6,99 €
Die vierzehnjährige Cassandra wird in ein Internat geschickt, weil sie ständig die Schule schwänzt und sich gegen jede Regel auflehnt. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten kommt sie dort ganz gut zurecht. Zusammen mit ihrer neuen besten Freundin entdeckt sie eines Tages einen geheimnisvollen Schlüssel und eine ebenso geheimnisvolle Botschaft. Gibt es in diesem Internat vielleicht einen Schatz, den es zu finden lohnt?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2017
Jeder verdient eine Chance
„Cassandra komm sofort zurück, du sollst nicht immer weglaufen, wenn ich mit dir reden will!“, schrie Julia Benedict ihrer vierzehnjährigen Tochter hinterher. Sie hatte von deren Trotzphase so langsam die Nase voll. Sie tat grundsätzlich das Gegenteil von dem was man ihr sagte. Das war einfach nicht mehr akzeptabel. Sie wusste beim besten Willen nicht mehr was sie machen sollte. Sie war es so Leid immer hinter ihr herzulaufen. Gestern hatte sie sich aus purem Trotz ihre langen blonden Haare eigenhändig abgeschnitten, sodass sie nun aussah als hätte sie einen Igel auf dem Kopf. Das allerdings brachte ihren widerspenstigen Charakter besonders gut zur Geltung und ließ erkennen mit wem man es zu tun hatte. Julia presste wütend ihre Lippen zusammen. Unschlüssig blickte sie Cassandra hinterher und sah wie sie schnellen Schrittes in ihr Zimmer stürmte und ihre Zimmertür mit einem lauten Knall hinter sich zuwarf. Erschrocken zuckte Julia zusammen. Sie fühlte sich so wütend und hilflos zugleich. Was hatte sie nur falsch gemacht, dass ihre Tochter überhaupt nicht mehr auf sie hörte? Seit Jahren terrorisierte sie nun schon diese Familie und das durfte einfach nicht mehr so weitergehen. Sie hatte mit ihrem Mann nächtelang diskutiert wie sie damit umgehen sollten und sie waren nur zu einem einzigen Ergebnis gekommen. Julia scheute sich davor mit ihrer Tochter darüber zu reden und das war wahrscheinlich auch der Grund warum sie immer noch im Flur stand anstatt ihr die Leviten zu lesen, denn sie hatte Angst vor der Reaktion, die darauf folgen würde.
<<<<<>>>>>
Cassandra drehte ihre Stereoanlage voll auf, wie immer wenn sie sauer war. Die Hauptsache war, dass sie mit der Musik, das Gemecker ihrer Mutter übertönen konnte. Was die ihr zu sagen hatte interessierte sie nicht im Geringsten. Es war sowieso immer die gleiche Leier. Blablabla und nochmals bla. „Hat die Alte eigentlich kein anderes Hobby?“, brüllte Cassandra in den Raum und funkelte böse die geschlossene Tür an. Zorn wühlte sich durch ihr Inneres wie ein wildes, unbändiges Tier. Es schien sich durch ihren ganzen Körper zu fressen und wirbelte ihre Gefühle und Gedanken so sehr durcheinander, dass klares Denken völlig unmöglich geworden war. Nie konnte sie ihrer Mutter etwas Recht machen, alles war immer schlecht, und ständig hatte sie was zu meckern. Tu dies, tu das, mach das so oder mach es anders. Immer nur Gebote und Verbote. Es war zum Kotzen. Mit vor Wut gerötetem Kopf warf sich Cassandra auf ihr Bett, das gegenüber der Tür platziert war und stützte sauer ihren Kopf auf die Hände. Mühsam versuchte sie sich auf die Musik zu konzentrieren, die dröhnend aus den Lautsprechern pulsierte, doch das gelang ihr nicht wirklich. Die funkensprühenden Augen ihrer Mutter gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn. Waren sie nicht voller Hass gewesen? Es hatte jedenfalls so ausgesehen. Das würde sie dieser Kuh heimzahlen. Was fiel ihr ein so zu gucken? Zornig hämmerte sie die Faust auf ihr Kissen. Wie konnte sie nur so gemein sein? Gereizt sprang Cassandra wieder auf. Sie konnte jetzt einfach nicht stillsitzen, ihre Wut war so unglaublich groß, dass sie jeden Augenblick wie ein Vulkan aus ihr herausbrechen würde. Genervt lief Cass in ihrem Zimmer umher und trat wütend vor ihren Drehstuhl, der laut und vernehmlich in ihre riesige Bücherwand krachte, die mit den verschiedensten Büchern und CDs vollgestopft war. Einige CD Hüllen fielen dabei auf den Boden und gingen zu Bruch, doch das störte Cassandra nicht weiter. Im Moment war ihr das alles egal, solange sie nur ihre Wut befriedigen konnte. Ihre Stereoanlage, die auch in diesem Schrank stand, vibrierte im Takt der dröhnenden Rockmusik und fabrizierte ein durchgehend rasselndes Geräusch, während Cass überlegte was sie zerstören könnte um ihre Wut noch ein wenig mehr zum Ausdruck zu bringen. Doch dazu kam sie vorerst