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Kuriose Geschichten und unterhaltsame Hintergründe über das Land der aufgehenden Sonne. Die Ostasienwissenschaftlerin und Journalistin Françoise Hauser hat in ihrem kleinen »Reiseführer für die Hosentasche« hunderte von ebenso nützlichen wie überraschenden Fakten und typisch japanischen Eigenheiten gesammelt: Wo können Katzen zu Stationsvorstehern ernannt werden? Wo sonst auf der Welt unterhalten Mafia-Organisationen offizielle Niederlassungen, die sogar im Telefonbuch zu finden sind? Wo bekommt der Stand der Kirschblüte mehr Sendezeit in den Nachrichten als das internationale Geschehen? Und wo bekommen erwachsene Männer Taschengeld? Fragen, die uns Japan und die Japaner, Land und Leute näher bringen. Für alle Japan-Reisenden und -Fans: das kleinste Buch über das Land mit den meisten Göttern.
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Seitenzahl: 272
Françoise Hauser
Japan für die Hosentasche
Was Reiseführer verschweigen
FISCHER E-Books
Auf vielen Reisen, beruflich und privat, in billigen Absteigen und unglaublich luxuriösen Hotels, auf abgelegenen Bergpfaden und in den Hochhausschluchten von Tōkyō und Ōsaka, bei meinen teils deutschen, teils japanischen Verwandten vor Ort, habe ich Japan aus tausend verschiedenen Blickwinkeln kennengelernt. Und bei jeder Reise präsentieren mir die Japaner zuverlässig neue Seiten ihrer Kultur. Logisch, dass sich dabei Fragen ergeben: Warum sind die Tempel über und über mit Aufklebern bedeckt? Und wie bitte schafft man es, sie auf rund sechs Metern Höhe anzubringen? Wieso essen Menschen freiwillig giftigen Kugelfisch? Warum stellen sich manche Japaner volle Wasserflaschen rund ums Haus? Stimmt es, dass Ausländer die Japaner sowieso nie wirklich verstehen können? Und gibt es die berühmt-berüchtigten Automaten mit gebrauchten Unterhosen wirklich? (Für alle, die es nicht abwarten können: Die Antwort finden Sie auf Seite 234.)
Genau um solche Fragen, schrägen Details und unbekannten Hintergründe geht es in diesem Buch. Einen Anspruch auf Vollständigkeit hat meine Sammlung nicht, denn ich bin mir fast sicher: Bei der nächsten Reise werden mir die Japaner einen neuen Packen Rätsel aufgeben – ein guter Grund, sich wieder auf Japan zu freuen.
Zur Aussprache:
In diesem Buch wurde die Kunrei-Umschrift verwendet, wie sie auch in Japan üblich ist. Auf schmerzhafte Eindeutschungen, wie beispielsweise die Verwandlung von Tōkyō zu Tokio oder Kyōtō zu Kioto, habe ich bewusst verzichtet.
Japan? Da denken die meisten Menschen an Hochhausschluchten und die Menschenmengen der Tōkyōter Innenstadt. Hier deshalb ein paar überraschende Eckdaten:
Fläche 378000 km²
Anteil Flachland: 11 %
Anteil Bergland: 75 % der Fläche, größtenteils bewaldet
Anteil Waldfläche: 67 % (im internationalen Vergleich steht Japan damit an 13. Stelle)
Nord-Süd-Ausdehnung: 3000 km
Zahl der Inseln: 6852
Zahl der bewohnten Inseln: 421
Bevölkerungsdichte Tōkyō: 5751 Menschen/km²
Bevölkerungsdichte Hokkaidō: 72 Menschen/km²
Bärenpopulation: 15000 Schwarzbären auf Honshū, 2000 Braunbären auf Hokkaidō
Affenpopulation: ca. 100000
Anzahl der Vulkane: ca. 240, davon aktiv: 110
Der Blick auf die Karte täuscht: Auf den ersten Blick scheint das Land aus vier großen Inseln zu bestehen, dazu kommen ein paar kleinere Punkte und natürlich Okinawa. In der Tat machen die vier großen Inseln Honshū, Hokkaidō, Shikoku und Kyūshū 97 % der Landesfläche aus. Die restlichen 3 % liegen zum Teil recht weit entfernt. So gehört zur Hauptstadt Tōkyō nicht nur das Territorium auf Honshū, sondern auch die Izu-Inseln sowie die Ogasawara-Inseln. Letztere liegen tausend Kilometer entfernt im Pazifik und sind nur einmal die Woche per fünfundzwanzigstündiger Bootsfahrt zu erreichen.
