Jakob hinkt nicht mehr - Maria A. Sinning - E-Book

Jakob hinkt nicht mehr E-Book

Maria A. Sinning

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Beschreibung

Eigentlich ist Kommissarin Kristin Neven nach einer Coronainfektion schwer an ME/CFS erkrankt und im Vorruhestand. Dann aber wird ihr Hausmitbewohner Jakob Schäfer direkt unter ihrem Balkon tot aufgefunden. Kristin Neven packt die Lust am Ermitteln. Obwohl ihre Kraft nur für etwa eine Stunde am Tag reicht, begibt sie sich auf die Suche nach dem Mörder oder der Mörderin. Dabei gerät sie in eine religiöse Gruppierung, die mit Hilfe der Bibel und des Gebets ihre Mitmenschen manipuliert.

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Seitenzahl: 211

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Namensliste

Donnerstag

Freitag

Samstag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Freitag

Samstag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Montag

Dienstag

Samstag

Sonntag

Montag

Mittwoch

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Zwei Wochen später

Nachwort: Kleiner Einblick in das postvirale Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS

Namensliste

Die Kommissarin und ihre Freunde und Freundinnen:

Kristin Neven:

Kommissarin im krankheitsbedingten Vorruhestand.

Katja von Berg:

beste Freundin der Kommissarin, beide waren zusammen auf der Polizeischule

Onkel Hans:

Katjas Patenonkel

Max:

10jähriger, lesebegeisterter Nachbarsjunge.

Familie Schäfer:

Jakob

Schäfer: hinkendes Mordopfer

Johannes

Schäfer: Bruder des Mordopfers, unterhält in seinem Bungalow im Bussardweg eine Art Privatkirche

Elisabeth:

Schwägerin des Mordopfers, Ehefrau von Johannes Schäfer

Rahel:

älteste Tochter

Noah:

ältester Sohn

Benjamin:

jüngster Sohn

Nico:

Pflegesohn

Jeremias/Jerobeam:

aus der Art geschlagener Bruder von Jakob und Johannes

Familie Fischer:

Tobi:

Anfang zwanzig und auf der Suche nach sich selbst

Mutter Melanie:

täte alles für ihren Sohn

Brigitte Blanck: im Ruhestand, verbringt die meiste Zeit im Liegestuhl am Moosweiher.

Thomas Schobert: Weiß selbst nicht so genau, warum er zur Privatkirche der Schäfers gehört

Else Kling: tratschfreudige Nachbarin

Nils Baumgart: Leitet jetzt statt Kristin Neven die Mordermittlungen

Lisa-Marie: Junge, sympathische Kollegin von Katja.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Donnerstag

Träumte sie?

Ein Stimmengewirr drang durch das offene Fenster in ihr Schlafzimmer und erfüllte den Raum mit Gemurmel, Geräuschen und wohlvertrauten Klängen. Die Stimmen waren so vertraut, klangen wie ihre ehemaligen Kollegen. Sie hörte Gespräche über Fotos, Spuren und Tatwaffen, die Witzeleien nebenher. ‚Wie früher, wenn wir mit der Mordkommission zu einem neuen Fall kamen‘ dachte sie.

Nur langsam dämmerte es Kommissarin Kristin Neven, dass sie tatsächlich die Stimmen ihrer ehemaligen Kollegen hörte. Offensichtlich stand direkt unter ihrem Balkon eine beachtliche Abordnung der Freiburger Mordkommission, und genau dort schien auch ein Mordopfer zu liegen: unmittelbar unter ihrem Balkon, neben ihrem Hochhaus am Moosweiher, im Freiburger Stadtteil Landwasser. Sie schaute auf die Uhr: Fünf Uhr dreißig. Früher wäre sie um diese Zeit längst munter gewesen. Aber seit ihre Erkrankung sie in den einstweiligen Ruhestand gezwungen hatte, brauchte sie morgens deutlich länger, bis sie überhaupt nur aufstehen konnte.

