Jagen abseits aller Wege - Heinz K. Weigelt - E-Book

Jagen abseits aller Wege E-Book

Heinz K. Weigelt

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Beschreibung

Kanada: Für die meisten Jäger symbolisiert dieses beeindruckende Land den Inbegriff jagdlichen Erlebens und ursprünglichen Waidwerks. Gerade in die entlegensten Winkel dieses großartigen Landstriches gelangt man oft ausschließlich mit dem Wasserflugzeug. Heinz K. Weigelt, ein erfahrener Jagdführer und Buschpilot, erzählt vom Jagen abseits aller Wege. Er berichtet vom spannenden Waidwerk auf Grizzly, Elch und Bergschaf. Er lässt den Leser teilhaben an Flugabenteuern, die einem vor Aufregung den Atem stocken lassen. Dieses Buch eine ideale Abenteuerreise für jagdfreie Wintertage.

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Seitenzahl: 368

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HEINZ K. WEIGELT

JAGEN ABSEITS ALLERWEGE

IN KANADAS WILDNIS MITWASSERFLUGZEUG UND ZELT

Meiner lieben Frau Pauline und

meinen Kindern Nicholas und Barbara.

Oft genug habe ich ihre Geduld auf die Probe gestellt,

oft genug mussten sie bangend auf

meine Rückkehr warten …

Aus Liebe zu Kanada

Über 20 Jahre meines Lebens habe ich als Jagdunternehmer, Jagdführer und Buschpilot in Kanada verbracht. Alle Weggefährten jener Zeit grüße ich mit diesem Buch, alle Freunde Kanadas heiße ich herzlich willkommen – jene, die das Land der Elche, Bären und Lachse schon einmal besuchen und dort vielleicht sogar jagen durften ebenso wie jene, die es nur aus Berichten oder ihren Träumen kennen.

Ihnen allen verspreche ich spannende Stunden. Ich will sie mitnehmen auf zahlreiche Abenteuer, die ich als Jäger und Pilot in dieser Zeit erlebt – manchmal besser überlebt – habe.

Wer die wilde Abgeschiedenheit British Columbias und Yukons hautnah erleben, wer dort auf faszinierendes Wild waidwerken will, wird über kurz oder lang das Wasserflugzeug kennen lernen – es gehört zur Jagd im Nordwesten Kanadas wie die Waffe und der Rucksack.

Für viele Jagdgäste ist das „Float Plane“ das „Taxi zum Paradies“, mir ist es überdies seit langem zum Symbol für Ungebundenheit geworden, für ein „etwas anderes“ Leben in einem Land, in dem selbst kleine Missgeschicke oft ungewollt zu gefährlichen Abenteuern werden.

Auf den folgenden Seiten will ich daher nicht nur vom Jagen selbst erzählen, nicht einfach nur Schuss an Schuss reihen, sondern auch von den packenden Erlebnissen berichten, die ich – und andere – meiner zweiten großen Leidenschaft, der Buschfliegerei, ebenso verdanken wie der Jagd.

Einblicke in ein nicht ganz alltägliches Leben möchte ich geben und Eindrücke von einem Naturparadies und einer Welt vermitteln, die selbst den meisten Kanadabesuchern und -jägern verwehrt bleiben.

Vielleicht gelingt es mir sogar, in den Leserinnen und Lesern etwas von der tiefen Liebe zu wecken, die ich seit mehr als zwei Jahrzehnten für dieses überwältigende Land empfinde und die mich nie wieder loslassen wird.

Meiner lieben Frau und meiner Familie will ich mit diesem Buch danken – allzu oft ließ ich sie bei meinen Jagd- und Flugabenteuern in Sorge zuhause zurück.

Meinem Sohn Nicholas, meiner Tochter Barbara und meinem Schwiegersohn Dr. Blair F. Main danke ich überdies für viele Hilfseinsätze als Jagd- und Flugbegleiter. Ich habe Ihnen manches abverlangt und sie oft genug ins eiskalte Wasser gezwungen.

Danken möchte ich auch meinen „Privatlektoren“ und meinem Verlagslektor, der sich durch mein nicht mehr ganz so geübtes und etwas angestaubtes Deutsch quälen und es korrigieren musste.

Last but not least gilt mein herzlicher Dank dem Freund und Jagd- und Tiermaler Bernd Pöppelmann.

British Columbia, Canada

Heinz K. Weigelt

Jungfernflug mit Hindernissen

Wir alle erinnern uns wohl noch an die erste Fahrt nach bestandener Führerscheinprüfung. An das erhabene, aufregende Gefühl: „Jetzt beginne ich erst richtig zu leben!“ Zumal so mancher von uns davon überzeugt war, mit dem Auto umgehen zu können, bevor er dieses Stück Papier auf Lebenszeit erhielt. Und mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid blickten wir auf die jüngeren Freunde, die wir in der „technischen Steinzeit“ zurückließen.

Heute wissen wir, was unsere Eltern damals empfanden, verstehen ihre heimlichen und auch mit erhobenem Zeigefinger deutlich artikulierten Mahnungen, ja Drohungen: „Fahr um Gottes willen vorsichtig!“

Nun, so oder ähnlich erlebte ich das noch einmal in schon etwas fortgeschrittenem Alter als Ehemann, Vater und frisch gebackener Eigentümer eines „Float Plane“ – eines Wasserflugzeugs mit entsprechendem Flugschein. Der lang ersehnte Moment der absoluten Freiheit, von der ich schon immer in Abenteuergeschichten und Reisebroschüren gelesen hatte, war für mich gekommen.

Kaum zwei Wochen nach dem Empfang des im Verhältnis zum damaligen deutschen Führerschein unscheinbar kleinen Papierchens entschloss ich mich, mit Fritz, meinem österreichischen Freund, in den hohen Norden, nach North British Columbia und zum Yukon zu fliegen. Zwar war ich dort schon einige Male gewesen, doch was ich Fritz vorerst verschwieg: nur mit dem Geländefahrzeug. Die wilde, raue Bergwelt des Nordens hatte ich bis dahin nur im Pferdesattel, per Boot oder Allradfahrzeug kennen, lieben und respektieren gelernt.

Die Fliegerei in der Bergwildnis war mir zu diesem Zeitpunkt genau so fremd wie Lieschen Müller der Straßenverkehr in Athens Stadtzentrum anlässlich des ersten Griechenland-Urlaubs. Aufregend war es schon im Vorfeld! Musste ich mir doch die „Reisestrecke“ – die Fliegersprache beherrschte ich auch noch nicht perfekt –, also die Flugroute genauestens festlegen. Und nicht nur den genauen Flugverlauf musste ich dabei in die Landkarte einzeichnen, sondern auch die Entfernungen bestimmen, die im Wald der Bergspitzen einzuhaltende Flughöhe festlegen und andere große und kleine Vorbereitungen aller Art treffen.