Die Frage, wie viele Inseln es insgesamt sind, ist ohnehin gar nicht so einfach zu beantworten und eine reine Definitionssache: Ein großer Teil dieser kleinen Inselchen ist nur wenige Meter groß und daher auch unbewohnt. Die japanische Küstenwache zählt alles mit einer Küstenlinie von mehr als 100 Metern als Insel und kommt so auf genau 6852 Inseln inklusive der vier Kurilen-Inseln, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu Russland gehören, aber von Japan beansprucht werden.
Nicht alle japanischen Inseln sind bewohnt. Zum einen, weil manche einfach zu klein sind, andere über kein Süßwasser verfügen. Besonders interessant sind jedoch die verlassenen Inseln:
Spätestens seit dem James-Bond-Film »Skyfall« kennt sie jeder: Die verlassene Insel Hashima (端島) mit ihren Industrieruinen war der ideale Ort, einen Bösewicht zu verstecken. Im echten Leben war die Insel nicht einmal hundert Jahre lang bewohnt. 1890 kaufte die Firma Mitsubishi das karge Eiland vor der Küste von Nagasaki und begann mit dem unterseeischen Abbau von Kohle. Da die Löhne im Vergleich zum Festland recht gut waren, hatten die Betreiber keine Probleme, Arbeitskräfte zu finden, wohl aber, diese samt Familien unterzubringen. Die vier Hektar große Insel wurde sogar auf 6,3 Hektar erweitert.
1917 entstand auf Hashima das erste mehrstöckige Betongebäude Japans, gleichzeitig wurde die Insel auch unterirdisch genutzt. Zu Spitzenzeiten lebten 5200 Menschen in diesem verschachtelten Labyrinth aus Wohnhäusern, Verwaltungsgebäuden, Schulen, Tempeln und Schreinen, sogar ein Schwimmbad und ein Kino gab es. Für die japanischen Bewohner war das Leben vergleichsweise gut. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf Hashima jedoch auch Tausende von koreanischen und chinesischen Zwangsarbeitern verheizt – 1300 von ihnen starben in den Minen. Als Hashima auf die Vorschlagsliste für das UNESCO-Weltkulturerbe gesetzt wurde, war man in Korea und China verständlicherweise wenig begeistert, denn dort steht die Insel nicht für Fortschritt, sondern für die Qualen der Verschleppten.
1974 war schlagartig Schluss mit dem Hashima-Boom: Erdöl hatte die Kohle verdrängt, so dass Mitsubishi den Abbau einstellte, mangels alternativer Arbeitsmöglichkeiten war die Insel innerhalb weniger Tage verlassen. Bizarrerweise ließen die meisten Bewohner einfach alles stehen und liegen, so dass in den Wohnungen bis heute die Möbel verrotten und Bücher verschimmeln. »Zutritt verboten«, hieß es die nächsten 35 Jahre aus Sicherheitsgründen, seit 2009 gibt es jedoch wieder organisierte Touren zur Geisterinsel.
Ihren Namen »Hashima« (Grenzinsel) hat die Insel ihrer Lage zu verdanken, denn von der Küste aus ist sie der letzte sichtbare Außenposten des Landes. Oft wird sie auch Gunkanjima (Kriegsschiffinsel) genannt, denn mit ihrer ovalen Form und den hohen Aufbauten könnte man sie von weitem für ein Schiff halten.
Wenn es so etwas gibt wie eine Osterhasen-Insel, dann ist es diese. Tausende von Hasen hoppeln hier zutraulich über die 1,2 Quadratkilometer große Insel Ōkunoshima (大久野島) in der Seto-Inlandsee nahe Hiroshima, menschliche Bewohner gibt es jedoch keine. Was auf den ersten Blick recht kuschelig wirkt, verbirgt eine düstere Geschichte: Von 1929 bis 1945 produzierte die japanische Armee hier heimlich chemische Waffen, vor allem Giftgas. Die Hasen der Insel sind wahrscheinlich die Nachfahren der Tiere, an denen die Giftgase getestet wurden. Ob es die amerikanischen Soldaten waren, die die Hasen freiließen, oder die Arbeiter der Giftgasfabrik, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Einer anderen Theorie nach sollen es Schulkinder auf einem Klassenausflug gewesen sein, die die Hasen mitbrachten. Seither haben sie sich jedenfalls ordentlich vermehrt.