nicht, da plötzlich die Zimmertür so heftig aufgestoßen wurde, dass die Tür gegen die Wand klatschte. Erschrocken fuhr Cassandra herum und sah wie ihrer Mutter mit zornigem Blick in das Zimmer stürmte. Ungehalten riss sie das Kabel der Stereoanlage aus der Steckdose. Sie war so unglaublich wütend auf ihre Tochter. Wie konnte sie nur so interesselos sein. Nichts im Leben schien ihr etwas zu bedeuten. Dieser ständige Kampf zerrte gewaltig an ihren Nerven und brachte sie sicher noch um den Verstand. Doch dazu würde sie es nicht kommen lassen. Zornig funkelte sie ihre Tochter an, die giftig zurückstarrte. „Warum habe ich schon wieder einen Brief von deiner Schule bekommen, mit der Androhung, dass du von der Schule fliegst?“, fauchte Julia und zeigte wütend mit dem Finger auf Cassandra. „Interessiert dich das eigentlich überhaupt nicht? Du bist vierzehn Jahre alt und treibst immer noch Unsinn im Unterricht. So kann das nicht weitergehen.“ Ärgerlich wedelte Julia Benedict mit dem Brief herum. Cassandra machte eine wegwerfende Handbewegung. So ein Brief von der Schule waren doch nur sinnlose Worte auf einem Blatt Papier. „Mensch chill mal und kümmer dich um deinen Dreck!“, brüllte sie und wollte erneut die Flucht ergreifen, doch diesmal hinderte Julia sie daran. Grob zerrte sie sie am Arm zurück. „Du bleibst schön hier, wir sind noch nicht fertig!“, schrie sie aufgebracht. Mit einer heftigen Bewegung befreite sich Cassandra aus der Umklammerung. „Ich habe nichts falsch gemacht!“ Wütend stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. „Die Lehrer haben etwas gegen mich!“ Julias hübsches, schmales Gesicht verzerrte sich wütend und eine Strähne ihres dunkelblonden, langen Haares, fiel ihr in die Stirn. „Du machst natürlich nie Fehler und die ganze Welt ist gegen dich! Wie immer! Langsam solltest du wissen, dass alles Konsequenzen hat, und trotzdem machst du immer was du willst! Doch mit diesem Unsinn ist jetzt ein für alle Mal Schluss!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Ärger und sie knallte den Brief heftig auf Cassandras Schreibtisch. „Diesmal wirst du die Konsequenzen tragen! Jetzt ist Schluss mit lustig!“ Sie hielt diesen ewigen Streit einfach nicht mehr aus. Ihre Nerven schienen blank zu liegen, jedes Wort von Cassandra brachte ihr Blut nur noch mehr zum Kochen. Ein vernünftiges Gespräch zu führen war schon lange nicht mehr möglich. Die Fronten waren verhärtet und niemand sah mehr etwas Gutes an dem anderen. Auch Adrien Benedict war es nicht mehr möglich zu seiner Tochter durchzudringen und deshalb hatten sie vor einiger Zeit schon eine schwere Entscheidung getroffen, mit der Julia ihre Tochter nun konfrontierte. „Dein Vater und ich haben beschlossen, dass wir dich auf eine andere Schule schicken, genauer gesagt in ein Internat für schwer erziehbare Jungen und Mädchen.“ Ihre Stimme klang eiskalt und ihr Gesicht wirkte wie eine Maske, als sie ihr die Mitteilung erbarmungslos entgegenschleuderte. Cassandra sollte merken, wie ernst die Situation war. Das Maß war einfach voll. „Das Internat liegt in Schottland in der Nähe von Fort William. Es heißt Castle of Grace. Es existiert erst seit kurzem, aber man hört nur Gutes von dieser Anstalt. Ein Amerikaner hat das Gebäude gekauft und dort diese Privatschule eröffnet und es wird Zeit für dich dorthin zu gehen.“ Julia funkelte sie weiterhin zornig, ja beinahe herausfordernd an, aber Cass blickte nur mit großen Augen fassungslos zurück. Sie war im Moment nicht einmal fähig darauf zu antworten. Das war ein Schock für sie. Sie hätte nie damit gerechnet, dass ihre Eltern so gegen sie waren. Wie sollte sie mit dieser Hiobsbotschaft umgehen? Die Wut in ihrem Inneren schien wie eingefroren und hatte mit blankem Entsetzen den Platz getauscht. Cassandra wirkte wie ein Fisch auf dem Trockenen, der gierig nach Luft schnappte. Sie wusste einfach nicht was sie darauf erwidern sollte. Julia wurde die Wartezeit auf eine Antwort zu lang und deshalb fuhr sie einfach fort. „Morgen beginnt für dich ein neues Schuljahr, und zwar im Internat, du kannst schon mal packen, denn wir fahren dich morgen Früh dorthin. Wir benötigen ungefähr zwei Stunden für die Fahrt, deshalb wäre es sinnvoll, wenn du früher aufstehst als normalerweise. Und trödle nicht, sonst liefern wir dich im Schlafanzug dort ab!“, fauchte sie. „Du wirst dort wohnen und mit den anderen Kindern zur Schule gehen und in den Ferien steht es dir frei nach Hause zu kommen.