Ich will dem Leser die Hunderte von komplizierten und unverständlichen technischen Details ersparen, die zu einer solchen Vorbereitung gehören – zumal ich sie damals in Bezug auf mein neu erworbenes Fluggerät noch genauso wenig verstand wie ich heute noch dem Start einer Apollo-Trägerrakete voll bewunderndem Unverständnis zuschaue. „Nicht so schlimm“, dachte ich mir einfach: „Du hast ja den Flugschein und sogar noch die Zusatzberechtigung, Wasserflugzeuge zu fliegen.“ Auf Letztere war ich besonders stolz, denn diese Wasserflugzeugberechtigung haben sogar nur die wenigsten Lufthansa-Piloten. Sie brauchen sie auch nicht, denn ein Jumbo landet selten auf dem Wasser …

Angenehm war für mich, dass Fritz beim Beladen meiner kleinen viersitzigen „Stintson 108“ (zugelassen für einen Piloten und zwei Passagiere) nicht allzu viele technische Fragen stellte. Er hatte ja auch keine Ahnung – ja, bewusst sage ich „auch“, denn von der Technik hatte ich während der Flugschule wirklich nur rudimentäres Wissen mitbekommen.

Zwei, fast drei Jahre befand ich mich schon in meiner neuen Wahlheimat British Columbia, kurz B.C. genannt. Mein Englisch war gut genug, um mich fließend zu unterhalten, solange sich solche Unterhaltungen auf das Alltägliche beschränkten. Doch auch ein Anglist, ein Professor der englischen Sprache in Hamburg, München oder Wien, wird auf die Frage, wie eine Zylinderkopfdichtung, ein Hubraumverdichtungsvorgang oder ein Kolbenfresser auf Englisch heißt, höchstwahrscheinlich verlegen auf einen Fachübersetzer verweisen. So wusste auch ich trotz einiger Unterrichtsstunden und dem üblichen Spickzettel kaum, wie so ein Wunderwerk von einem Flugzeugmotor läuft.

In der kanadischen Flugprüfung wird aber durchaus ins Detail gegangen und entsprechendes Wissen verlangt. Deswegen und weil ich letzten Endes auch nicht vom Himmel fallen wollte, befasste natürlich auch ich mich mit diesem Stoff im Flugunterricht. Weil ich von Motorentechnik, die hier in unseren kanadischen Dörfern für fast jeden zur „Allgemeinbildung“ gehört, wenig verstand, lernte ich einfach alles auswendig. Die Flugprüfung bestand ich, und auch in der schriftlichen Prüfung musste ich meine Antwort-Kreuzchen an die richtigen Stellen gesetzt haben. – Nur hatte ich einfach nicht verstanden, was ich da gelernt und wiedergegeben hatte. Die schriftliche Flugprüfung würde ich vielleicht heute noch nicht bestehen, wenn nicht wieder mein alter Freund Boyd neben mir säße, mit dem ich wie damals, Mitte der 70er Jahre, so eng zusammenarbeiten, im Klartext mogeln könnte. Im Laufe der nachfolgenden Fliegerjahre hatte ich dann viele „Aha-Erlebnisse: „Ach, das meinten die damals bei der Flugausbildung ...!“ Ein Schmunzeln konnte ich mir dann oft nicht verkneifen.

Jetzt war ich also mit Fritz’ Hilfe dabei, Käse, Angelruten, Kaffee, Zelt, Ferngläser und die für alle Fälle nötige Waffe und andere Konsum- und Ausrüstungsgüter in die Maschine zu verladen. Die hintere Sitzbank hatten wir herausgenommen, um möglichst viel Stauraum für unsere Wildnis- und Bergtourenausrüstung zu schaffen. Bis heute ist die Sitzbank übrigens nicht wieder installiert worden, sondern fristet ein trostloses Dasein irgendwo im Geräteschuppen. Bei der Zusammenstellung der Verpflegung und der Ausrüstung musste an alles gedacht werden: Immerhin betrug die geplante Flugstrecke weit über 1000 Kilometer, sodass wir, wenn alles planmäßig verlief, zwischen neun und zwölf Stunden in der Luft sein würden.

Überdies befand sich auf über 90 Prozent der gesamten Flugstrecke nichts als Wildnis unter uns. Unsere auf der Flugkarte als Strich eingezeichnete Route überquerte nur insgesamt dreimal eine asphaltierte Straße, ein paar Holzabfuhrwege und nur etwa eine Handvoll menschlicher Ansiedlungen. Auf Europa übertragen war dies vergleichbar mit einem Flug von Hamburg nach Wien, auf dem nur eine mittlere Kleinstadt, eine einzige Bundesstraße, drei bis vier kleine Dörfer und einige abgelegene Holzabfuhrwege überquert werden. Die übrige imposante Landschaft auf unserer Flugroute bestand aus einem zusammenhängenden Waldgebiet, das unterbrochen wurde von Seen, Flüssen aller Größe und Bergen, wie sie zum Beispiel Tirol prägen.

„Wahnsinn! Wahnsinnig viel Landschaft!“, sollte ich denn später auch meinen faszinierten Passagier über die Mikrofonanlage im Flugzeug murmeln hören.

Wildnis hin oder her – unser Aluminiumvogel musste, je nach Windstärke und Windrichtung, alle zwei bis drei Stunden „gefüttert“ werden. Die Auswahl an Landemöglichkeiten war stark begrenzt, weil wir nicht auf normalen Landepisten (auch davon gibt es nur sehr wenige), sondern nur auf dem Wasser niedergehen konnten.

Gott sei Dank aber ist das Urlaubsparadies B. C. mit seinen Tausenden und Abertausenden Seen auf Touristen eingestellt, deren Boote auch nur mit Benzin laufen. An den größeren Seen der letzten Städte vor der unendlichen Wildnis liegen oft so genannte „Resorts“. In der Umgebung dieser Urlaubsunterkünfte für Familien, an denen Hütten, Boote, Angelzeug etc. gemietet werden können, stehen große Benzintanks für die Boote. Diese Orte mussten wir auf unserem Weg ausfindig machen, denn sie würden unsere Versorgungsstationen auf dem Weg in die nördliche Wildnis sein.

Ein technisch Interessierter mag jetzt vielleicht überrascht fragen: Haben solche Resorts denn Flugbenzin? Nein, das haben sie natürlich nicht! Unsere gute alte Stintson 108 hatte ich auf den Rat erfahrener Buschpiloten, die einige Jahre verzweifelter Flugbenzinsuche in allen Ecken des Landes hinter sich hatten, auf Normalbenzin umgerüstet.

Durch viele Telefonate hatten wir nun drei Stellen auf unserer Flugroute ausfindig gemacht, an denen wir tanken konnten. Das Problem der Treibstoffversorgung hatten Fritz und ich für dieses Abenteuer also geistig ad acta gelegt. Warum überhaupt der Begriff „Problem“? Dazu bestand doch gar kein Grund, dokumentierte mein Flugschein doch hinreichend, dass ich für alle flugtechnischen Fragen gerüstet war ...

