Binnen neun Monaten erwartete ich mein drittes Kind. Ich heiratete zum zweiten Mal. Ich war auch bei dieser Hochzeit hochschwanger. Ich brach mein Studium ab und nahm eine gutbezahlte Ausbildung zur Journalistin auf. Der Mann schmiss seinen Job hin, um Haushalt und Kinder zu übernehmen. So erklärte er es. So wollte ich es sehen. Es wurden alle drei Jahre mehr Kinder. Wir schafften vier. Wir kauften ein Haus, das brauchte noch ein neues Bad, eine familientaugliche Küche und genügend bewohnbare Zimmer. Der Mann erklärte, das sei ein Leichtes. Es musste nur genug Geld reinkommen. Wir mussten ihm nur genug Zeit zur Verfügung stellen. Die Kinder. Und ich. Wir fehlten in beidem kläglich. Darum hatten wir auch sechs Jahre nach dem Kauf noch kein Bad. Keine Küche. Kein einziges zusätzliches Zimmer für die Kinder. Einmal in diesen Jahren überlegte er, sich einen Job zu suchen. Von dem Verdienst wollte er ein Motorrad kaufen. In mein für den Augenblick fassungsloses Gesicht hinein sagte er voller Empörung: «Wenn ich arbeite, dann selbstverständlich, um mir etwas davon zu leisten!» Selbstverständlich!, dachte ich schnell beschämt. Ansonsten war unsere Ehe perfekt.
In Zeitungen, Magazinen und Büchern schrieb ich immer wieder ausführlich und fröhlich über unsere große und immer größer werdende, wahnsinnig glückliche Familie. In ihrem schrottigen, aber wahnsinnig glücklichen Heim. Und jeder las es sehr gern. Ab und an saßen wir Hand in Hand in Talkshows und bezauberten die Moderatoren und Zuschauer mit unserem Märchen. Das war keine mutwillige und heimtückische Täuschung. Ich war selbst der bedingungsloseste Fan dieser Story. Ich nahm 25 Kilo zu, regte mich schnell über alles auf, ließ an kaum einem Menschen ein gutes Haar, lebte mit meinem Mann und den Kindern in einer Ruine in scheinbar selbstgewählter Isolation und hielt mich knappe 14 Jahre lang für die glücklichste Frau der Welt. Später dann, nach der Trennung, hielt ich mich für die dümmste. Ich fiel über eine sehr lange Zeit immer aufs Neue aus allen Wolken. Angesichts all dessen, was ich nicht gewusst und nicht erkannt hatte. Und ich schämte mich. Weil ich so vieles davon unbedingt hätte wissen und erkennen müssen. Ich verstand nicht, wie es mir – noch einmal – hatte entgehen können. Ich glaubte, auch das sei meine Schuld. Im Vergleich zu der Aggression und dem Manipulationsgeschick meines zweiten Mannes erschien mir mein erster, der Schläger, kurzfristig wie ein Waisenknabe. Natürlich war er alles andere als das. Darum sah ich bald, widerstrebend, die Parallelen. Ich hatte tatsächlich zweimal den gleichen Mann geheiratet!
Als ich die Geschichte 2010 zum zweiten Mal aufschrieb – diesmal für das Schweizer Frauenmagazin Annabelle –, erzählte ich sie als meine Geschichte. Allerdings unter Pseudonym. Ich war mittlerweile auch von dem zweiten Mann geschieden. Der Redakteur, der die Geschichte als Erster las, sagte: «Toller Text! Wenn ich auch sagen muss, ich bin froh, dass mir so eine kaputte Welt völlig fremd ist.» Sein Satz verletzte mich. Ich hätte ärgerlich sein können, sogar: sollen. Tatsächlich fühlte ich, wieder mal, Scham. Ich war die Kaputte. Aus einer kaputten Welt. Ein sozialer Freak, in dessen Freakwelt man einen interessierten Blick wirft, um sich dann mit wohligem Schauder abzuwenden und in sein eigenes, verdient heimeliges Leben zurückzukehren. Auf den Beitrag gab es einen einzigen Leserkommentar. Eine Frau lobte meinen Mut. Der Zweitabdruck, als Titelgeschichte im Magazin der Süddeutschen Zeitung, brachte eine ähnlich dünne Resonanz.
Ich fand das, an der Gewaltstatistik gemessen, überraschend. Geradezu unglaublich. Ich schreibe oft persönliche Geschichten. Ich habe über die Teenager-Mutterschaft meiner mittleren Tochter geschrieben. Und wie sich diese frühen Mutterschaften in unserer Familie mit ihr in der dritten Generation wiederholen. Ich habe auf einem Magazintitel erzählt, dass ich seit 12 Jahren Single bin und warum. Ich schrieb darüber, was ich fühlte, als ich durch Zufall herausfand, dass mein Exmann, Vater meiner vier jüngeren Kinder, seit anderthalb Jahren verstorben war. Ich habe auf jede dieser Geschichten eine Flut von Leserbriefen bekommen. Auf zwei der Geschichten zumeist bitterböse und beleidigende Briefe von der Art: «Sie neurotische Zumutung von einer Mutter sind an allem schuld!» Auf meine Singlegeschichte schrieben mir gut gelaunt ein paar Frauen, denen es genauso ging. Und ein, zwei Männer, die sich berufen sahen, mich aus meinem Singledasein zu erlösen. Jetzt jedoch, auf eine Geschichte von globalem Ausmaß, auf eine Geschichte, die ein Drittel aller deutschen und westeuropäischen Partnerschaften direkt betraf: von den Lesern so gut wie nichts.
Zwei Talkshows fragten an und eine Dokumentarfilmerin. Weil ich mein Pseudonym nicht aufgeben wollte, sagte ich für die Dokumentation ab. Die Talkshowmenschen, die angeboten hatten, mich «aus dem Dunkeln» oder von jenseits eines Wandschirms lediglich per Stimme zuzuschalten, überlegten es sich kurzfristig anders. Ich nahm an einer Radiosendung des deutschen Rundfunks zum Thema «Gewalt in der Ehe» teil. Zugeschaltet aus einem ausländischen Studio und den Hörern vorgestellt unter falschem Namen und unter Angabe eines falschen Wohnorts. Die Sendung fand ich enttäuschend. Die Moderatoren palaverten anderthalb Stunden mit diesem und jenem «Experten». Ein Anwalt, eine Frauenhausleiterin, ein Soziologe. Sie fraßen sich fest an der Frage: «Wie können wir diesen armen Frauen helfen?» Währenddessen saß ich weitgehend unbefragt da und dachte: «Warum fragen wir uns nicht, wo die Gewalt herkommt, wo sie oft unbemerkt anfängt und wie wir sie verhindern können?» Das schrieb ich nach der Sendung der Programmleiterin. Ich bekam keine Antwort.