Im Vergleich zu den genannten verlassenen Inseln ist Gajajima (臥蛇島) geradezu unspektakulär. Die kleine Insel gehört zu den Tokara-Inseln südlich von Kyūshū und war bis in die 1970er Jahre besiedelt, als die letzten Bewohner Gajajima aus wirtschaftlichen Gründen verließen: Der Thunfischfang war einfach nicht mehr ergiebig genug. Geblieben sind allerdings verwilderte Hausziegen, die nun recht glücklich und ungestört über die Insel springen.
Einige verfallene Steingebäude, eine Anlegestelle und ein Brunnen – mehr ist nicht mehr übrig von der ehemaligen Strafgefangenenkolonie auf Tsurushima (鶴島) in der Seto-Inlandsee. Während der letzten Christenverfolgung zu Beginn der Meiji-Ära 1867 wurden hier 117 japanische Christen gefangen gehalten. Als das Religionsverbot schließlich 1873 aufgehoben wurde, durften auch die überlebenden Insassen die Insel verlassen – seither ist sie unbesiedelt.
Miyakejima (三宅島) ist noch nicht oder nur zeitweise verlassen – es wäre jedoch wenig verwunderlich, wenn sie es eines Tages ganz wäre. 2300 Menschen leben auf der Insel 180 Kilometer von Tōkyō entfernt, am Fuße des Vulkans Oyama. Alle 20 Jahre bricht er im Durchschnitt aus – und auch jetzt macht er immer wieder Anstalten dazu. Problematisch sind jedoch nicht nur die Lavamassen, sondern die Gase, die der Vulkan absondert – 42000 Tonnen Schwefeldioxid am Tag! Im September 2000 wurde die Insel nach einigen Eruptionen und Erdbeben vollständig evakuiert, viele Bewohner kehrten jedoch schon 2005 wieder zurück. Seit Jahrzehnten sind die Menschen auf Miyakejima verpflichtet, ständig eine Gasmaske mit sich zu tragen – für den Notfall. Besuchern, vor allem solchen mit Lungenproblemen, empfiehlt die Inselregierung, sich vor dem Besuch ärztlich untersuchen zu lassen. Die Gasmasken gibt es praktischerweise gleich am Kiosk an der Anlegestelle zu kaufen.
Diverse Makler bieten in Japan unbewohnte Inseln an. Sollte Ihnen das Kleingeld in der Tasche brennen, gibt es beispielsweise unter www.aqua-styles.com/island_japan.html eine schöne Auswahl. Teils sind die Eilande schon für wenige tausend Euro zu haben. Um Gas-, Wasser- und Stromanschluss müssen sich die neuen Besitzer allerdings selbst kümmern.
2013 erhob sich nach einer Eruption die Insel Niijima (新島) rund tausend Kilometer südöstlich von Tōkyō aus dem Meer. Das Eiland ist damit nicht nur Japans neuester Zugang, sondern derzeit auch die jüngste Insel der Erde. Obwohl es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis man sich sicher auf ihr aufhalten kann – bisher sprudelt noch immer Lava aus dem Krater –, ist sie seither doch enorm angewachsen. Ihr höchster Punkt misst bereits 100 Meter, und die Nachbarinsel Nishinoshima, die zu Beginn noch 500 Meter entfernt lag, hat sie sich auch schon einverleibt. Ob es bei den rund zwei Quadratkilometern Fläche bleiben wird, ist noch ungewiss. Zum einen fließt noch Lava nach, zum anderen arbeiten die Kräfte der Erosion dagegen. Für Biologen ist die neue Insel eine aufregende Möglichkeit, die Besiedlung durch Leben zu beobachten.
Japan ist eigentlich ein stabiles Land. Politisch, kulturell, sozial … nur tektonisch leider nicht. Rund tausendmal im Jahr wackelt die Erde. Zugegeben, viele dieser Beben sind für den Menschen kaum wahrnehmbar. Doch hier und da ruckelt es ganz ordentlich. Zuletzt am 11. März 2011, als das Tōhoku-Erdbeben, das weltweit drittstärkste, das je gemessen wurde, den Norden der Hauptinsel Honshū teils sage und schreibe um fünf Meter verschob und einen katastrophalen Tsunami auslöste. Und dies war mit Sicherheit nicht das letzte große Beben. Doch warum ist das so?