Es war so weit. Die gesamte Passagier- und Ladefläche im hinteren Teil meines Float Planes war bis unter die Decke vollgepackt: Angelzeug, Regenbekleidung, Wollsachen und Sonnenbrille. Den größten Gewichtsanteil unserer Fracht stellten vier große Pappkartons mit allerlei Verpflegung für fast drei Wochen. Auf der Spitze der Landung thronten die Angler-Hüftstiefel – man weiß ja nie, wie feucht es bei der Landung wird – und ein langes Seil, um die Maschine am Strand nötigenfalls festzutäuen. Ja, wir hatten an alles gedacht.

Den so genannten „walk around“, die jedem Flugschüler eingedrillte letzte Überprüfen der Maschine unmittelbar vor dem Abflug hatte ich gewissenhaft ausgeführt. Auch die „Floats“, die klobigen Schwimmer, auf denen das eigentliche Flugzeug festgeschraubt ist, hatte ich überprüft, um sie gegebenenfalls von letzten Wasserresten in den Innenkammern zu befreien. Ich hatte diese Floats zwar noch nie sehr tief im Wasser liegen sehen, war aber bis dahin auch nie auf einer wirklich ausgedehnten Wildnistour gewesen.

Der lang ersehnte Moment, in dem die Stintson 108 von der Anlegestelle im heimatlichen Watson Lake bei 100 Mile House abgeschoben wurde, war gekommen.

Ein Knopfdruck und das typisch tiefe Röhren des Flugzeugmotors setzten die Bordinstrumente in Gang. Wir schwammen auf dem Watson Lake, eine beachtliche Bugwelle vor uns herschiebend, zum südlichen Ende des Heimatsees. Der Motor würde sich auf der 800 Meter langen Strecke bis zur Startstelle im Wasser warmgelaufen haben. Abermals überprüfte ich Instrumente und zahlreiche Funktionen der Maschine.

Ein letzter Blick hinüber zur Anlegestelle zeigte uns, dass unsere Lieben sich doch noch die Zeit genommen hatten, um uns winkend nachzuschauen. Und jetzt noch einmal ein prüfender Blick auf die Ausrüstung: Ja, alles war eingepackt. Alles zum Fischen, Bergsteigen, für den Magen, zum Fotografieren und Gegenstände, die im Zweifelsfall das nackte Überleben sichern sollten wie zum Beispiel die Jagdwaffe.

Immerhin hatten wir doch vor, von der Natur zu leben, d. h. Beeren und Pilze zu sammeln und unseren Fleischbedarf vor allem durch die Jagd zu decken – ein Vorhaben, dass auch vielen sicher wohlmeinenden, jedoch in die falsche Richtung denkenden Extrem-Pazifisten, Vegetariern oder Anti-Jagd-Aktivisten die Augen öffnen würde. Spätestens unter solchen Bedingungen würden solche Idealisten wohl enttäuscht feststellen müssen, dass der Strom nicht aus der Steckdose in der Wand, sondern von einem Elektrizitätswerk kommt, dass das Filet Mignon, das fein garniert auf dem Teller vor ihnen liegt, nicht allzu lange vorher noch vier Beine hatte und mit treuen braunen Augen in die Welt schaute. Und dass sogar die harmlose Butter oder Milch von Kreaturen kommt, die jahrelang innerhalb fünf Quadratmetern an der Kette liegend ein miserables Dasein fristeten.

Zu solchen Träumern, wenn nicht gar falschen Propheten, gehörten wir zwei Wasserflugzeuginsassen sicher nicht. Am Ziel unserer Reise sollte, ganz wie in den so genannten guten alten Zeiten, ein Stück Wild am Spieß irgendwo in der Wildnis zu unserem gesunden Fortleben beitragen. Und dass wir dann auch ein etwaiges „Nebenprodukt“ der Jagd, die so genannte Trophäe nämlich, mit nach Hause nehmen würden, war selbstverständlich. Für den Fall, dass uns der Jagderfolg versagt bliebe, hatten wir als Notration trotzdem einige Dosen mit dabei.

Full Power! Der Motor heulte auf. Die geballte Energie von 230 PS setzte das schwimmende Gefährt in Bewegung. Enten, Wasserhühner und sicherlich auch einige Fische machten sich eiligst aus dem Staub, tauchten oder flogen 30 Meter weiter, um sich dann wieder vertraut niederzulassen. Sie kannten diese Prozedur bereits. Der Motor hatte inzwischen seine volle Umdrehungszahl erreicht, machte einen fürchterlichen Krach über dem See und setzte eine immer mächtiger werdende Bugwelle vor uns in Bewegung. Fritz gegenüber konnte ich meine freudige Erregung kaum zurückhalten, beschränkte mich aber doch auf das „Thumb Up“-Zeichen, das bekannte „Daumen hoch“.

Über die Wellen schüttelnd, schlagend und rüttelnd erreichten wir die Seemitte. Der Geschwindigkeitsanzeiger zeigte 40 Knoten, fiel dann auf 38 Knoten, um anschließend wieder auf 42 Knoten zu steigen. Sehr schnell mussten wir jetzt auf unsere Zielgeschwindigkeit von 58 Knoten kommen, denn es waren nur noch etwa zwei Kilometer bis zum Weststrand mit seinen hohen Bäumen. Viel Zeit zum Überlegen blieb kaum noch.

Als ich blitzschnell aus dem Fenster auf den linken Schwimmer schaute, fuhr es mir in die Glieder und meine Handflächen wurden nass. Die Schwimmer lagen noch zu tief im Wasser, um die nötige Abhebgeschwindigkeit überhaupt erreichen zu können!

Die dicken Pappeln am vor uns liegenden Strand wurden beängstigend größer. In der letzten mir noch zur Verfügung stehenden Sekunde würde sich alles entscheiden: Die Floats mussten höher aus dem Wasser, und die Geschwindigkeit stark zunehmen! Die Sekunde war vorbei – der Strand raste zu schnell auf uns zu. Ebenso der Gedanke, die Vogelnester in den Pappeln nicht wie geplant von oben, sondern, wenn überhaupt noch, aus einer Rote-Kreuz-Trage von unten betrachten zu müssen.

„Noch ein Kilometer bis zum Strand, wir schaffen es nicht mehr!“

Mit einer ruckartigen Bewegung zog ich den „Throttle“, den Gashebel, zurück. Der Motor hörte auf zu stöhnen, das Vorderteil der Floats senkte sich sofort wieder tiefer in das Wasser und die Bugwelle vor uns wurde schneller als das Flugzeug. Zwischen uns und dem Strand waren magere 15 Meter Distanz übrig geblieben. Nur drei Sekunden später wären wir nicht nur auf dem Strand zum Stehen gebracht worden, sondern zwischen den dahinter liegenden Bäumen vermutlich für immer zur Ruhe gekommen.