“ Jetzt langsam löste sich Cassandras Starre und der Zorn kehrte wie ein glühender Strahl in ihren Körper zurück. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, bereit zuzuschlagen, wenn es sein musste. „Das ist doch voll die Verarsche! Toll, dass ihr mir das auch mal sagt! Ich bin ja nicht einmal von der alten Schule abgemeldet! Das habt ihr ja voll verkackt!“, tobte sie und stampfte erneut mit dem Fuß auf den Boden. Sie sah aus wie eine Katze auf dem Sprung, die sich jeden Augenblick auf ihre Beute stürzen würde. Es fehlte nur noch ein kleines bisschen und sie verlor die Kontrolle. „Es bestand keine Notwendigkeit dich über unser Handeln zu informieren, da du sowieso nie gehorchst. Dafür haben wir mit deiner Schule gesprochen und vereinbart, dass du mit dem nächsten blauen Brief die Schule verlässt, um in ein Internat zu wechseln. Cass fühlte sich völlig übergangen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Ihre Eltern waren nicht einmal auf die Idee gekommen mit ihr darüber zu reden. „Ihr seid echt die totalen Vollpfosten!“, schimpfte sie aufgebracht. Mit Zornestränen in den Augen blickte sie ihre Mutter an und kämpfte darum nicht zu weinen. „Wie könnt ihr nur solche Arschlöcher sein!“, presste sie ärgerlich zwischen den Zähnen hervor. Sie war so enttäuscht, dass sie es gar nicht in Worte fassen konnte. Aber was hatte sie auch anderes erwartet. Ihr ganzes Leben wurde sie schon so gemein von ihnen behandelt. Ihre Eltern liebten sie einfach nicht und das war eine Tatsache. Wutentbrannt fegte Cassandra ein paar Bücher von ihrem Schreibtisch und funkelte ihre Mutter gefährlich an. „Dann habt ihr ja jetzt Ruhe im Haus und seid mich endlich los! Weißt du was? Verpiss dich einfach aus meinem Zimmer!“, brüllte sie ihre Mutter an, die ihre Konsequenzen daraus zog. Mit einem lauten ‚Klatsch’ verpasste Julia ihr eine Ohrfeige. Was zu viel war, war zu viel. Cass stolperte fassungslos einen Schritt zurück und hielt sich ihre knallrote Wange. Entsetzen und Enttäuschung zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Sie hätte nie geglaubt, dass ihre Mutter sie einmal so misshandeln würde. Dicke Tränen aus Wut und Verzweiflung tropften auf den Boden. Sie fühlte eine so unendliche Trauer und eine unbändige Wut in sich, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Dennoch gab sie keinen Schmerzenslaut von sich. Ihr Stolz behielt wie immer die Oberhand. Warum konnte diese Frau ihr eigenes Kind nicht leiden? Cass fing an ihre Mutter zu hassen. Dieses Gefühl war wie ein böses Krebsgeschwür, das immer mehr Platz in ihrem Inneren einnahm. Das würde sie ihr nie verzeihen. Mitleidlos hielt Julia dem hasserfüllten Blick ihrer Tochter stand und streckte ihre Hand aus. „Gib mir dein Handy. Ich will nicht, dass du noch irgendeinen Blödsinn anstellst, ehe du fährst.“ „Ey, bist du schizo oder was? Hast du vielleicht einen Webfehler?“, maulte Cassandra. Sie würde dieser Aufforderung auf gar keinen Fall Folge leisten. Beleidigt verschränkte sie ihre Arme vor der Brust, um ihren Protest zu unterstreichen. Doch Julia wusste auch so wo das Handy lag. Verärgert schob sie ihre Tochter aus dem Weg und nahm das Mobiltelefon vom Schreibtisch. „Du bekommst es wieder, wenn du dich zu benehmen weißt. Und jetzt pack deine Sachen ein, oder du fährst ohne Kleidung! Nichts wird uns mehr umstimmen! Du gehst in dieses Internat und diese Entscheidung ist endgültig!“ Zornig kehrte Julia ihr den Rücken zu und schritt aus dem Zimmer, um das Abendessen vorzubereiten. „Ich hasse euch!“, brüllte Cass ihr hinterher, ehe sie bitterlich zu weinen anfing. Mit jeder Träne, die sie vergoss, hasste sie ihre tyrannischen Eltern ein Stückchen mehr. All ihre Freundinnen hatten tolerante und fürsorgliche Eltern und was bekam sie? Nichts als Abneigung und Gefühlskälte. Schluchzend ging sie zu ihrem Kleiderschrank und begann ihre Sachen in ihre Koffer zu feuern. Sie fürchtete sich davor tatsächlich ohne ihre Klamotten ins Internat zu müssen. Das wollte sie auf gar keinen Fall riskieren. Solange sie keinen guten Plan hatte, musste sie sich eben in ihr Schicksal fügen. Aber ihr würde schon etwas einfallen, denn niemand bestimmte über ihr Leben und schon gar nicht so niederträchtige Menschen wie ihre Erzeuger. Vielleicht konnte sie auch von dieser Schule fliegen, nur um ihre Eltern zu ärgern. Das würde sie sicher in den Wahnsinn treiben.
