Jammern Nörgeln Stalken - Petra Fastermann - E-Book

Jammern Nörgeln Stalken E-Book

Petra Fastermann

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Beschreibung

Ein kleines Werk mit vier Geschichten über Menschen, die sich bedauern. Manche geben anderen dafür die Schuld, dass ihr Leben für sie unerfreulich geworden ist. Andere verstehen nicht, was ihnen widerfährt und wie sie sich in ihre plötzlich eintretende unglückliche Situation hineinfinden sollen. Einige sind davon überrascht worden, dass sie nicht immer jung bleiben. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie unzufrieden sind. Ihre Ansätze, diesen Zustand zu ändern, sind unterschiedlich. Aber nicht zur Nachahmung zu empfehlen.

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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhaltsverzeichnis

WIE DIE ZEIT VERGANGEN IST: AUF ZWEI ALTE KERLE WARTET GELANGWEILT DER TOD

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JAHRE DES ESELS

STALKER

MUTTER

ZUR AUTORIN

Wie die Zeit vergangen ist: Auf zwei alte Kerle wartet gelangweilt der Tod

Altersdepressive, das sind Menschen, die nicht mehr mitmachen wollen – wobei auch immer. Das wird jedenfalls gern behauptet oder vielleicht unterstellt. Das Symptom äußere sich in Bockigkeit, Störrischsein, sich gegen etwas sperren, obwohl die doch nichts mehr tun müssen und es ihnen gut geht. Gut geht – also ganz anders als all denen, die für Lohn und Brot noch jeden Tag einer Beschäftigung nachgehen müssen, die sie meist nicht schätzen, und die sich wünschten, es endlich so gut wie die Alten zu haben. Oder sind Altersdepressive nur solche, die sich nicht damit abfinden wollen, dass Altwerden nun normal ist und jeden treffen wird, der nicht vorher jung gestorben ist? Das ist die Geschichte von den Brüdern Thomas und Stefan, die bedenklich stimmt. Wer es sich zutraut, alt zu werden, sollte sie ruhig lesen. Wer jetzt schon jeden neuen Tag mit Panik erwartet, lässt es lieber sein. Denn besser wird es nicht mehr.

Wird es in fünf Jahren noch wichtig sein?