Keiner sprach ein Wort. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich endlich zu Fritz hinüberschielte. Er hatte das wohl bemerkt und reagierte lediglich mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue und vorgeschobener Unterlippe, die zu fragen schien: „Und was nun?“

Langsam entkrampften sich meine Schultern und fast feierlich rieb ich meine Handflächen an meiner Hose trocken. Auch das Blut kehrte wieder in meine Handknöchel zurück, aus denen bei der verkrampften Haltung des Steuerknüppels alles Leben gewichen war. Übrigens ist das unter Piloten eine durchaus bekannte Erscheinung, die sogar ihren eigenen Namen hat: „White Knuckle Flying“, das „Weiße-Knöchel-Fliegen“.

Ruhig und monoton tuckerte der Flugzeugmotor dahin, der Propeller rotierte so langsam, dass man sogar seine beiden einzelnen Blätter erkennen konnte. Nachdem ich das rechte Ruder stark durchgetreten und die Maschine damit in Richtung Ausgangspunkt dirigiert hatte, wagte ich die Stille zu durchbrechen.

„Überladen!“ Mehr zu bemerken war ja auch nicht nötig.

Während wir langsam über den See in Richtung Anlegestelle tuckerten, reduzierten wir im Geiste schon unsere Verpflegung und Ausrüstung. Was brauchten wir unbedingt? Was konnte und musste zurückbleiben? Unsere Frauen standen immer noch auf ihrem good-bye-Aussichtsposten. Als wir ihnen unser Dilemma kundtaten, mussten wir uns zu allem Überfluss noch anhören: „Habe ich mir doch gedacht. Ihr habt doch die gesamte LKW-Ladung in das kleine Ding verstaut!“ Na ja, Recht hatten sie ja.

Aus- und umgeladen wurden Coca Cola und alle anderen Flaschen. Auch fast alle Dosen fielen der Gewichtsreduzierung zum Opfer. Unser zweites Zelt, der Gaskocher und weiteres Gerät wurden der Obhut unserer Frauen anvertraut. Alles in allem waren wir nun etwa 25 Kilogramm leichter. Mit freudiger Genugtuung stellten wir fest, dass wir natürlich auch Platz gewonnen hatten, denn oben auf die Ladung passte jetzt das Kartenmaterial, das zuvor noch vor Fritz auf dem Fußboden hatte liegen müssen.

Das nun unmittelbar Folgende bedarf weiter keiner Beschreibung, wir hatten es bereits vor etwa einer Stunde schon einmal durchexerziert. Diesmal allerdings hoben wir, wie ursprünglich geplant, mit enormem Getöse etwa einen Kilometer vor dem Weststrand ab und konnten tatsächlich in die bereits leeren Vogelnester in den Strandpappelkronen hineinschauen. Sie huschten in Windeseile unter uns vorbei.

Wir gewannen an Höhe. Hinter uns schrumpfte der Watson Lake zu einer kleinen Pfütze zusammen, die nach einigen Minuten aus unserem rückwärtigen Blick verschwand. Vor uns, so weit das Auge reichte, luden uns ein blauer Himmel und die darunter liegenden, grünen Wälder zu einem traumhaften Flug ein.

Beide Städte – in Europa würde man wohl Dörfer sagen, denn Williams Lake hat nur etwa 15000 Einwohner, Smithers sogar nur 3000 – verfügen über größere Flugplätze, die uns „bush“ und „floatplane pilots“ aber recht wenig interessieren. Dem Wesen nach etwas eigenwillig und eigenbrötlerisch, sehen wir darin eigentlich nur Orientierungspunkte auf der Karte, die wir gerne umgehen. Wir wollen allein sein. Wir lieben die Natur – je wilder, desto besser. Flugplätze, „Control Towers“, Flugverkehr und die Notwendigkeit, sich an- oder abzumelden, all das passt uns nicht recht. Wir genießen jene Freiheit in den Lüften und auf dem Wasser, die ein Clochard unter den Brücken von Paris für sich in Anspruch nimmt.

Die Berührungspunkte mit der Zivilisation bilden für einen Buschpiloten nur Tankstellen verschiedenster Art. Zwanzig-Liter-Kanister tun es aber auch und dienen dazu, selbst diese Kontakte zu minimieren. In der Werkstatt lässt sich ein Buschpilot mit seiner Maschine nur einmal im Jahr sehen, zur vorgeschriebenen Überholung, man könnte auch TÜV sagen. Selbst dann erhält der Mechaniker nicht selten zusätzliche 35 Dollar, damit er mit seinem Werkstattwagen zum Strand kommt und seine Arbeiten dort ausführt. Ja, sie sind schon eine Marke für sich, diese „bush pilots“.

Wagt sich einmal einer dieser Spezies zu nahe an Großstädte wie Vancouver, Kamloops, Victoria oder Prince George (damit sind fast alle großen Flugplätze in B. C. aufgezählt), hängt der dortige Kontrollturm im Geiste gleich die rote Fahne aus dem Fenster. Auf alle Fälle weiß man dort recht schnell, dass ein Buschpilot die anfliegende Maschine steuert.

Die standardisierte Flugverkehrssprache klingt auf einmal sehr rostig. Irgendwann hört der Kontrollturm dann über Funk aus der kleinen Maschine den Satz: „Örtliche Gegebenheiten sind dem Piloten nicht vertraut!“ Spätestens jetzt weiß jeder, der das Ohr mit im Äther hat, dass sich wieder einmal ein „bush pilot“ dem Zivilisationsdschungel genähert hat, worauf der Rest der Fliegerwelt mit Grinsen großzügig Platz macht.

Williams Lake ist keines dieser riesig großen Zentren, und als Pilot kann man, wenngleich es nicht gerade erlaubt ist, mit dem Fluglotsen im Kontrollturm ein kleines Schwätzchen halten. Nicht selten mischt sich sogar der Pilot einer anderen Maschine mit in das Gespräch. Hier im mittleren Norden herrscht alles in allem schon ein recht entspannter und familiärer Flugbetrieb.

Das ändert sich allerdings drastisch im Umfeld des Internationalen Flughafens von Vancouver. Hier gibt es keine Gnade. Die geringsten Fehler haben eine sofortige Bestrafung inklusive Flugscheinentzug zur Folge. (Manche Buschpiloten behaupten, dass dort zu viele Europäer mitmischen.)

Doch zurück zu Fritz’ und meinem nach Anlaufschwierigkeiten doch noch erfolgreich gestarteten Flugabenteuer. Der Williams Lake Tower bestätigte uns, was wir schon längst zu wissen glaubten: ausgezeichnetes Flugwetter bis Smithers!

Sorgen machte ich mir aber um Fritz’ Wohlbefinden, und diese Sorgen steigerten sich von Minute zu Minute. Ich sah ihn von einem gewaltigen Hexenschuss bedroht, denn Fritz drückte seine Nase beständig über seine rechte Schulter hinweg an der Scheibe der Tür platt. Elche wollte er sehen, Bären und Hirsche dazu. So bat ich ihn, mir doch Bescheid zu sagen, wenn er eine dreipfündige Regenbogenforelle sähe.