Ein Mord, direkt unter ihrem Balkon – und sie konnte nicht mitermitteln. In diesem Moment traf sie der Schmerz über den Verlust ihres Berufs tiefins Herz. Mühsam hatte sie in den Monaten seit ihrer Erkrankung versucht zu lernen, ihren heißgeliebten Beruf loszulassen und nicht mehr so wichtig zu nehmen. Mühsam hatte sie gelernt, sich an den kleinen Spaziergängen zu erfreuen, die sie früher in einer halben Stunde erledigt hätte, und die nun ein Tagewerk waren. Mühsam hatte sie gelernt mit dem Alleinsein umzugehen, anstatt sich begeistert in das Getümmel einer Mordermittlung zu stürzen. Sie hatte vieles innerlich loslassen müssen, bis sie sich mit den wenigen Möglichkeiten, die ihr die Krankheit ließ, einigermaßen arrangiert hatte. Aber nun, da ihre ehemaligen Kollegen in Hörweite und unter ihrem Fenster arbeiteten, wollte sie an ihrer elenden Situation verzweifeln.

Vorsichtig schlich sie sich auf den Balkon. Sie wollte nicht von ihren ehemaligen Kollegen gesehen werden. Als Kommissarin wusste sie, wie sehr man es bei der Mordkommission hasste, wenn Schaulustige am Tatort waren. Und da sie nicht mehr Teil der Mordkommission war, galt sie nur noch als das: als lästige Schaulustige, die am Tatort nichts zu suchen hatte. Zudem nahm es der Chef der Ermittlung, Nils Baumgart, dessen Stimme wie immer laut aus dem Gewirr herausstach, bei diesen Dingen sehr genau. Jeder Schaulustige wurde verscheucht wie lästige Fliegen.

Nils Baumgart hatte, kaum dass die Kommissarin vergangenen Herbst frühpensioniert war, ihren Posten als Chefermittler übernommen. Nun ließ er keine Gelegenheit aus kundzutun, dass er diesen Posten viel besser ausfüllte als sie. Man hätte ihn schon vor Jahren bei der Beförderung berücksichtigen müssen – eine Sicht, die seine Untergebenen nicht teilten, vor allem nicht die weiblichen.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne beschienen den Tatort und alle, die ihn aufnahmen. Auf der Wiese um ihr Hochhaus herum herrschte das vertraute, bunte Gewimmel aus Kommissaren, Technikerinnen und Polizisten in Uniform. Wie immer zeigten die einzelnen Beteiligten unterschiedlichen Ehrgeiz, sich in die Arbeit einzubringen. Mitten im Gewusel der Tatortsicherung stand Nils Baumgart und hatte die Oberaufsicht übernommen. Damit war seiner Ansicht nach seine Aufgabe hinreichend erfüllt. Seit er die Leitung übertragen bekommen hatte, arbeitete er in erster Linie mit seinen zwei Zeigefingern. Mit dem rechten deutete er jeweils auf einen Kollegen, mit dem linken auf eine Aufgabe: „Du machst das, du übernimmt das!“ bellte er dabei. Als sie Nils Baumgart bei seiner Arbeitseinteilung beobachtete, fragte sich die Kommissarin einen kurzen Augenblick, ob die Frühpensionierung nicht zumindest besser sei als so einen Vorgesetzten zu haben.

Ihre Blicke wanderten weiter über die Szenerie. Fasziniert beobachtete sie zwei Polizisten in Uniform, die es sich geschickt hinter der Hecke zum Nachbar-Hochhaus gemütlich gemacht hatten. Wann immer jemand sich zu ihnen umdrehte, taten sie so, als suchten sie auch dort nach verwertbaren Spuren. Bei dieser Art von Eifer würden sie nicht viele finden.

Jetzt entdeckte Kristin auch ihr beste Freundin und liebste Kollegin Katja Berg. Sie stand etwas abseits und betrachtete den Tatort schweigend und unbeweglich. Kristin und Katja waren unzertrennlich seit der Polizeischule, genauer gesagt, seit jener legendären Polizeischul-Party, bei der die Feierfreude so eskaliert war, dass sogar überregionale Zeitungen darüber berichtet hatten. Beinahe wären Kristin und Katja hinterher von der Polizeischule geflogen. Das hatte die Beiden für immer zusammengeschweißt - und ihnen den Spitznamen „K2“ eingebracht.