Hier also schreibe ich unter meinem Namen. Ich bin ich. Die Frau, die sich von ihrem ersten Mann über drei Jahre «hat krankenhausreif prügeln lassen». Noch als sie hochschwanger war. Die wiederholt zu ihren Eltern floh, zu Freunden, ins Frauenhaus und die jedes Mal zu ihrem Schläger zurückrobbte und ihn anflehte, sie zurückzunehmen. Nicht ein einziges Mal war es umgekehrt. Das hatte er nicht nötig. Ich bin die Frau, die sich in ihrer zweiten Ehe belügen, betrügen und von ihrem Mann mit Worten so kleinmachen ließ, dass sie, um überhaupt noch Gewicht zu haben, welches anfressen musste. Und die sich auch dieses Unglück als das größte Glück verkaufte.
In den siebziger Jahren zeigte das Magazin Stern auf seinem Titel eine Reihe Frauenporträts unter dem Titel «Ich habe abgetrieben». Die abgebildeten Frauen wollten mit ihrem Bekenntnis aus dem Schatten des Schweigens treten. Sie wollten anderen Frauen, die abgetrieben hatten oder die sich akut in diesem Entscheidungszwang sahen, eine symbolische Hand reichen und sagen: «Du bist nicht allein!» Eine ähnliche Kampagne von Frauen, die häusliche Gewalt erlebt haben, wäre eine gute Idee, denke ich. Ich mache hier den Anfang.
Ich bin faul. Ich bin dumm. Ich bin eine Zumutung von einer Ehefrau. Und, was viel schlimmer ist, was überhaupt das Allerschlimmste ist, eine erbärmliche Mutter. Ich bin eine Schlampe. Eine Blamage. Ich bin ein Witz! Nur, dass der Mann, der im Flur unserer Wohnung brüllend und in Unterhose vor mir steht, leider nicht über mich lachen kann. Oder: nicht länger über mich lachen kann. Ich hab’s zu weit getrieben, ihn zu weit getrieben. Wieder mal! Kapiere ich denn gar nichts, bin ich nicht fähig zu lernen, geht in mein Kleinsthirn denn gar nichts rein? Ich blöde Fotze! Ihm reicht’s! Mich hält keiner aus. Nicht mal ein so gutwilliger, geduldiger Mensch wie er. Er brüllt, was er immer brüllt: «Du treibst mich zum Äußersten, du holst einfach das Schlechteste aus mir heraus!» Und ich weiß, was ich immer weiß: dass es stimmt. Alles, was er sagt, ist wahr. Immer.
Gleich fange ich an zu heulen, obwohl heulen alles noch schlimmer macht. Ich lebe ja lange genug mit ihm. Ganze drei Jahre, die Unterbrechungen eingerechnet sogar noch länger. Heulen, bitten, brüllen, betteln, egal: Was immer ich mache, er steht da, wie jetzt, und knirscht durch zusammengebissene Zähne: «Warum machst du das? Warum verflucht noch mal machst du das?» Und dann haut er mit der Faust gegen die Wand, haarscharf neben meinem Gesicht, und brüllt: «Siehst du nicht, was du tust! Was du aus mir machst! Jedes Mal!» Warum nur, warum? Immer wieder! Bin ich noch zu retten? «Du genießt es doch, wenn du mich wieder so weit hast, dass ich dir auf die Fresse haue! Meinst du, das weiß ich nicht?» Er hebt die Faust, und ich zucke, ich kann nicht anders. Aber sie trifft wieder nur die Wand. Und er brüllt: «Tah! Zuck nicht, du blöde Kuh! Was bildest du dir ein, dass ich dich schlage?! Das hättest du gern!» Er zieht scharf die Luft durch die zusammengepressten Zähne, er hält mir die zitternde Faust vors Gesicht. «Diesmal nicht!»
Und ich würde ihm gern glauben. Furchtbar gern glauben. Ich will, dass es wieder gut ist. Dass er wieder gut ist. Mit mir. Er ist doch nicht so. Er kann auch ganz anders sein. Wenn ich ihn nicht gerade auf die Palme treibe. Am liebsten würde ich mich ihm hier und jetzt an den Hals werfen, oder gleich vor die Füße. Ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Wie leid es mir tut. Was eigentlich? Egal, nur gut soll es wieder sein.
Dass ich mich ihm nicht an den Hals werfe, liegt nicht daran, dass ich mir einen Rest Selbstwertgefühl bewahrt hätte. Es liegt allein daran, dass ich weiß: Eine solche Darbietung absoluter Unterwerfung bringt ihn erst recht zum Rasen. Ich weiß es, weil ich es hundertmal erlebt habe. Mindestens. Ich weiß, jedes Betteln um Liebe nährt seine Verachtung. Und ich kann es ihm nicht verdenken, er hat ja recht. Ich verachte mich selbst.
Seine Stirnader ist geschwollen. Seine Nasenflügel beben. In seinen Mundwinkeln schimmern weiße Schaumflocken. Zehn Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Seine Gesichtszüge, seine Hände, sein ganzer Körper fliegt vor Zorn und vor Anstrengung, nicht doch zuzuschlagen. Und ich weiß, ich kann nicht darauf zählen, dass er dem ewig standhält. Er brüllt: «Mach’s Maul auf! Hat’s dir die Sprache verschlagen! Ich sag, mach dein Maul auf!» Was will der Mann? Ich weiß es nicht. Habe drei Jahre alles versucht, es herauszufinden. Habe es in den letzten, was denn, 20, 30 Minuten versucht. Wie hat das hier angefangen? Jetzt? Heute? Was war los? Was habe ich gesagt? Getan? Warum trägt er nur Unterhose? Wie habe ich ihn so auf die Palme gebracht, dass er nicht mal mehr Zeit hat, sich anzuziehen? Ich erinnere mich an nichts. Weiß nur: Mit mir wird es immer schlimmer! Entgegen all meinen Mühen, dass es endlich mal besser wird.
