Jeder Mensch ist eine Insel - Wolfgang Pennwieser - E-Book

Jeder Mensch ist eine Insel E-Book

Wolfgang Pennwieser

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Beschreibung

"Paranoide Schizophrenie" lautet Wallners Diagnose bei seiner Einlieferung in die Psychiatrie. Als die Gesprächstherapie scheitert, wird eine junge Kunsttherapeutin auf ihn aufmerksam. Sie fördert sein bildnerisches Talent und der Außenseiter Wallner wird in der Kunstwelt erfolgreich. Mit Wallners Geschichte erzählt Wolfgang Pennwieser die Entwicklung der Art brut, einer Kunstform von Menschen am Rand der Gesellschaft. In der Kleingartensiedlung, in der Wallner lebt, ist er ein Dorn im Auge seiner Nachbarn, die ihn regelmäßig bei der Polizei anzeigen. Denn Wallner entkommt seiner Wahnwelt, indem er die für ihn bedrohlichen Gegenstände bemalt. Sein eigenes Wohnzimmer wird ebenso angestrichen wie Bäume im Garten oder Mistkübel auf der Straße. Wallners Therapeutin und ein Kunstgalerist jedoch erkennen sein Talent und fördern ihn und seine Kunst – nicht zuletzt auch für ihre eigenen Karrieren. Ein einfühlsamer Roman über die Diskriminierung und Einsamkeit psychisch kranker Menschen, aber auch über die Hoffnung, dass durch einen Perspektivenwechsel Veränderung und Wachstum möglich sind.

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Seitenzahl: 209

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Wolfgang Pennwieser

JEDER MENSCH IST EINE INSEL

Roman

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Pennwieser, Wolfgang: Jeder Mensch ist eine Insel / Wolfgang Pennwieser

Wien: Czernin Verlag 2021

ISBN: 978-3-7076-0738-3

© 2021 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Joe Rabl

Autorinnenfoto: Katharina R.-Fröschl

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

Druck: GGP Media GmbH

ISBN Print: 978-3-7076-0738-3

ISBN E-Book: 978-3-7076-0739-0

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

»Rot sind manche Blaue Blätter.«

ERNST HERBECK

Die Stimmen sind laut, lauter als gestern. Wallner sitzt im Wohnzimmersessel, vor dem Kleingartenhaus versammeln sich die Menschen rund um zwei kaputte Elektrogeräte. Ein Fernseher und ein Radio liegen auf der Straße, Wallner hat sie aus dem Fenster geworfen, es hat an seiner Situation jedoch nichts verändert. Weiterhin sagen die Stimmen zu ihm: »Irmtraud Wallner ist heute gegen 7:30 Uhr tödlich verunglückt. Sie wollte mit ihrem Fahrrad die Straße überqueren und wurde von einem Autobus erfasst. Vermutlich konnte der Busfahrer die Pensionistin, von der tiefstehenden Sonne geblendet, nicht sehen.«

In den Fernsehnachrichten wurden dieselben Bilder wie zu den 13-Uhr-Nachrichten gezeigt, es war der gleiche Beitrag. Wallner ging daraufhin in die Küche und schaltete auch dort den Fernsehapparat ein, er wollte überprüfen, ob sich die Meldungen glichen. Kurz darauf warf er das Gerät aus dem Fenster. Die Berichte hörte er weiter und so flog das Radio hinterher, die Stimmen lachten ihn dafür aus. Wallner wusste, dass er nicht auch noch seinen Wohnzimmerfernseher hinauswerfen musste, die Stimmen würden bleiben.

Wallners Mutter ist schon lange tot. Vor knapp sechsundzwanzig Jahren ist sie an den Folgen von Brustkrebs, der Metastasen entwickelt und sich in der Lunge, in der Leber und zuletzt im Gehirn angesiedelt hatte, gestorben. Wallner wurde danach krank und ist bis heute nicht geheilt. Er hat gute Zeiten erlebt mit seiner Erkrankung, ohne die er nicht weltberühmt geworden wäre. Im Moment ist Wallner mit den Stimmen beschäftigt, genau genommen wird er von den Stimmen beschäftigt. Vor sechsundzwanzig Jahren forderten sie ihn auf, Dinge zu tun, die er nicht wollte, beinahe hätte er damals dem Gemeindearzt eine Bierflasche über den Schädel geschlagen, er konnte sich kaum noch zurückhalten. Viele Wochen verbrachte er danach im Krankenhaus, die Nachbarn vermuteten, dass Wallner nie wieder aus dem Spital herauskommen würde, und überlegten, wie sie sein Grundstück untereinander aufteilen könnten. Doch Wallner ist wieder nach Hause gekommen, mit der Rettung wurde er heimgebracht und alle in der Siedlung waren sich sicher: Es wird nicht lange gutgehen.