Katja hielt sich etwas entfernt von Nils Baumgart, und Kristin wusste warum. Er duldete um sich herum nichts, das nach Stillstand aussah. Katja aber sog den Tatort immer auch eine Zeitlang still in sich auf, ließ die Gedanken sich selbst sortieren: Sie versuchte sich auszumalen, wie genau die Tat passiert sein könnte. Ihr inneres Auge drehte gleich mehrere Filme mit möglichen Tathergängen. Mal kam ein möglicher Täter von rechts, mal die Täterin von links. Mal kannten sich die Beiden und stritten vor der Tat, mal war es ein Überfall aus dem Hinterhalt. Während sie diese inneren Filme an Ort und Stelle ablaufen ließ, achtete sie auf Stimmigkeit und eventuelle Ungereimtheiten. Schon oft waren ihr dabei Kleinigkeiten aufgefallen, die später entscheidend zur Aufklärung des Falles beigetragen hatten.

Auch Katja hatte, trotz ihrer inneren Filmarbeit, ihre Freundin Kristin schnell entdeckt, ließ sich aber nichts anmerken. Sie wusste, dass auch ihre Freundin den Tatort begutachten wollte, und ließ sie gewähren.

Vorsichtig beugte sich Kristin nun über die Reling ihres Balkons. Dort lag das Mordopfer. Es war Jakob Schäfer, ihr Nachbar aus einer der oberen Etagen. Jemand hatte ihm mit voller Wucht ein Küchenmesser von beachtlicher Größe in die Magengegend gerammt. Wer immer das getan hatte, musste sehr wütend gewesen sein. Die ganze Szenerie erzählte von Emotionen, Wut, Zorn, Verzweiflung. Am Ende dieser Emotionen lag Jakob Schäfer geradezu filmreif unter Kristins Balkon: Das rote Blut hatte auf dem weißen Hemd des Mordopfers fast schon ästhetisch schöne Formen hinterlassen. Hätte Kristin dieses Bild in einem Fernsehkrimi gesehen, sie hätte schallend gelacht. Es war zu unwirklich, fast inszeniert. Aber hier hatte der Zufall tatsächlich dieses filmreife Bild gemalt: Auf der grünen Wiese lag Jakob Schäfer. Auf seinem weißen Hemd kam das Rot des Blutes besonders gut zur Geltung. Die blaue Hose und die beigefarbene Jacke machten das Farbenspiel perfekt.

Kristin Neven versuchte sich das Messer genauer anzuschauen, so genau es ihr von ihrem Balkon aus möglich war. Es schien deutlich größer als eines, das Menschen für ein Picknick am Moosweiher im Handgepäck dabei hatten. Gleichzeitig aber sah es für jemanden, der gern gefährliche Waffen und Messer mit sich herum trug, zu sehr nach Küche aus. So ein Messer hatte man nicht einfach so dabei. Kristin Nevens erster Gedanke war: ‚Der Täter stammt aus unserem oder aus dem Nachbarhochhaus. Er hat sich das Messer aus seiner Küche mitgebracht, als er Jakob Schäfer unten auf der Wiese stehen sah. Jakob Schäfer wurde von einem Nachbarn ermordet. Der Täter oder die Täterin wohnt im Haus, hatte eine extreme Wut auf Jakob Schäfer, und jetzt fehlt ihm oder ihr ein Messer.‘

Kristin konnte sich nicht recht vorstellen, wieso irgendjemand wütend auf das Mordopfer sein konnte. Nicht dass sie ihren Nachbarn gut gekannt hätte. Aber in den zufälligen Begegnungen mit ihm hatte sie ihn als höflichen, zugewandten Menschen kennen gelernt. Zwei Dinge fielen ihr spontan zu ihm ein: dass er sein linkes Bein auffallend hinterher gezogen hatte, und dass er für Kristins Geschmack seinen christlichen Glauben etwas zu offensiv vor sich her getragen hatte. Einmal hatte er sie in ein langes Gespräch verwickelt, warum sie nicht aus der Kirche austrat und statt dessen seine Glaubensgemeinschaft unterstützte. Die Kirche sei doch gar nicht fromm genug, hatte er ihr nahegelegt. Aber sie meinte nur: „wenn ich austrete, dann, weil mir meine Kirche zu fromm wird!“ Danach hatte er nicht mehr von dem Thema angefangen. Er grüßte, hielt die Tür auf, unterhielt sich kurz mit ihr und den anderen Hausbewohnern. Man konnte sich nicht vorstellen, dass ihm irgendwer Böses wollte. Nun aber lag er tot unter ihrem Balkon, ermordet - wahrscheinlich von jemandem aus diesem oder aus dem Nachbarhaus.