Er presst seine bebende, schnaufende Nase gegen meine. Seine Stirn gegen meine. Schmerz durchfährt meinen Knochen. Mein Kopf in einer Schraubzwinge zwischen seinem Kopf und der Wand. Ich will weg. Kann nicht. Ich will sprechen. Kann nicht. Mein Hirn ist leer. Mein Hirn ist zu voll.
Wenn er mich nur nicht schlägt!
Wenn er mich nur endlich schlägt!
Je schneller er zuschlagen wird, umso schneller ist es vorbei. Manchmal, in den vergangenen drei Jahren, habe ich in Momenten wie diesem zurückgebrüllt. Habe ihn verlacht. Verspottet. Habe alles getan, damit er zuschlägt. Endlich. Geschlagen werden ist besser, als auf das Geschlagenwerden zu warten.
Jetzt stehe ich da, mit meinem leeren, zum Platzen vollen Kopf. Rücken gegen die Wand. Brülle nicht. Lache nicht. Spotte nicht. Er schlägt nicht zu. Er greift meinen Hals mit der rechten Hand und drückt zu. Sein Gesicht vor meinem ist kein Gesicht mehr. Es ist eine Fratze. Ich röchele. «Halt’s Maul!», schreit er. «Ich warne dich! Bring’s nicht auf die Spitze!» Es klopft. Unter unseren Füßen.
Wir wohnen hier seit zwei Jahren, Altbau in einem grünen Viertel der Stadt. Drei junge Paare auf drei Etagen. Unten die Vermieter mit Baby, darüber ein Mieterpaar ohne Kinder, ganz oben wir. Dachschräge, vier Zimmer, Küche, Bad. Der Garten mit seiner gepflegten Rasenfläche und den alten Obstbäumen ist offen für alle. Als wir einzogen, hielt ich die Wohnung für einen Glücksfall und die Leute im Haus noch für ganz okay. Die beiden unter uns vor allem. Die sind vielleicht Anfang 30. Er: mit Vollbart und Gesundheitsschuhen. Sie: mit Kurzhaarfrisur und Pullis aus dem Dritte-Welt-Laden. Sind beide Fahrradfahrer aus Prinzip und politisch aktiv. Ich dachte: mit denen kann man leben. P. dagegen, mit dem ich verheiratet bin, wusste vom ersten Tag an: «Die sind Scheiße!» Müslifresser, Weltverbesserer. Für solche Möchtegern-Coolen kennt P. nur Verachtung. «Stecken in alles die Nase und wollen anderen ihre Art Leben aufzwingen.»
Na klar behielt P. recht. Kaum dass der Bärtige im Vorbeieilen noch den Kopf hebt und grüßt. Und wenn die Kurzhaarfrau sich alle hundert Jahre im Treppenhaus zu einem Blabla herablässt, dann mit einer Kälte, dass es fast klirrt. Ich finde die beiden auch nur noch scheiße. Ich hätte gleich auf P. hören sollen, er weiß Bescheid. Ihm macht keiner was vor.
Einmal hat die Kurzhaarige mich auf der Treppe angehalten und ziemlich genervt gesagt: «Sag mal, geht das bei euch da oben auch mal etwas leiser?» Ich wusste im ersten Schrecken gar nicht, was sagen. Hab mich dann einfach dumm gestellt. Wie bitte? Was will die denn? Also: Ich habe das nicht direkt gefragt. Sondern nur entsprechend geguckt. Kühl, mit leicht angehobenen Brauen. Jedenfalls hoffte ich, dass das in etwa mein Ausdruck war. Ich hatte auch darüber nicht so ganz die Kontrolle. Mein Gesicht brannte. Meine Hände und Knie flatterten, ich dachte: Ich breche hier gleich auf der Stelle zusammen. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte gar nicht wirklich was sagen können. Mein Kinn zitterte, meine Kehle war dicht. Und sie glotzte bloß sauer zurück und sagte im ätzenden Oberlehrertonfall: «Na, du weißt schon!» Seither gehe ich ihr aus dem Weg. Warte oben, an meiner Wohnungstür, wenn ich höre, dass sie oder ihr Bärtiger gerade nach Hause kommen. Oder die Wohnung verlassen.
In den Gemeinschaftsgarten kann ich auch nicht mehr gehen. Kann die Wäscheleine darin nicht nutzen. Und nicht den Sandkasten für die Kinder. Stattdessen stehe ich an warmen Sommertagen am Küchenfenster, das auf den Garten hinausgeht, und sehe der Kurzhaarfrau zu, wie sie auf dem Rasen ihr Handtuch ausbreitet, ein Buch aus der Tasche nimmt und zu lesen beginnt. Die macht sich da, mit Buch und Handtuch, so breit, als ob ihr der Rasen gehört. «Na und», sagt P., wenn er abends von der Arbeit heimkommt und ich es ihm erzähle. «Geh eben mit den Jungs die paar Straßen zum Spielplatz, du hast doch eh den ganzen Tag nichts zu tun.»
Tock! Tock! Tock! – Ruhe! Da! Oben!
Meine Eltern haben früher auch so geklopft. Mit dem Besenstiel immer schön rhythmisch gegen die Wohnzimmerdecke unserer Drei-Zimmer-Eigentumswohnung im Erdgeschoss. Wenn in der maßgenau gleichen Drei-Zimmer-Eigentumswohnung im ersten Stock «der Oskar wieder mal seine Alte durchwimste». So nannten sie das. Passierte alle paar Wochen. Wenn’s ganz schlimm kam: alle paar Tage. Immer wenn der Oskar sternhagelvoll besoffen war. Erst hörte man spät in der Nacht unten die Haustür schlagen, dann den Oskar die Treppen hochpoltern. Wenn er den Schlüssel fand, rumste die Wohnungstür oben ins Schloss. Wenn nicht, hob ein hysterisches Bollern und Klingeln und Rufen an. Dann: hier und da ein Gepolter. Dann: Stimmengewirr. Und auf ging’s! Oskar brüllte, Bärbel kreischte, Gläser klirrten, Möbel krachten. Meine Mutter stöhnte: «Jetzt geht das Theater da oben wieder los!» Mein Stiefvater rief empört: «Das ist ruhestörender Lärm! Die können von Glück sagen, wenn ich nicht die Polizei hole!» Und dann sagten sie eine Weile gar nichts mehr, lauschten nur noch und warteten. Ob das Theater da oben von alleine aufhörte. Oder ob sie den Besenstiel holen mussten. Die Polizei holten sie nie. Nicht ein einziges Mal.