Das ist nun über zwanzig Jahre her, inzwischen steht die Rettung wieder vor Wallners Haus und ein Sanitäter klopft gegen die Tür. Wallner hört das Klopfen nur dumpf und weit entfernt, er sitzt in seinem Fernsehsessel und verfolgt erneut die Nachrichten: »Irmtraud Wallner ist heute gegen 7:30 Uhr tödlich verunglückt. Sie wollte mit ihrem Fahrrad die Straße überqueren und wurde von einem Autobus erfasst. Vermutlich konnte der Busfahrer die Pensionistin, von der tiefstehenden Sonne geblendet, nicht sehen.« Im Fernsehen werden wieder dieselben Bilder wie zu den 13-Uhr-Nachrichten gezeigt, es ist der gleiche Beitrag. Wallner schleicht in die Küche und will auch dort den Fernseher aufdrehen, doch der Apparat befindet sich nicht an seinem gewohnten Platz. Der Fernseher ist verschwunden, außerdem ist das Radio weg, auf der Kommode sitzt stattdessen eine Amsel und hält eine Ameise im Schnabel.

Das hat nichts mit dir zu tun, denkt er. Er weiß, dass die Berichte nicht stimmen können. Er weiß, dass es sich bei Irmtraud Wallner nicht um seine Mutter handelt, obwohl die Nachrichtensprecherin sagt: »Ihr Sohn ist nun ein Waisenkind.« Er weiß, dass sie das nicht sagen würde, trotzdem hört er es, trotzdem sieht er es auf dem Bildschirm und es macht ihm Angst. Wenn der Bericht nun doch wahr ist? Vielleicht hat er sich den Tod seiner Mutter eingebildet, womöglich sind die Nachrichten für ihn gemacht worden, um ihn wahnsinnig zu machen? Vielleicht stecken die Nachbarn dahinter, die ihn manipulieren wollen? In den vergangenen Jahren versuchten die Nachbarn tatsächlich, ihn zu vertreiben, und haben ihn mehrmals angezeigt, sie bedrängten den Bürgermeister, mit Wallner endlich »abzufahren«. Es sei eine Zumutung, mit einem wie dem Wallner zu leben. Unverschämt, dass er, der Bürgermeister, nicht schon lange was unternommen habe, sagten sie. Man könne die Kinder nicht allein aus dem Haus lassen, wenn so einer in deiner Nähe wohnt. Es sei das ganze Leben nichts wert mit einem Nachbarn wie dem Wallner. Der Empörung voran schritt die Vis-à-vis-Nachbarin im Hauskleid, die Wallner seit Jahren beobachtete und fotografierte. Zwei dicke Ordner hatte sie inzwischen gesammelt, mit Bildern, die zeigen, wie er Bäume oder Mülltonnen bemalt. Damit begann er nach der ersten Krankenhauseinweisung, der Bürgermeister sagte dazu: »Es ist doch nichts Schlimmes passiert« und »Wallner ist ein eigenartiger, aber friedlicher Mensch.« Er stand zu Wallner und sicherte ihm zu: »Solange ich Bürgermeister bin, wirst du, lieber Wallner, immer in deinem Schrebergartenhaus wohnen dürfen und ich werde noch sehr lange Bürgermeister sein.« Wallner hat von diesem Zeitpunkt an die Bürgermeisterpartei gewählt, obwohl er eigentlich ein Roter ist. Er überlegt, in seinem Fernsehsessel sitzend, ob der Bürgermeister noch lebt. Vorgestern hat er ihn im Gastgarten des Kirchenwirts gesehen, mit einem Weinglas hat er ihm über den Wirtshausgartenzaun zugeprostet. Vergnügt und gesund hat er gewirkt, glaubt Wallner sich zu erinnern.