Dreißig Jahre bei der Mordkommission bereiten einen nicht auf den Moment vor, in dem man realisiert, dass man möglicherweise Tür an Tür mit einem Mörder oder einer Mörderin wohnt. Über hundert Menschen wohnten in Kristin Nevens Hochhaus. Alle kamen als potentielle Täter oder Täterin in Frage. Wie sollte sie ihnen noch unbefangen gegenüber treten? Wenn sie sich weiter in ihrem Haus wohlfühlen wollte, musste der Täter schnell gefunden werden. Notfalls würde sie auf eigene Faust ermitteln. Wie genau das gehen sollte, wenn man krankheitsbedingt nur gut eine Stunde pro Tag genügend Kraft hat, am Leben der anderen teilzunehmen, wusste sie noch nicht. Sie war aber entschlossen es auszuprobieren – allerdings nicht mehr an diesem Tag. Für heute reichte ihre Kraft nur noch für ihren Termin bei ihrem Hausarzt am Nachmittag. Wenn sie das schaffen wollte, musste sie langsam anfangen, ihre Kräfte zu schonen.

Katja Berg hatte inzwischen ihre innere Filmarbeit abgeschlossen. Aus den Augenwinkeln hatte sie beobachtet, wie sich die Balkontür ihrer Freundin wieder geschlossen hatte, und wusste, dass Kristin nun mit Ohrschonern und Augenbinde auf dem Sofa liegen und Pause machen würde. In diesem Moment war Katja fast ein bisschen neidisch. Natürlich wusste sie, was für eine entsetzliche Krankheit das so harmlos klingende Chronische Fatigue-Syndrom ME/CFS war. Sie hatte die Schmerzen und die vollkommene Entkräftung ihrer Freundin mit eigenen Augen gesehen und wusste, was sie litt. Aber in diesem Moment hätte sie lieber ebenfalls auf dem Sofa gelegen und Pause gemacht. Seit Kristin nicht mehr im Team mit ihr arbeitete, hatte Katja die Leidenschaft für die Polizeiarbeit verloren. Kristin hatte sie mit ihrer Begeisterung für die Arbeit oft angesteckt. Das fehlte ihr nun schon gut ein Jahr. Diese Zeit hatte auch Katja erschöpft. Sie blickte die Reihe der Hochhäuser am Moosweiher entlang und seufzte. In jedem dieser Hochhäuser würden sie in den kommenden Tagen von Wohnung zu Wohnung gehen müssen und alle Nachbarn befragen. Wie gern hätte sie jetzt ein halbes Jahr frei! Statt dessen würde sie später mit der Befragung der armen älteren Hundebesitzerin beginnen, die den Toten gefunden hatte. Nach der Arbeit wollte sie schnell noch ihren Onkel Hans im Pflegeheim in Littenweiler besuchen und zuletzt sollte sie abends noch zum Polizeisport nach Herdern fahren. Es machte ihr alles keinen Spaß mehr.

Freitag

„Wer macht so was? So ein guter Mann! Jetzt ist er tot! Aber ich hab es ja schon immer gesagt…“

„Else Kling“ redete ohne Punkt und Komma auf Kristin Neven ein. Normalerweise machte die Kommissarin einen weiten Bogen um sie. Denn wenn Else Kling erst einmal ins Reden kam, hörte sie so schnell nicht wieder auf. Aber heute war die frühpensionierte Kommissarin extra noch etwas langsamer gegangen als sie es seit ihrer Krankheit ohnehin schon tat, um die Nachbarin zu treffen. Wenn jemand die Menschen im Haus und alle Gerüchte kannte, dann war das Else Kling. Natürlich hieß sie nur bei Kristin Neven so, nach der Hausmeisterin aus der Fernsehserie „Lindenstraße“ in den 1980er Jahren – den richtigen Namen kannte sie nicht einmal. Inzwischen aber merkte sie, dass sie alt wurde: immer weniger Menschen hatten bei dem Namen das passende Bild vor Augen.