Ich war damals, in der Oskarperiode, noch ein Kind. Erst acht, zuletzt 16 Jahre alt. Ein paar Monate bevor ich 17 wurde, zog ich aus und lebte mit meinem eigenen Schläger zusammen. Meine Mutter konnte es nicht fassen: «Wie blöd musst du sein! Hatten wir über uns jahrelang nicht das beste Beispiel? Hast du denn gar nichts aus der Geschichte mit Oskar und seiner Alten gelernt?!» Alles, Mutter, alles.
Tock! Tock! Tock! Der Vollbart und die Kurzhaarfrisur haben offenbar lange genug gewartet. P. drückt die Hand um meinen Hals mit einem Ruck fester zu und zischt: «Da hast du’s! Deine Scheißhippies wieder!» Er will jetzt wissen: Was habe ich mit denen? Was läuft hier? «Hast du denen gesagt, die sollen blöde rumbollern, hoffst du, so kommst du hier raus!» Ich mach ihm nichts vor, er weiß es, weiß alles! Ich stecke mit den Scheißhippies unter einer Decke! Und dann schlägt er endlich zu. Mit Wucht und der flachen Hand mir ins Gesicht. Und dann noch mal. Und noch einmal. Und jetzt schreie auch ich. Wortlos. Heule nur auf wie ein Tier. Er greift mir ins Haar, reißt meinen Kopf zurück, in den Nacken. «Halt dein Maul, blöde Schlampe!» Tocktocktocktocktock!
«Dieses saublöde Weib!», hat meine Mutter damals gesagt, wenn das Brüllen und Toben über uns immer schlimmer und das Heulen schriller und schriller wurde. Besenstiel in der Hand, in der Stimme Verachtung. Dieses saublöde Weib bin jetzt ich.
Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, dieses Buch zu schreiben. Das denke ich, wenn meine erwachsene Tochter am Nachmittag in mein Schreibzimmer kommt und ruft: «Du liebe Zeit, mach doch das Fenster zu! Wie kannst du hier sitzen, es ist ja bitterkalt!» Ich sage: «Ich kann nicht!» Kann das Fenster nicht schließen. Auch nicht, wenn’s stürmt oder regnet. Oder wenn es gerade mal zehn, elf Grad draußen sind. Ich sage: «Ich kann nicht allein mit diesen Erinnerungen in meinem Zimmer sitzen. Ich brauche den Kontakt zur Gegenwart, zu unserem Leben jetzt.» Ich habe Angst, wenn ich allein mit ihr bin, ausgeliefert, frisst diese Vergangenheit mich vielleicht doch noch auf. Meine Tochter guckt, wie sie selten guckt. Ich lache. Ich sage: «Außerdem, je kälter es ist, umso schneller schreibe ich. Und umso schneller bin ich mit dem Schrecklichen durch.»
Manchmal brauche ich zwei Stunden für einen einzigen, kurzen Absatz. Szenen wie die vom letzten Abend kann ich nur satz-, manchmal nur halbsatzweise ertragen. Dazwischen mache ich Pausen. Sehe mir den neuen Filmtrailer mit Mads Mikkelsen an oder suche online nach der besten eierlegenden Entenart. Statt den nächsten Absatz zu schreiben, schreibe ich ein Exposé für das Porträt eines deutschen Komikers, der in England lebt und den ich gern für eines der Magazine, für die ich ab und zu arbeite, interviewte. Ich schreibe einem Entenzüchter auf Facebook. Ich hätte gern zwei seiner erstklassigen, eierlegenden Enten. Morgens um drei. Der Entenzüchter schreibt nicht zurück.
Das sind so meine kleinen Fluchten. Ich brauche ein paar Minuten, manchmal werden daraus Stunden, bis ich zurückfinden kann zu der Frau, die ich bin. Weg, weit weg, von der Frau, die ich damals war. Oder? Wie viel von dieser Frau ist noch in mir lebendig?
Manchmal, morgens um drei, verirre ich mich von den Seiten des Komikers über den Entenzüchter zu P. Der weit weg wohnt, beinahe 500 Kilometer. Nur: seit die Welt Facebook hat, ist Distanz nicht länger eine verlässliche Größe. Via Facebook lebt P. gleich um die Ecke. Sein Leben, oder wie er es präsentiert, ist öffentlich. Ich kann es mir ansehen, und das tue ich. Teils amüsiert, teils fassungslos, manchmal auch: wutentbrannt. Dann bin ich versucht, seine Fotos zu kommentieren. Sein Bild und das Bild seines Lebens zurechtzurücken. Ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Seine rosarote Lebenslüge zu enttarnen und den wahren P. zu offenbaren. So denke ich, manchmal, morgens um drei. Als wäre ich Zorro. Und als wäre die Wirklichkeit nicht die Wirklichkeit. Sondern ihr ins Märchenhafte verkehrtes Ideal.
Aber ich bin nicht Zorro. Ich bin nur eine Exfrau. Und P. ist kein Betrüger. Nicht im eigentlichen, juristisch-simplen Sinne. Sein Publikum besteht nicht aus von ihm eiskalt und grandios hinters Licht Geführten, jedenfalls nicht ausschließlich. Sein Publikum weiß größtenteils, wer der Darsteller ist. Wer er wirklich ist. Und darum kommentiere ich nicht. Die Wirklichkeit will keinen Zorro. Nicht in Form einer Ehefrau, schon gar nicht in Form der Exfrau. Diese Rollen vertragen sich nicht. Das weiß ich nicht erst seit Facebook. Einmal, als sein Leben noch unser Leben war, hat P. zu mir gesagt: «Scheißegal, was passiert, eins kann ich dir versprechen, ich stehe immer gut da.» Er lachte, als er es sagte. Und ich erschrak. Weil ich erkannte, dass es kein Versprechen, sondern eine Drohung war. Und vielleicht auch, weil ich damals schon, wenn auch noch gegen meinen Willen, wusste: Es ist wahr.