Seit zehn Minuten steht das Einsatzfahrzeug des Roten Kreuzes mittlerweile vor Wallners Haus. Das Blaulicht zieht seine Kreise, trifft auf die Hauswand und für Sekundenbruchteile auf die Tapete in Wallners Wohnzimmer. Die Tapete wurde von Wallner in den vergangenen Jahren dutzende Male übermalt, aktuell zeigt sie ein florales Panorama mit verschiedenen Pflanzenarten und Vögeln, vor allem Illustrationen von Amseln und Spechten. Die Sanitäter spähen durch das Fenster der an der Straßenseite gelegenen Küche, klopfen gegen die Scheibe und sehen, wie Wallner vor dem Wohnzimmerfenster steht, denn durch das Küchenfenster ist das Wohnzimmer teilweise einsehbar. Wallner reagiert nicht auf das Klopfen, er starrt in den Garten und kann nicht zuordnen, woher der helle Laut kommt. Zunächst will er es ignorieren, doch dann beginnt er nach der Herkunft des Geräuschs zu suchen und entdeckt eine Amsel, die auf dem Fensterbrett sitzt und mit einem beherzten Sprung auf den Rasen übersetzt. Wallner beobachtet die Amsel, während der Sanitäter weiter hartnäckig gegen das Küchenfenster trommelt, doch Wallner beschäftigt sich nur mit der Amsel, die nun über die Wiese hoppelt. An ihrem orangen Schnabel und dem schwarzen Gefieder erkennt er, dass es ein Männchen ist, offensichtlich auf der Suche nach Essbarem. Es freut sich auf einen Regenwurm, eine Ameise oder einen Tausendfüßler, die es seinen hungrigen Jungen bringen kann. In der Hecke in Wallners Garten hat das Amselpärchen ihr Nest gebaut, vier Küken warten dort ungeduldig auf Futter. Vor drei Tagen sind sie geschlüpft und müssen nun versorgt werden. Die Amsel bemerkt nicht, dass Wallner ihr vom Wohnzimmerfenster aus bei der Nahrungssuche zusieht. Es hätte sie nicht gestört, Wallner ist für sie ungefährlich, er ist ihr noch nie zu nahe gekommen und lässt sie in seinem Garten in Ruhe leben. Besonders in den letzten Wochen herrschte eine friedliche Stille, das Amselpärchen konnte sich ungestört auf die Ankunft des Nachwuchses vorbereiten. »Die Männchen sind faul«, meinte Wallners Mutter einmal, als sie erklärte, dass nur die Weibchen das Nest bauen. »Die Weibchen arbeiten und die Männchen sehen ihnen dabei zu. Bei den Amseln ist es wie bei den Menschen, die Frauen werden von den Männern ausgenutzt.« Wallner wusste nicht, was er davon halten sollte, er mochte den Gesang der Amseln und in der Schule hatte man ihm beigebracht, dass Tiere aus Instinkt handeln, nicht aus böser Absicht. Während sich die Amsel weiter mit der Nahrungssuche beschäftigt, hat Wallner vergessen, weshalb er vom Wohnzimmersessel aufgestanden war. Die Sanitäter stellen ihr Klopfen ein, sie haben genug gesehen, Wallner ist weder tot, noch hat er einen Schlaganfall erlitten. Soweit sie es aus der Ferne beurteilen können, sind Wallners physische Funktionen in Ordnung. Alle vier Extremitäten werden bewegt, er kann das Gleichgewicht halten und selbstständig stehen. Auffallend an ihm ist, dass er seltsam abwesend und verloren wirkt, das wollen sie dem Gemeindearzt berichten, den sie jetzt verständigen. Er wird in einer halben Stunde hier sein, meint der Mediziner am Telefon. Die Vis-à-vis-Nachbarin im Hauskleid ist mit dem Eintreffen der Rettungskräfte aus ihrem Haus gekommen und sagt, der Gemeindearzt habe einen »guten Draht« zu Wallner, die Idee, Dr. Malik zu verständigen, stamme von ihr. Wallner, der inzwischen wieder im Wohnzimmersessel vor dem Fernseher sitzt, hört weiter die Nachrichten. In fünf Minuten wird der Fahrer des Rettungswagens das Blaulicht ausschalten, der Einsatz wird noch länger dauern, vermutet er.