Nun aber kamen Kristin erste Zweifel, ob die Idee so gut war, Else Kling zu treffen. Die redete nämlich schon 20 Minuten ununterbrochen. Und die Kommissarin hatte nichts, wo sie sich hinsetzen oder anlehnen konnte. Sie standen auf dem kleinen Wegchen hinter ihrem Hochhaus. Von dort hatte man einen guten Blick auf den Tatort. Er war noch immer abgesperrt, und ein paar letzte fleißige Polizisten und Polizistinnen überprüften noch einmal, ob sie gestern nicht doch irgendeine Spur übersehen hatten.

Kristin hatte ihre Tagesenergie eigentlich schon damit aufgebraucht, den halben Kilometer zu Fuß zu dem netten Café in der nahegelegenen Baumschule zu laufen, am Sportplatz vorbei, den kleinen Hügel beim „Lehener Bergle“ hoch, durch die Gärtnerei und Baumschule. Dort hatte sie einen Kaffee getrunken. Sie liebte das kleine Café, und seit ihre Kräfte wieder dafür reichten, ging sie oft hin. Genau so viel schaffte sie am Tag: einmal zum Café laufen, Kaffee trinken und zurück kehren. Nun aber kam noch das Gespräch mit Else Kling hinzu, und das war zu viel. Sie verbrauchte bereits die Kräfte von Morgen. Wenn Kristins Kräfte schwanden, hatte sie immer den Eindruck, zugucken zu können, wie ihr ihre Konzentration entglitt. Sie konnte fast bildlich zusehen, wie sie aufhörte zuzuhören. Regelmäßig zwang sie sich dann zurück zum Gespräch, und merkte doch, wie chancenlos jeder Versuch war, die Gedanken beisammen zu halten. Gegen den krankheitsbedingten Nebel in ihrem Kopf half kein Zwang, nur eine ausgiebige Pause. Zudem wurden der Kommissarin nun die Beine vom Stehen schwer, auch das Folge der Krankheit. Stehen war eine unvorstellbare Kraftanstrengung. In Zukunft würde sie zum Ermitteln wieder ihren kleinen, leichten Campinghocker mitnehmen, obwohl sie doch so stolz war ihn nicht mehr zu brauchen.

„… dabei ist ja die ganze Familie so nett“, plapperte Else Kling unablässig weiter. „Kennen Sie den Bruder? Johannes Schäfer? Der hat um die Ecke im Bussardweg doch diesen Bungalow. Und immer dienstags nachmittags veranstaltet er dort einen Kindernachmittag. Dabei hat der Tote auch immer geholfen. Die haben das zusammen aufgezogen - irgendwie aus religiösen Gründen oder so. Ich weiß nicht, zu welcher Sekte die gehören. Aber die Kinder in Landwasser gehen alle gern hin. Es gibt Kuchen und Cola und sie singen Lieder und springen auf dem Trampolin. Da können die Rabauken in der Zeit schon keinen Unfug anrichten. So eine engagierte Familie. Alle! Und nun haben sie einen davon ermordet. Wer macht so was? Ich verstehe es nicht…“

Kristin musste den Wortschwall unterbrechen. Inzwischen kribbelte jeder Körperteil, die Beine, die Arme, der Kopf. Langsam zogen ernsthafte Schmerzen auf. Ihr erster Versuch zu ermitteln endete mit völliger Erschöpfung. Diesen Teil ihrer Erkrankung hasste sie besonders. Bei leichtester Belastung war sie vollkommen überdimensioniert kaputt, hatte höllische Kopfschmerzen und jeder Muskel und jeder Nerv taten ihr weh. Eigentlich wusste sie, dass sie gesundheitlich nur dann Fortschritte machen konnte, wenn sie diese Verschlechterung vermied. Wie aber sollte das gehen, wenn man am Leben teilnehmen wollte? Frustriert ging sie zurück in ihre Wohnung, zog sich Ohrschoner über die Ohren, verdunkelte ihre Wohnung und legte sich aufs Sofa. An diesem Tag konnte sie nichts mehr erreichen. Hoffentlich war sie wenigstens morgen fit.