Julia schloss die Tür hinter sich und lehnte sich einen Moment lang mit geschlossenen Augen dort an. Tränen brannten hinter ihren Lidern, die sie krampfhaft zurückdrängte. Diese ständigen Kämpfe machten sie mürbe und krank. Sie spürte die Liebe zu ihrer Tochter kaum noch in ihrem Inneren und das machte ihr Angst. Sie hatte inzwischen tatsächlich eine ungesunde Abneigung gegen ihr eigenes Kind entwickelt. Es war für sie unbegreiflich warum Cassandra sich so zu ihrem Nachteil entwickelt hatte. Was war nur aus dem lieben und hilfsbereiten kleinen Mädchen geworden? Hatte sie das mit ihrer Erziehung verursacht? Sie wusste es nicht, aber in letzter Zeit wusste sie überhaupt nichts mehr. Julia fühlte sich einfach ausgebrannt. Als junge Frau hatte sie sich immer ihre eigene kleine Familie gewünscht, da sie sehr behütet aufgewachsen war. Leider lebten ihre Eltern nicht mehr, sonst hätte sie sie ganz sicher um Rat gefragt. Irgendetwas hatte sie falsch gemacht bei ihrer Erziehung. Sie hatte ihr Kind zu einem Monster werden lassen und nun war ihr die Führung aus den Händen geglitten. Cassandra lebte einfach nach ihrem eigenen Willen und sie ließ sich grundsätzlich nichts mehr sagen.
Nun kullerten doch Tränen über Julias Wangen. Sie war verzweifelt. Nichts lag ihr ferner, als ihre Tochter aufzugeben, aber genauso fühlte es sich an. Mit ihrem Mann Adrien hatte sie sich dazu entschlossen ihre Kleine in fremde Hände zu geben. Aber was sollte sie auch machen, sie drang einfach nicht mehr zu ihr durch. Wahrscheinlich machte sie dadurch die Beziehung zu ihr gänzlich kaputt. Aber war sie das nicht schon oder ging das etwa noch kaputter?
Trotzig dachte Cassandra über ihre Möglichkeiten nach, während sie unter Tränen schluchzend immer mehr von ihren Sachen in die Koffer stopfte, gleichgültig wie zerknüllt sie sich dort stapelten. Sie hatte es bisher immer geschafft von einer Schule zu fliegen, die sie nicht mochte, und das Internat mochte sie aus Prinzip nicht. „Ich fliege schneller von dieser Scheißschule, als ihr gucken könnt“, motzte sie starrköpfig. Sie ging zu ihrer Kommode, die seitlich ihres Bettes an der Wand stand, um noch etwas Wichtiges einzupacken. Traurig blickte sie in ihren Spiegel, der über der Kommode hing. Am unteren Ende des Spiegels klebten einige Fotos, auf denen sie mit fünf ihrer besten Freunde abgebildet war. Zärtlich strich sie darüber, ehe sie selbstmitleidig ihr Spiegelbild betrachtete. Ihr schmales Gesicht war ein wenig blass von der Aufregung, aber das brachte auch ihre Sommersprossen besser zur Geltung, die als lustiges Muster in ihrem Gesicht verteilt waren. Ihre dunkelbraunen Augen hingegen sahen momentan gar nicht so lustig aus, da immer wieder Tränen aus ihnen quollen. Geräuschvoll zog Cass ihre Nase hoch und wischte sie sich mit ihrem Handrücken ab. Vielleicht wurde sie ja krank und konnte gar nicht wegfahren. Sie streckte ihre Zunge raus und betrachtete sie eingehend, aber die war leider kein bisschen belegt. Enttäuscht hob sie die Schultern und beobachtete die Tränenbäche, die über ihr Gesicht flossen. Eine endlose Traurigkeit lag in ihren Augen und daran war einzig und allein ihre Mutter schuld. Sie allein hatte es zu verantworten, dass sie so fertig war. Cassandra schüttelte trotzig den Kopf. Sie durfte sich von solchen Gefühlen nicht beherrschen lassen. Nachher glaubten ihre Eltern noch sie hätten sie bezwungen und das ging gar nicht. Hastig wischte sie sich die salzige Flut aus dem Gesicht. Schließlich war sie kein Weichei. Niemand würde sie jemals in die Knie zwingen und irgendwann würde sie sich für diese Demütigung rächen. Selbstzerstörerisch zupfte sie an ihren kurzen, blonden Haaren, die frech in alle Richtungen abstanden. Dabei riss sie sich zornig ein paar Haare aus. Doch dieser Schmerz linderte ihre Wut nicht im Geringsten. Ihr Blick fiel erneut auf den Spiegel und sie sah sich in die Augen. Sie konnte ihren Anblick momentan einfach nicht ertragen. „Glotz nicht so blöd!