Ich schließe die Enten- und diversen Komiker-Seiten auf meinem Display und denke ärgerlich: Nun, komm schon, mach schon, so schwer kann’s doch nicht sein! Ist doch alles so lange her. Dieser letzte Abend: fast 30 Jahre. Ich habe so lange nicht mehr an diesen Abend gedacht. Nicht im Detail. Ich denke: Na, eben! Warum das jetzt alles aufwühlen für ein Buch, das dann – vielleicht – keiner kauft. Weil keiner «darüber» sprechen will. Nicht wirklich. Höchstens mal eben am Rande. In Form von Statistiken, Dunkelziffern. So kann man der alltäglichen Gewalt in den Familien «Genüge tun», ohne sie an sich heranzulassen als persönliche Größe. Kann ich verstehen, na klar. Auch ich treffe mich lieber mit Komikern, als mich daran zu erinnern und zu erzählen, wie traurig ich einmal war. Anderseits fiele mir, würden wir alle endlich ganz generell darüber reden, das persönliche Darüber-Reden womöglich leichter. Ich müsste mich nicht mehr schämen. Müsste mich – diese Frau, die ich damals war, die ein Teil von mir ist und immer sein wird – nicht mehr abstoßend finden.
An jenen letzten Abend im Oktober 1987 dachte ich in all den Jahren, wenn überhaupt, dann nur als Meilenstein. Als einen Wendepunkt. Wenn ich ihn in Gesprächen mit meinen jetzt erwachsenen Kindern erwähnte – und sie sind die einzigen Menschen, denen gegenüber ich ihn überhaupt je erwähnte –, dann nur kurz, als einen feststehenden Begriff, dem ich jede weitere Erinnerung und Beschreibung verwehrte. «Der Abend, an dem ich weggelaufen bin». So hieß er.
Zack, zack, zack. Ich heule, krümme mich auf dem Boden und versuche, mich vor den Tritten zu schützen. Was dumm ist, dummdummdumm. Jeder Versuch, mich ihm zu entziehen, macht ihn nur noch wilder. Ich sollte still sein. Sollte still liegen. Umso stiller ich bin, umso schneller ist das hier vorbei. So weit meine Theorie. In der Praxis probieren konnte ich sie noch nicht. Denn, leider, die verfluchten Reflexe! Zack! Ich krümme mich, Arme über dem Kopf verschränkt, und denke an die Nachbarn. Ihr Besenstiel ist verstummt. Ich denke: Wie lächerlich sich das anhören muss für die da unten. Wie lächerlich ich mich anhören muss. Die dummen Schreie und mein erbärmliches Winseln. Ich würde gern aufhören, zu schreien und zu winseln, und schreie nur immer lauter. Lächerlich. Zack! Es tut nicht mal weh.
Ich denke: Das Gute ist, dass überhaupt immer nur der erste, höchstens noch der zweite Tritt und Schlag schmerzt. Danach: nichts mehr. Das heißt: natürlich nur was das Schmerzempfinden betrifft. Blutig und grün und blau werde ich trotzdem. Hinterher, wenn so gut wie alles vorbei ist, bin ich immer erstaunt, wie grün, blau und blutig ich bin. Und dann tut es auch wieder weh.
Jahre später, ich glaubte, P. sei schon so gut wie Vergangenheit, las ich in Ernst Alexander Rauters Buch «Mallorca» über Juan March Ordinas (1880 bis 1962), den erst reichsten Mann Mallorcas, später der ganzen Welt. Sein Vater schlug ihn als Kind regelmäßig mit dem Gürtel zuschanden. Einmal, der Vater hatte gerade den Gürtel zurück in die Hose gefädelt und schickte sich an zu gehen, hielt der Sohn ihn am Hosenbein fest und sah mit blutiger Nase und aufgeplatzten Lippen zu ihm auf. «Was willst du?», herrschte der Vater. Das Kind, gerade mal acht, keuchte: «Mehr!» Die Geschichte faszinierte mich. Ich fühlte mich Juan March ungehörig verbunden. Ich hielt mich – wie ihn – stolz für einen zähen Knochen. Ich wusste: Die von ihm und mir früh und aus Not erlernte Fähigkeit, Schmerz auszublenden, half uns, in jedem Sinne zu überleben. Was ich übersah, war, dass sie mich später oft überhaupt erst in die Situation brachte, überleben zu müssen. Dass sie mich verleitete, Zustände zu schaffen und zu ertragen, die unerträglich waren.
Eine hohe Schmerz- und Belastungsgrenze zu haben, kann hilfreich sein, das ist wahr. Man schafft mehr. Hält aus. Hält durch. Ehen, Scheidungen, alleinerziehend und alleinverdienend sein mit fünf Kindern, sechs Pferden, sieben Hunden, mit Sack und Pack ins Ausland ziehen. Ich schaffte das alles «mit links», und wenn man mich dafür lobte, war ich kurz stolz. Ich fragte mich nie, warum ich glaubte, das alles und immer noch mehr schaffen zu müssen, und es fragte mich auch kein anderer. Ich steckte in der Aushaltfalle. Einer Hölle, speziell für Frauen. Und für misshandelte Kinder.
P. schlägt und tritt und schlägt. Mit mir hat das nichts mehr zu tun. Ich bin längst weg, nehme die Fausthiebe auf meinen Kopf und die Arme nur noch als Abfolge von Erschütterungen wahr. Er reißt an meinen Händen und zerrt sie von meinem Gesicht. Zielt. Trifft. Schreie ich? Weine ich? Ich könnte es nicht sagen. Ich öffne die Augen und sehe durch ein Paar nackter Männerbeine hindurch. Hinter den Beinen, in der Tür, steht ein Kind. Unser Sohn. Er ist drei. Sagt nichts. Weint nicht. Steht nur stumm da und starrt. Seit wann? Ich schluchze seinen Namen. Es ist der erbärmliche Hilferuf einer erbärmlichen Mutter. An ihren Dreijährigen, der dringend ihre Hilfe braucht.