Beim belanglosen Surfen im Internet, überwiegend zum Zeitvertreib, weil er sonst nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte, fand Thomas auf einer amerikanischen Trivialseite die Frage: „Is it going to matter five years from now“? Die Frage war ganz allgemein gestellt – es ging dabei um die Sorgen, die der durchschnittliche Amerikaner gegenwärtig zu haben schien. Dabei handelte es sich um eine Art Erbauungs- und Mutmachseite – Thomas hätte selbst nicht sagen können, durch welchen Zufall er auf dieser gelandet war. Obwohl er sich gleich darüber ärgerte, dass er sich auf eine ebenso simpel gedachte wie gemachte Lebenshilfe-Seite im Stil von „Ist alles halb so schlimm“ hatte leiten lassen, ließ ihn die kleine Frage nachdenklich werden: „Wird es in fünf Jahren noch von Bedeutung sein?“ Das Meiste wohl nicht, wenn er es sich genau überlegte. Worüber er sich heute grämte, würde in fünf Jahren schon so weit zurückliegen, dass er sich an die Sorge und das Ärgernis nicht einmal mehr würde erinnern können. Wenn es nicht etwas besonders Schwerwiegendes war. So war zum Beispiel vor fünf Jahren in die Wohnung von Thomas eingebrochen worden. Er war zwar nicht zu Hause gewesen, aber das Ereignis hatte ihn tief verstört. Nur Ersetzbares hatten die Diebe ihm gestohlen, und die Hausratversicherung war für den finanziellen Schaden aufgekommen. Aber Thomas’ private Unterlagen und Habseligkeiten waren durchwühlt worden, vermutlich um die bei ihm in sehr geringem Maße vorhandenen Wertgegenstände zu finden. Die Polizei hatte die Täter nie ermitteln können. Thomas sah sich als Zufallsopfer. Seit dem Einbruch fühlte er sich in der Wohnung weder sicher noch wohl, aber dennoch war er nicht umgezogen. Er erklärte das sich und anderen damit, dass er ebenso wahrscheinlich in einer neuen Wohnung Opfer eines Einbruchs werden könnte. Außerdem hatte es ihm sowohl an Geld als auch an Motivation für einen Umzug gefehlt. Vor allem hatte er keine besonders engen Freunde, die ihm dabei gut zugeredet oder vielleicht sogar geholfen hätten. Es waren eher Bekannte, mit denen er zwar trinken konnte, aber es war keiner dabei, der sich dafür interessiert hätte, ihm in einer ernsthaften Notlage zu helfen. Dieser Einbruch ließ Thomas nach fünf Jahren nachts immer noch schlecht schlafen. Die triviale Frage „Is it going to matter five years from now“? musste er in Bezug auf den Wohnungseinbruch in jedem Fall mit „ja“ beantworten. Des Weiteren aber konnte er sich eingestehen, dass nahezu nichts, was ihn heute konkret bewegte, ärgerte oder zu bedrohen schien, in fünf Jahren noch irgendeine Bedeutung für ihn haben würde. Trotzdem hatte sein Wunsch zu leben im Laufe der Jahre stark abgenommen. Das Leben war ihm zu schnell geworden, viel zu schnell für ihn als älter werdenden Mann. Da hatte er auf einmal, von allen unbeachtet, den Anschluss verpasst. So waren die Jahre vergangen und die Sorgen größer geworden. Die größere Gelassenheit, die sich angeblich bei vielen Menschen mit zunehmendem Alter einstellt, war bei ihm nicht eingetreten. Jahr für Jahr, zuerst fast unbemerkt, hatte er weniger leisten können. Wahrgenommen hatte er dieses Phänomen nur als etwas, das ihn zunehmend reizte, ohne dass er sich erklären konnte, warum Gereiztheit, Überforderung und Genervtheit für ihn zum Dauerzustand geworden waren. Er ärgerte sich und stellte sich vor, dass ihn niemand mehr ernst nahm. Das sollten sie nicht wagen! Anfangs hätte er bei dem Gedanken gern noch jeden bestraft, von dem er glaubte, dass er ihn nicht ernst nehmen wollte. Später hatte er sich daran gewöhnt. Schließlich wurde es Thomas sogar zu viel und zu nervtötend, sich zu duschen und etwas Frisches anzuziehen. Wozu nur? Die Prozedur war täglich dieselbe, wozu sollte er sie regelmäßig wiederholen? So ideenarm mindestens wie einfallslos, solch ein Vorhaben. Nur rudimentärste Körperpflege für ihn. Wie schnell so ein Mensch sich selbst gegenüber gleichgültiger wurde und dabei verfiel. Für Thomas war es manchmal kaum zu fassen. Wenn er – wie so häufig – stundenlang allein vor seinem Computer saß und ziellos im Internet surfte, fühlte er sich manchmal von den Wörtern angegriffen. Dann versuchte er, einzelne Wörter zu löschen. Als ob es in seinem eigenen Text sei. Wenn ihm das Löschen der Wörter nicht gelang, fühlte er sich von Zeit zu Zeit sogar bedroht, geradezu so, als gebe es eine Verschwörung gegen ihn. Manchmal hatte Thomas fast einen Hang zur Hysterie. Dieser äußerte sich darin, dass ihm oft schwindlig wurde. Dann glaubte er, nicht mehr atmen zu können, und gelegentlich ging es so weit, dass er Lähmungserscheinungen in den Armen verspürte. Es ergriff ihn das Gefühl, um Hilfe schreien zu müssen, aber er bekam keinen Ton heraus. Gut so, denn es hätte ihm doch keiner geholfen. Und so beschäftigte er sich weiter damit, Wörter zu löschen. Alle zwei Minuten las er die Online-Nachrichten, um zu überprüfen, ob es irgendwo in der Welt ein Attentat gegeben habe. Dass es einen Anschlag gab, geschah in der letzten Zeit öfter, aber nicht alle zwei Minuten. Selbst wenn es alle zwei Minuten geschehen wäre, hätte es Thomas nicht wirklich betroffen, weil er sicher in seiner Wohnung saß und das Weltgeschehen vom Sofa aus verfolgte. Trotzdem hielt er es für nötig, wie besessen wieder und wieder die Nachrichten in kürzesten Abständen zu überprüfen. Auf nichts schien er mehr dauerhaft fokussieren zu können. Anfangs hatte er das einer möglichen Unterzuckerung zugeschrieben, die sein Gehirn vielleicht negativ beeinträchtigte. Nach einer Weile war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sein Gehirn nicht dauerhaft unterzuckert sein konnte und die nervöse Unkonzentriertheit andere Ursachen haben musste.