“, fauchte sie und schlug aggressiv mit ihrer Faust vor den Spiegel, der augenblicklich zerbrach und wie ein Wasserfall aus Splittern auf die Kommode regnete. Cassandra merkte nicht einmal, dass sie sich geschnitten hatte. Sie spürte nur, dass ihre Wut plötzlich abflachte. Diabolisch grinsend blickte sie auf die Glassplitter. Es war ein gutes Gefühl, wenn man etwas mit ausreichendem Hass zerstört hatte. Vielleicht sollte sie das immer so machen, wenn sie wütend war. Der Gedanke gefiel ihr. Das würde die Alte mit Sicherheit auf die Palme bringen. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie noch etwas sehr Wichtiges einpacken wollte. Sie musste unbedingt ihre kleine geheimnisvolle Kiste aus ihrem Versteck holen. Eine Sammlung von speziellem Zubehör, der ihr schon einige gute Dienste erwiesen hatte. Gut getarnt als Gesellschaftsspiel, lag es in einer der Schubladen. Cassandra zog den Karton heraus und legte ihn in einen der Koffer. Außerdem benötigte sie zwingend ihr Einbruchswerkzeug. Möglicherweise konnte sie damit schneller dieses verhasste Internat verlassen, als es ihrer Mutter lieb war. Sie nahm das kleine Etui aus ihrer Sockenschublade und wickelte es sorgfältig in ein Handtuch, welches sie anschließend unter ihre Kleidung im Koffer schob. Missmutig verschloss sie ihn und sah aus ihrem vergitterten Fenster. Ihr Vater hatte das Gitter damals angebracht, nachdem sie nach einem Streit ausgerissen und eine ganze Nacht und einen Tag verschwunden gewesen war. Erst die Polizei hatte sie in der nächsten Stadt aufgegriffen und wieder nach Hause gebracht. Cassandra seufzte wehmütig. Die ganze Welt war gegen sie und das störte sie gewaltig. Aber sie würde diesen Kampf aufnehmen, gegen jeden einzelnen Vollpfosten, der gegen sie war. Sie würde es allen zeigen. Selbst die untergehende Sonne war gegen sie, denn sie funkelte ihr frech entgegen und es schien gerade so, als verspottete sie Cassandra, weil sie an so einem schönen Tag Trübsal blies. Doch sie konnte den Tag einfach nicht genießen, obwohl es wahrscheinlich der einzige schöne Tag in ihrem Leben war, weil sie bald ihre Erzeuger nicht mehr sehen musste. Doch leider spürte sie nichts als Kummer in ihrem Inneren. Sie sollte diesen Tag feiern und genießen, doch aus irgendeinem Grund schaffte sie es nicht sich darüber zu freuen. Traurig ging sie zu ihrem Schreibtisch, der unter dem Fenster stand. Dort stand ihr heißgeliebter Laptop und ihre Finger glitten mit einer zärtlichen Bewegung über die Tastatur. Ihr Computer war, abgesehen von ihren Freunden, der Einzige, der ihr ein wenig Liebe schenkte. Er war immer für sie da und ließ sie niemals im Stich. Es war ihr größtes Hobby, sich in andere Systeme zu hacken und mittleres Chaos anzurichten. Sie war so geschickt darin, dass sie bisher noch nicht einmal erwischt worden war. Ihr bester Freund Jake hatte ihr das beigebracht, der wiederum hatte es von seinem älteren Bruder, der ein Computerfreak war. Cass machte es Spaß sich auf fremden Computern umzusehen und alles Mögliche zu erkunden. Was sie aber gerne hinterließ, waren harmlose Wurmdateien. Sie hatte mal auf einem PC einen lachenden Totenkopf hinterlassen, der immer dann erschien, wenn die Maus bewegt wurde. Diese Datei war leicht wieder von dem Computer zu entfernen. Sie wollte ja auch niemandem schaden, sondern nur ein wenig Unsinn treiben. Auch wenn sie nie die Gesichter der betroffenen Menschen sehen konnte, machte es ihr einen Heidenspaß, diesen Schabernack zu treiben. Leider hatte sie es versäumt sich in den Schulrechner zu hacken. Vielleicht hätte sie dann ihre Noten ändern und dieses dumme Schreiben an ihre Eltern verhindern können. Dazu war es nun leider zu spät. „Wie hätte ich auch darauf kommen sollen?