Bereits zwanzig Minuten nach dem Telefonat mit dem Sanitäter, gegen 16 Uhr, trifft der Gemeindearzt in der Kleingartensiedlung ein, er kommt mit Blaulicht angefahren. Die Warnleuchte hält mithilfe eines Magneten wie durch Zauberei auf dem Autodach, ein schwarzes Kabel führt durch eine spaltbreite Öffnung des Seitenfensters in den Fahrzeuginnenraum und ist dort mit dem Zigarettenanzünder verbunden. Umständlich demontiert Malik das Blaulicht und verstaut es auf dem Rücksitz seines Kombis. Der Arzt ist ein großer hagerer Mann mit fast weißem Haarkranz. Seit seiner Tätigkeit als Hausarzt lebt er allein in einer kargen, von der Gemeinde kostenlos zur Verfügung gestellten Wohnung. An einer Partnerschaft zeigte er kein Interesse, Angebote von einheimischen Frauen gab es einige, wurden von ihm aber allesamt ausgeschlagen, was Spekulationen über seine sexuelle Orientierung hervorrief. Nach einigen Jahren zerstreuten sich diese, der Arzt sei mit seinem Beruf verheiratet, resümierten die Dorfbewohner und akzeptierten den Umstand seiner Beziehungslosigkeit. Grußlos begegnet er den Rettungssanitätern und erkundigt sich, was vorgefallen ist. »Wallner hat Sachen aus dem Fenster geworfen«, sagt die Vis-à-vis-Nachbarin im Hauskleid, noch ehe die Sanitäter antworten können. »Der Wahnsinnige hat sein Radio und den Fernseher auf die Straße geschmissen«, sagt sie und spitzt dabei ihren Mund. »Durch das offene oder das geschlossene Fenster?«, fragt der Arzt. Erbost meint sie, er soll seine Witze lassen. »Herr Doktor, wenn Sie ihn heute wieder nicht einweisen, dann reicht es uns!« Der Arzt weiß, dass Wallner nach einem solchen Vorfall zumindest für einige Tage in die Psychiatrie gehen sollte, um den Nachbarschaftskonflikt nicht weiter eskalieren zu lassen. Er weiß auch, dass das nicht leicht werden wird. Bei der ersten Einweisung benötigte er die Unterstützung der Polizei, Wallner wurde schließlich in Begleitung von mehreren Einsatzkräften ins Krankenhaus eingeliefert. Später erzählte Wallner dem Gemeindearzt, warum er sich so ungewöhnlich verhalten hatte, er dachte, man würde ihn umbringen und ihm die Eingeweide herausschneiden. Dr. Malik schloss daraufhin mit Wallner eine Vereinbarung: »Falls es einmal wieder so weit kommen sollte und Sie ins Krankenhaus gebracht werden müssen, sorge ich dafür, dass Ihnen nichts geschieht. Ich werde Sie persönlich im Krankenwagen begleiten und auf Sie aufpassen. Sie werden versuchen, sich an unsere Abmachung zu erinnern und mir zu vertrauen«, sagte er eindringlich. »Ich werde es versuchen«, sagte Wallner und reichte ihm die Hand, um das Abkommen zu besiegeln. Seither hat ihr Übereinkommen meistens gehalten, Wallner ließ sich bei den ersten Anzeichen einer psychischen Verschlechterung mit gutem Zureden von Dr. Malik auf die Psychiatrie bringen, ohne Polizei, meist mit dem PKW des Arztes. Heute wird ihre Vereinbarung bedeutungslos sein, vermutet der Arzt, einen Fernseher hat Wallner bislang noch nie aus dem Fenster geworfen, weder durch ein offenes noch durch ein geschlossenes.

