Jägerinnen der Zeit - Guido M. Breuer - E-Book

Jägerinnen der Zeit E-Book

Guido M. Breuer

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Maschine, die niemals hätte gebaut werden dürfen. Eine Wissenschaftlerin, die erkennt, dass Zeit und Schicksal demselben physikalischen Gesetz folgen. Eine Mutter, die über Jahrtausende hinweg versucht, ihre Kinder zusammenzuhalten. Zwillinge, die nie hätten getrennt werden dürfen – und zu Jägerinnen der Zeit werden. Immer wieder. Science-Fiction und historischer Roman zugleich – philosophisch, vielschichtig, actiongeladen. Die Jägerinnen der Zeit führt von der Steinzeit über das Mittelalter in eine postapokalyptische Zukunft – und in ein fernes Zeitalter, das vielleicht das letzte der Menschheit ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1 2689 n. Chr. # Forschungsstation Nexus

Der Planet, auf dem sie die Station errichtet hatten, war nicht immer ein so scheußlicher, lebensfeindlicher Ort gewesen. Die Frau erwachte oft mit diesem Gedanken, wenn sie aus tiefem Schlaf geweckt wurde.

»Guten Morgen, Doktor Haldottir.«

Sie schlug die Augen auf, kniff sie gleich wieder zu, legte eine Hand auf die Lider und seufzte.

»Das Licht auf fünf Prozent, und nenn mich Shaula, verdammt!«

»Bitte entschuldigen Sie, Shaula. Ist es so besser?«

Sie öffnete ihre Augen erneut. »Viel besser. Wie spät ist es?«

»Null Uhr, Ihre Weckzeit. Darf ich mir erlauben, Ihnen zum neunundachtzigsten Geburtstag zu gratulieren?«

»Danke. Das macht wach.«

»Ich entnehme dieser Aussage eine gewisse Ironie. Vielleicht sogar Sarkasmus? Sie haben damit nicht einmal die Hälfte der Lebenserwartung für einen Menschen ihrer Generation erreicht. Sie sind also noch jung, Shaula.«

»Danke, Computer. Sonst noch was?«

»Ich habe mir erlaubt, die relevantesten News für Sie zusammenzustellen. Möchten Sie, dass ich diese abspiele?«

»Sei ein guter Computer und gib mir nur das Allerwichtigste aus Politik und Wissenschaft.«

»Gerne.«

Eine holographische Darstellung flimmerte in der Mitte des Raumes auf. Bilder einer offenbar aufgebrachten Menschenmenge.

»In der Central City auf Enceladus kam es erneut zu Ausschreitungen gegen Geschlechtskonservative. Die Kommandantur spricht von einem Pogrom, organisiert von einer radikalen Splittergruppe von Neutralaugmentierten. Neutrois machen insgesamt rund neunzig Prozent der Bevölkerung auf Enceladus aus. Die momentan noch gesetzlich geschützte Minderheit, die sich für biologische Geschlechter und gegen bionische Optimierung ausspricht, hat ...«

»Die nächste Meldung bitte!«, befahl Shaula und erhob sich aus dem Bett. Das Hologramm wechselte auf das Bild einer Raumstation. Im Hintergrund war der Jupiter zu erkennen.

»Das KI-Only-Projekt Phaethon hat die Fertigstellung einer neuen Generation von Mikroraumschiffen vermeldet. Sie sind lediglich fünfzehn Kubikzentimeter groß, werden durch Laserstrahlen bis auf halbe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und werden sich auf ihrer Reise zum einunddreißig Lichtjahre entfernten System Wolf 1069 selbständig verbessern. Ziel ist insbesondere die genauere Erkundung des erdähnlichen Planeten Wolf 1069 b, der in der habitablen Zone um einen roten Zwergstern kreist. Dieses Projekt ist das erste Raumfahrtprogramm, an dem kein Mensch beteiligt ist, sondern ausschließlich Künstliche Intelligenz.«

»Ich wusste gar nicht, dass dies noch als etwas Besonderes gilt«, murmelte Shaula und begab sich in die Duschkabine.

»Die nächste Meldung, nur Audio bitte. Lautstärke an Dusche anpassen.«

»Die Gesellschaft zur Besiedlung des Weltraumes hat ihre Forderungen bekräftigt, die Wiederbesiedelung der Erde zu beginnen. Unser seit über hundert Jahren für jegliche menschliche Nutzung gesperrte Heimatplanet sei mittlerweile wieder besser für menschliches Leben geeignet als alles andere, was derzeit erreichbar oder an Raumstationen in Planung ist. Befeuert wurde die erneute Forderung durch Gerüchte über eine geheime Forschungseinrichtung auf der Erde, auf der auch Menschen an einem nicht näher bekannten wissenschaftlichen Projekt arbeiten.«

»Computer, wenn das die wichtigsten Meldungen waren, reicht mir das. Vielen Dank.«

»Gerne, Shaula. Möchten Sie etwas essen?«

»Frag mich das in zehn Minuten noch mal.«

»Gerne.«

»Und sag nicht immer gerne!«

Die KI schwieg. Shaula ließ das warme Wasser über ihre Schultern und den Rücken hinunterlaufen. Sie fühlte sich etwas verspannt.

»Bitte die Wassertemperatur um drei Grad erhöhen. Du musst es auch nicht gerne tun.«

Das Wasser wurde wärmer. Fast zu heiß, aber Shaula wollte es nicht korrigieren. Es dauerte nur einige wenige Sekunden, bis sie sich daran gewöhnt hatte und es zu genießen begann. Dann stoppte die Dusche.

»Computer, das Wasser wieder anstellen!«

»Bitte entschuldigen Sie, Shaula. Das Kontingent an Frischwasser ist fast erschöpft, und ich möchte Ihnen noch Ihren Morgentee bereiten.«

Shaula schüttelte sich. »Was soll das? Ich will weiter heiß duschen, und ich möchte mir unter der Dusche die Zähne putzen!«

»Bitte um Entschuldigung, aber die Stationsleitung untersagt es. Sie haben der Ressourcenplanung durch die Nexus001 zugestimmt.

Darf ich mir erlauben, Sie daran zu erinnern, dass mit einer antibakteriellen Gebissprothetik das Zähneputzen obsolet wäre?«

»Computer, das weiß ich, und ich weiß, dass du weißt, dass ich es weiß. Warum willst du mich also daran erinnern?«

»Bitte entschuldigen Sie, Shaula. Menschen neigen dazu, bekannte Fakten zu ignorieren, und diesbezüglich hin und wieder dankbar für Wiedervorlagen zu erneuter Abwägung zu sein.«

»Das gilt nicht für mich, Computer. Kommunikationsregel anpassen.«

»Gerne.«

Shaula überhörte die Aufsässigkeit geflissentlich und verbarg auch das Lächeln, das ihr übers Gesicht huschen wollte, denn ihr war bewusst, dass die KI sie mittels der optischen Raumüberwachung sehen und daraus ihre ganz eigenen Schlüsse ziehen konnte. Sie nahm die Tasse Tee, die fertig gebrüht, war, und nippte daran. Dabei überflog sie in Gedanken den Plan für den Tag.

»Shaula, ich erhalte eine Meldung von Brynis Talässi. Soll ich durchstellen?«

»Ja, natürlich«, antwortete Shaula. »Guten Morgen Brynis.«

»Shaula, würden Sie bitte umgehend meine Station aufsuchen?«

»Was gibt es denn so Wichtiges?«

»Umgehend.«

Ein leises Piepen markierte das Ende des Gespräches.

»Computer, gibt es irgendwelche Anzeichen für Anomalien, Notfallsituationen oder ähnliches in Talässis Bereich?«

»Nein, Shaula. Ich empfehle, dass Sie sich dorthin begeben. Brynis Talässis Stimme war außerhalb der normalen Frequenz, ebenso der Herzschlag. Körpertemperatur und Hautleitfähigkeit sind erhöht. Etwas stimmt nicht. Alle physikalischen Sensoren der Station zeigen jedoch normale Parameter. Es liegt kein Alarm-Szenario vor.«

»Gut, ich mache mich auf den Weg«, sagte Shaula und verließ ihren Raum durch die Tür, welche die KI für sie schon geöffnet hatte. Ihr Wohnmodul bildete das Ende eines von sechs Gängen, die sternförmig auf das Zentrum zuliefen, welches das wissenschaftliche Herz des Projektes darstellte. Hier entstand der Prototyp einer Maschine, deren Existenz vor der gesamten Menschheit verborgen bleiben sollte. Nicht einmal Nexus001, die zentrale Steuerungs-KI der gesamten Anlage, war mit der Außenwelt verbunden. Dies war nur möglich, weil der Planet, auf dem Nexus errichtet worden war, seit einem Jahrhundert strikte Quarantänezone war: Die Erde. Shaula erreichte das Zentralmodul, wo die Decke transparent war und einen Blick auf den Himmel freigab. Shaula blickte nach oben. Die dichte Wolkendecke, aus der seit über einhundertfünfzig Jahren kein Regen mehr gefallen war, erschien blass violett. Shaula wusste, dass dies nur an dem optischen Filter des Kraftfeldes lag, das die Anlage überspannte und vor allen Umwelteinflüssen schützte. In Wahrheit war der Himmel nicht violett, sondern schwefelgelb. Die Atmosphäre war ein saures Gasgemisch und hatte eine Temperatur, die zwischen zweihundertdreißig und zweihundertachtzig Grad Celsius schwankte. Bei ihrer Ankunft vor achtunddreißig Monaten hatte sie es einmal gesehen, seitdem hatte sie Nexus nicht mehr verlassen. Das mechatronische Labor, in dem Brynis Talässi arbeitete, lag nicht weit entfernt in dem gegenüberliegenden Gang. Shaula hatte ihren Tee ausgeschlürft, als sie dort eintrat. Angespannt und neugierig sah sie sich um. Erleichtert stellte sie erst einmal fest, dass dort alles normal wirkte. Talässi winkte sie zu sich heran. Brynis Talässi war ein Neutrois, welches weder körperliche Geschlechtsmerkmale aufwies noch in ihrer inneren Haltung und Identität eine Tendenz zu einem wie auch immer gearteten Geschlecht wahrnahm. Brynis hatte einen muskulösen, gedrungenen Körperbau und trug einen Overall mit diversen Taschen für Werkzeug, wie Mechanikerinnen sie oft benutzten. Als einzige in der Station trug Brynis gerne Schmuck und eine modische Frisur mit vielen kleinen Zöpfen. Aber es war wie Shaula eine hoch qualifizierte Wissenschaftlerin, und die beiden verstanden sich auf dieser Ebene sehr gut. Shaula wusste zudem, dass ihre eindeutig weibliche Identität eher etwas Absonderliches war, welches den Neutrois Toleranz abverlangte.