Dort, wo die japanischen Inseln aus dem Meer ragen, stoßen gleich mehrere tektonische Platten aneinander: die pazifische, die eurasische, die nordamerikanische und die philippinische Platte. Oder genauer gesagt, schiebt sich hier die ozeanische pazifische Platte pro Jahr rund acht bis zehn Zentimeter unter die leichtere, kontinentale Ochotsk-Platte[1], auf der auch Japan liegt, und bildet dabei den Japan-Tiefseegraben. Gleichzeitig stößt von Süden die philippinische Platte spitz in diese Nahtstelle und bewegt sich rund drei Zentimeter nach Norden und taucht gleichzeitig auch unter Südjapan ab. Ein kleines Bruchstück dieser Platte klemmt wahrscheinlich 35 Kilometer unterhalb Tōkyōs zwischen der eurasischen, der pazifischen und der philippinischen Platte. Im Norden dagegen reibt sich die nordamerikanische Platte an der eurasischen und der pazifischen. Ein Blick auf die Satellitenbilder bei Google Maps genügt, um dies auch als Laie mit bloßem Auge zu sehen: Wie Schweißnähte ziehen sich die Kanten der verschiedenen Platten durch den Ozean.
Problematisch ist: Dort, wo sich die Platten aneinander reiben oder abtauchen, verhaken sie sich hin und wieder. So bauen sich Spannungen auf, die sich letztlich mit einem Ruck lösen: dem Erdbeben. Natürlich ist dies eine extrem vereinfachte Darstellung. Ganz nebenbei werden bei diesen Vorgängen auch Gebirge aufgehäuft oder Meeresgräben aufgerissen. Dass hier so viel geschoben und gequetscht wird, ist also überhaupt der Grund, dass Japan existiert, denn im Grunde sind die Inseln nichts anderes als die aus dem Wasser ragenden Gipfel von Gebirgen mit bis zu 13000 Metern Höhe, rechnet man vom Boden des 9000 Meter tiefen Tiefseegrabens aus.
Die Erdbeben selbst, so furchterregend sie sind, hinterlassen meist erstaunlich geringe Schäden, denn in Japan wird in der Regel erdbebensicher gebaut. Weitaus gefährlicher sind die durch die Erdbewegungen verursachten Tsunamis und Erdrutsche. Erstere schlagen naturgemäß an der Küste zu, während Erdrutsche ein typisches Problem der Bergregionen sind. Und davon gibt es in Japan genug, drei Viertel des Landes sind gebirgig. Rund die Hälfte des Terrains hat mehr als 48 Grad Neigung. Kommen Regenfälle und Erdbeben zusammen, kann es schnell passieren, dass die oberen Erdschichten einfach gen Tal rutschen, Häuser und Straßen inklusive.
Geht es nach der japanischen Mythologie, ist es der Riesenwels Ōnamazu (大鯰), der durch seine Schwanzbewegungen die Welt durchschüttelt. Er lebt im Schlamm unter der Erdoberfläche und wird vom Gott Kashima (鹿島) in Schach gehalten.
Mit einer Stärke von 7,9 auf der Richter-Skala und rund 142000 Toten war es zwar nicht das stärkste Erdbeben aller Zeiten, aber die Katastrophe mit den meisten Toten. Der Grund dafür: Es betraf vor allem die Kantō-Ebene mit dem Ballungsraum Tōkyō-Yokohama, eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt.
Rund 10000 Menschen starben an der tödlichen Kombination aus Erdbeben und Tsunami – und das bei einer japanischen Bevölkerung von damals nur rund 30 Millionen. Das Epizentrum lag in der Sagami-Bucht südwestlich von Tōkyō, dem damaligen Edo.
Mit einer Stärke von 8,4 tötete es rund 1500 Menschen und verursachte einen fünf bis sechs Meter hohen Tsunami, der rund 2000 Häuser zerstörte. Das Epizentrum lag im Nankai-Graben.
Trotz seiner Stärke von 8,2 waren nur 52 Opfer zu verzeichnen, was schlicht daran lag, dass es vor der Küste von Aomori im nördlichen Honshū stattfand, einem vergleichsweise dünn besiedelten Gebiet.
Das Erdbeben der Stärke 8,4 verursachte zwar einen Tsunami, traf aber nur die sehr wenig besiedelten Kurilen. Es gab keine Todesopfer.
Auch hier war es nicht das Beben der Stärke 8,4 selbst, das die meisten Schäden hervorrief, sondern der darauffolgende Tsunami. Mit Wellen von bis zu 28 Metern zerstörte er zahlreiche Ortschaften an der Sanriku-Küste im Nordosten von Honshū, 3000 Menschen starben.