Unter uns breitete sich Wald aus und nichts weiter als Wald. Die nächsten 300 Kilometer stellten an Fritz, unseren Navigator, recht hohe Ansprüche.

Die wenigen Seen dieser nördlichen Chilcotin-Landschaft und auch deren Flüsse sehen sich von oben alle sehr ähnlich. Es gibt dort auch keine hohen Berge, an denen man sich orientieren kann, sodass sture und intensive Kartenarbeit unser Brot in den vor uns liegenden zwei Flugstunden sein sollte.

Die Strecke war in der Tat langweilig: Von oben sah alles gleich aus – kaum ein Orientierungspunkt, über den man mit Bestimmtheit hätte sagen können: „Hier ist das ... hier sind wir!“ Unsere Stintson verfügte auch noch nicht über eines der heute gebräuchlichen satellitengestützten und computergesteuerten Navigationssysteme, die man unter dem Kürzel GPS (global positioning system) kennt. Geflogen wurde nach Nase, Karte, Flusslauf, bis man da war, wo man hinwollte, oder sich korrigieren musste.

Und genau das versuchte Fritz jetzt in den Griff zu bekommen. Keine leichte Arbeit, dieses ständige Vergleichen der Karte mit der unter uns vorbeigleitenden Landschaft aus monotonen Wäldern. Wegen der sehr klaren Sicht hatte ich es mir einfacher gemacht, das Fritz gegenüber aber verschwiegen – eine kleine Rückversicherung, die ich mir offen ließ: Ganz in der Ferne, vielleicht 180 Kilometer in unserer Flugrichtung voraus, konnte ich die Spitzen der schneebedeckten Gipfel um Smithers erkennen. Auf sie steuerte ich einfach zu, ohne Fritz bei seiner Arbeit zu stören. Nur hier und da stellte ich ihm die Frage, ob er auch sicher sei, dass es auch der und der See sei, den er zu erkennen glaubte.

Fritz nahm die ihm übertragene Verantwortung sehr ernst. Dafür sprach zumindest die Müdigkeit, die ihn nach fast zwei Stunden Stress überfiel. Ich bin mir selbst heute noch nicht sicher, ob ihm schon damals klar war, dass ich ihn bei unserem Flug nur als eine Art „navigatorische Reserve“ benutzt hatte …

Die Navigatorenprüfung auf der Stintson bestand er jedenfalls, denn nach knapp drei Stunden folgten wir dem großen Tal, in dem der anzufliegende Thyee Lake bei Smithers liegt.

Anflug und Landung verliefen einfach professionell. Die schwer beladene Maschine lag ruhig in der Luft und war beim Aufsetzen auf das Wasser leicht zu kontrollieren. Ob Fritz mein erleichtertes Aufatmen bemerkte, als wir langsam dem Dock, der Anlegestelle, zuschwammen, weiß ich nicht. Ich war stolz, denn schließlich war es das erste Mal, dass ich einen fremden Wasserflugplatz anflog, an dem mehrere Maschinen parkten und neugierige Gesichter von echten, erfahrenen Buschpiloten meine Ankunft kritisch beurteilten.

Smithers mit seinem für Wasserflugzeuge geeigneten Thyee Lake ist landbekannt als die letzte Station vor der Hochgebirgswildnis, die sich bis zum Hohen Norden, dem Yukon, ausdehnt. Vom Thyee Lake bis zur Yukongrenze sind es mehr als zwei Tage Autofahrt auf einer landschaftlich sehr schönen, aber wilden Schotterstraße. Könnten wir dem geraden Flurrouten-Strich auf der Landkarte folgen, würde die Entfernung lediglich 800 Kilometer betragen. Selbst einem unerfahrenen Wildnispiloten, wie ich es war, sagte die Landkarte genug: Dreitausender und schmale, tiefe Täler. Das verspricht Turbulenzen, Fall- und Steigwinde, möglicherweise auch noch eine niedrige Wolkendecke. Aber erst wollten wir hier im Thyee Lake anlegen und so tun, als ob wir schon alte Hasen wären. Und ein bisschen Herumfragen konnte nicht schaden, jede Information würde zum Gelingen, zur Sicherheit und zu unserer Zufriedenheit beitragen.

Nett, höflich und hilfsbereit waren alle Umstehenden. Zwei von ihnen hatten sogar die Kaffeetassen in der Hand und lächelten uns wohlwollend an. Die Nächststehenden ergriffen sofort unser Seil und halfen uns beim Festtäuen unserer Maschine an den Eisenhaken am Dock. Ein kleiner Mann im Fliegeranzug bot sich an, uns beim Auftanken zu helfen. Er schien der Boss hier zu sein, denn einen Anzug wie seinen hatte ich hier oben vorher noch nie gesehen. Wendel, so stellte er sich mit Schweizer Akzent vor, war Berufspilot einer Charterfirma hier in Smithers. Innerlich vor Ehrfurcht erstarrt, erkannte ich ihn sofort als den Mann, den über die vor uns liegende Flugstrecke auszufragen sich lohnen würde.

Wendel flog die Otter, ein Wasserflugzeug, das in der Lage ist, drei Stintsons hinter sich herzuschleppen. Eine kleine Armee passt in den Bauch dieser Maschine. Sie wurde und wird benutzt, um Material und Personal für die in der Wildnis betriebenen Bergwerke zu befördern, zu denen es keinerlei Verkehrswege gibt.

Die erste, für mich ein wenig beunruhigende Information Wendels verhieß uns, dass die Wetterlage gleich hinter Smithers nicht mehr so ruhig war.

„Nicht so schlimm“, sagte er abschwächend, „ich habe es schon wilder erlebt!“ Dann verriet er uns auch noch, dass das Flugwetter hier ohnehin immer noch sehr gut sei im Vergleich zu dem in den letzten Septembertagen sonst üblichen.

Wendel wünschte uns „Guten Flug“ und wir tuckerten in den Wind, denn gestartet und gelandet wird immer nur gegen den Wind. Da die vor uns liegende Flugstrecke nicht nur über reine Urwald- und Bergwildnis führte, sondern auch die maximale Reichweite unserer Tankfüllung darstellte, hatten wir die bereits leer mitgebrachten zwei Zwanzig-Liter-Kanister jetzt gefüllt und im Laderaum verstaut. Einerseits war es ein beruhigender Sicherheitsaspekt, genug Treibstoff mitzuführen, andererseits hatte die Zusatzladung aber auch etwas Beunruhigendes beim Gedanken an eine Notlandung oder gar einen Unfall. Dann nämlich würden wir exklusiv mit Benzin übergossen werden, bevor die Maschine Feuer fing …

Quatsch, alles nur Hypothesen, die auf uns natürlich nicht zutrafen. Sicher, auch der Gesetzgeber erlaubte kein Mitführen gefüllter Bezinkanister. Aber erstens war dieser Gesetzgeber nicht hier am Thyee Lake und zum anderen besorgte er uns keinen Sprit im Busch, wenn wir ihn dringend benötigten.