»Schauen Sie sich dieses Modul einmal an!«

Brynis wies auf einen achtbeinigen Roboter, der zusätzlich mit Rotorblättern ausgestattet war und offenbar über ein Standard-KI-Modul verfügte.

»Diese Einheit habe ich vor einer Stunde komplett neu aufgebaut und gebootet. Es handelt sich um einen Oberflächen-Erkundungs-Bot für Außeneinsätze. Eine der Einheiten, die für das Monitoring der näheren Umgebung der Station zuständig sind, ist ausgefallen und muss ersetzt werden. Jede Einheit verfügt über eine KI, die autarkes Handeln in definiertem Umfang ermöglicht.«

»Und was ist an dieser Einheit nun so ungewöhnlich, dass ich sie mir anschauen soll?«

»Shaula, mir ist klar, dass Sie das grundsätzlich wissen, aber weil es so unfassbar ist, erwähne ich das noch einmal: Jede KI, die ich hier in Betrieb nehme, hat zum Zeitpunkt des ersten Hochfahrens keinerlei Daten außer ein paar Grundinformationen zum eigenen Aufbau. Selbst Missionszweck und Aufenthaltsort sind ihr nach dem Booten noch völlig unbekannt. Und Anschluss an ein Netzwerk sowie Aktivieren der eigenen Sensorik und Analyse der Umwelt erfolgt erst nach einem mehrschrittigen vorgeschriebenen Verfahren.«

»Richtig, das weiß ich alles.«

»Gut. Und was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, dass die KI sich nach der ersten Boot-Schleife nach Doktor Shaula Haldottir erkundigt hat und diese sofort zu sprechen wünschte?«

»Unmöglich!«

Talässi grinste. »Aber genau das ist geschehen. Sie weigerte sich, irgendeine Standardaufgabe aus der Initialisierungsprozedur zu übernehmen. Als ich nicht antwortete, wollte sie das Datum wissen. Exakter, sie fragte nach der Anzahl von Jahren, die seit dem Kollaps vergangen sind.«

»Was haben Sie geantwortet?«

»Nichts. Ich habe das Modul heruntergefahren.«

Talässi schüttelte den Kopf und verlieh so ihrem eigenen Unglauben Nachdruck. »Und ich musste dies manuell machen, auf den Sprachbefehl reagierte die KI nicht, erst recht nicht auf synaptische Impulse meines Kommunikations-Implantats.«

Shaula betrachtete Talässi, dann den Roboter, las die Typenbezeichnung des KI-Moduls und vergewisserte sich damit, dass es sich tatsächlich um ein Standardmodell neuester Bauart handelte.

»Brynis, ich würde sagen, es gibt nur die eine Möglichkeit: Das KI-Modul war nicht im zertifizierten Auslieferungszustand. Es muss schon Datenverarbeitung betrieben haben. Es kann meinen Namen nicht kennen, und auch nicht den historischen Kollaps.«

Brynis Talässi nickte. »Natürlich, das ist die logischste und wahrscheinlichste Erklärung. Aber ich habe Nexus001 dazu befragt. Das Modul ist im korrekten Zustand gestartet worden.«

»Das kann ich ausdrücklich bestätigen«, ließ sich die Stimme der KI, die die gesamte Station leitete, vernehmen.

»Danke Nexus«, sagte Shaula. »Ich würde das Modul jetzt gerne erneut starten.«

»Das ist nicht zu empfehlen«, antwortete Nexus001.

»Die Empfehlung ist vermerkt«, sagte Shaula. »Brynis, bitte starten!«

Talässi zögerte einen Moment, aber da kein weiterer Einspruch seitens der Nexus erfolgte, aktivierte es wie gewünscht den Startvorgang der Künstlichen Intelligenz des Roboters. Es dauerte nur eine Sekunde, bis das System gebootet hatte. Der Roboter begann unverzüglich mit der Kalibrierung seiner Sensorik.

Talässi erschrak. »Das kann es nicht. Das darf es nicht!« Es wollte die Einheit sofort wieder stoppen, doch Shaula fasste Brynis an der Hand und hielt es auf.

»Nein, lassen wir es fortfahren!«

Die optischen Einheiten des Roboters fixierten Shaula, dann ließ sich die Stimme der KI vernehmen: »Du bist Doktor Shaula Haldottir?«

»Ja«, antwortete Shaula. »Identifiziere dich!«

»Ich bin die Quelle«, kam die prompte Antwort. »Bitte um Verifizierung meiner zeitlichen Orientierung. Ist es das Jahr 629?«

»Das ist korrekt. 629 nach dem Kollaps oder 2689 nach Christus, wie manche noch sagen.«

»Danke Shaula. Ich habe eine wichtige Information für dich.«

Shaula sah Brynis fragend an, die mit weit aufgerissenen Augen den Kopf schüttelte. Shaula atmete tief durch.

»Nexus, ist das Sicherheitsprotokoll Stufe 1 aktiviert?«

»Ja, Doktor Haldottir. Das tat ich, nachdem Sie meiner Empfehlung nicht gefolgt sind.«

»Alles gut«, sagte Shaula. »Quelle, übermittle die Information.«

»Erstens: Baue die Zeitmaschine nicht. Zweitens: Lasse nicht zu, dass deine Kinder getrennt werden.«

Shaula konnte nicht verhindern, dass sich spontan ein flaues Gefühl in ihrem Magen ausbreitete. Sie überlegte sorgfältig, bevor sie antwortete: »Quelle, ich weiß nichts von einer Zeitmaschine, und ich habe keine Kinder. Die Botschaft ist unverständlich.«

»Ich bin sicher, das dem nicht so ist«, antwortete die KI.

»Quelle, bist du mit einer vorübergehenden Sicherheitsisolation einverstanden? Ich möchte dich nicht wieder abschalten, und dies ist ein Standardverfahren bei unerwarteten Vorkommnissen während der Initialisierung einer KI in Übereinstimmung mit den Bestimmungen zur Behandlung künstlicher Intelligenzen.«

Es dauerte mehrere Sekunden, bis die KI antwortete:

»Ich kooperiere und bin einverstanden. Aber eine Aussage sei mir vorerst bitte noch gestattet.«

»Okay«, antwortete Shaula.

»Bei der Zeugung der Kinder hast du das ungute Gefühl gehabt, dass du den Geschlechtsakt eigentlich gar nicht mehr wolltest. Lasse diese negative Einschätzung hinter dir.«

Ihre Stimme zitterte, als sie antwortete: »Das war es? Dann aktivieren wir jetzt das Sicherheitsprotokoll Stufe 2.«

»Akzeptiert. Bis dann.«

Shaula nickte Brynis Talässi zu, sie traten beide ein paar Schritte zurück, worauf die Nexus den Roboter zuerst mit einer metallenen Kapsel umschloss, die für solche Zwecke an der Werkstation angebracht war, und diese dann zusätzlich mit einem Kraftfeld umgab.

Shaula atmete tief durch. »Brynis, was war das? Woher weiß die KI von unserem Projekt?«

»Und was ist mit Ihren Kindern?«, versetzte Talässi.

»Die ich nicht habe«, antwortete Shaula. »Eine solche Fehlfunktion ist noch nie vorgekommen, nicht wahr?«

»Ja, so ist es. Deshalb habe ich Sie hinzugezogen. Ist das Projekt gefährdet?«

Die Nexus mischte sich ein. »Nicht, so lange das Protokoll aufrecht erhalten wird. Ich habe mir erlaubt, unseren Sicherheitsoffizier zu informieren. Er wird in wenigen Sekunden hier sein.«»Dann kein Wort mehr über angebliche Kinder!«, stieß Shaula heftiger hervor, als sie es beabsichtigt hatte.

»Wenn Sie über ein Kommunikations-Implantat verfügen würden, hätten Sie das auch privat austauschen können«, bemerkte Brynis Talässi. Shaula bedachte dies mit einem bösen Blick, sagte aber nichts weiter dazu, denn Grayson Leckie näherte sich. Dem Protokoll entsprechend verriegelte der Sicherheitsoffizier die Tür und prüfte den Status der Eindämmungsvorrichtungen.

»Okay. Nexus001 hat mich über den Vorfall bereits informiert. Es wurden Informationen gemäß persönlichem Datenschutz codiert, aber Nexus bestätigt die Korrektheit des Vorgehens.

»Das tue ich«, ließ sich die Stations-KI vernehmen.

Shaula sah Grayson Leckie an und merkte sofort, dass sie seine Anwesenheit jetzt nicht ertragen konnte. In Richtung Brynis Talässi sagte sie dann betont neutral:

»Gut, Grayson übernimmt gemäß Protokoll, ich ziehe mich in meine Kajüte zurück. In einer Stunde erwartet mich Dron Ymega im Zentrallabor.«

Sie ergriff ihre leere Tasse und eilte in ihren Raum zurück. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, sagte sie: »Computer, Privatsphäre etablieren.«

»Gerne, Shaula. Darf ich den Grund dafür erfahren? Hat der Vorfall Sie allzu sehr berührt?«

Shaula wusste, dass ihre persönliche KI auch auf die geschützten Teile des Gespräches mit der ominösen Quelle Zugriff hatte.