Auch dieses Beben erreichte eine Stärke von 8,4, dieses Mal lag das Epizentrum jedoch in Kyūshū. 10000 Menschen starben.
Auch dieses 8,5er-Beben in der Sanriku-Region entfaltete seine tödliche Wirkung nicht direkt, sondern durch den folgenden Tsunami, der 27000 Menschen tötete.
Mit einer Stärke von 8,6 ist dieses Beben im Nankai-Graben das zweitstärkste in der Geschichte. 5000 Menschen verloren ihr Leben.
Das größte je in Japan registrierte Beben (und wahrscheinlich das drittstärkste weltweit) entstand vor der Küste der nordjapanischen Großstadt Sendai und erreichte die Stärke 9,0 auf der Richter-Skala. Am Japangraben rutschten rund 28 Quadratkilometer Meeresboden mit einem Mal in die Tiefe. 29000 Menschen verloren durch den Tsunami dieses Bebens ihr Leben, und die Erdachse kippte um einige Zentimeter!
Jeder japanische Haushalt hat eine (idealerweise feuerfeste) Notfalltasche, die alles enthält, was man im Fall einer Katastrophe zum Überleben braucht. Die Tasche soll so aufbewahrt werden, dass man sie schnell greifen kann, zum Beispiel in der Nähe der Eingangstür. Sie enthält:
Wasser in Flaschen für drei Tage,
ein Taschenmesser,
ein kleines Alarmgerät, das auf Knopfdruck einen lauten Ton von sich gibt,
eine Taschenlampe samt Batterien oder manuell aufladbar,
ein Feuerzeug,
ein Radiogerät samt Batterien oder manuell aufladbar,
einige Gesichtsmasken,
einen Schlafsack,
ein Seil,
einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten,
haltbare Nahrung wie Brot in Dosen, Kekse, Instantnudeln, die man auch ungekocht essen kann, oder Studentenfutter,
eine Isodecke
Feuchttücher,
Lebensmittel in Dosen,
eventuell Hygieneprodukte wie Windeln oder Binden,
Gummihandschuhe,
eine oder mehrere Taschen-Toiletten aus Papier,
Kleingeld, um im Notfall ein öffentliches Telefon benutzen zu können,
Stift und Papier,
Ausweiskopien aller Familienmitglieder.
Natürlich gibt es bereits fertig gefüllte Notfalltaschen zu kaufen: schlicht und funktional oder in der »kawaii«-Ausführung mit Hello Kitty oder anderen goldigen Comicfiguren.
Als Tourist braucht man eigentlich keine Notfalltasche. Es schadet aber nicht, immer genau zu wissen, wo Geld und Ausweispapiere liegen, so dass man sie im Notfall schnell greifen kann. Wer je in einem alten, verwaschenen Nachthemd panisch in die Hotellobby gerannt ist, weil die Erde bebt, lernt einen anständigen Schlafanzug ohne peinliche Muster oder ausgeleierte Gummis zu schätzen. Man weiß ja nie …
Die im Westen verwendete Richter-Skala misst die Kraft des Erdbebens im Epizentrum, also an ihrem Ursprung. Jede Stufe ist dabei zehnmal höher als die vorhergehende. In Japan dagegen wird die JMA-Skala der Japan Meteorological Agency, kurz Shindo-Skala, verwendet (気象庁震度階級, kishō chō shindo kaikyū, kurz Shindo, wörtlich übersetzt »Schüttel-Grad«). Sie reicht von 0 bis 7 und ist eine Intensitätsskala, das heißt, sie richtet sich nach den De-facto-Auswirkungen auf den jeweiligen Ort. Das große Tōhoku-Erdbeben war daher auf der Richter-Skala eine neun, auf der japanischen Shindo-Skala in Sendai »nur« eine sieben und in Tōkyō fünf plus. Je weiter entfernt vom Epizentrum, desto geringer der Shindo-Wert.
Shindo 0–1
Gar nicht oder kaum wahrnehmbar.
Shindo 2
Für manche Menschen wahrnehmbar.
Shindo 3
Für fast alle Menschen wahrnehmbar, das Geschirr klirrt im Regal, Gebäude können leicht schwanken.
Shindo 4
Schlafende erwachen in der Regel, auch Autofahrer bemerken das Erdbeben, leichte Gegenstände fallen um, Gebäude schwanken.
Shindo 5 schwach
Geschirr und Bücher können aus dem Regal fallen, teils zerbrechen Fensterscheiben, manchmal entstehen Straßenschäden, kleinere Erdrutsche.