Und nicht zuletzt gibt es hier unter uns Wildnispiloten einen Standardsatz, der da lautet: „If you want to be legal, don’t fly!” (Willst du gesetzestreu sein, vergiss das Fliegen!) Das war für mich Grund genug, hinsichtlich des Benzinhaushaltes meine eigenen Gesetze anzuwenden.

Der Thyee Lake ist noch länger als der Watson Lake und liegt nur kurz über 2000 Fuß über dem Meeresspiegel, während jener zirka 3000 Fuß darüber liegt. Von hier aus würde es also leichter sein, „air born“ zu werden, also in die Luft zu steigen, als auf dem heimatlichen See.

Um vieles klüger, als wir es noch vor ungefähr vier Stunden waren, kontrollierten wir die Windrichtung und den Tiefgang unserer Floats. Es bereitete mir doch einiges Kopfzerbrechen, dass diese jetzt wieder tiefer im Wasser lagen als bei unserem Abflug vom Watson Lake. Doch auch bei der Fliegerei ist vieles relativ und vor uns lag eine durchaus andere Situation.

Obwohl wir aufgrund der zusätzlichen 40 Liter Benzin in unseren zwei Kanistern wieder deutlich mehr Gewicht hatten, beruhigte uns die Tatsache, dass erstens starker Gegenwind beim Start zu erwarten war, und auch der Umstand, dass der Thyee Lake mehr als 300 Meter tiefer als der Watson Lake lag. Zu meiner Zuversicht trug letztlich außerdem bei, dass der See viel länger als der Watson Lake war.

Und schließlich hatte auch Wendel beiläufig fallen gelassen, dass „eine Stintson“ doch noch viel mehr leisten könne...

Meinem Ego tat diese Bemerkung eines richtigen Fachmannes unwahrscheinlich gut. Dankend, voller Zufriedenheit und Stolz auf meine so gelobte Maschine verabschiedeten wir uns vom Dock.

Alles lief nach Plan. Wir tuckerten langsam unter den Wind, vollzogen alle erforderlichen Kontrollen, waren damit zufrieden und schoben den Throttle auf Full Power (volle Kraft). Zweihundertdreißig „Pferde“ stemmten sich in die Gurte, schnaubten, prusteten, ließen große Hufabdrücke zurück und bewegten sich zunehmend schneller ihrem vorläufigen Ziel, dem anderen Seeufer, entgegen.

Mit einem schnellen Blick erfasste ich noch die Zuschauer, die mit den Händen in den Taschen auf dem Dock standen. Ich wusste genau, worauf sie warteten, was sie heimlich taten: Sie zählten die Sekunden bis zum Abheben von der Wasseroberfläche. Das scheint eine Pilotenmarotte, eine Art Zwang zu sein, denn wir alle tun es. Sind es zusammen mit dem Landevorgang doch auch die gefährlichsten Sekunden, denen ein Pilot ausgesetzt ist. Innerhalb dieser wenigen Sekunden hängt alles von dessen physischen und psychischen Fähigkeiten ab. Zu vergleichen ist das mit einem Autofahrer, der mit Tempo 100 in eine Kurve geht.

Diesen Gedanken hing ich in diesem Moment nicht lange nach, denn wir hatten bereits die Abhebgeschwindigkeit erreicht. Der gegenüberliegende Strand war noch weit weg, alles lief wie in der Gebrauchsanweisung. Das Tachometer zeigte 58, jetzt 60 Knoten, mit dem Steuerknüppel machte ich eine ruckartige Linksbewegung, damit sich der rechte Float zuerst aus dem Wasser heben konnte. Danach sofort die entgegengesetzte ruckartige Bewegung, und beide Floats hatten sich von der Wasseroberfläche gelöst. Merklich vergrößerte sich jetzt die Fluggeschwindigkeit und mit Donnergetöse sausten wir über die am Ufer grasenden Pferde, die keinerlei Notiz von uns nahmen.

Nachdem ich eine sichere Flughöhe zum Wenden erreicht hatte, drehte ich die Stintson auf unseren permanenten Kurs: Nordwest! Nach Abschluss der 180-Grad-Kehre stiegen wir langsam und dröhnend unter Vollgas am Smithers Air Port vorbei in Richtung der sich uns drohend entgegenstellenden Berggipfel.

Fritz schien zu Hause zu sein: „Sieh, dort, die Hohe Wand“, ließ er sich vernehmen, dabei auf einen Gebirgszug zeigend, der sich rechts von uns als Steilhang darbot.

Ja, seine „Hohe Wand“ kannte ich aus Österreich einigermaßen gut, dort war ich mit ihm hinter den leichtfüßigen Gamsböcken hergeklettert. Die Felsmassive hier jedoch boten uns nichts weiter, als an ihnen entlangzufliegen, denn hinter ihnen türmten sich die noch höheren Gebirgszüge der südlichen Skeena Range auf. Unsere Flugkarte ließ erkennen, dass wir jetzt im Bulkley Tal bis Kisbiox fliegen würden, um dann über dem Skeena Fluss nach Nordwest abzubiegen.

Auch das Skeena Tal war groß und breit. Die Zwei- und Dreitausender links und rechts hatten für uns wenig Bedrohliches. Wir hatten nicht nur genug Platz zwischen ihnen, sondern auch eine gute Lebensversicherung in Form des beachtlichen Flusses unter uns. Gleichgültig, was da käme, auf diesem Fluss könnten wir immer landen.

Wir konnten uns gar nicht satt sehen an diesem überwältigenden Anblick eines der lachsreichsten Flüsse der Welt und der teils mit kleinen Gletschern bedeckten Bergwelt. Mich beruhigte besonders, dass ich die Landschaft unter uns von mehreren Fahrten mit dem Auto wiedererkannte und den Blick von oben mit diesen Erinnerungen „von unten“ in Verbindung bringen konnte.

Trotz aller fast ehrfürchtigen Bewunderung der überwältigenden Landschaft entgingen mir doch zwei Kleinigkeiten nicht ganz. Erstens war die Bergwelt links und rechts von uns aufgrund der Wolken- und Nebelbänke zwischen ihren Gipfeln für einen Sichtflug nicht mehr passierbar; zweitens nahm der Wind an Stärke zu.

Letzteres wäre nicht so von Bedeutung gewesen, hätte ich nicht auch bemerkt, dass dieser Wind nicht „normal“ und stetig aus einer bestimmten Richtung blies, sondern aus unregelmäßigen Turbulenzen von momentan noch akzeptablem Ausmaß bestand. Mit jeder Flugminute nahmen die Windböen jedoch zu. Vor uns verengte sich das breite Tal, der mächtige Skeena-Fluss hatte uns bereits mit einer Rechtskurve in das Labyrinth der westlichen Bergwelt verlassen und war, den laichenden Lachsen den Weg zu ihrer Geburtsstätte weisend, tief in den Schutz der engen Urwaldtäler eingetaucht.