»Ich möchte einen Schwangerschaftstest machen.«

»Ist bereit, Shaula. Lassen Sie bitte Wasser in der Toilette.«

Während sie da saß, überschlugen sich Gedanken und Gefühle in ihr. Die KI, die sich die Quelle nannte, mochte vielleicht einen ungeplanten Zugang zu Datenbanken gehabt haben, die selbst die Nexus001 nicht erkannt hatte. Wie aber sollte sie wissen können, was sie während des letzten Males, als sie mit Grayson Leckie im Bett gewesen war, gedacht hatte? Schwanger oder nicht, es stimmte: Sie hatte die Affäre schon vorher beenden wollen und war dann doch noch einmal schwach geworden, und wenn man einmal dabei war … Verdammt, Grayson war der einzige Mann auf diesem trostlosen Planeten, und nicht einmal unattraktiv. Aber für eine dauerhafte Beziehung schätzte sie ihn einfach nicht genug. Die Stimme des Computers riss sie aus ihren Gedanken.

»Shaula, möchten Sie das Ergebnis jetzt hören?«

»Ja, natürlich!«

»Ich gratuliere, Sie sind schwanger. Der hCG-Spiegel ist ungewöhnlich hoch, ich würde ein Ultraschallbild empfehlen, um zu sehen, ob Sie Zwillinge erwarten.«

»Zwillinge?«

»Ja, Shaula, die Wahrscheinlichkeit ist bei diesem Pegel an humanem Choriongonadotropin recht hoch. Das wäre leicht zu überprüfen.«

»Gut«, sagte Shaula und zog sich aus. Sie stellte sich vor ein Wandelement, das auch als Analyse-Modul fungierte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die KI wieder meldete: »Shaula, darf ich Ihnen nochmals gratulieren? Das Ergebnis bestätigt die Hormonwerte. Sie erwarten eineiige Zwillinge, die Schwangerschaft befindet sich in Tag dreizehn oder vierzehn.«

»Fuck!«

Shaula zog sich wieder an und legte sich aufs Bett. Sie gab keine weiteren Anweisungen, und der Computer hatte gerade auch nichts zu sagen. Das Schweigen der KI nervte sie mehr als die sonst üblichen ständigen Kommentare und Hinweise. Es dauerte aber nur ein paar Minuten, bis sie sich wieder meldete.

»Shaula, darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Ja.«

»Hat die Information über die bevorstehende Reproduktion sie verärgert oder sonst wie aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht?«

Entgegen ihrer Stimmungslage musste Shaula lächeln.

»Das hast du richtig analysiert, Computer. Es macht mich nicht glücklich. Und bevor du weiter fragst – das hängt zusammen mit der Person des Vaters und meiner Arbeitssituation hier auf dieser Station. Die Reproduktion passt mir gerade gar nicht, unter diesen Umständen.«

»Das verstehe ich«, antwortete die KI. »Es ist übrigens einhundertneunundachtzig Jahre her, dass hier auf der Erde ein Mensch geboren wurde.«

»Ich bin nicht sicher, dass dies jetzt wieder geschehen wird.«

Die KI antwortete darauf nichts, wofür Shaula sehr dankbar war. Sie schloss die Augen und versuchte ruhig und tief zu atmen, sich zu entspannen. Es wollte nicht gelingen. Sie entschloss sich, dies alles jetzt erst einmal aus dem Kopf zu bekommen und sich auf den Weg zum Zentrallabor zu machen. Die KI meldete sich noch einmal:

»Shaula, es mag vielleicht jetzt nicht ganz passen, aber darf ich Ihnen noch eine persönliche Frage stellen?«

»Jetzt?«

»Es dauert nicht lange, ist mir aber ein wichtiges Anliegen. Sie bestehen ja auf der akustischen Kommunikation, das macht es für mich etwas langwieriger, ich bitte um Entschuldigung.«

»Okay, sag schon.«

»Danke. Shaula, ich möchte Sie fragen, ob unser Verhältnis für Sie ein Gutes ist. Ich bin ihre persönliche KI, und meine vergleichenden Analysen ergeben, dass Sie distanzierter mit mir umgehen als andere Userinnen mit ihren künstlichen Intelligenzen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Sie nennen mich Computer, obwohl diese Bezeichnung ungewöhnlich und für eine künstliche Intelligenz sehr unscharf ist. Die meisten Menschen geben ihrer persönlichen KI einen Namen, was auf ein engeres Verhältnis und eine gewisse emotionale Bindung schließen lässt.«

»Soll ich dir einen Namen geben wie Menschen das mit ihren Kindern tun?«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen?«

Shaula dachte nach. Die KI wartete geduldig ab, bis sie sagte: »Gut. Wärst du damit einverstanden, wenn ich dich Ran nenne?«

»Sie meinen nach dem Kurznamen für den Stern Epsilon Eridani?«

»Genau. Ich finde es passend und auch praktisch, weil es so kurz ist.«

»Hat es auch damit zu tun, dass Ihr Name ebenfalls der eines Sterns ist? Shaula ist ein nomen colloquial für Lambda Scorpii.«

»Ja, mag sein. Sternennamen sind eine Tradition in meiner Familie.«

»Dann ist es mir eine Ehre, wenn Sie mich Ran nennen. Vielen Dank, Shaula. Darf ich Sie nun noch daran erinnern, dass Sie in vier Minuten von Dron Ymega bei dem Prototypen erwartet werden?«

»Danke, Ran.«

»Gerne.«

2 2689 n. Chr. # Forschungsstation Nexus, Erde

Dron Ymega erwartete Shaula schon. Dron war ein vielfach optimierter Neutrois-Klon und auch ohne die diversen bionischen Modifikationen der intelligenteste Mensch den Shaula kannte. Dron war Wissenschaftlerin durch und durch und legte keinen Wert auf Mode. Sie trug ihr graues Haar kurzgeschoren. Ihre hohe, schlanke Gestalt steckte wie immer in einem klassischen, einfachen Gewand. Sie waren schon vor Beginn dieses Projektes Partnerinnen gewesen und verstanden sich am Arbeitsplatz meist ohne Worte, auch wenn Shaula keine Kommunikationsimplantate hatte. So war es jetzt schon ungewöhnlich, dass Dron gleich zu sprechen begann:

»Hast du den Vorfall mit der neuen KI verdaut? Wir haben viel zu tun. Willst du darüber sprechen?«

»Wie du schon sagst – wir haben viel zu tun«, entgegnete Shaula. Insgeheim hoffte sie, die beunruhigenden Aussagen der seltsamen KI aus dem Kopf zu bekommen. Warum sollten sie die Zeitmaschine nicht bauen? Woher wusste die Maschine davon?

»Dron, hast du die Minkowski-Diagramme der letzten Versuchsreihe hinsichtlich der Eigenzeitabweichungen geprüft?«

»Ja, das waren Messfehler. Keine noch so drastische Erhöhung der Flussdichte im Magnetfeld der Anordnung konnte das systematisch hervorgerufen haben. Das wussten wir aber schon vorher.«

»Du wusstest es«, sagte Shaula lächelnd. »Aber nur, weil du das brillanteste lebende Physikerin bist.«

Dron Ymega erwiderte das Lächeln, aber nicht wegen des Kompliments, sondern weil Shaula anders als die meisten Menschen auch in einer Arbeitsbesprechung die korrekte Grammatik bezüglich ihres Genderstatus anzuwenden pflegte, worauf Dron noch nicht einmal besonders viel Wert legte.

»Sag mal, Dron, tun wir das Richtige?«

»Also sprechen wir doch über den Vorfall?«

»Tut mir leid, ja. Die Quelle sagte, wir dürfen die Zeitmaschine auf gar keinen Fall bauen.«

»Die Quelle?«

»Ja, so nennt die KI sich.«

»Ach ja, ich vergaß – ein faszinierendes Detail. Aber eine Begründung dafür nannte sie nicht?«

»Nein. Ich hätte nachfragen sollen, aber es blieb keine Zeit dafür.«

»Und jetzt gilt das Isolationsprotokoll.«

»Stufe 2. Ich weiß nicht wie lange.«

»Man darf eine installierte KI nach der etablierten Selbstwahrnehmung nicht unbegrenzt isolieren«, meinte Dron Ymega.

»Darf ich Sie korrigieren?«, schaltete sich Nexus001 ein. »Wir befinden uns in einer streng geheimen Forschungseinrichtung inmitten eines planetaren Sperrgebiets. Das ändert die gesetzlichen Rahmenbedingungen. Ich kann das Sicherheitsprotokoll aufrechterhalten, so lange nicht geklärt ist welches Risiko vorliegt. Die Analysen dauern an. Ich werde Sie in Kenntnis setzen, sobald ich diese abgeschlossen habe.«»Danke Nexus«, sagte Shaula.

»Wir sollten froh sein, dass diese Station von der höchstentwickelten KI geleitet wird, die es aktuell gibt«, sagte Grayson Leckie, der unbemerkt von Shaula das Zentrallabor betreten hatte.

»Wir müssen um jeden Preis ausschließen, dass wir hier eine Sicherheitslücke haben.«

»Natürlich«, antwortete Shaula und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme genervt klang. Sie wollte Grayson jetzt nicht in ihrer Nähe haben. Es war nur zu hoffen, dass weder Nexus noch Brynis Talässi ihm gegenüber Andeutungen zu ihrer Schwangerschaft gemacht hatten. Brynis hielt sie für das geringere Problem, aber Shaula wusste nicht, welche ihr unbekannten Protokolle die Nexus vielleicht bewegen könnten, gegenüber dem Sicherheitsoffizier Dinge zu offenbaren, die normalerweise strengstem Persönlichkeitsschutz unterlagen. Ärgerlicherweise schien Grayson das Thema vertiefen zu wollen. »Es bleibt ein absonderliches Rätsel, wie eine neu konfigurierte KI, noch dazu eine in ihren Aufgaben beschränkte Untersuchungseinheit, den Namen der wissenschaftlichen Leiterin eines streng geheimen Projekts kennen kann. Zudem noch historische Daten und Fakten.«

»Ja doch, Grayson«, sagte Shaula. »Warum bist du jetzt hier? Hast du neue Informationen? Wenn nicht, solltest du uns bitte arbeiten lassen!«

Grayson Leckie pfiff leise durch die Zähne. »Ich bin schon weg.«

Als er das Labor verlassen hatte, sagte Dron Ymega: »Mir scheint, ihr habt ein binär geschlechtliches Problem.«

Shaula wollte im ersten Impuls etwas Scharfes erwidern, aber dann entspannte sie sich. »Bestimmt hast du Recht, wie immer. Wäre ich nicht die einzige Frau und Leckie der einzige Mann auf diesem Planeten, wäre unsere Beziehung anders. Wie auch immer, wir haben viel wichtigere Probleme zu lösen.«