“, maulte sie. „Andere Schüler benehmen sich auch scheiße und keinen kümmert‘s. Nur weil ich mich gegen Ungerechtigkeit wehre, werfen die mich gleich von der Schule. Das ist so typisch für die scheiß Erwachsenen. Wenn man denen vertraut bekommt man nur einen Arschtritt!“ Als sie das Klappern von Geschirr vernahm, lief sie blitzschnell zu ihrer Zimmertür und schloss ab. Sie hatte nicht vor mit diesen Idioten zusammen an einem Tisch zu sitzen. Ihre Erzeuger waren ihr fremd geworden, nichts verband sie mehr mit ihnen. Wenn sie selbst über ihr Leben entscheiden könnte, würde sie die Schule verlassen und sich einen Job, weit weg von ihrem Heimatort, suchen. Doch leider warfen ihr ihre idiotischen Alten ständig Stolpersteine in den Weg. Waren sie der Meinung dieses beschissene Internat wäre anders als andere Schulen? Pah! „Ich werde für einen Rausschmiss sorgen, der sich gewaschen hat“, kommentierte Cassandra ihre Gedankengänge. Bestimmt änderten sie ihre Meinung, wenn sie auch aus dem Internat rausflog. Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich grinsen. Ja, das änderte alles, davon war sie felsenfest überzeugt. Ein wenig beruhigter setzte sie sich an ihren Computer und hackte gedankenverloren auf der Tastatur herum. Sie würde ihren Willen schon irgendwie durchsetzen. Das hatte bisher immer geklappt. Plötzlich klopfte es an ihrer Tür und sie schrak hoch. „Das Essen ist fertig Cassandra.“ Adrien drückte die Klinke runter und stellte fest, dass das Zimmer verschlossen war. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern, da er die Starallüren seiner Tochter zur Genüge kannte. „Falls du es dir anders überlegst, weißt du ja wo du uns findest.“ Cassandra gab keine Antwort. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben. Adrien bemühte sich die Launen seiner Tochter so gut es ging zu ignorieren. Sie war früher so ein liebes Mädchen gewesen, doch dieser Liebreiz hatte sich innerhalb kürzester Zeit in Luft aufgelöst. Es schmerzte ihn sehr, wie Cassandra sie behandelte und er würde alles tun, damit alles wieder so wie früher werden konnte. Tröstend strich er seiner Frau über den Rücken, die traurig auf den leeren Platz blickte. „Das ist nur der Anfangstrotz“, meinte er aufmunternd. „Sobald sie einige Zeit im Internat verbracht hat, wird sich ihre Wut schon legen.“ Julia nickte stumm und bemühte sich, trotz des Kloßes in ihrem Hals, etwas zu essen. Die ganze Situation machte ihr unglaublich zu schaffen. Sie liebte ihre Tochter wirklich sehr, aber ihr das zu sagen, war schon lange nicht mehr möglich. Wie gerne würde sie sie nochmal in den Arm nehmen und ihr Trost spenden, wenn sie traurig war. Aber auch das funktionierte nicht mehr. Julia machte diese Beziehung kaputt und das schlug ihr auf die Gesundheit. Deshalb war es so wichtig, dass sie endlich einen anderen Kurs einschlugen. Seufzend räumte sie das unbenutzte Gedeck nach dem Essen wieder ab. Julia hatte sich so etwas schon gedacht, trotzdem würde sie ihre Entscheidung nicht mehr rückgängig machen. Sie kannte die Halsstarrigkeit ihrer Tochter. Das musste endlich aufhören. Im Laufe des Abends würde sie sicher wieder aus ihrem Zimmer kommen. So war es noch jedes Mal gewesen. Doch diesmal irrte sie sich. Auch den Rest des Abends bekamen sie ihre Tochter nicht zu Gesicht. Cassandra war so zornig, dass sie lieber hungrig schlafen ging, als klein beizugeben.