Einige Stockwerke obendrüber nahm ihre Freundin Katja zeitgleich die Wohnung des Verstorbenen auseinander. In einer kurzen Pause hatte sie die Freundin mit Else Kling vom Balkon aus gesehen. Sie sah inzwischen bereits an der Körperhaltung, ob Kristin einen guten oder einen schlechten Tag hatte. Dieser hier war definitiv ein schlechter.

Die Wohnung des Mordopfers befremdete Katja sehr. Aber sie hatte eine ganze Zeitlang gebraucht, bis ihr klar geworden war, was sie so sehr irritierte. Wohnungsdurchsuchungen von Mordopfern begann sie grundsätzlich damit, erst einmal eine gute Viertelstunde den „Geist“ der Wohnung zu spüren: wie tickt der Mensch, der hier wohnt? Ist es ein freundlicher, fröhlicher, aufgeschlossener Mensch? Ist er ordentlich oder nicht? Welche Spuren haben seine Freunde in der Wohnung hinterlassen? Es gehörte zu Katjas fester Routine, als erstes in einer neuen Wohnung diesen Fragen und Gedanken nachzuhängen.

Heute aber gelang es ihr nicht, sich anhand der Wohnung in das Wesen von Jakob Schäfer hineinzufühlen. Die Zweizimmerwohnung war ordentlich, praktisch geschnitten wie alle Wohnungen im Stadtteil Landwasser, die Möbel waren aus offensichtlich hochwertigem Holz. Alles schien aufeinander abgestimmt: Möbel, Teppiche, Einbauküche, Vorhänge. Aber etwas fehlte. ‚Wie ein Hotelzimmer‘, dachte Katja. ‚Wie ein Zimmer in einem christlichen Hotel‘, ergänzte sie. ‚Wie ein Zimmer in einem sehr übertrieben frommen christlichen Hotel irgendwo im Bibelbelt von Amerika.‘ Nirgends waren Spuren, dass hier ein Mensch seit fünf Jahren lebte und aus und ein gegangen war. ‚Wenn es eine Musterwohnung für christliches Wohnen gäbe, sie sähe so aus‘, schoss es Katja durch den Kopf. Im Regal standen ordentlich aufgereiht Gebetsbücher, Bücher mit Bibelauslegungen, Bücher über große Vorbilder des Glaubens.

Katja mochte den christlichen Glauben. Nicht, dass sie sich besonders gut auskannte oder streng gläubig wäre, nicht, dass sie mit Kirche als Institution besonders viel anfangen konnte, aber als Einzige in ihrem Bekannten- und Freundeskreis ging sie auch jenseits von Weihnachten ab und an in den Gottesdienst, meistens ins Freiburger Münster. Ihr gefiel einfach die Atmosphäre. Während sie unter der Woche mit scharfem Verstand und rationalem Denken an die Arbeit ging, tauchte sie in der Messfeier in ein Meer aus Gefühl und Gemüt ein: der Duft von schwerem Weihrauch, das Brausen der vier großen Münsterorgeln, die Messdiener und Messdienerinnen, die würdevoll nach einer sauberen Choreografie durch den Raum schritten, in den Pausen aber miteinander Faxen machten, das bunte Farbenspiel, wenn die Sonne durch die mittelalterlichen Glasfenster schien. Wenn Katja zum Erstaunen ihrer Freunde in die Kirche ging, pflegte sie zu sagen: „ich muss mal wieder das Heilige atmen.“

Trotz allen Wohlwollens dem Glauben gegenüber kam sie in dieser Wohnung an die Grenzen ihres Verständnisses. Denn das Einzige, das ihr diese Wohnung erzählte, war: „seht her, hier wohnt ein frommer Mann. Frommer, als du es bist!“