Diese Versuche, sich selbst zu beschäftigen, hatten Thomas zwei volle Jahre seines Lebens und den letzten Rest seiner seelischen Gesundheit gekostet. Nachdem er nicht mehr arbeiten gegangen war, hatte er nichts weiter gewollt, als sein ohnehin schon stark reduziertes Leben in Ruhe leben zu dürfen. Um wie lange würde sein Xing-Profil, das er nach der Aufgabe seiner Arbeit nicht entfernt hatte, ihn überleben? Xing konnte nicht wissen, wenn er gestorben wäre. Niemand würde es löschen, auch sein Bruder Stefan würde nicht daran denken. Das Xing-Profil würde Thomas überdauern. Wie er bekümmert dachte, war das eine von den wenigen Spuren, die es nach ihm geben würde. Da er niemals etwas geleistet hatte, das ihn aus der grauen Menge von Menschen hervorgehoben hätte, war Thomas im Menschheitsgedächtnis nicht verewigt. Ein Xing-Profil wäre das Einzige, das von ihm bliebe.

Zwangsläufig ergab es sich, dass sich nach einiger Zeit bei Thomas eine dauernde Unterforderung des Gehirns stark bemerkbar machte. Er brachte es nicht mehr fertig, überhaupt noch irgendetwas zu beginnen. Der Grund dafür war, dass Thomas sich im Voraus bereits ausmalte, wie schwierig alles war, werden würde oder am Ende zu bewerkstelligen sein könnte. Deshalb beschloss er, gar nicht erst mit etwas anzufangen. Weil es stets so war, dass alles in Wellen geschah: eine Welle der Gewalt, eine Welle der Hilfsbereitschaft. Wenn nicht eine Welle, dann eine Flut. Er dachte sich, dass ihn eine Welle der eigenen Unfähigkeit heftig umspielte, umspülte und zu erfassen drohte. Neben dem, dass er nicht mehr zuhören konnte, wenn jemand etwas erzählte, weil er sich nur kolossal genervt fühlte, nahm seine Konzentrationsfähigkeit kontinuierlich ab. Wenn er etwas vernahm, konnte er es zwar akustisch hören, aber nicht verstehen. Versuchte er zu verstehen, hatte er bereits vergessen, was er gehört hatte. Thomas’ Sorge vor dem Gedächtnisverlust nahm täglich zu. Er versuchte sich einzureden, dass das in seinem Alter normal sein könnte. Gab es nicht in jeder Apotheke Tabletten für die Steigerung der Gedächtnisleistung der Über-Fünfzigjährigen? Selbst im Fernsehen, so meinte er sich zu erinnern, wurden vermeintlich gedächtnissteigernde Präparate regelmäßig beworben. Versorgungs- oder Erinnerungslücken, wo lag nur der Unterschied? Es gab wohl kaum jemanden, der sich nicht betroffen sehen musste. Wer nur hatte diesen unglaublichen Taugenichts in die Welt gesetzt? Wenn die Eltern noch gelebt hätten, hätte Thomas ihnen diese Frage gern gestellt und ihnen daraus einen Vorwurf formuliert.

Kaum dass er das Alter von fünfzig Jahren erreicht hatte, hatte Thomas sich richtig alt gefühlt. Klar war jedem, dass die meisten bereits vor dem fünfzigsten Lebensjahr längst die Mitte des Lebens überschritten hatten – bei einer ganz normalen Lebenserwartung. Aber fünfzig war für viele ein Wendepunkt. Ab fünfzig galt man als „Senior“, als den Alten zugehörig. Vom Arbeitsamt bekam man länger Geld als jemand, der erst neunundvierzig Jahre alt war und dann arbeitslos wurde. Von der Krankenkasse gab es Aufforderungen und Ermunterungen zu zahlreichen Untersuchungen und Vorsorgemaßnahmen. Eine Darmspiegelung wurde ab 50 empfohlen, unabhängig davon, ob der Versicherte familiär durch Krebs vorbelastet war oder nicht. Computerkurse für Menschen „50+“ wurden angeboten. Sogar in die nahe gelegene Sauna sollten Über-50-Jährige kostengünstigeren Einlass finden als Jüngere. Dabei wollte Thomas nicht ganz einleuchten, was dafür der Grund sein sollte. Sicher war nur: Von einem, der die Fünfzig überschritten hatte, wurde nichts mehr erwartet. Entweder er hatte noch einen Job, in dem er schon lange sicher saß und weiterhin würde sitzen dürfen, oder er hatte keinen mehr und würde mit über fünfzig niemals mehr einen finden. Wann sollte eines Seniors große Stunde noch kommen? Es war gesellschaftlich anerkannt, dass ab diesem Alter keiner mehr zu Höchstleistungen bereit sein, etwas Bahnbrechendes erfinden, etwas Faszinierendes tun musste – wenn derjenige das in den ganzen Jahren zuvor eben auch nicht getan hatte. Jeder, der mit fünfzig noch nicht chronisch krank war, konnte mit sich zufrieden sein. Wer sich als noch einigermaßen fit betrachtete, tat gut daran, sich so zu erhalten. Sich um seine Gesundheit zu kümmern war etwas, das man ab fünfzig tun musste. Mehr konnte wirklich von keinem Senior erwartet werden. Es kamen viele neue Junge und Frische nach, die besser waren.