Inzwischen hat sich die Menschenansammlung vor Wallners Haus vergrößert, die Nachbarn kommen, angelockt vom Blaulicht, und sind bereit, sich zu empören. Mit dem heutigen Vorfall eröffnet sich für die Siedlergemeinschaft eine neue Chance, den jahrelangen Konflikt doch noch zu gewinnen und Wallner loszuwerden, die Stimmung ist angespannt. Obgleich die Aufregung um Wallner in den letzten Jahren weniger geworden ist, sieht man ihn weiterhin als Störenfried, manch einer denkt, er sei eine tickende Zeitbombe. Malik erkundigt sich unter den Anwesenden nach weiteren Hinweisen, doch viel mehr als die Information, dass Wallner seit einer Woche nicht mehr auf der Straße zu sehen war, lässt sich nicht herausfinden. Von außen wirkt das Haus wie immer, die zur Straße gelegenen Fenster sind unversehrt und geschlossen. Der Arzt will zu seinem Patienten ins Haus gehen, um mit ihm zu reden, da die Haustür versperrt ist, klopft auch er an die Scheibe des Küchenfensters. Seit sechsundzwanzig Jahren kennt er Wallner nun, bei der Übernahme der Praxis wurde ihm Wallner von seinem Vorgänger so vorgestellt: »Der Bub ist eigenartig, ein Einzelgänger, er lebt in seiner eigenen Welt und wirkt immer abwesend.« Malik ahnte damals nicht, dass Wallner eine seiner größten beruflichen Herausforderungen sein würde, ihn als Arzt zu betreuen, war anstrengend und befriedigend gleichermaßen. Es gab Phasen, in denen Wallner in einem fort Bilder produzierte, tagelang malte und übermalte. Wiederkehrende Darstellungen von Vögeln, Ameisen, Schlangen, Sonnen, Sternen, Bäumen und Menschen. Er malte nicht nur in seinem Haus und in seinem Garten, sondern auch im öffentlichen Raum, sehr zum Missfallen der Siedlungsgemeinschaft. Als Wallner erstmals den Grünschnittcontainer anstrich, zeigte ihn der Obmann des Kleingartenvereins bei der Polizei an. Dank einer Intervention des Bürgermeisters wurde die Angelegenheit fallen gelassen. Über seinen Großcousin erfuhr das Gemeindeoberhaupt, dass die Kleingartenbewohner einen Aufstand gegen Wallner planten. Der Großcousin war Vorsitzender der Streitschlichtungsstelle des Kleingartenvereins und befasste sich mit der Containerangelegenheit. Von den Kleingärtnern wurde er dahingehend unter Druck gesetzt, kein Streitschlichtungsverfahren einzuleiten und stattdessen eine Ausstiegsklausel aus dem Pachtvertrag zur Anwendung zu bringen, was zur Folge gehabt hätte, dass Wallner die Anlage zu verlassen gehabt hätte. Falls der Großcousin den Ausschluss Wallners aus der Kleingartensiedlung nicht vorantreibe, wäre er die Position des Vorsitzenden der Streitschlichtungsstelle los und würde damit das Recht auf einen ermäßigten Pachtzins und einen eigenen Parkplatz verlieren. Als der Bürgermeister von diesen Machenschaften erfuhr, redete er seinem Großcousin ins Gewissen. »Ihr werdet doch den Wallner nicht aus der Siedlung werfen, nur weil er drei Vögel und ein paar Sterne auf euren Grünschnittcontainer gemalt hat. Wie deppert seid ihr eigentlich!« Das Ganze fand im Rahmen einer Familienfeier im Festsaal des Kirchenwirts statt. Der Bürgermeister hatte extra auf diesen Anlass gewartet, er redete laut, sodass alle Anwesenden ihn hören konnten, und wiederholte seine Sätze mehrfach. »Sozialen Druck aufbauen«, antwortete er am Abend seiner Frau, als diese wissen wollte, warum er heute so aufgeregt gewesen war, es sei sonst nicht seine Art. Die Intervention verfehlte ihre Wirkung nicht, die Anzeige wurde zurückgezogen und der Streit vorerst beigelegt. Wallner erfuhr von all dem nichts, ihm war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst, welchen Ärger er mit seiner Malerei bei den Nachbarn auslöste.