Im Flur entdeckte Katja den Druck eines alten Gemäldes: „Der schmale und der breite Weg.“ So ein Druck hatte auch bei ihrer Großtante gehangen, neben dem Gästebett. Wenn sie ihre Großtante als Kind besuchte, hatte Katja es beim Einschlafen und beim Aufwachen betrachtet: Ein schmaler Weg führte an allen möglichen Entbehrungen entlang in den Himmel, ein breiter Weg zu allem, was Spaß macht, aber am Ende in die Hölle. Nun stand Katja im Flur des Mordopfers und betrachtete das Bild mit den gleichen Gefühlen wie damals. Schon als Kind hatte sie sich mit Begeisterung den „breiten Weg“ angeschaut, der an allem vorbei führte, was das Leben so schön machte. Warum all das in die Hölle führen sollte, vor allem der „Maskenball“, und warum der Weg in den Himmel so entsetzlich langweilig sein sollte, hatte sie nie verstanden. Auch jetzt löste das Bild in ihr Tausend Fragen, Emotionen und Unverständnis aus.

Plötzlich dachte sie: ‚ob vor mir schon einmal jemand hier in diesem Flur gestanden und das Bild mit Emotionen betrachtet hat?‘ Genau das war es, was ihr in dieser Wohnung fehlte: Emotionen. Nichts erzählte vom Leben, vom Lieben, von Sehnsucht, von Verzweiflung oder von Wut in der Wohnung. Alles war einfach nur perfekt eingerichtet. Alles lag aufgeräumt an seinem Platz, als wohne niemand hier, sondern stelle nur seine Wohnung aus. Keine Fotos hingen an der Wand, kein Buch lag aufgeschlagen am Nachttisch, keine Zeitung war vergessen worden aufzuräumen. Nichts strahlte Wärme und Liebe aus. Gleichzeitig war die Wohnung auch nicht kalt. Sie wirkte wie eine Scheinwelt, perfekt inszeniert, aber ohne eigenes Leben. Wer war dieser Jakob Schäfer, der in dieser Musterwohnung lebte?

Eine Antwort auf diese Frage fand Katja in der Wohnung nicht. Es gab kein Tagebuch, keinen Browserverlauf, kein aufgeschlagenes Buch, nichts, was einem den Menschen Jakob Schäfer näher gebracht hätte. Komischerweise hatten sie auch noch kein Handy gefunden.

Bevor sie zum Feierabend die Wohnung verließ, trat sie noch einmal auf den perfekt eingerichteten und dennoch merkwürdig leblosen Balkon. Von hier oben hatte sie einen herrlichen Blick über Landwasser und weite Teile Freiburgs. Ganz in der Ferne sah sie sogar die Spitze des Münsterturms. Von hier oben sah sie die Vorzüge Landwassers: das viele Grün, gleichzeitig die perfekte Anbindung an die Innenstadt. ‚Dieser Stadtteil ist der meistunterschätzte von ganz Freiburg‘, dachte sie. Ob sie sich um diese Wohnung bewerben könnte? Mehr als diese zwei Zimmer brauchte sie nicht. Vor allem wäre ihre Freundin Kristin so nahe, dass sie sie öfter kurz, nur für zehn Minuten, besuchen könnte. Oder sie könnte einfach schweigend bei ihr im Wohnzimmer sitzen. Denn kein Tag verging, an dem sie ihre Freundin nicht schmerzlich vermisste.

In den letzten Wochen hatte sie nicht nur an der Arbeit den Spaß verloren, sondern auch an ihrer Wohnung. Inzwischen, fand sie, sei sie zu alt fürs Sedanviertel, das hippe Innenstadtviertel, mit seinen Kneipen, Kinos und Theater. Sie war jetzt in einem Alter, in dem man nachts lieber schlafen möchte, als feierwütigen Studierenden beim lautstarken Biertrinken und Reden zuhören zu müssen.

Samstag

Samstags war K2-Tag. Das hatten sich die beiden Freundinnen angewöhnt, als Kristin nach einer Corona-Infektion an ME/CFS erkrankt war. Die Wochen nach dem großen Crash in der Reha hatte sie fast nur im Bett oder auf dem Sofa verbringen können, war erschöpft vom Weg auf die Toilette, entkräftet davon, sich etwas zu essen zu machen, ermattet vom Atmen und schon von kleinsten Geräuschen oder Störungen überfordert. Katja ging für ihre Freundin einkaufen, räumte die Lebensmittel ein – so dass Kristin sie gut erreichen konnte, und schaute nach ihr. An guten Tagen redeten sie kurz miteinander und an schlechten Tagen hinterließ sie ihr nur einen kurzen Gruß auf einer Karte oder Blumen und schloss die Tür wieder leise hinter sich zu. Sie war da ohne zu überfordern. Zweimal am Tag schickte sie ihr eine Nachricht aufs Handy. Wenn Kristin nicht antwortete, kam Katja vorbei und sah nach ihr. Kristin war ihr für all das zutiefst dankbar. Seit es ihr langsam etwas besser ging, sprachen sie immer länger miteinander.