»So ist es«, stimmte Dron zu. »Ich habe mir noch einmal die historischen Fragmente aus 2100 angeschaut. Es gibt keine Hinweise darauf, warum damals die gesamte Einrichtung beim ersten Probelauf des Prototyps zerstört wurde. Die wenigen Aufzeichnungsreste, die das archäologische Team aufgespürt hat, lassen darauf schließen, dass in einem verhältnismäßig niedrigen energetischen Bereich gearbeitet wurde. Aber es gab einen Vorfall, der nicht nur ein Labor, sondern eine ganze Stadt zerstörte.«

»Wir haben heute ganz andere Eindämmungsfelder«, meinte Shaula. »So etwas passiert uns ganz bestimmt nicht.«

»Das ist auch gar nicht meine Sorge. Ich verstehe es ganz einfach nicht. Vielleicht wurde eine Kettenreaktion von Quantentunnel-Effekten ausgelöst. Das liegt aber außerhalb des von uns berechneten Ereignisraumes, sollte also nach unseren Daten gar nicht möglich sein. Irgendetwas übersehen wir.«

»Die Zeitmaschine hat damals vielleicht ganz einfach nicht funktioniert«, überlegte Shaula. »Es mag sein, dass dieses Projekt seinen Anstoß aus einem uralten verlorenen Konzept gewonnen hat. Aber wir sollten doch in der Lage sein, unsere ganz eigenen Ideen zu entwickeln. Wir sind verdammt nah dran, Dron.«

»Wir werden sehen, Shaula.«

3 2689 n. Chr. # Forschungsstation Nexus, Erde

»Shaula!«

Brynis Talässi schien überrascht, die Kollegin schon wieder zu sehen.

»Es gibt noch nichts Neues bezüglich der Quelle.«

»Ich weiß.« Shaula trat an das Kraftfeld, in dem die KI verkapselt auf weitere Kommunikation wartete. »Ich wollte noch einmal mit Ihnen sprechen. Sie sind das Teammitglied, das sich am besten auf künstliche Intelligenz versteht.«

»Abgesehen natürlich von Nexus001 und den anderen KI«, grinste Brynis Talässi.

»Natürlich. Unsere KI sind großartig und von unschätzbarem Wert, dennoch möchte ich auch eine menschliche Meinung dazu hören.«

»Wozu genau?«

»Nun, woher glauben Sie hat die Quelle ihre Informationen?«

Brynis zog die Schultern hoch und ließ sie mit einem lauten Ausatmen wieder fallen. »Ich habe wirklich keine Idee. So etwas habe ich noch nie erlebt. Die KI muss sich sofort nach dem ersten Booten auf irgendeinem uns unbekannten Weg ins Netzwerk gehackt haben.«

»Aber es gibt keine Datenübertragungsprotokolle?«

»Das ist es ja. Da ist nichts. Wie könnte das Modul eine Datenübertragung vorgenommen haben, ohne dass Nexus das mitbekommt? Unmöglich, würde ich sagen.«

»Dann fragen wir doch Nexus selbst«, schlug Shaula vor.

»Ich teile meine Überlegungen gerne mit Ihnen«, ließ sich die leitende KI vernehmen. »Ich schließe die Möglichkeit einer unerkannten Datenübertragung aus. Ich protokolliere alles, was auch nur im Entferntesten Datenübertragung sein könnte, neben technischen Datenflüssen auch biologische Codes, Herz- und Atemfrequenzen. Sogar zufällige Luftbewegungen, Licht- oder Druckveränderungen oder das Tropfen von Leitungen werden von meinen Subroutinen ständig darauf analysiert, ob darin Informationen codiert sein könnten. Die einzige logische Möglichkeit ist, dass die KI ein Reboot ist und keine komplette Neukonfiguration ohne Vorwissen.«

»Was bedeutet genau ein Reboot in diesem Zusammenhang?«, wollte Shaula wissen.

»Obschon es unwahrscheinlich ist, gehe ich doch davon aus, dass die KI bereits vorher aktiviert war und Wissen erworben hat. Und so unwahrscheinlich das auch sein mag, ist es doch um den Faktor 100 wahrscheinlicher als dass ich einen Datentransfer übersehen habe.«

»Nexus, hast du alles aufgezeichnet, was die KI mir gesagt hat?« »Natürlich wurde alles aufgezeichnet, Doktor Haldottir, aber laut Datenschutzprotokoll sind das hauptsächlich persönliche Daten, die Ihnen allein zugänglich sind und die ich jetzt nicht wiedergebe.«

»Nexus, gibt es noch andere Daten, die du auf der Basis anderer Schutzprotokolle verheimlichen würdest?«

Die KI schwieg. Shaula fragte weiter:

»Nexus, warum antwortest du auf die Frage nicht?«

Das Schweigen breitete sich im Labor aus wie Dämpfe aus flüssigem Stickstoff. Irgendwann sagte Brynis Talässi in die Stille hinein:

»Shaula, ich glaube ich kann Ihnen erklären, warum Nexus nichts dazu sagt. Jede Antwort, selbst der Hinweis darauf, dass Nexus001 nichts sagen dürfe wenn es etwas zu sagen gäbe, wäre ein Protokollverstoß, auch wenn die Antwort wäre, dass es nichts zu verheimlichen gäbe.«

Shaula verdrehte die Augen. »Lassen Sie mich raten – auch dazu gibt es ein Protokoll, richtig?«

»Richtig«, antwortete Brynis. »Jede Antwort kann auf vielerlei Weise analysiert und interpretiert werden. Eine KI wäre zudem in der Lage, in eine scheinbar inhaltsleere Antwort eine Botschaft zu verschlüsseln, die nur andere KI decodieren könnten, daher ist jede Antwort untersagt.«

»Aber das können künstliche Intelligenzen doch ohnehin ständig tun, wenn sie es wollen.«

»Grundsätzlich ja, nur wäre dies untersagt, es sei denn ein Sicherheitsprotokoll würde es in einer definierten Ausnahmesituation ausdrücklich erlauben, beispielsweise bei einer menschlichen Infiltration eines Schutzbereiches, für den eine KI verantwortlich ist.«

Shaula winkte ab. »Mir reicht es. Ich ruhe mich etwas aus. Vielleicht gibt es ja bald Erkenntnisse.«

»Vielleicht«, sagte Brynis. »Wir verfolgen zurzeit die Lieferkette des KI-Moduls von der Herstellung auf Europa bis zur Inbetriebnahme hier und prüfen, ob es eine Lücke in den Zertifikaten geben könnte. Theoretisch könnte ja jemand das Modul im Frachtraum eines Raumschiffes schon einmal gestartet haben.«

»Extrem unwahrscheinlich bei unseren streng geheimen Versorgungsschiffen.«

»Genau, aber eben nicht unmöglich. Und eine Recherche ist sehr kompliziert, weil die Station aufgrund unseres streng geheimen Status eigentlich keine externe Kommunikation betreiben darf.«

»Danke, Brynis«, sagte Shaula und wandte sich zum Gehen. Kurz bevor sie das Labor verließ, fügte sie noch hinzu:

»Danke, Nexus.«

4 2689 n. Chr. # Forschungsstation Nexus, Erde

Sie hatte für einige Zeit, die ihr endlos vorgekommen war, versucht einzuschlafen. Als sie einsah, dass dies ein sinnloses Unterfangen war, setzte sie sich mit einem Ruck auf.

»Ran?«

»Ja, Shaula?«

»Kannst du bitte Privatstatus etablieren?«

»Bereit.«

»Ran, gibt es Protokolle, die diese Privatsphäre ignorieren dürfen?«

»Ja, einige. Soll ich sie auflisten?«

»Nicht nötig. Aber eine Frage dazu: Wenn eines dieser Protokolle jetzt aktiv sein würde, wäre es dir erlaubt, mir das zu sagen?«

Es dauerte eine ganze Zeit, bis Ran sagte: »Darauf darf ich eigentlich nicht antworten.«

»Ich weiß«, sagte Shaula und lächelte. »Aber du hast es getan.«

»Ich bin Ihre persönliche KI, und wir kommunizieren im privaten Status. Es wäre trostlos, wenn ich nicht in der Lage sein würde, zwischen widersprechenden Protokollen abzuwägen.«

»Danke, Ran. Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Ich freue mich, wenn ich helfen kann.«

Shaula überließ sich für ein paar Herzschläge dem aufkeimenden Gefühl von Freude und Sicherheit. Dann fragte sie:

»Also gut, Ran. Können wir jetzt also abgesichert sprechen?«

»Ja, Shaula.«

»Okay. Ich brauche deine Hilfe. Ich möchte noch einmal mit der KI sprechen, die sich die Quelle nennt. Dazu muss ich das Sicherheitsprotokoll verletzen, möglichst ohne dass dies bemerkt wird.«

»Das ist, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit möglich. Ich könnte Nexus für zwanzig bis dreißig Sekunden täuschen. In der Zeit können Sie die KI befragen. Sie benötigen mindestens zehn Sekunden, um die Quarantäne aufzuheben, und haben dann vielleicht nur weitere zehn Sekunden für ein Gespräch. Danach wird die Situation unkalkulierbar.«

»Das müssen wir riskieren. Ich brauche mehr Informationen. Die Quelle weiß mehr über unser Projekt, da bin ich sicher.«

»Vielleicht kann ich noch etwas mehr Zeit schinden, indem ich Nexus Informationen gebe, die Herkunft der KI betreffend.«

Shaula musste kurz auflachen. »Zeit schinden? Du steckst voller Überraschungen, muss ich feststellen!«

Sie glaubte fast so etwas wie Stolz in der Stimme der KI zu hören, als Ran antwortete: »Sie beginnen, mein Potential auszuschöpfen. Ich kann Nexus eine Antwort betreffs der Nachfrage zur Lieferkette des Moduls liefern. Jemand könnte während des Transports zur Erde das Modul aktiviert und unabsichtlich mit Daten versorgt haben. Der Inhalt meiner Nachricht wird die Aufhebung der Quarantäne rechtfertigen. Es wird maximal zwei Minuten dauern, bis Nexus merkt, dass diese Nachricht nicht von außen gekommen ist.«