Julia zweifelte nun doch, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. So lange hatte sie sich noch nie in ihrem Zimmer eingeschlossen. Die Aussicht in einem Internat für schwer erziehbare Kinder zu landen, schien sie doch härter zu treffen, als angenommen. Mit zusammengepressten Lippen saß Julia auf der Couch und starrte Löcher in die Luft, während im Vordergrund der Fernseher lief. Doch davon bekam sie nichts mit. Ihre Gedanken suchten verzweifelt nach einer geeigneten Lösung. Sie konnte ihr Kind doch nicht einfach fremden Menschen übergeben, die ihre Probleme lösten. Was war sie denn für eine Rabenmutter, wenn sie das zuließ und was sagte das über sie aus? Nervös wickelte sie eine Haarsträhne um ihren Finger und zog selbstquälerisch daran. Adrien, der den innerlichen Kampf seiner Frau bemerkte, stellte kurzerhand den Fernseher aus und nahm Julias Hände in seine. „Bitte Jules mach dir nicht so viele Gedanken. Wir haben das Ganze schon so häufig besprochen, es führt nun mal kein Weg daran vorbei. Cassandra ist stur und unbelehrbar, sie will sich von uns nicht helfen lassen. Später wird sie es uns ganz bestimmt danken. Wir müssen jetzt handeln, ehe es völlig zu spät ist. Wir haben wirklich schon viel zu lange gewartet.“ Julia sah ihren Mann mit herzzerreißendem und tränenverschleierten Blick an. „Sie ist doch mein kleiner Schatz, ich kann sie doch nicht einfach so aufgeben. Das ist doch Verrat am eigenen Kind. Hab ich nicht Recht? Bitte Adrien sag es mir?“ Sie hatte die letzten Worte so laut geschrien, dass ihr Mann unwillkürlich zusammenzuckte. Verzweifelt packte Julia Adrien am Hemdkragen und zerrte daran, ehe sie traurig in Tränen ausbrach und schluchzend ihr Gesicht an seiner Schulter barg. „Du weißt doch selbst von wie vielen Schulen sie schon geflogen ist“, sagte Adrien. „Beim letzten Mal hat sie dem Direktor sogar vors Schienbein getreten. Auf der Schule davor hat sie ständig geschwänzt, und wenn sie mal am Unterricht teilgenommen hat, hat sie die anderen Schüler vom Lernen abgehalten, weil sie während des Unterrichts Unsinn getrieben hat. Außer dem Fernbleiben der Schule hat sie sich ständig geprügelt, Lehrer angepöbelt und andauernd ihre absurden Scherze getrieben. Abgesehen davon, wie oft ist sie schon von der Polizei zur Schule gebracht worden, weil sie sich in der Gegend rumgetrieben hat. Es hat alles nichts genützt. Noch nicht einmal, wenn wir sie persönlich in der Schule abgeliefert haben.“ Adrien strich Julia beruhigend über die Schulter, ehe er weitersprach. „Sie ist nicht dumm, das haben uns auch die Dozenten bestätigt, die sie unterrichtet haben. Sie will einfach nicht zur Schule gehen und es ist ein Wunder, dass sie bisher nicht einmal sitzengeblieben ist. Es ist wirklich notwendig, dass wir sie in das Internat schicken, das weißt du doch mein Liebling. Wenn du willst, dass unser Kind noch etwas lernt, dann müssen wir jetzt hart durchgreifen und nicht warten bis alles zu spät ist. Außerdem geben wir Cassandra ja nicht auf, wir helfen ihr nur dabei das Richtige zu tun.“ Erneut barg Julia schluchzend ihr Gesicht an Adriens Schulter, nachdem sie kurz aufgesehen hatte. Aufmunternd strich er über den Kopf seiner Frau, die sich unter der sanften Hand langsam wieder beruhigte. Es fiel ihr sehr schwer ihr Kind fremden Menschen zu überlassen, aber sie machte sich klar, dass es das Beste sein würde.