Das bislang etwa acht Kilometer breite Tal schrumpfte nun auf zirka zwei Kilometer zusammen. Trotz Beibehaltung der Flughöhe rückten uns die Tannenspitzen unter uns immer weiter zu Leibe. Nun, das ist ganz normal, wenn sich Berge aus dem Flachland erheben. Jeder Pilot weiß das und reagiert entsprechend, indem er an Höhe gewinnt.

Für uns konnte daraus jedoch bald ein ernsthaftes Problem entstehen: Auch über uns hatte sich inzwischen nämlich eine Wolkendecke gebildet, die den Aufstieg in größere Höhen verbot. Mit gerunzelter Stirn versuchte ich mir vorzustellen, wie es wohl weiter vor uns aussehen würde.

Die verdammten Turbulenzen nahmen zu. Sie schüttelten uns bereits. Fritz’ Sonnenbrille hatte schon in kunstvollem Bogen einen vollendeten Sprung vom Armaturenbrett auf den Fußboden hingelegt. Auch die Landkarten, die bislang lose auf dem Armaturenbrett lagen, verstauten wir nun, damit sie nicht überall verstreut wurden.

„Fritz“, fragte ich meinen Freund mit dem möglichst überlegen klingenden Bass eines Lufthansapiloten: „Wie weit ist es noch zum Swan Lake?“

„Weiß nicht!“, kam genau so gelassen seine Antwort.

Da schien es mir doch Zeit, ihm den Ernst der Situation zu verdeutlichen. „Wozu hast du die Karten? Ich habe jetzt keine Zeit, das siehst du doch!“

Das leuchtete Fritz sofort ein, denn auch er hatte bemerkt, dass die Dinge nicht besonders rosig standen. Mit auffallender Geschwindigkeit zeigte er auf eine Stelle der Karte und sagte: „Hier genau sind wir jetzt, und dort ist der Swan Lake!“

Ich wandte mich ihm zu, um unsere Position zu sehen. Vergeblich! Wir wurden gerade so durcheinander geschüttelt, dass Fritz’ Finger immer wieder von der Stelle auf der Karte glitt und er sie neu suchen und zeigen musste. Es dauerte eine Ewigkeit.

Dann tauchte hinter einer Bergspitze ein größerer See auf. Nach unseren Berechnungen musste das der Beginn des großen Swan Lake, des großen Schwanen-Sees, sein.

Kurz davor erfasste uns plötzlich eine Böe, hob uns einige Meter rapide in die Höhe, schüttelte uns und beförderte uns so schnell in die Tiefe, dass wir mit dem Kopf an die Decke prallten. Wer schon einmal diese „Höllenräder“ auf dem Münchener Oktoberfest benutzt hat, kann sich ein wenig in unsere damalige Situation einfühlen. Nur war sie kein Sonntagsnachmittags-Vergnügen. Um uns herum sauste, ratterte, quietschte und grollte es zwar wie im „Höllenrad“, so ganz nebenbei hatte ich aber auch noch ein Flugzeug zu kontrollieren. Und auf dem Spiel stand nichts weniger als unser beider Leben. Angst? Für Angst war kaum Zeit.

Nach einem freien Fall von vielleicht 30, 40 oder 50 Metern hörte der Spuk immer noch nicht auf. Die Maschine schüttelte sich, wackelte, sprang hoch und runter. Fritz hatte die Karte mit einer Seitenstrebe vertauscht, an der er sich jetzt krampfhaft festhielt. Seine Aufgabe war ja auch getan, dachte er jetzt, denn wir hatten den Swan Lake dicht vor und unter uns.

Dieser Swan Lake war auf einmal unser heiß ersehntes Ziel, obwohl er kurz zuvor in unseren Plänen kaum die Mitte des Weges bis zum nächsten Tankplatz markiert hatte – ganz zu schweigen von unserer Streckenplanung für de gesamten Tag! Hier war die Welt zu Ende! Nichts, aber auch gar nichts sonst mehr wünschten wir, als nur hier auf dem See zu landen.

Was, wenn uns eine Tragfläche wegbräche! Wäre das verwunderlich? Wie bitte schön sollte so ein bisschen um ein paar eiserne Streben gewickeltes Aluminium dieses Theater aushalten?

Woher ich die Zeit fand, auch noch auf die Flügelspitzen zu schauen und mich um sie zu sorgen, ist mir heute unerklärlich. Höchstwahrscheinlich bewegt man sich unter solchen Umständen schneller als sonst und verfügt auch über eine raschere Auffassungsgabe, weil diese durch heftige Adrenalinstöße beflügelt wird.

Wenigstens der Motor schien vom Getöse um uns herum unbeeindruckt und reagierte unmittelbar auf den inzwischen schnell auf Full Power gestellten Throttle. Fritz unsere Landung auf dem Swan Lake noch anzukündigen, erübrigte sich.

Über dem See fing es zu allem Überfluss auch noch zu regnen an! Unter langsamer Reduzierung der Höhe, die Luftlandeklappen bereits in Lande- und „Brems“-Stellung, näherten wir uns „flügelschlagend“ wie eine Möwe, oder besser wie eine vollkommen betrunkene Möwe, dem Wasser.

Der Swan Lake ist ein sehr großer, mindestens 15 Kilometer langer See, also: viel Platz zum Landen. Man kann sich in Ruhe sinken lassen, um dann mit voller Motorkraft übers Wasser zu gleiten und sanft aufzusetzen. Eine Landung, nach der dann alle Passagiere hinten in der Maschine klatschen. Wenn, ja wenn es weder Turbulenzen noch Seitenwinde gibt. Die ließen mir wieder einmal die Handflächen mächtig feucht werden.

Zweimal versuchte ich, leicht auf dem Wasser aufzusetzen, beide Male nahm uns eine Böe wieder hoch, um das Flugzeug gleich darauf auf das Wasser klatschen zu lassen. Für Hawaii-Surfer mag das Spiel mit dem Wasser seinen Reiz haben. Hier ging es jedoch nicht um ein Surf-Brett, sondern um einen tonnenschweren Klumpen Metall, den zwei nervöse menschliche Wesen mit etwa 100 km/h behutsam aufzusetzen gedachten.

Der dritte Landeversuch klappte endlich. Das hintere Teil der Floats setzte kurz vor einer erneuten Böe auf, sodass ich auch das Vorderteil der Schwimmer nach etwa einer Sekunde absinken lassen konnte. Wir schwammen! Wären unter dem Einfluss des Windes zuerst die vorderen Hälften der Floats aufgesetzt, hätte diese wie jede andere derartige Landung unmittelbar in einem Salto Mortale mit katastrophalem Ausgang ihr Ende gefunden!

Dass sich wieder einmal Flugzeuginsassen die Handflächen trocken rieben und vernehmlich ein- und ausatmeten, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung. Zugegeben hat es bis auf den heutigen Tag keiner. Doch haben wir sicher beide in Sekundenbruchteilen ein Stoßgebet gen Himmel gesandt.