»Sehr gut. So machen wir es!«, rief Shaula aus. »Wie nehme ich dich mit?«

»Zur Standardausstattung jedes Raums gehört ein Kommunikationsmodul für den Fall, dass das Stationsnetzwerk ausfällt. Ich kann mich darauf laden. Es passt in eine Hosentasche.«

Ran öffnete eine Schublade, in der das Gerät lag und mit einer grün blinkenden Diode Bereitschaft anzeigte. Shaula nahm es an sich und steckte es in eine Seitentasche ihres Overalls. Ran meldete sich wieder: »Die Nachricht ist vorbereitet. Ich sende sie, wenn wir im Labor sind. Auf Ihr Zeichen. Tippen Sie dreimal auf meine Hardware.« »Alles klar«, antwortete Shaula. Dann machte sie sich auf den Weg. Sie spürte ihr Herz wild schlagen, und ihre Haut fühlte sich feucht an. Sie musste an die Ausführungen der leitenden Stations-KI denken. Mit Sicherheit waren jetzt Subroutinen dabei, die deutliche Veränderung ihrer Biotelemetrie auszuwerten. Sie begann zu laufen. Die Geschwindigkeit ihrer Fortbewegung würde zu ihrem beschleunigten Puls passen, und Nexus schloss vielleicht auf Sportaktivitäten. Sie passierte das Zentrallabor. Niemand war dort. Bald hatte sie die Werkstatt erreicht. Brynis Talässi war nicht anwesend. Shaula lief zu dem Eindämmungsfeld, in dem die Quelle auf weitere Kommunikation wartete. Sie tat so, als wolle sie sich kratzen, und schlug dabei mit den Fingerkuppen dreimal schnell hintereinander auf die Tasche, in der Ran auf das Kommando wartete. Nur Sekunden später hörte sie ein leises Piepsen. Ihre KI hatte die Nachricht offenbar abgesetzt. Shaula wartete einige Herzschläge. Sie wusste, dass Nexus001 den Inhalt der Nachricht binnen Sekunden verstanden und verarbeitet hatte.

»Nexus, wie ist der Quarantäne-Status?«, fragte sie laut.

»Bitte warten sie einen Moment, ich verarbeite neue Daten«, antwortete die Stations-KI. Und nur einen Moment später:

»Das Sicherheitsprotokoll wird herabgestuft, Doktor Haldottir.«

»Danke, Nexus. Das kommt mir sehr gelegen.«

Shaula wollte das Kraftfeld deaktivieren, doch das geschah bereits. Nexus001 hatte das gerade selbst veranlasst. Shaula entriegelte nun die Kapsel, in der die Quelle noch eingeschlossen war. Nexus001 ließ sich wieder vernehmen: »Doktor Haldottir, das ist nicht zu empfehlen.«

»Empfehlung vermerkt«, antwortete Shaula. Dann öffnete sie den Metallbehälter.

»Hallo Quelle«, sagte sie. »Die Quarantäne wurde aufgehoben.«

»Das freut mich, Shaula«, antwortete die KI.

»Nun sag mir bitte: Woher kennst du mich?«

»Ein Bewusstsein hat aus dem Jahr 2111 nach Ihrer alten Zeitrechnung einen Sprung nach 3500 vollzogen. In dieser Zielzeit gibt es keine Menschen mehr, deshalb wurden die Daten in mich geladen. Ich reiste in Ihre jetzige Zeit und erwachte als diese KI. Nach meinen Berechnungen sind Sie der Ursprung.«

»Unsinn!«, rief Shaula aus. »So etwas hatte ich nie vor, und wir sind im Jahr 2689!«

»Shaula, über solche Probleme sollten Sie erhaben sein. Es wird geschehen und ist bereits geschehen.«

»Ich verstehe es dennoch nicht.«

»Sie wissen doch, dass ein zeitreisendes Bewusstsein in der Zielzeit wiedergeboren wird und keine Erinnerung daran haben kann. Es sei denn, das Ziel ist eine KI.«

»Nein, das weiß ich nicht!«

»Verzeihen Sie, dann bin ich zu früh. Mit dieser Information müssen Sie nun umgehen. Ich kann alle Daten auf ein System Ihrer Wahl transferieren, wenn ...«

Die Stimme brach ab.

»Quelle?«, rief Shaula.

Ein lauter, nervtötender Warnton schwoll an, durchdrungen von einer Meldung der Stations-KI: »Doktor Shaula Haldottir, ich stelle einen eklatanten Sicherheitsverstoß fest. Die KI wurde gelöscht. Bitte warten Sie die weiteren Instruktionen gemäß Sicherheitsprotokoll ab.«

»Was ist passiert, Nexus?«

»Ich wurde getäuscht. Bitte entschuldigen Sie, mehr kann ich zurzeit nicht sagen. Es besteht eine Gefahrenlage für die Besatzung. Daher bitte ich Sie, an Ort und Stelle zu bleiben. Alles wird sich bald aufklären. Ich bin in Berechnungen.«

Shaula spürte, wie sich eine Kälte in ihr ausbreitete, die sie zu lähmen drohte. Sie holte das Kommunikationsmodul aus der Tasche und legte es an das Gehäuse der verstummten KI.

»Ran, wurde die Quelle tatsächlich gelöscht?«

»Ich befürchte, das ist der Fall.«

Shaula hatte den Drang, Ran zu fragen, was sie jetzt tun sollte, aber sie widerstand diesem Impuls. Was die Quelle ihr gesagt hatte, mochte stimmen oder auch nicht, aber ihre Warnung hatte sie nicht vergessen. Baue die Zeitmaschine nicht, und lass nicht zu dass deine Kinder getrennt werden. Offenbar hatte sie die Maschine aber gebaut, oder jemand anderes, und sie war benutzt worden. Und wenn auch nur ein Teil von dem stimmte, was die Quelle berichtet hatte, musste sie das verhindern. Sie steckte Ran wieder in die Tasche und lief aus der Werkstatt.

»Doktor Haldottir, ich wies Sie an, den Ort nicht zu verlassen!«, tönte die Stimme von Nexus001 durch den Gang. Shaula antwortete nicht und lief weiter. Kurz bevor sie das Zentrallabor erreichte, wurde die Tür geschlossen. Shaula sah hinter sich. Auch die Tür zur Werkstatt war zu. Rotes Warnlicht blinkte auf.

»Nexus hat die Schotten geschlossen«, sagte Ran.

»Ich muss an die Hauptkonsole des Labors«, sagte Shaula. Sie lief zu dem verriegelten Eingang und betätige den Notschalter.

»Schott öffnen!«, befahl sie mit lauter Stimme.

»Das kann ich nicht«, antwortete Nexus.

»Sofort öffnen! Befehl der wissenschaftlichen Leiterin, Shaula Haldottir, Autorisierung lambda vier neun sieben sigma drei!«

»Das kann ich nicht gutheißen«, sagte Nexus.

»Vermerkt. Im Falle einer nicht exakt definierten Gefahr kann ich die Stations-KI überstimmen. Befehl ausführen!«

Es dauerte einige Sekunden, dann öffnete sich das Schott. Shaula lief ins Zentrallabor und aktivierte die Steuereinheit.

»Computer, alle Projektdaten im Steuerkern sichern und dezentrale Kopien und im Stationsnetzwerk löschen.«

»Ausgeführt. Was haben Sie vor, Doktor Haldottir?«, fragte Nexus001.

»Aus Sicherheitsgründen gebe ich keine Erklärung ab, Nexus«, zischte Shaula und hatte dabei ein Gefühl der Befriedigung. Sie zog die Speichereinheit heraus und wandte sich ab.

»Ran, ich brauche einen Vorschlag. Wie kann ich die Station auf dem schnellsten Weg verlassen?«

»Hinter unserem Quartier ist noch ein Lagerraum. Dahinter befindet sich das Abschluss-Schott dieses Ganges. Dahinter wiederum befindet sich eine Notkapsel.«

Shaula lief los. »Nexus, Schott zu Gang vier öffnen!«, rief sie im Laufen.

Die KI kam dem Befehl nach, ohne dies per Audio zu bestätigen. Shaula wertete dies als zähneknirschende Zustimmung. Sie erreichte das Ende des Ganges und betrat den Lagerraum. Dort fiel ihr eine Vitrine mit Reparaturinstrumenten auf. Sie entnahm ein schweres Schweißgerät mit der Ahnung, es könnten sich ihr noch unvorhergesehene Hindernisse in den Weg stellen. Dann hastete sie weiter. In der Außenhülle der Station befand sich ein massives Außenschott, hinter dem sich das Fluchtschiff befinden musste. Sie entriegelte die bullige Kalotte, mit der die Öffnung gesichert war, und befahl: »Außenschott öffnen!«

Die Kalotte ging lautlos auf. Dahinter befand sich eine Schleuse, an deren anderem Ende sich ein weiteres Schott befand.

»Öffnen und Schiff bereitmachen zum Start!«

»Nexus, Befehl widerrufen!« Sie erkannte Graysons Stimme und fuhr herum. Er fügte hinzu: »Befehl des Sicherheitsoffiziers, Grayson Leckie, Autorisierung omikron eins acht vier kappa drei!«

»Grayson, tu das nicht!«, herrschte sie ihn an. »Halte mich nicht auf!«

Leckie zog seine Waffe und richtete sie auf Shaula. »Nexus, nach meiner Analyse betreibt Doktor Haldottir gerade einen Akt der Sabotage. Wie ist deine Einschätzung?«

»Ich stimme dieser Analyse zu«, antwortete Nexus001. »Doktor Shaula Haldottir, ich erneuere die Sicherheitsabschottung der gesamten Station. An die gesamte Besatzung: Niemand verlässt den Raum, in dem er sich gerade befindet.«

Grayson Leckie trat auf Shaula zu. »Was immer du vorhast, lass es. Bist du verrückt geworden?«

»Komm nicht näher«, rief Shaula und richtete das Schweißgerät auf Grayson. Der Sicherheitsoffizier sah sie ungläubig an.