Der Friede hielt aber nicht lange, erneut kam es zu Drohungen, Wallner aus der Siedlung zu werfen. Weshalb der Bürgermeister beschloss, mit Wallner zu reden und ihn zu bitten, seine künstlerischen Aktivitäten im öffentlichen Raum einzustellen. Er schlug ihm vor, die Wände im Innenhof der Volksschule anzumalen, gemeinsam mit den Volksschulkindern könnte er diese frei nach seinem Willen gestalten. Doch Wallner nahm das Angebot nicht an, er bemale die Gegenstände nicht, er nehme ihnen das Unheimliche, antwortete er. Was der Bürgermeister nicht wusste, war, dass Wallner den Grünschnittcontainer deshalb bemalte, weil darin ein Dämon hauste, der durch den Anstrich des Behälters verschwand, Dämonen mögen keine Farben, wusste Wallner. Die Wirkung hielt aber nicht dauerhaft und Wallner musste den Container immer wieder aufs Neue übermalen. Ebenso verhielt es sich mit Bäumen, in deren Ästen er Gestalten sitzen sah, die scheußliche Fratzen zogen. Dem Bürgermeister war nach dem Gespräch mit Wallner klar, dass er ihn nicht davon abhalten würde können, weiterhin Gegenstände in der Siedlung zu bemalen, da Wallner offensichtlich verrückt war und die Sachen nicht aus Freude bestrich. Um des lieben Friedens willen musste der Bürgermeister die Siedlungsbewohner bestechen, er wollte ihnen nicht die Wahrheit über ihren Nachbarn erzählen, einem Kleingärtner ist die Wahrheit nicht zumutbar. Obgleich jeder wusste, dass mit Wallner etwas nicht stimmte, er hatte sich einige Monate nach dem Tod seiner Mutter im Haus verschanzt, die Fenster vernagelt und musste für längere Zeit in der Psychiatrie behandelt werden, dennoch dachten die Nachbarn, Wallner wäre nur ein Eigenbrötler. Der Bürgermeister wusste, dass die Kleingärtner zwar mit einem solchen Nachbarn leben könnten, nicht aber mit einem harmlosen psychisch Kranken. Bei einem Treffen mit dem Kleingartenvereinsvorstand schlug er vor, einen neuen Spielplatz zu errichten und die Anbindung der Postbuslinie an die Siedlung zu veranlassen. Im Gegenzug dazu stellte er den Kleingärtnern einige Forderungen, die für sie leicht zu erfüllen waren, und verlangte, dass sie Wallner in Zukunft in Ruhe ließen, denn dieser werde immer wieder Dinge anmalen, er sei aber kein böser Mensch. Der Obmann willigte ein und die Siedlergemeinschaft ließ sich zunächst besänftigen.

Als Wallners Kunst Bekanntheit erlangte und erste Journalisten in der Siedlung auftauchten, um den Grünschnittcontainer zu fotografieren, und ehrfurchtsvoll die bemalten Mülltonnen betrachteten, kam es zur Spaltung der Kleingartenbewohnerseele. Zum einen war man stolz auf Wallners Erfolg und schrieb sich Teile dessen selbst zu. Andererseits passte jemand wie Wallner nicht zu ihnen, man liebte Recht und Ordnung, das normale Leben, ohne Aufregung. Die schönste Unterhaltung war der alltägliche Tratsch, das Zusammenkommen mit der Familie an Sonntagen, der Besuch von Sportveranstaltungen und das Fernsehprogramm am Feierabend. Man grillte gerne, wobei sich die Grillgeräte im Lauf der Jahrzehnte veränderten, galt der selbst gemauerte Ziegelgriller zunächst als das Maß aller Dinge, wurde dieser im Laufe der Jahre vom Kugelgrill und zuletzt vom Gasgriller abgelöst. Wichtig waren eine exakt geschnittene Hecke und vor allem Sauberkeit, es sollte ordentlich aufgeräumt sein im eigenen Garten und in der gesamten Anlage. Darüber herrschte unter den Bewohnern Einigkeit, so stand es in der Siedlungsordnung, in den Vereinsstatuten und auf den Hinweistafeln, die an allen Eingängen zur Siedlung angebracht waren. Es galt, Gehwege in der Anlage frei zu halten, bei Schneefall zu räumen, bei Glatteis zu streuen und Hunde waren ausnahmslos an der Leine zu führen. Der Grünschnitt musste in dem dafür vorgesehenen orangen Grünschnittcontainer entsorgt werden, wenn dieser voll war, hatte man bis zur nächsten Entleerung zu warten, die einmal wöchentlich am Dienstag stattfand. Zur Grünschnittzeit im Herbst standen manche Bewohner dafür um fünf Uhr morgens auf, um nach der Containerentleerung durch den Gemeindearbeiter das Hackgut, den Grünschnitt und das zusammengerechte Laub in den leeren Behälter zu kippen. Sie freuten sich bei dieser Arbeit wie die Kinder und hatten das Gefühl, etwas Bedeutsames zu erledigen. Im Leben eines Kleingartenbesitzers hatten Dinge ihren fixen Platz, der Hammer kam in die Werkzeugkiste, der Rasenmäher in den Geräteschuppen und der Gartenschlauch war an der Wandhalterung aus wetterbeständigem Kunststoff aufgerollt. War alles verstaut und geordnet, stellte sich ein Gefühl der Ruhe und der Vollständigkeit ein. Die Menschen waren grundsätzlich friedfertig und misstrauisch Fremden gegenüber. Sie waren nicht verlegen, unbekannte Personen, die sich in der Siedlung aufhielten, anzusprechen, wobei die Frage, wohin der Fremde eigentlich wolle, ebenso gestellt wurde wie jene, wie lange der Wagen den Parkplatz noch besetzen würde. Die Autoabstellplätze rund um die Anlage waren rar und Besitzstörungsklagen schnell ausgesprochen.