Inzwischen konnte sich Kristin, wenn sie sich vorher und hinterher gut schonte, bis zu einer Stunde auf ein Gespräch konzentrieren ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Die Stunde mit Katja war samstags, genau von 15 bis 16 Uhr. Katja überwachte die Zeit und ging, egal wie schön es gerade war. Sie hatte sich gut eingelesen in die Herausforderungen des postviralen Fatigue-Syndroms ME/CFS.

An den gemeinsamen Samstagen war auch Zeit für Tränen, die sie miteinander vergossen, über Kristins verlorenes Leben, die unendlich vielen Stunden der Erschöpfung, der Stille und der Einsamkeit. Sie weinten miteinander darüber, dass sie ihre Freundschaft nicht in gemeinsam verbrachter Zeit zum Ausdruck bringen konnten, und darüber, was sie gemeinsam verpassten. Sonst verbat Kristin sich die Tränen, denn auch Tränen strengten sie zu sehr an.

Die Samstag Nachmittage waren aber auch die Stunden neu erwachenden Lebensglücks, neuer Teilnahme am Leben, Freude über die kleinsten Fortschritte. Katja war der Hauptgewinn unter den Freunden und Freundinnen. Viele andere hatten sich abgewandt. Sie meinten, Kristin übertreibe, bilde sich die Krankheit nur ein oder solle sich nicht so anstellen. Katja aber hatte verstanden, was ME/CFS bedeutet.

Nun also saßen sie beieinander. Kristin hatte sogar einen kleinen Kuchen gebacken. Das wieder zu können war ein großer Fortschritt. Jetzt lenkte sie das Gespräch unauffällig in Richtung Mordfall. Sie ging behutsam vor, denn sie wollte ihre beste Freundin nicht in Konflikte bringen zwischen ihrer Freundschaft und ihrer Schweigepflicht.

Katja berichtete nicht viel, aber immerhin: Noch tappte die Polizei vollkommen im Dunkeln. Sie erzählte von der merkwürdig perfekt inszenierten Wohnung, und davon, wie schwer es sei, den Menschen Jakob Schäfer zu greifen. Erste Befragungen im Umfeld des Verstorbenen hatten ebenfalls noch nichts erbracht. Mit der Befragung der Familie seines Bruders im Bussardweg hatten sie erst begonnen, aber bisher gab es auch dort keine Auffälligkeiten oder Tatmotive. Bisher hatten sie nur das Messer als Spur. Aber das musste direkt aus der Spülmaschine gekommen sein. Sie hatten noch nichts weiter feststellen können, als dass es ein Messer war, wie man es in jedem Haushaltsladen kaufen konnte.

Montag

„Musst du nicht langsam nach Hause gehen, Max?“

Der zehnjährige Junge war so vertieft in sein Buch, dass er nicht einmal aufsah. Kristin lächelte, als sie das Bild sah: der Junge saß mit angezogenen Knien auf ihrem Sessel und hatte sich trotz des beginnenden Sommers in seine Kuscheldecke gehüllt. Aus diesem Haufen schaute nur die rotbraune Wuschelmähne heraus. Die runde Brille saß wie immer schief auf seiner Nase.

„Max? Ich glaub, du musst jetzt nach Hause!“ Endlich blickte der Junge hoch.

„Wird es dir zu viel, Kristin?“ fragte er, sah ihr aber mit Kennerblick an, dass die Kommissarin noch Kraft hatte. Deswegen wandte er seine Augen wieder dem Buch zu:

„Nur noch schnell das Kapitel fertig, ja?“

„Nicht wegen mir! Aber deine Familie wartet schon auf dich!“