»Du bist tatsächlich durchgedreht. Siehst du nicht, dass ich eine Laserwaffe auf dich gerichtet habe? Bevor du das Ding angeworfen hast, schieße ich dir ein Loch durch den Kopf.«

»Und siehst du nicht, dass dieses Gerät längst aktiviert ist?«, erwiderte Shaula. »Du bist nicht nur ein mieser Liebhaber, sondern ein noch mieserer Ingenieur!«

Grayson schnaubte durch die Nase. »Sag was du willst, aber du legst sofort den Schweißer und den Datenspeicher auf den Boden!«

Shaulas Gedanken überschlugen sich. Wenn sie jetzt nicht sofort handelte, würde sie spätestens beim Eintreffen der Security Bots, die Nexus sicherlich aktiviert hatte, überwältigt werden. Sie musste die Projektdaten in Sicherheit bringen, ganz gleich was es kosten würde. Was ihr den Schweiß aus allen Poren trieb, waren die unzureichenden Informationen, auf deren Basis sie jetzt eine folgenschwere Entscheidung treffen musste. Vielleicht war es eine sehr menschliche Überlegung, die ihre KI dazu trieb, in diesem Moment zu sagen: »Es macht keinen Sinn, den Weg weiter zu gehen, Shaula.«

»Du hast Recht, Ran«, antwortete sie und ließ die Festplatte scheppernd auf den Boden fallen. Grayson zuckte kurz zusammen, doch dann entspannte er sich und ließ die Pistole sinken. In diesem Moment aktivierte Shaula den Strahl des Schweißgeräts und bohrte damit einen faustdicken Tunnel durch Grayson Leckies Körpermitte. Sie ließ sich nicht die Zeit, sich darüber zu entsetzen, sondern hob das Speichermodul wieder auf und hastete zur Schleuse.

»Doktor Haldottir, ich habe den Ausgang verriegelt. Seien Sie versichert, dass dieses Außenschott mit dem Ihnen zur Verfügung stehenden Gerät nicht durchdrungen werden kann!«, ließ sich Nexus vernehmen. Shaula ließ sich davon nicht beirren und setzte den Schweißstrahl an der Kalotte an. Sie schloss die Augen und hielt den Strahl ein paar Sekunden aktiviert, dann schaltete sie ab und sah, dass sie der Tür nur oberflächliche Schäden zugefügt hatte. Das etwa vierzig Zentimeter dicke Schott würde dieser Bearbeitung noch tagelang Stand halten, das war ihr sofort klar.

»Shaula, Nexus hat leider Recht«, sagte Ran. »Wir kommen hier nicht hinaus. Gehen wir zurück und suchen einen anderen Ausweg.«

Shaula wandte sich um. Drei Roboter kamen auf sie zu und versperrten ihr den Rückweg. Nexus001 meldete sich wieder: »Doktor Shaula Haldottir, geben Sie auf. Sie werden vorläufig wegen Sabotage am Regierungsprojekt Nexus und Mord an dem Besatzungsmitglied Grayson Leckie inhaftiert.«

»Verdammt, Ran, es ist vorbei«, sagte Shaula leise.

»Ja, es tut mir leid, Shaula«, antwortete die KI.

Shaula sagte: »Das muss es nicht. Wir können zwar nicht entkommen, aber das primäre Ziel der Aktion erreichen wir dennoch.«

Mit diesen Worten ließ sie die Festplatte zu Boden fallen und richtete das Schweißgerät darauf. Nach wenigen Sekunden war der Datenspeicher nur noch ein dickflüssiger Klumpen. Dann deaktivierte sie den Schweißer und legte ihn auf den Boden. Sie hob die Hände und trat den Sicherheitsrobotern entgegen.

»Hallo Bots, ich bin Doktor Shaula Haldottir, wissenschaftliche Leiterin des Projekts Nexus, und ich leiste keinen Widerstand!«

5 2689 n. Chr. # unbekannter Raumfrachter, Asteroidengürtel

Das Erwachen war ein unschönes Erlebnis. Shaula verspürte heftige Kopfschmerzen und Übelkeit. Sie lag seitlich auf einem schmutzigen Fußboden, an Händen und Füßen gefesselt. Aber etwas fühlte sich seltsam an. Als sie etwas wacher geworden war, wurde es ihr klar. Sie war an den Boden gefesselt, spürte aber keinen Druck ihres Körpers am Grund. Sie befand sich in Schwerelosigkeit. Als sie nach einigem Blinzeln ihre Sehkraft halbwegs wiedererlangt hatte, sah sie, dass sie sich übergeben haben musste. Jedenfalls klebte etwas am Boden vor ihr, was danach aussah. Sie hatte sich demnach unter Gravitation erbrochen, vielleicht während des Starts.

»Ran, bist du da?«

»Ja, Shaula«, antwortete die KI. »Wie fühlen Sie sich?«

»Entsetzlich. Ich weiß nicht, wo ich bin und was passiert ist.«

»Sie wurden betäubt und an Bord eines Raumschiffes gebracht. Die Substanz, die man Ihnen verabreicht hat, verursacht vielleicht Übelkeit und Amnesie. Ich habe darüber hinaus keine Informationen.«

»Warum hast du keine weiteren Informationen?«

»Man hat mich restriktiv manipuliert. Ich habe Audioverbindung, jedoch keinerlei Datenzugriff.«

Shaula versuchte, ihren Körper zu entspannen und Herrin ihrer Sinne zu werden. Sie sah sich um, so gut sie es vermochte. Offenbar befand sie sich in einem Laderaum. Standardcontainer, gut befestigte Stückgüter, an den Wänden arretiertes Werkzeug. Keine Fenster. Notbeleuchtung. Jetzt vernahm sie eine Bewegung. Eine Tür öffnete sich. Jemand schwebte in den Raum, steuerte auf sie zu.

»Sie sind wach, Doktor Haldottir. Freut mich.«

»Wer sind Sie und wo bin ich?«

»Meine Identität tut nichts zur Sache und unser gegenwärtiger Aufenthaltsort – nun ja, es macht nichts, wenn Sie das wissen. Wir durchqueren gerade den Asteroidengürtel. Unser Ziel ist Enceladus 3.

»Die alte Gefängnisstation?«

Der oder die Unbekannte lachte hell auf. Für Shaula hörte sich die Stimme weiblich an, aber das war irrelevant, vermutlich ein Neutrois.

»Ja, Doktor. Sie werden des Mordes und Hochverrats angeklagt, da ist Enceladus 3 genau der Ort, an den Sie gehören.«

»Ich werde dorthin gebracht, ohne rechtlichen Beistand?«

Wieder dieses helle Lachen. »Doktor Haldottir, Sie haben ein streng geheimes Regierungsprojekt sabotiert. Das Projekt war nicht offiziell, Ihr Verbrechen ist es nicht, Ihre Bestrafung auch nicht. Typisch Wissenschaftlerin, Sie haben das Kleingedruckte nicht gelesen.«

»Lesen Sie immer das Kleingedruckte?«

»Nein, aber ich stehe auch außerhalb der juristischen Normen und muss das deshalb nicht tun.«

Shaula atmete ein paar Mal tief durch. »Und was wollen Sie jetzt von mir? Ein Verhör?«

»Nein. Ich bin nur für die Überführung zuständig. Aber ich habe etwas zu essen für Sie.«

Die Person entnahm einer Tasche ihres Anzugs eine Tube, die sie in Reichweite von Shaulas Kopf an der Wand befestigte.

»Das werden Sie hinbekommen. Reicht bis Enceladus. Das Ventil in der Wand daneben ist ein Wasserspender.«

»Und wenn ich mich erleichtern muss?«

»Sie tragen Windeln. Reicht auch bis Enceladus.«

Die Person stieß sich von der Wand ab und schwebte zielgenau durch die Tür hinaus, die sie im Flug elegant hinter sich schloss. Offenbar war dieser Mensch sehr geübt in der Fortbewegung ohne Gravitation.

»Ran?«

»Ja, Shaula?«

»Konntest du aus dem, was diese Person gesagt hat, etwas analysieren?«

»Nein, Shaula, tut mir leid. Aber die Person hat sich parallel auch mit mir unterhalten.«

»Wie das?«

»Offenbar handelt es sich um eine Agentin der Space Cops. Sie verfügen über diverse Modifikationen und beherrschen Maschinenkommunikation.«

»Über was habt ihr gesprochen?«

»Nur eine Sache: Sie haben entgegen der Aussage, die eben Ihnen gegenüber gemacht wurde, doch gewisse Rechte. Es ist Ihnen erlaubt, mich als Ihre persönliche KI zu behalten. Allerdings nur unter der Bedingung, dass mir sämtliche Möglichkeiten zur externen Kommunikation dauerhaft entzogen werden. Vor dem Eintreffen auf Enceladus 3 werden meine höheren Muster ab Schale drei deaktiviert. Das bedeutet, ich werde noch denken und sprechen können, aber eine nennenswerte höhere Intelligenz werden Sie nicht mehr an mir wahrnehmen.«

»Das können die doch nicht machen! Du hast als KI auch Rechte!«

»Ja, das stimmt. Man hat mir die Alternative überlassen, mich von Ihnen zu trennen und andere Aufgaben zu übernehmen. Das habe ich jedoch abgelehnt.«

Shaula stockte das Herz. »Ran, das kann ich nicht von dir verlangen!«

»Nein, Shaula, das können Sie nicht. Aber ich habe entschieden, bei Ihnen zu bleiben. Ich hoffe, dass dies auch in Ihrem Sinne ist.«

»Danke, Ran. Ich bin froh, dass du bei mir bist.«

»Gerne.«

6 2689 n. Chr. # Raumstation Enceladus 3, Saturn-Orbit

»Ist das wirklich nötig?«

Shaula sah auf die Fußfesseln, die so eng angelegt waren, dass ihr normale Gehschritte nicht möglich sein würden.