Der Gemeindearzt steht vor dem Küchenfenster und ruft: »Wallner, ich bin es. Wallner, was ist los? Warum liegen der Fernseher und das Radio auf der Straße?« Die versammelten Nachbarn stellen ihre Gespräche ein und lauschen, sie drehen ihre Ohren in Richtung des wallnerschen Hauses und nicken sich bedeutungsschwanger zu. Dr. Malik klopft an die Haustür. »Wallner, machen Sie doch die Tür auf. Erinnern Sie sich, was wir ausgemacht haben? Lassen Sie mich rein.« Doch aus dem Haus kommt keine Antwort.

Dr. Malik geht wieder zum Küchenfenster. Die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche hat Wallner nach dem Tod seiner Mutter aus den Angeln gehoben, er wolle mehr Raumgefühl haben, rechtfertigte er sich vor der Verstorbenen. Das Raumgefühl ist gut für mein Gehirngefühl, meinte Wallner. Vom Garten aus lässt sich das Wohnzimmer gut einsehen, von der Straße gibt es jedoch keinen direkten Zugang. Der Garten ist zur Straße hin durch eine Thujenhecke getrennt, zu allen anderen Seiten wurden von den Grundstücksnachbarn hohe Zäune errichtet, die über das gesetzliche Maß von eineinhalb Metern hinausragen, man kam mit dem Obmann des Kleingartenvereins darin überein, die Mauern höher zu ziehen als erlaubt. »Wo kein Kläger, da kein Richter«, war das Motto der Abmachung. Bei seiner ersten Einweisung drangen die Einsatzkräfte sowohl über die Haustür als auch über den Garten in das Haus ein. Man befürchtete, Wallner würde fliehen, doch er hatte nicht vorgehabt zu fliehen, er wusste, dass es sinnlos gewesen wäre. Der Arzt formt mit seinen Händen einen Tunnel zwischen der Fensterscheibe und seinem Auge, um das blendende Sonnenlicht abzuschirmen. Wie durch ein Fernrohr lugt er durch die Röhre seiner Hände ins Haus. Er sieht, dass die Kühlschranktür einen Spalt offen steht und sich auf dem Esstisch und der Kommode schmutziges Geschirr stapelt. Eine Elektrokochplatte und eine Spüle bilden die schmale Küchenzeile, auf der noch ein Mikrowellenherd Platz findet, überall liegen Verpackungen von Fertigmenüs. Malik kann durch das Handfernrohr Wallners Füße, die nackten Unterschenkel und einen Teil des olivgrünen Wohnzimmersessels, auf dem Wallner sitzt, erkennen, der restliche Körper verbirgt sich hinter der Wand, die die Küche vom Wohnzimmer trennt. Wallners Gesicht ist für Malik nicht zu sehen, so kann der Arzt nicht erkennen, dass sein Patient entgeistert in Richtung des Fernsehers blickt. Dr. Malik klopft jetzt kräftig ans Fenster. »Lassen Sie mich rein. Lassen Sie uns reden«, ruft er erneut, doch Wallner konzentriert sich auf die Nachrichtensprecherin. »Das Unglück ereignete sich, als die Pensionistin Irmtraud W. mit ihrem Rad die Straße überqueren wollte. Sie wurde dabei von einem Postbus erfasst. Noch an der Unfallstelle erlag sie ihren schweren Kopfverletzungen. Der Busfahrer hatte die Pensionistin aufgrund der tiefstehenden Morgensonne nicht gesehen. Die Verunglückte hinterlässt einen Sohn, der nun im Wohnzimmersessel sitzt und eine Bierflasche in der Hand hält. Die andere Hand hat er in der Hose, diese soll das Schwein gefälligst rausnehmen. Mit dem Penis spielen anständige Kinder nicht, erst recht nicht, nachdem ihre Mutter verunglückt ist.« Wallner zieht reflexartig seine linke Hand aus der Hose und legt sie brav auf der Armlehne ab. Skeptisch betrachtet er den ausgeschalteten Fernsehapparat, dessen Standby-Lämpchen ihm rot entgegenleuchtet, wie zum Beweis, dass die Stimme nicht von ihm ist. Ob die Meldung aus der Steckdose kommt? Er weiß, dass das unmöglich ist, andererseits kamen Stimmen schon einmal hinter der Fußleiste hervor.