Alles schien schon gesagt und erzählt. Man erfuhr gesundheitliche Beeinträchtigungen. Man wurde alt. Ganz ungewöhnlich war es also nicht, dass die Menschen wie stark benutzte Gebrauchsgegenstände über die Jahre kaputt gingen. Oft waren es sogar die in jungen Jahren sehr viel versprechenden, die sich kaum mit dem Altern abfinden konnten, die dem Alter einfach nicht gewachsen waren. Die am ermüdetsten und enttäuschtesten wurden und am erschreckendsten verfielen, wenn sie nicht vorher spektakulär durch Selbstmord ihr selbst gewähltes Ende gefunden hatten. Das alles hatte sich immer in der Menschheitsgeschichte wiederholt und würde auch so bleiben, bis die Menschheit sich ausgerottet hätte. Kein Wunder war das alles, sondern nur der regelmäßige Lauf der Welt. Dennoch ließ sich aus diesen Erfahrungen nicht lernen, und keinem blieb es erspart, sie selbst zu machen. Thomas hatte über einen bekannten Schriftsteller gelesen, dass dessen einzige Freude noch sein Hund sei. Über diesen Schriftsteller wurde gehässig verbreitet, es sei eigentlich sogar sein Hund, der dessen Alterswerke verfasse. Feinde des Schriftstellers riefen gar zum Mord an dessen vermeintlich schreibendem Hund auf. Viele konnten nicht abtreten, zurücktreten, wenn es Zeit dazu wäre. Auf der Höhe ihres Ruhmes – dann aufhören, wenn sie am meisten Anerkennung für ihr Schaffen genossen. Die machten weiter, bis sie zum Gespött wurden. Sie erkannten den Zeitpunkt nicht, zu dem sie endlich Ruhe geben und sich zurückziehen sollten. Vortreten – zutreten – abtreten. Das war die natürliche Reihenfolge des Lebens. Alles einsteigen, bitte. Zurücktreten – zurücktreten, sag ich!

Die zwei Brüder

Der eine: Thomas

Thomas wohnte immer noch in derselben Mietwohnung, in der er schon während seines Studiums gelebt hatte. Auch an seiner sonstigen spartanischen Lebensweise hatte sich nichts geändert. Gelegentlich fand er eine dicke junge Frau mit Vaterkomplex, die seine Tochter, manchmal seine Enkelin hätte sein können und sich sehr kurzzeitig in ihn verliebte. Wichtig war für Thomas, dass sie erstens dick und zweitens viel jünger als er war. Weil es ihm so gefiel. Obwohl das Ende dieser Verhältnisse abzusehen war und jedes nahezu gleich verlief, war er als Verlassener stets gekränkt und am Boden zerstört. Das Problem für die Frauen war ihre Erwartung, dass ein älterer Mann sich rücksichtsvoll und väterlich verhalten würde. Aber Thomas war weder rücksichtsvoll noch väterlich, sondern eben nur alt. Er begriff nie, warum die Beziehungen regelmäßig nach kurzer Zeit von den Frauen beendet wurden. Er wurde bloß sehr traurig darüber. Das hatte zur Folge, dass er im Anschluss an jede gescheiterte Beziehung einige Tage lang gar nichts essen konnte und sich mit viel Alkohol betäuben musste. Bis sich eine neue Zerstreuung fand.