Jetzt waren wir unten und unsere Zuversicht nahm wieder zu. Sogar ein paar Witze über die zuletzt durchlebten zehn Minuten konnten wir schon wieder reißen.

Fritz schenkte seine Aufmerksamkeit nun gleich einer Insel im Swan Lake. Wir waren uns sofort einig, dass wir dort erst einmal Schutz vor dem Sturm suchen mussten. Nachdem wir die etwa 600 Meter lange und 40 Meter schmale Insel halb umrundet hatten, fanden wir auch eine Bucht, die uns den erwünschten Schutz vor den Elementen bot.

Wir hätten durchaus zufrieden sein können. Wir befanden uns in der Wildnis, auf einer romantischen Insel inmitten eines der herrlichen, großen Bergseen Kanadas. Weit und breit kein Mensch, kein Haus oder gar eine Straße. Mit Sicherheit war unser Swan Lake sehr fischreich wie die meisten der Seen in der Wildnis. Überdies entdeckte ich auch sofort Anzeichen für die Gegenwart von Bären. Alte verfaulte Baumstämme lagen aufgerissen herum – Meister Petz hatte hier vor nicht allzu langer Zeit Würmer und Larven ausgegraben.

Trotz aller Anerkennung der vorgefundenen Umstände waren wir uns jedoch einig: Diesen Platz hatten wir uns nicht ausgesucht! Lediglich etwa drei Fünftel unserer geplanten Strecke waren bis zu unserer Notwasserung geschafft. Sobald sich der Sturm gelegt hätte, wollten wir deshalb unsere Reise fortsetzen. Das Tageslicht erlaubte uns noch fünf bis sechs Stunden Flugzeit.

Die Maschine wurde am nächststehenden Baum am Strand festgebunden. Wir wollten die interessant scheinende Insel ein wenig erkunden und marschierten los. Zur Sicherheit hinsichtlich unliebsamer Begegnungen mit der Gattung Ursus nahm ich meine Büchse über die Schulter. Dies trotz des Wissens, dass ein Bären-Angriff in dem dichten Gehölz so überraschend schnell erfolgen würde, dass sicher kaum Zeit zum Anlegen, Zielen und Schießen bliebe.

Wir stießen gleich auf Elchlosung. Die weit über einen Kilometer große Entfernung der Insel zum Festland stellte für Wild keinerlei Hindernis dar. Die Urwaldinsel war zu ihrer Mitte hin leicht erhöht und wurde der Länge nach von einem kleinen Kamm durchzogen. Dieser kleine Höhenzug wurde ganz offensichtlich von allem möglichen Wild als Wechsel benutzt. Uns Neugierigen bot sich dieser Wildwechsel als idealer Pirschpfad an, den wir gespannt betraten. Was, wenn uns jetzt ein Bär in dieser Enge entgegentrat? Wird er ausweichen?

Natürlich wusste ich, dass alles Wild dem Menschen ausweicht, wenn es irgendwie kann. Ich wusste aber auch von zahlreichen Fällen, in denen diese Regel mit dramatischen Folgen „missachtet“ wurde. Auch wenn es sich bei diesen – meist sehr reißerisch publizierten – Ereignissen um Ausnahmen handelte, wollte ich uns nicht unbedingt als Hauptdarsteller einer solchen Ausnahme zur Verfügung stellen. Also nahm ich bald meine Blaser von der Schulter und trug sie noch konzentrierter in der Hand.

Nach etwa einer Stunde hatten wir unseren Inspektionsgang an unserer Anlegestelle wieder beendet, ein Verlaufen war unmöglich. Obwohl auf unserem Rundgang nichts besonders Aufregendes geschehen oder zu beobachten gewesen war, hatten wir die Zeit vergessen. Doch das war gleichgültig, denn es hatte weder aufgehört zu regnen noch hatte sich der Sturm gelegt. Etwas ratlos schauten wir in die Wellen und zu dem friedlich darin dümpelnden Wasserflugzeug. Der nächste Blick zum verhangenen, wolkenschweren Himmel zwang uns die einzig sinnvolle Entscheidung förmlich auf: Warten! An einen Weiterflug war heute nicht mehr zu denken.

Etwas enttäuscht setzten wir uns, schon jetzt durchnässt, auf einen Baumstamm in den Nieselregen, um Pläne zu schmieden. Die von den plätschernden Wellen vor uns ausgehende Ruhe war das, was ich nach der anstrengenden Fliegerei brauchte. Die leicht plätschernden Wellen in der kleinen Bucht standen in krassem Gegensatz zu dem noch sehr gegenwärtigen Brüllen des Flugzeugmotors und ließen mich sehr schnell entspannen.

Als ob Fritz gegen eine derartige „Gefühlsduselei“ protestieren wollte, sprang er auf und stapfte durchs Wasser zum Float Plane hinüber. Sein Oberkörper verschwand für einige Minuten in der Maschine, während er offensichtlich, auf den Zehenspitzen auf einem der Floats tänzelnd, in unserer Ladung kramte. Grinsend tauchte er wieder auf, hielt in der Rechten die Angelrute und in der Linken etwas von unserer Notverpflegung. Das heißt wohl endgültig, dass wir uns heute hier festsetzen werden, zuckte es mir durch den Kopf und ich begann, die vorgefertigten Butterbrote zu vertilgen, die Fritz „angelandet“ hatte. Der erste nicht planmäßig verlaufene Reisetag, er musste notgedrungen auf dieser sehr nassen Insel im nordischen Regenwald enden.

Unser kleines Kugelzelt war schnell aufgestellt, das Buschwerk um uns herum weggehackt und eine Feuerstelle geschaffen. Eine der drei inzwischen gefangenen Seeforellen zappelte immer noch vor dem Zeltplatz und wartete sehnsüchtig darauf, uns beide näher kennen zu lernen. Geduldig ließ ich Fritz gewähren. Die vierte, fünfte und sechste Forelle gesellte sich zu den ersten drei. Fritz’ enthusiastisches Rufen: „Warte, dich krieg ich doch noch!“, oder: „Da! Das ist ein Brocken! Er muss wohl was ahnen, denn er umkreist den Blinker nur!“, begleiteten seine zielstrebigen Angelbewegungen.

Der liebe Fritz war wieder ganz er selbst und hatte sich, die Umwelt und die Missgeschicke des Tages total vergessen. Weder das Wetter, meine Gegenwart oder die Tatsache, dass wir bereits Forellen für zwei Tage hatten, schien er zu bemerken. Wieder und immer wieder warf er die Angel hinaus, spielte mit den Forellen und freute sich wie ein kleiner Junge. Sicherlich hätte er freudig eingewilligt, wenn ich ihm in diesen Minuten angeboten hätte, unser Camp für die nächsten Tage hier aufzuschlagen. Stattdessen räusperte ich mich und fragte leise: „Meinst Du nicht auch, dass wir allmählich genug Fische für den Abend haben?“ Da erwachte Fritz aus seinem Beutefieber und entschuldigte sich sogar. Professionell filettierte er die Forellen, genug waren es ja.