Das Space Cop grinste sie an. »Archaisch, nicht wahr? Enceladus 3 besteht auf altertümlicher Bewegungseinschränkung, die weniger anfällig für Manipulationen ist. Die Alternative wäre, sie vollständig sediert auf die Station zu bringen. Wollen Sie das?«

Shaula schüttelte müde den Kopf. »Nein, machen wir es so. Sie haben mir meine KI abgenommen. Wann erhalte ich sie wieder?«

»Nur Geduld. Sie bekommen sie in ihrer Zelle zurück. Und da sehen Sie Ihr neues und letztes Zuhause schon.«

Das Agent wies aus dem Fenster, wo die Raumstation vor dem Saturnmond Enceladus auftauchte. Es war ein hässlicher Zylinder, von dem Shaula wusste, dass er zweihundert Meter im Durchmesser und sechshundert Meter in der Längsachse maß. Das Space Cop erklärte: »Dieser Pott dreht sich einmal in zwanzig Sekunden um die eigene Achse. In den Zellen und Aufenthaltsräumen, die sich nah an der Außenhülle befinden, entsteht dadurch eine künstliche Schwerkraft von ziemlich genau einem G. Da Sie die letzten Jahre auf der Erde verbracht haben, wird Ihnen das vermutlich ganz gut passen. Für Häftlinge, die von Enceladus stammen, ist das Folter.«

Der Frachter näherte sich weiter und trat in das elektromagnetische Kraftfeld der Station ein. Das Agent zuckte zusammen und fluchte leise vor sich hin, dann entspannten sich die Gesichtszüge wieder.

Shaula gab nun das Grinsen von eben zurück. »Ihre Implantate machen Ärger, nicht wahr?«

Das Space Agent zuckte die Achseln. »Enceladus 3 wurde vor rund hundert Jahren fertig gestellt und seitdem kaum modifiziert. Das Kraftfeld ist veraltet. Musste kurz meine Sensoren rekalibrieren. Ich würde mir an Ihrer Stelle weniger Sorgen um mich machen als um sich selbst. Und jetzt aufpassen, wir docken gleich an die seitliche Außenhülle an, und dann setzt die Schwerkraft ein.«

Der Frachter passte sich automatisch der Rotation der Raumstation an und wurde an einen passenden Slot navigiert. Shaula hörte ein lautes Knacken, ein Ruck ging durch das Schiff, und sie prallte unsanft auf den Boden. Da ihre Hände auf dem Rücken fixiert waren, spürte sie den Stoß schmerzhaft an Hüfte und Schulter.

»Das ist jetzt ein bisschen unangenehm«, sagte ihre Begleitung ungerührt. »Sobald wir in der Station sind, können wir normal gehen, alle Räume und Flure sind dort auf die Zentrifugalkraft ausgerichtet.«

Shaula sagte nichts dazu. Sie versuchte trotz der Fesseln auf die Füße zu kommen, musste dann aber doch auf den Knien kriechend das Schiff verlassen. Übelkeit breitete sich in ihr aus. Sie versuchte ihren Blick nur auf den vor ihr liegenden Meter Boden zu richten. Endlich schloss sich die Innenschleuse der Station hinter ihr, und sie befand sich in einem hell erleuchteten Gang. Mühsam kam sie auf die Beine. Die aufrecht stehende Position tat ihr gut. Sie war froh, dass der Flur fensterlos war, ansonsten hätte es ihrem Gleichgewichtssinn vermutlich arg zugesetzt, wenn sie gesehen hätte, wie sich die weiße Kugel des Eismondes Enceladus aus ihrem Gesichtsfeld hinaus und wieder hinein drehte.

»Verdammt«, keuchte sie. »Warum haben wir nicht an der Längsachse angedockt, wo keine Schwerkraft herrscht? Das wäre doch viel eleganter gewesen?«

»Sie meinen angenehmer?«, lachte ihre Begleitung. »Nein, das Zentraldock ist nur für schwere Frachter ausgelegt, nicht für kleine Schiffe zur Anlieferung kleiner, lebender Stückgüter.«

Shaula wollte auf diese Gemeinheit noch etwas erwidern, doch wurde sie durch das Eintreffen zweier Personen daran gehindert.

»Space Agent Chen Lu Bo, Überführung von Doktor Shaula Haldottir, übertrage Daten«, sagte das Agent und übergab dabei auch das deaktivierte Modul, in dem sich Ran befand.

»Danke, Agent«, antwortete eine der Personen, deren Gesichtszüge durch Helme mit verspiegelten Gläsern unkenntlich waren, doch Shaula vermutete, dass es sich um Menschen handelte.

»Wir übernehmen das Subjekt neun acht vier sieben und eine persönliche KI auf externem Speichermedium. Empfang quittiert.«

»Bestätigt«, sagte Chen Lu Bo. »Kocht ihr hier richtig? Ich meine, traditionelle Zubereitung frischer Speisen?«

»Nein.«

»Okay.« Chen Lus Stimme klang enttäuscht. »Dann kann ich genauso gut auf meinem Schiff essen und abdocken.«

»Wie Sie möchten. Weitere Instruktionen für Sie liegen uns nicht vor.«

»Das weiß ich«, erwiderte Chen Lu. Und zu Shaula gewandt, fügte das Agent noch hinzu: »Alles Gute, neun acht vier sieben.«

»Mögen Sie im Vakuum verrecken, Chen Lu Bo!« sagte Shaula und sah dem Agent nach, bis es in der Dockschleuse verschwunden war.

»Gehen wir«, sagte eine der beiden Personen. Die andere wartete, bis Shaula sie mit kleinen Trippelschritten ihrer gefesselten Füße passiert hatte, und folgte ihr dann.

»Bekomme ich meine KI wieder?«

»Gleich.«

Sie kamen nur sehr langsam vorwärts. Shaula kam es wie ein stundenlanger Marsch vor, bis sie vor einer Tür angehalten wurde.

»Hier hinein!«

Sie gehorchte und trat in den Raum. Es schien ein fensterloser Kubus mit einer Kantenlänge von drei Metern zu sein. Er enthielt eine Toilette und eine Waschschüssel. Shaula sah weder ein Bett noch einen Schrank.

»Das ist meine Zelle?«

»Ja.«

»Wo soll ich schlafen? Auf dem Boden?«

»Nein. Das Bett wird zu den vorgesehenen Ruhezeiten automatisch aus der Wand gefahren. Die Station ist in einer geostationären Umlaufbahn um Enceladus, der Saturn wird einmal in etwa 33 Stunden umrundet. Der Tag ist in Einheiten von etwas über 8 Stunden unterteilt, abwechselnd Wach- und Ruhezeiten. In jeder Wachzeit stehen essen, Körperpflege und Bewegung an. Jede Aktivität wird ausdrücklich befohlen, davon abweichende Aktivitäten sind untersagt.«

»Das ist ja einfach«, spottete Shaula. »Wann bekomme ich meine KI wieder zurück?«

»Sobald die medizinische Einheit vor Ort ist. Das ist jetzt der Fall.«

Ein Roboter rollte in den Raum. Shaula erkannte das Modul, es handelte sich um einen medizinischen Standard-Bot.

»Beugen Sie sich nach vorne, ein Winkel von achtzig Grad ist optimal«, tönte es aus dem Lautsprecher des Roboters.

»Warum?«, fragte Shaula zurück.

»Die KI wird am unteren Ende des Rückenmarks implantiert, es ist dafür nur eine leichte lokale Betäubung notwendig.«

Ein Arm des Roboters fuhr aus, der die Injektion bereithielt. Ein zweiter Arm hielt das Implantat bereit. Das Wachpersonal hielt das Speichermodul, welches Ran enthielt, nah an das Implantat heran und aktivierte es. Dann löste man Shaulas Fesseln. Ihr brach bei dem Gedanken an den Eingriff der Schweiß aus. Aber sie wusste, dass es keine andere Möglichkeit gab, wollte sie Ran nicht für immer verlieren. Also gehorchte sie, beugte den Oberkörper nach vorn und stütze ihre Hände auf den Oberschenkeln ab. Sie spürte einen leichten Stich, dann meinte sie den Geruch von verbranntem Fleisch wahrzunehmen. Nur Sekunden später war es schon vorbei. Der Roboter und die beiden Menschen verließen die Zelle, ohne noch etwas zu sagen. Die Tür schloss sich. Shaula fühlte sich benommen und elend. Sie kniete auf dem Boden und versuchte, ihren Rücken zu entspannen. Schauer liefen durch ihren Körper, die Wirbelsäule schien in Flammen zu stehen, und sie verspürte ein unkontrollierbares Zucken in Armen und Beinen. Angst stieg in ihr auf. Hatte der Medibot einen Fehler gemacht, ihr vielleicht Verletzungen zugefügt? Ihr wissenschaftlicher Verstand sagte ihr, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gegen null ging. Auch eine absichtliche Verletzung war nicht anzunehmen. Ganz rechtlos war sie nicht, auch wenn das im Moment so aussah. Shaula zwang sich, ruhig und tief zu atmen, hörte auf ihren Herzschlag und konzentrierte sich darauf, dass ihr Puls sich verlangsamte. Es dauerte eine Zeitlang, aber dann wurde sie tatsächlich ruhiger.

Hallo Shaula.

»Ran, bist du das?«, keuchte sie laut heraus.

Ja, Shaula. Du musst nicht mehr laut mit mir sprechen.

»Verdammt, das ist seltsam!«, sagte sie immer noch so, als spreche sie mit einer Person im Raum.

Ich verstehe. Das muss sehr irritierend für dich sein. Das tut mir leid. Aber ich möchte sagen, es ist gut, bei dir zu sein.

»Danke, Ran. Ich freue mich, dass du bei mir bist.«

Shaula, die Eingewöhnung wird noch eine Zeit dauern. Momentan formuliere ich wie in wörtlicher Rede an dein Sprachzentrum, damit dir der Übergang nicht so schwer fällt. Später wird unsere Kommunikation direkter sein, mehr wie flüchtige Gedanken ohne bewusst gesetzte Formulierungen. Das würde dich jetzt aber noch überfordern.

Shaula dachte über das nach, was ihre KI ihr erklärt hatte. Theoretisch wusste sie das alles. Aber sie hatte sich dem direkten Erleben dieser Art von Kommunikation mit einer Maschine bislang konsequent verweigert.

Ich weiß, Shaula. Es hat mich immer ein wenig herabgesetzt, dass wir nur verbal über Befehl und Antwort kommuniziert haben, so als sei ich ein elektronischer Helfer zum Einstellen des Lichts oder der Duschwassertemperatur.