Der Mann zögert. Es nicht das Zögern eines Mannes, der für den Augenblick die Richtigkeit seines Handelns überdenkt. Es ist das Zögern eines Mannes, der erkennt, er muss sich jetzt eben schnell zwischen zwei dringenden Aufgaben entscheiden: Soll er erst sein Kind erlösen? Oder die Frau erschlagen? Er steht über mir gebeugt und zischt durch gefletschte Zähne: «Guck, was du deinen Kindern antust, du Fotze, deinen eigenen Kindern, ich fass es nicht.» Das arme Kind. Es ist meine Rettung. Er erhebt sich und drängt unseren Sohn aus der Tür, zurück ins Schlafzimmer, von wo er gekommen ist. «Geh», sagt er. «Guck mal nach deinem Bruder.» Der Bruder ist anderthalb und weint. Ich lasse sie beide im Stich, raffe mich auf und renne.
Es sind nur zwei, drei Schritte zur Wohnungstür. Ich drücke die Klinke und stürze die Treppen hinunter. Ich schaffe es bis zum ersten Absatz, in Hör- und Sichtweite der Tür unserer Klopfer-Nachbarn. Noch eine Stufe, zwei. Hinter mir poltert es. Ich drehe mich, dumm wie ich bin, um. Das Bild ist mir unauslöschlich: P., lang und dünn, wie er die Stufen heruntergeflogen kommt, in riesigen, mühelosen Sätzen, als trüge er Siebenmeilenstiefel. Tatsächlich trägt er noch immer nur Boxershorts. Und für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich die grässliche Komik der Situation: Ein schweißnasser, keuchender Riese in Unterhose und Siebenmeilenstiefeln jagt eine stolpernde, lächerlich kreischende junge Frau. Wären wir eine Fernsehshow, würden jetzt alle lachen. Bevor ich mitlachen kann, reißt mich die Wucht seines Körpers zu Boden. In Nullkommanichts ist er wieder auf den Beinen. Schlägt und tritt jetzt mit solcher Macht zu, das habe ich noch nicht erlebt. Und das will was heißen. Es sollte weh tun. Es tut nicht weh. Schmerz zu empfinden, dafür habe ich keine Zeit. Keinen Raum. In meinem Kopf rasen die Gedanken. Er läuft aus der Wohnung in Unterhose! Mein stets aus dem Ei gepellter, blendend aussehender Mann. Dessen Erscheinungsbild ihm über alles geht. Er hat jede Hemmung verloren. Und dann registriere ich, scharf und unvermittelt, ein Gefühl, von dem ich glaubte, es längst hinter mir gelassen zu haben: Angst.
Ich kann nicht hoch. Kann nicht weg. Kann mich nur rücklings gegen die Stufen drücken und die Arme hochreißen. Ich denke: Jetzt ist es so weit, ich komme hier nicht mehr raus. Komme nicht mehr «mit einem blauen Auge davon». Denke: Die Nachbarn, die Klopfer, sie müssen uns hören. Müssen wissen, dass ich hier draußen bin. Drauf und dran zu sterben. Zu Tode geprügelt von einem Mann in Unterhose, auf den Stufen gleich vor ihrer malerisch schönen Wohnungstür. Mit dem dunklen Mahagoniholzrahmen und den blumenverzierten Milchglaseinsätzen. Unsere Tür, ein Stockwerk höher, ist schlicht und aus Sperrholz. Ich denke: Verrückt, verrückt, jetzt-ist-er-verrückt. Ich kann sehen: Etwas in seinem Kopf hat «Ping!» gemacht, ist aus der Spur gesprungen. Ich denke: Ich will nicht sterben. Denke: Du stirbst nicht, du blöde Kuh, krieg dich ein. Mehr Schläge, Tritte. Es ist unfassbar, wie viele Fäuste und Füße mein Mann hat. In der Fernsehshow würde ich jetzt zwischen seinen Beinen hervorlugen, zwinkern und sagen: «Gut, dass er nur Unterhose trägt und keine Schuhe.» Ein Knaller! Leider bleibt mein Publikum hinter dem Milchglas stumm und unsichtbar, die Mahagonitür verschlossen. Und dann, plötzlich, ist es vorbei. Für den Augenblick.
«Rühr dich ja nicht vom Fleck, blöde Kuh, ich zieh mir was an, und dann bist du dran!» Aber ich rühre mich. Ich kann nicht anders. Als er die Treppen hoch in der Wohnung verschwunden ist, springe ich auf und renne die Treppen runter. In Riesensätzen, weg von der Sperrholztür, von der Milchglastür, immer weiter weg, zweieinhalb Stockwerke, ich habe Siebenmeilenstiefel an. Sie tragen mich aus der Haustür raus, die Einfahrt entlang, ich höre nicht auf zu rennen. Obwohl ich beim Schulsport immer die Niete war, Spitzname: «Lahme Ente». Das einzige Mal, dass ich eine Bundesjugendurkunde bekam, war, als ich mich mit dem Papier, auf dem die Lehrer unsere jeweils beim Laufen, Springen und Kugelstoßen verdienten Punkte notierten, in die Umkleidekabine zurückzog und ein paar unverdiente Punkte addierte. Das Herz raste mir dabei fast so wie jetzt hier, auf der abendlich leeren Vorstadtstraße. Plötzlich ist mir kalt. Es ist Herbst, und ich habe keine Jacke, aber daran liegt’s vielleicht nicht. Ich befühle die wachsende Beule unter meinem Auge, meine geschwollene Nase, die zerplatzten Lippen. Fühlt sich an, als sei ich ziemlich zerschlagen. Wohin? Ich weiß es nicht. Ich habe kein Geld, keine Richtung. In die einzige Richtung, die ich kenne, traue ich mich nicht zurück. Und vielleicht ist das schon das Einzige, was mich davon abhält, zurückzugehen. Was mich weitertreibt, ohne Ziel.
Weg von meinen noch sehr kleinen Kindern, allein in einer Vier-Zimmer-Dachgeschosswohnung mit einem rasenden Mann, ihrem Vater. Den in Schach zu halten und meine Kinder – notfalls mit meinem Leben – vor ihm zu schützen, meine allererste Aufgabe ist. Und doch laufe ich. Immer langsamer, immer zögernder, immer weiter. Mein Gott, ich bin eine derart erbärmliche Mutter. Und was das Allererbärmlichste ist: Es ist mir für den Moment egal. Ich sehe mich um, zurück, die Straße entlang. Er ist nicht da. Ich sollte erleichtert sein. Und fühle mich leer. Verloren. Es ist mein Tina-Turner-Moment.