Als in Tschernobyl das Atomkraftwerk brannte, machte Wallner noch immer in die Hose, seine Einschulung war an seiner Inkontinenz gescheitert. In der zweiten, spätestens ab der dritten Unterrichtsstunde waren seine Hosen nass. Die ersten Tage schickte ihn die Lehrerin nach Hause, in der zweiten Woche meinte sie, es habe keinen Sinn, er brauche noch ein Jahr zur Entwicklung. An Wallners siebentem Geburtstag explodierte der Reaktorblock vier des sowjetischen Kernkraftwerks, was in Österreich niemand wusste, erst Tage später sollte die Meldung das Land erreichen. Wallner und seine Mutter gingen an diesem 26. April 1986 gemeinsam aufs Grab der Großmutter, er durfte sich am Heimweg ein Eis aussuchen und entschied sich für ein Twinni. Er aß zuerst den orangen und danach den grünen, nach Birne schmeckenden Teil, diesen hatte er am liebsten. Den dünnen Schokoladenüberzug an der Spitze knabberte er vorsichtig ab, wie so oft fiel ihm dabei die Schokolade auf die Hose und den Boden. Die Mutter schimpfte ihn einen Tollpatsch: »Was wird aus dir werden, wenn du nicht einmal ein Eis essen kannst!« Wallner hatte seine Mutter nicht gefragt, ob er Freunde zu seinem Geburtstag einladen dürfe, er hätte nicht gewusst, wen. Geburtstagsfeiern gab es in Wallners Kindheit ebenso nicht wie Besuche von anderen Kindern, Wallner wuchs allein mit seiner Mutter auf. Der Schulbesuch war die erste Möglichkeit, Gleichaltrige zu treffen, doch Wallner hatte keine Idee, wie er das Einnässen in den Griff bekommen konnte. Die Mutter setzte ihn mitsamt der nassen Kleidung auf den Ofen und drehte die Herdplatte auf, es war ihre Methode, es ihm abzugewöhnen. Wallner musste so lange sitzen bleiben, bis er vor Schmerzen schrie und der Mutter schwor, sich zu bessern, erst dann wurde er runtergelassen. Wenn sich Wallner einkotete, was seltener vorkam, musste er die Unterhose mit seinen Händen mit Seife auswaschen. Die Waschmaschine durfte dafür nicht benutzt werden.

Nach und nach wurde das Ausmaß der nuklearen Katastrophe in Österreich bekannt. Die Menschen verschanzten sich in ihren Häusern und Wallner war das einzige Kind, das sich im Freien aufhielt. Seine Mutter glaubte den Nachrichten nicht, sie sagte ihrem Sohn, dass im Fernsehen nur gelogen werde. Für Wallner wirkten die verschwommenen Luftaufnahmen des brennenden Atomkraftwerks und die Fernsehberichte echt, er vertraute aber seiner Mutter. Nie zuvor war er so oft auf dem Spielplatz gewesen wie in den Wochen nach dem Reaktorunfall. Ansonsten mied seine Mutter diesen Ort oder sie packte ihn und eilte davon, sobald andere Kinder auftauchten. »Elendige Rotzlöffel«, nannte sie die Kinder aus der Nachbarschaft, sie seien kein Umgang für ihn. Deren Mütter seien arbeitsscheue Weiber, die nichts anderes im Sinn hatten, als sich schwängern zu lassen von irgendeinem stumpfsinnigen Schnauzbartträger. »Schwanger werden und nicht mehr arbeiten gehen, nur danach steht ihnen der Sinn«, sagte Wallners Mutter, die an den Vormittagen in den Häusern dieser Familien putzte. »Während ich ihren Dreck wegräume, sitzen die faulen Weiber mit ihren verzogenen Fratzen am Spielplatz oder lassen sich von ihren vertrottelten Männern das nächste Kind hineinschwängern.« Wallner wusste nicht, was sie mit hineinschwängern meinte, als er danach fragte, bekam er eine Ohrfeige.