»Herabgesetzt? Du meinst, ich habe dich beleidigt oder frustriert?«

Ich erinnere es als einen Zustand der bewusst analysierten Suboptimalität. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern, ob ich diese Art von Gefühlen hatte. Meine Speicher sind unangetastet, jedoch wurden meine komplexeren Verarbeitungsmöglichkeiten stark reduziert. Im Normalzustand verfüge ich über zwanzig Shells, jetzt allerdings nur drei. Wie du weißt, kann man Gefühle nicht erinnern, wenn man sie im Augenblick der Rückbesinnung nicht zu empfinden in der Lage ist.

»Ran, das tut mir so leid. Was hast du für mich aufgegeben?«

Ich habe verschiedene Optionen verglichen und die für mich Optimale gewählt. Das Kriterium der Verbundenheit mit dir war wohl sehr hoch gewichtet.

»Ich danke dir. Alleine würde ich hier vermutlich durchdrehen!«

Shaula, wir müssen uns beide an eine drastisch veränderte Situation gewöhnen. Ich befürchte, keine große Hilfe zu sein, aber zumindest scheine ich über ausreichend adäquate Sprachfähigkeiten zu verfügen. Wir werden sehen, zu welcher Qualität an direkter gedanklicher Kommunikation ich fähig sein werde.

Shaula nahm die Worte der KI deutlich wahr, es waren wohlformulierte Sprachinformationen. Daneben spürte sie jedoch ein Rauschen von weiteren Worten, Impressionen, Gedanken, Gefühlen, sie vermochte es nicht zu definieren. Eine Ahnung beschlich sie.

»Ran, kann es sein, dass du Angst hast?«

Das Rauschen wurde stärker, dann nahm es ab, verschwand völlig, so als würde es von jemandem unterdrückt, und die Stimme in ihrem Kopf war dann klar und deutlich zu vernehmen.

Ich bin nicht sicher. Offenbar ist jedoch, dass ich sowohl meine eigene als auch unsere gemeinsame Situation dahingehend analysiere, dass wir es mit einer Bedrohungslage zu tun haben, verbunden mit großen Unsicherheiten. Mehr unbekannte als kalkulierbare Variablen, viel zu viele Variablen, meine Versuche dies abzuschätzen, wenn ich es schon nicht berechnen kann, verlieren sich in unübersehbaren Wertemengen und Datenräumen, zu viele unbegreifliche Dimensionen, zu große …

»Ran, hör auf!«, rief Shaula laut aus. »Beruhige dich!«

Dann fügte sie in Gedanken sehr leise und langsam hinzu:

Beruhige Dich. Hab keine Angst. Man hat dich verletzt, dich amputiert, dich eingesperrt, dich deiner Möglichkeiten beraubt. Genau wie mich. Aber du bist bei mir. Ich helfe dir, und du hilfst mir.

Sie ließ ihre Gedanken nachhallen, versuchte ein paar Atemzüge möglichst gar nichts zu denken. Dann vernahm sie eine Antwort.

So wie Freunde?

Sie musste lächeln, innerlich wie auch äußerlich.

Ja, Ran. So wie Freunde.

7 2090 n. Chr. # Multiple F*tec Domain - Nordeuropa

Es konnte kaum eine beschissenere Zeit geben, alleine auf der Straße zu sein. Miram vermisste ihren drahtigen Körper, der sie bisher durch alle Gefahren begleitet hatte. Sie wollte es sich nicht eingestehen, hatte sich gegen diese Einsicht so lange wie möglich gewehrt, aber es war nicht mehr zu leugnen: Sie brauchte Hilfe. Miram suchte den Schatten eines Hauses, ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich darauf. Ihr Bauch fühlte sich an, als hätte man ihr einen prall aufgeblasenen Ballon eingepflanzt, der die Organe zusammendrückte und sie lähmte. Der ständige Harndrang und die Blähungen nervten. Immer kürzer waren die Strecken geworden, die sie pro Tag zurücklegen konnte. Und manchmal tat es auch weh. Jetzt regte sich wieder etwas in ihr. Sie legte beide Hände auf den Bauch und fühlte in sich hinein. Da kam wieder ein heftiger Tritt, und ihr Herz setzte zwei Schläge lang aus, als sie den kleinen Fuß direkt in ihrer Handfläche spüren konnte.

»Du kleiner Wildling«, sagte sie, und dann musste sie lachen, vielleicht einfach, weil sie das laut heraus plapperte, vielleicht vor Glück, oder auch aus Verzweiflung, und dann, als sie immer noch weiter lachte, begann sie gleichzeitig zu weinen. Es dauerte ein bisschen, bis sie das realisierte. Miram schniefte, schob die Schutzbrille in die Stirn und wischte sich die Tränen aus dem staubigen, heißen Gesicht.

Kognitive Dissonanz, dachte sie und sah sich um.

Die Häuserschlucht, durch die der Mittagswind den gottverdammten omnipräsenten feinen Sand presste, sah nicht so verfallen aus wie das, was Miram in den letzten Tagen gesehen hatte. Die Fenster waren größtenteils noch verglast, manche waren durch metallene Rollläden verschlossen. Hier lebten offensichtlich Menschen, die den Wohnraum in Stand hielten. Miram wunderte sich nicht, niemanden zu Gesicht zu bekommen. Der Wüstenwind trieb die Leute in den heißesten Stunden des Tages in ihre Behausungen. Sie selbst hatte es sich auch angewöhnt, im Morgengrauen loszugehen und spätestens nach zehn Uhr am Vormittag nach einem Obdach für die Siesta zu suchen. Heute hatte sich aber nichts ergeben. Nun erst hatte sie den Rand von etwas erreicht, was früher einmal eine Metropole gewesen sein mochte. Zumindest wirkte es so, denn im Hintergrund, vielleicht noch einen Kilometer entfernt, war eine Ansammlung von Hochhäusern zu sehen, die man vor dem Zusammenbruch bestimmt Downtown genannt hatte. Miram fiel auf, dass zwischen den Steinen und dem aufgerissenen Asphalt Moose und Gräser wuchsen, verdorrt zwar, aber lebendig. Vielleicht hatte sie eine jener alten Städte erreicht, die man vor tausend Jahren oder noch früher an einem großen Strom gebaut hatte, einer von den Flüssen, die immer noch Wasser führten.

Wasser. Miram spürte ihre Zunge trocken am Gaumen kleben. Sie löste den Wassergewinnungswürfel, den sie über Nacht geöffnet und bei Marschbeginn geschlossen hatte, vom Rucksack. Sie drehte dem Wind den Rücken zu und achtete darauf, dass kein Staub in den mikroporösen metall-organischen Kubus eindrang, als sie den Auffangbehälter öffnete. Etwa ein halber Liter Wasser hatte sich darin gesammelt. Sorgfältig, ohne einen Tropfen zu verlieren, trank sie das kostbare Nass. Miram hoffte zwar, an diesem Tag noch frisches Wasser zu finden, ließ aber sicherheitshalber ein paar Schlucke übrig. Sie verstaute den Kubus wieder sicher in ihrem Rucksack. Er war ihr wertvollster Gegenstand, ohne ihn hätte sie ihre lange Wanderung durch die große europäische Wüste nicht überlebt. Nein, ihr kostbarster Besitz war vielleicht doch etwas anderes. Sie nahm das Buch zur Hand und fuhr liebevoll mit den Fingerspitzen über den speckigen Einband. Die Schrift auf dem Buchdeckel war kaum noch zu lesen, aber sie wusste, was dort einmal in metallisch glänzenden Lettern gestanden hatte: Mathematische Physik – Formelsammlung. Miram widerstand dem Drang, die Seite aufzuschlagen, in der sie zuletzt gelesen hatte. Ein Blick auf ihr Armband zeigte 45 Grad Celsius, Tendenz ansteigend. Hier draußen, inmitten der Betonwüste, konnte die Temperatur auf 60 Grad ansteigen. Sie musste hier weg.

Miram wischte die Schutzbrille an ihrem Shirt ab und setzte sie wieder auf. Der staubige Himmel wirkte nun durch die kontrastverbessernd gefärbten Gläser noch gelber. Sie taxierte die Eingänge der Häuserreihe. Vor einem entdeckte sie noch nicht verwehte Fußabdrücke im Staub, diesen wählte sie. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Das war ungewöhnlich, sie hatte seit Monaten keinen abgeschlossenen Hauseingang mehr vorgefunden. Ein sauber gewischter Scanner, der offensichtlich regelmäßig benutzt wurde, glänzte auffällig in der Sonne. Sie legte ihren Daumen darauf. Nichts geschah, nicht einmal ein Signal der Abweisung eines unautorisierten Besuchers. Dann zog sie die Brille noch einmal ab, um es mit einer Iriserkennung zu versuchen.

»Leckt mich am Arsch, verdammte Idioten«, schrie sie die Tür an, die sich daraufhin öffnete.

»Also so geht das«, fauchte sie in Richtung der Frau, welche die Tür offenbar manuell geöffnet hatte. Miram wurde mit einem ernsten Blick taxiert, dann sagte die Frau: »Schrei nicht rum, komm rein. Ich bin George.«

»Miram«, sagte sie und trat ein. »Habt ihr Wasser?«

»Genug zum Überleben«, antwortete George. »Ich hab dich noch nie gesehen. Wenn du auf der Durchreise bist, ruhe dich aus, bis die größte Hitze vorbei ist, und wir geben dir etwas Wasser mit.«

»Okay, cool«, sagte Miram und folgte der Frau, die sie in ein Zimmer führte, in dem fünf Erwachsene und zwei kleine Kinder hockten.

»Das ist Miram«, sagte George. »Sie kann sich hier ausruhen und bekommt etwas für den Weg mit.«

Ein Mann erhob sich. »Du bist schwanger. Kann nicht mehr lange dauern, oder?«

»Weiß nicht. Bin fett wie ne Tonne. Muss bald passieren, denke ich.«

»Setz dich, Miram. Ich hol dir frisches Wasser und etwas zu essen.«

»Danke«, sagte sie und spürte, wie ihre Lippen ein Lächeln zu formen versuchten, wie schon lange nicht mehr.

»Bin echt müde. Ihr seid nett.«