Shindo 5 stark
Geschirr und Bücher fallen aus dem Regal, schwere Möbel können umfallen, manchmal verzogene Türen, schwach erdbebengeschützte Häuser bekommen Schlagseite, kleinere Bergrutsche möglich.
Shindo 6 schwach
Man kann kaum stehen, viele Türen lassen sich nicht mehr öffnen, auch größere schwach erdbeben-geschützte Häuser können einstürzen, manchmal Erdrutsche.
Shindo 6 stark
Menschen können nicht mehr stehen, viele schwach erdbeben-geschützte Häuser stürzen ein, größere Erdrutsche möglich, auch gut erdbebengeschützte Häuser können Schäden aufweisen.
Shindo 7 stark
Menschen fallen um, Möbel fliegen durch die Wohnung, sogar erdbebensichere Häuser werden geschädigt, substantielle Erdrutsche, Gas-, Wasser- und Stromausfall.
Parallel gibt es auch noch die Momentum-Magnituden-Skala, die der japanische Erdbebenforscher Hirō Kanamori 1977 aufstellte. Ihr theoretisch höchster Wert liegt bei 10,6 – an diesem Punkt würde die Erde auseinanderbrechen. Die Werte dieser Skala basieren auf komplizierten Berechnungen, genauer gesagt dem »Skalarprodukt aus der Größe der Bruchfläche im Untergrund, der mittleren Verschiebung der Gesteinsblöcke und dem Schermodul des Gesteins«, so die offizielle Definition. Falls Sie dies nicht verstehen, müssen Sie sich übrigens keine Sorgen machen.
Dass auch große Erdbeben oft nur geringe Schäden verursachen, hat nicht nur mit der Bauweise zu tun, sondern auch mit einer intensiven Vorbereitung der Menschen. Im Notfall weiß jeder, vom Grundschüler bis zum technischen Helfer, was zu tun ist:
Schüler, Studenten und Belegschaften müssen regelmäßig an Notfallübungen teilnehmen.
Es gibt genaue Krisenpläne für alle Behörden, Verwaltungen, Hilfsorganisationen und das Militär.
Via öffentliche Lautsprecher wird vor Tsunamis gewarnt, Medien, Telefongesellschaften und Smartphone-Apps verbreiten genaue Informationen.
Gasleitungen verfügen in Japan über Sensoren, die das System bei Erdbewegungen sofort abschalten.
Alle neuen Gebäude müssen erdbebensicher gebaut werden.
Die Küsten Japans sind mit Deichen gesichert, für die bis zu 23 Meter hohe Flutwelle waren sie jedoch zu niedrig. Mit einer Stärke von 9 auf der Richter-Skala sprengte das Tōhoku-Erdbeben alle Vorstellungen. Die allgemeine Tsunami-Warnung über öffentliche Lautsprecher erreichte zwar viele Menschen, doch nicht jedem gelang es, rechtzeitig höhere Gebiete zu erreichen. Interessanterweise waren die Schäden durch das Erdbeben überschaubar. Es war der Tsunami, der die vielen Todesopfer verursachte.
Moderne Bauten sind selbstverständlich erdbebensicher gebaut und widerstehen auch extremen Erdbewegungen. Die Technik, die dabei verwendet wird, ist unterschiedlich, wie man am Beispiel von Hotelbauten gut erkennen kann: So ruht beispielsweise das Fundament des vierundzwanzigstöckigen Peninsula Hotel Tōkyō auf vier großen Kugeln, die seitliche Erdbewegungen ausgleichen und damit das Hotel vor zu großen Schwankungen bewahren. Gleichzeitig sorgen große Stoßdämpfer dafür, dass vertikale Stöße abgefedert werden. Das Gebäude reagiert also als Ganzes auf eventuelle Bewegungen.
Völlig anders zeigt sich die Lösung des Westin Hotels Sendai: Hier hat man auf die Flexibilität des Gebäudes gesetzt. Sämtliche Bauelemente sind in sich verschiebbar. Seitliche Bewegungsimpulse werden, vereinfacht gesprochen, dadurch ausgeglichen, dass sich die Stockwerke und einzelne Mauerteile gegeneinander verschieben oder verbiegen. Zusätzlich sorgt eine große Kugel am Dach des Hotels für Ausgleich. Erfolgreich – denn den großen Stresstest hat das Westin bereits hinter sich: Während des Tōhoku-Erdbebens 2011 blieb das Gebäude völlig unversehrt.