An einem Spätabend im Juni 1976 betritt eine elegant gekleidete Frau das Foyer des Ramada-Hotels in Dallas, Texas. Sie trägt Kopftuch, die Augen sind versteckt hinter einer Sonnenbrille. Was von ihrem Gesicht zu sehen ist, ist zerstört: Die Lippen sind aufgeplatzt, ihre Wangen verschwollen. Das weiße Kostüm ist blutbefleckt. «Ich hatte einen Streit mit meinem Mann», sagt die Frau zu dem Portier an der Rezeption. «Geben Sie mir ein Zimmer?» Sie zeigt ihm den Inhalt ihrer Taschen, 36 Cent, eine Tankstellen-Kreditkarte, sonst nichts. Der Mann hinter dem Tresen glaubt vage, sie zu kennen. Woher? Er kann die zerschlagene Erscheinung nicht zuordnen. «Ich bin Tina Turner», sagt die Frau.
Als ich die Szene erstmals sah, in dem Spielfilm «What’s love got to do with it», basierend auf Turners Biographie, war ich bereits von P. geschieden und glaubte mich aus dem Schneider. Tatsächlich steckte ich bereits in der nächsten Beziehungsscheiße. Ohne in der Lage zu sein, das zu erkennen. Der Mann schlug mich nicht. Noch nicht. Das war mein Gradmesser für: Alles okay! Geht doch einigen Leuten so. Viel zu vielen. Kürzlich sprach ein Freund mit mir über seine Unglücksehe, aus der er schon lange ausbrechen wollte – eigentlich schon seit knapp 20 Jahren. Warum er noch immer verheiratet war und, wie es aussah, auch bleiben würde: Er glaubte, keinen wirklichen Grund zum Gehen zu haben. «Also, ich werde hier ja nicht geschlagen!», rief der Freund. Er lachte. Ich war nicht sicher, ob es ein Witz sein sollte oder der Versuch einer freundlichen Relativierung: Ich hatte immerhin echte Gründe für meine Scheidung gehabt (und war trotzdem eine lange Weile geblieben). Der Freund dagegen war nur unglücklich, mehr nicht.
Ich verbiss mir zu sagen, dass ich in meiner zweiten Ehe schon lange unglücklich war, bevor auch dieser Mann zuschlug. Ungefähr 12 Jahre. Ich sagte auch nicht, dass es andere, wie ich finde, gleichwertige Formen der Gewalt gegenüber Partnern (und anderen Menschen) gibt. Wie: Respektlosigkeit. Mangelnde Anerkennung bis hin zur Verachtung. Isolierung. Schaffung von Abhängigkeit. Allgemeine Kontrolle. Verbale Gewalt. Und ich sagte nicht, dass genau diese Formen von Gewalt den Schlägen vorausgegangen waren. Und nicht, dass ich, als der Mann endlich zuschlug, für einen Moment auf eine ernüchternde, hoffnungslose Art und Weise erleichtert war. Denn nun hatte seine Gewalt endlich eine Form angenommen, die unübersehbar, die belegbar war. Nicht nur gegenüber anderen. Auch gegenüber mir selbst. Als ich Tina Turner, beziehungsweise die Schauspielerin Angela Bassett, erstmals in zerstörtem Zustand das Foyer des Hotels betreten und den Manager um ein Zimmer bitten sah, weinte ich. Vor Fassungslosigkeit. Und vor Wut. Darüber, dass das möglich war. Dass diese Frau – zu jenem Zeitpunkt 36 Jahre alt, klug, schön, ein Weltstar, die Stimme des seinerzeit «heißesten, dauerhaftesten und potenziell explosivsten aller Rhythm-&-Blues-Ensembles» –, dass eine solche Frau, eine, die es «doch nun bestimmt nicht nötig hatte», sich derart reduzieren ließ. Dass sie bereit war, sich derart reduzieren zu lassen. Dass sie sich selbst reduzierte. Warum?
Warum glaubt überhaupt irgendeine Frau, dass sie es «verdient», auf diese oder eine andere Art erniedrigt zu werden? Und wer oder was, glauben Männer, gibt ihnen das «Recht», «ihre» oder andere Frauen zu schlagen? Wie kann «die Gesellschaft», dieser große, anonyme, gemeinsame Nenner, sich guten Gewissens aus der Affäre ziehen und im Brustton der falschen Überzeugung behaupten, Gewalt in der Beziehung, speziell gegen Frauen, sei nur eine «schockierende» gesellschaftliche Verirrung? Jede dritte oder vierte Frau. Je nachdem, wessen Statistik man glaubt. Das ist keine Verirrung. Es ist die gesellschaftliche Norm. Es ist, wie Margaret Chan, die Direktorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, sagt: «Ein globales Gesundheitsproblem von epidemischem Ausmaß!»
Wir können die Verantwortung dafür nicht auf Armut, Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen und die anderen üblichen Verdächtigen schieben. Dies sind allenfalls sekundäre Faktoren. Der Hauptfaktor ist immer noch: unsere alles übergreifende, alles durchdringende Einstellung gegenüber Frauen. Unser Bild von Männlichkeit. Unsere Auffassung von Beziehung und «wahrer» Liebe. Gewalt gegen Frauen ist keine Verirrung aus dem Reich der Unterschicht, der Alkohol- und Drogenkranken, Psychopathen oder exzentrischen Rockstars. Sie ist der ganz gewöhnliche Wahnsinn. Das wusste selbst ein desolater Ike Turner, wenn er später in Interviews sagte: «In Wahrheit war unser Leben nicht anders als das Leben der Leute von nebenan.» Und: «Die Leute haben nun mal eine Vorliebe für schlechte Nachrichten.»