Morgens ein Gläschen, mittags zwei, abends vergisst man das Zählen dabei. So hieß ein Trinkspruch, dessen Schöpfer Thomas unbekannt war. Oder um es mit Wilhelm Busch zu sagen: Rotwein ist für alte Knaben eine von den besten Gaben. Thomas mochte Wilhelm Busch, und insbesondere dessen „Abenteuer eines Junggesellen“ hatte er sehr lieb gewonnen.

Gegen die Freundinnen, die ihn zu Gunsten eines jüngeren Mannes verließen, hegte Thomas Groll. Viel größer aber war sein Zorn auf die jungen Männer, die ihn ausgebootet hatten. Thomas phantasierte darüber, wie er seine Ex-Freundin mit einem jungen neuen Gefährten auf der Straße treffen und nicht vor den beiden flüchten würde. Ganz im Gegenteil. Die beiden wären es, die würden vorgeben wollen, ihn nicht zu sehen. Weil es ihnen peinlich und unangenehm wäre. Aber er würde ihnen den Weg versperren und sich als ehemaligen Liebhaber seines Mädchens ganz souverän zu erkennen geben. „Sie könnten ja mein Sohn sein“, würde er sich dem jungen Mann vorstellen, um diesem zu suggerieren, dass der zum einen ein Grünschnabel ohne Erfahrung sei und zum anderen damit seine eigene Lebenserfahrung und Weisheit vorzustellen. Man war nur einmal jung und schön. Wie der junge Mann. Deshalb würde Thomas ihn abwerten. Keiner jungen Frau würde er jemals „Sie könnten ja meine Tochter sein“ zur Begrüßung sagen. Im Leben nicht! Für diese sah er sich nicht als zu alt. Nur zu gern würde er von ihnen noch als potenzieller Liebhaber wahrgenommen. Aber gegen den virilen jungen Mann hatte er keine Chance. Den musste er abwerten. Wenn Thomas ehrlich mit sich war, könnten die jungen Männer fast seine Enkel sein. „Sie könnten ja mein Sohn sein!“ Genau das aber würde er verächtlich rufen. Leider kam es niemals zu solch einem Zwischenfall. Dennoch stellte Thomas sich dieses Szenario oft ganz genüsslich vor. „Ich hasse dich“, würde er seiner Verflossenen heimlich zuflüstern. „Ich dich auch“, stellte er sich als ihre sanfte Entgegnung vor. Hassen sollte sie ihn, wenn sie ihn nicht mehr lieben mochte! Nur gleichgültig wollte er ihr nicht sein. Leiden sollten die! Den jungen Mann würde er am liebsten vernichten oder doch wenigstens vollkommen lächerlich machen. Wenn andere einen Schaden erlitten, freute er sich insgeheim. Diebisch, wie man so sagt. Er konnte sich nicht alles gefallen lassen.

Verglichen mit dem jungen Mann sah sein alt gewordener Körper hilflos und erbärmlich aus. Wie eine Birne fühlte er sich, ganz ohne überzeugende Kontur. Regelmäßig wurde Thomas darüber wütend und hätte die jungen Typen am liebsten dafür verprügelt, dass sie jung waren. Es war selbst ihm ganz klar, dass er jeden Zweikampf verlieren würde. Nicht einmal herauszufordern hätte er seine Feinde gewagt. Erbärmlich, lächerlich. So war es gut, dass es nie tatsächlich, sondern nur in seiner Vorstellung dazu kam. Niemals hatte Thomas andere daran Anteil haben lassen wollen, andere daran beteiligen, andere mitentscheiden lassen, wie er sein Leben zu führen habe. So war es nicht verwunderlich, dass er sein Leben nie mit jemandem geteilt hatte. Jetzt hatte Thomas den Wunsch, dass sich irgendwer seiner annehmen würde. Dass er irgendwem, nach Möglichkeit einer Frau, nicht vollkommen bedeutungslos wäre. Aber was tun? Wohin mit diesem unmöglichen, unverschämten Bedürfnis?

Thomas kam sich zunehmend vor wie eine Bedürfnismaschine, die rund um die Uhr lief, um ihren eigenen Bedürfnissen nachzukommen, sich damit selbst genug war und nur um ihrer selbst willen existierte. Diese Maschine war auf die Bedürfnisse des Essens, Schlafens oder Alkohol Konsumierens eingestellt.

Regelmäßig und unermüdlich las Thomas mit Genugtuung im kostenlosen Wochenblatt die Todesanzeigen von denen, die jünger gestorben waren als er. Er lebte noch, selbst wenn es sich nicht so anfühlte.