Ich habe Nächte damit zugebracht, mir Ike-Turner-Interviews anzusehen. Sie sind, in der Tat, schockierend. Das liegt nicht an (dem mittlerweile verstorbenen) Ike Turner. Es liegt nicht an seinem, na ja, meist drogenverwirrten Zustand. Der Art, wie er zwischen Gedanken, Worten und Sätzen hin- und herspringt, als wäre er ein zwischen den Wänden hin und her prallender Flummi. Es liegt nicht an seiner verwaschenen Sprache. Nicht daran, dass ich mir jedes Interview wohl ein Dutzend Mal anhören musste – zurückspulen, Ohr an den Lautsprecher pressen, zurückspulen, noch einmal –, um seinem Genuschel ein paar zusammenhängende Worte abringen zu können. Das alles zusammen war, bestenfalls, bedauerlich. Was an den Interviews schockierend, was verachtenswert war, waren Turners Gesprächspartner.
Eine Interviewerin fragt: «Ike, Sie haben schon mal zugegeben, Tina geohrfeigt zu haben.» Sie legt den Kopf schräg und schaut bekümmert. «Warum?» Und ich denke: Hält sie das tatsächlich für eine berechtigte Frage? Welche Antwort könnte Turner ihr geben, die sie zufriedenstellt? Die sie mit dem Gedanken zurücklässt: «Ach so!» Mein Mann schlug mich, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und die Wohnung «nicht genug aufgeräumt» fand. Ist das ein Grund? Er schlug mich auch, wenn er, was selten vorkam, betrunken war. Zu Hause, einfach so, oder auf dem Heimweg nach Partys. Weil ich einen anderen Mann zu sehr angelächelt oder mich zu lange mit ihm unterhalten hatte. Ist das ein Grund?
Ike Turner schlug Tina, weil: «Die lief oft herum und guckte traurig, so richtig traurig, mit hängender Unterlippe. Und ich fragte ständig: ‹Was ist nun wieder los mit dir!›, dann kam immer nur …», er fletscht die Zähne zu einem falschen Grinsen, «… hiii, nichts. Das ging so den ganzen Tag oder auch zwei, bis ich …», er holt im Interview mit der rechten Hand aus und schlägt sie mit Wucht in die offene linke, «… bis ich ihr endlich eine runterhaute.» Er lehnt sich im Sofa zurück und lächelt. «Dann änderte sie ihre Laune. Oder ihre Einstellung, oder was auch immer.» Launische, nörgelnde Frauen, die ihren Männern mit ihrem Saure-Gurken-Gesicht das Leben zur Hölle machen, das Klischee aller bestialischen Ehefrauen – die sind ein Grund! Oder? Zugegeben: Ich hatte auch oft schlechte Laune, als ich mit P. verheiratet war. War das, bevor oder nachdem ich Prügel bezogen hatte? Hat mich keiner gefragt. Ich mich auch nicht. Ich zog mir brav den Schuh der Sauertopf-Gattin an und fühlte mich schuldig. Ist doch unsere Aufgabe, unseren Mann bei Laune zu halten. Oder?
Und dann sagt Turner etwas Bemerkenswertes: «Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich habe Tina gegenüber nichts getan, was ich nicht auch meiner Mutter gegenüber tun würde.» Die Interviewerin lässt den Satz stehen. Unhinterfragt. Unkommentiert.
Die ehemalige Tourmanagerin von «Ike & Tina Turner», Rhonda Graam, sagt in einer Fernsehdokumentation: «Du legtest dich nicht wirklich mit Ike an, weil er die Dinge auf eine bestimmte Art erledigt haben wollte. Und zwar auf seine Art. Wenn du ihm widersprachst, hattest du große Probleme. Manchmal sagtest du vielleicht etwas, und ihm gefiel nicht, wie du es gesagt hattest, oder was auch immer, und du drehtest dich um, und er schlug dir ins Gesicht.» Turner stritt das nicht ab. Das musste er nicht. Er konnte es begründen: «Ich habe den Ruf, hart und dominierend zu sein und so weiter. Das bin ich wirklich. Weil ich keine Kompromisse eingehe, wenn es um Unterhaltung geht. Nicht nur die Musik betreffend, sondern Unterhaltung im Allgemeinen. Dazu stehe ich.» Die Interviewerin nickt. Sie hat verstanden: Der Mann war nicht einfach jähzornig und brutal. Er war ein Profi. Was immer er tat, tat er im Dienst der Disziplin. Für ein übergeordnetes Wohl.
Eine Zeitlang machte ein Video die Facebook-Runde, ein kurzer Ausschnitt aus der US-Fernsehserie «Southland». Zwei Polizisten klopfen an einer Tür. Eine Frau öffnet. Die Polizisten erklären, man habe sie wegen Kindesmisshandlung gerufen. Die Frau in der Tür ist ahnungslos, der Sohn neben ihr sagt trotzig: «Das war ich!» Die Mutter habe ihn mit dem Gürtel geschlagen. Er ist zehn, schätzungsweise. Die Mutter hebt die Schultern. Sie habe vom Lehrer gehört, dass der Sohn die Schule geschwänzt hat, und als sie ihn danach fragte, habe er gelogen. Da schlug sie zu. Einer der Polizisten nimmt das Kind beiseite. Er fragt mit sanfter Stimme: «Wie oft hat sie dich geschlagen? Wohin? Womit? Kommt das öfter vor?» Das Kind gibt willig Auskunft: drei Schläge, auf den Hintern, mit dem Gürtel, es war das erste Mal. «Gib mir den Gürtel!», verlangt der Beamte. «Der ist Beweismaterial.» Die Mutter fragt hilflos, atemlos, ein bisschen dumm: «Komme ich etwa ins Gefängnis?!» Der Polizist wendet sich gegen das Kind: «Du hast uns gerufen, weil deine Mutter dich für dein Schulschwänzen diszipliniert hat!» «Das ist Kindesmissbrauch», ruft das Kind. Das haben ihm seine Freunde gesagt. Der Polizist dreht sich zur Mutter, hält ihr den Gürtel hin: «Schlagen Sie ihn noch mal!» Und dann brüllt er in das erschrockene Jungengesicht: «Weißt du, deine Spielplatzkumpel sind verflucht schlechte Ratgeber! Man hetzt seiner Mutter nicht die Polizei auf den Hals, nie! Wäre das meine Mutter gewesen, ich hätte die Polizei nur noch auf dem Fußboden liegend anrufen können!» Und er schreit weiter: «Ich komme wieder. Und wenn du weiter die Schule schwänzt, dann ziehe ich meinen Riesengürtel raus und verprügele dich höchstpersönlich!»