Am nächsten Morgen weckte Julia ihre Tochter um sechs Uhr, da sie sich beeilen mussten. Heftig hämmerte sie vor die Tür, ehe sich Cassandra mal bequemte wenigstens ein müdes Knurren von sich zu geben. „Noch ‘n paar Minuten, ich bin noch voll müde.“ Cassandra drehte sich auf die andere Seite und zog das Kissen über ihren Kopf. Julia klopfte entrüstet fester vor die Tür, so hart, dass ihre Hand schmerzte. „Los öffne endlich die Tür! Es wird Zeit, dass du fertig wirst! Trödle nicht so rum und gib mir deine Koffer, damit ich sie ins Auto bringen kann!“ Cassandra erkannte am Ton ihrer Mutter, dass sie wutgeladen war. Im Grunde war ihr das egal, aber es war einfach noch zu früh um sich mit ihr anzulegen. Schlaftrunken wanderte sie zur Tür und schloss auf. Ein müdes Gesicht blickte Julia entgegen. „Beeil dich gefälligst, wir wollen heute noch losfahren“, knurrte sie gereizt. Auf ihrer Stirn hatte sich eine dicke Zornesfalte gebildet. „Denk daran, was ich dir gestern gesagt habe. Wenn du es darauf anlegst, bringe ich dich im Schlafanzug zur Schule.“ Murrend gab Cass die Tür frei. Was hatte sie auch für eine Wahl? Julia bemerkte sofort den zerbrochenen Spiegel und schüttelte seufzend den Kopf. Wortlos nahm sie die drei Koffer und trug sie zum Auto. Es wurde wirklich Zeit für eine durchgreifende Erziehungsmaßnahme und das Internat würde ihnen mit Sicherheit dabei helfen. Widerwillig zog Cassandra sich an und zog zum Schluss ein Basecap über ihre blonden, zerzausten Haare, damit sie sie nicht kämmen musste. Trotzig rannte sie ohne sich zu waschen und zu frühstücken zum Auto, obwohl ihr Magen mittlerweile vor Hunger schmerzte. Dicht vor ihrer Mutter blieb sie stehen, schlug ihre Hacken zusammen und salutierte. „Die Sklavin meldet sich zur Stelle. Wir können loscruisen, ich will das Psychohaus nicht warten lassen“, spottete Cassandra und grinste unverschämt. „Spar dir deine Ironie und steig ein“, schimpfte Julia. Sie konnte diese Auseinandersetzungen nicht länger ertragen. Mittlerweile hatte sie schon wieder Kopfschmerzen. Genervt rieb sie ihre Schläfen, um sich ein wenig Linderung zu verschaffen. Cassandra verzog unterdessen nur mürrisch ihr Gesicht und setzte sich auf den Rücksitz des viertürigen, grünen Toyotas. Missmutig schnallte sie sich an ohne ihre Mutter noch eines Blickes zu würdigen. Als Adrien festgestellt hatte, dass alle angegurtet waren, fuhr er los. Er wollte keine Zeit verschwenden, da sie ohnehin schon spät dran waren. Während der ganzen Fahrt redeten sie kaum ein Wort miteinander. Adrien hatte mehrmals versucht ein Gespräch in Gang zu bringen, aber seine Tochter reagierte einfach nicht darauf. Sie sah nur stur aus dem Fenster und bemitleidete sich insgeheim selbst. Sauer hatte sie die Arme vor der Brust verschränkt. Es gab einfach keine Gerechtigkeit im Leben. Was sollte sie in einer fremden Stadt, wo sie niemanden kannte? Das war voll unfair. Unglücklich sah sie den Bäumen und Häusern zu, an denen sie vorbeihuschten und Tränen stiegen ihr plötzlich in die Augen. Alle Blumen, Bäume, Felder und Häuser vermischten sich dadurch zu einem bizarren Farbmuster, das keine Einzelheiten mehr erkennen ließ. Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Sie durfte keine Schwäche zeigen, sonst dachten ihre Eltern noch, dass sie gewonnen hätten und das hatten sie mit Sicherheit nicht. Trotzig zeichnete sie mit ihrem Finger Bilder an die Fensterscheibe. Mal war es ein Galgenmännchen, ein anderes Mal ein Sarg. All das spiegelte ihre Gefühle wider, die sie ihren Eltern zurzeit entgegenbrachte. Sie hatte sich nicht einmal von ihren Freunden verabschieden dürfen. Was hielten die jetzt wohl von ihr? Bestimmt verachteten sie sie, dabei trug sie nicht einmal die Schuld an der schnellen Abreise. Mit ihren Freunden hatte sie immer eine Menge Spaß gehabt. All die lustigen Streiche fielen ihr wieder ein und sie lächelte wehmütig. Das war eine echt krasse Zeit gewesen. Sie hatten die Erwachsenen voll vorgeführt wo sie nur konnten. Das gab ihr jedes Mal das Gefühl ihren Eltern eine verpasst zu haben. Vielleicht konnte sie das ja an der neuen Schule wiederholen. Es gab immer eine Möglichkeit die Lehrer auszutricksen und Freunde die einem zujubelten gab es auch überall. Seufzend blickte sie wieder aus dem Fenster und stellte verwundert fest, dass die Fahrt sich bereits ihrem Ende näherte. Cassandras Herz fing plötzlich nervös an zu pochen, als sie das riesige Tor sah, das sehr langsam und lautlos aufschwang. Während ihr Vater den asphaltierten Weg entlang fuhr, begutachtete Cass ihr neues Heim. Die Burg präsentierte sich majestätisch und erhaben, umrahmt von den ersten Sonnenstrahlen, die sich am Himmel zeigten. An jeder Ecke des quadratischen Bauwerks ragte ein Turm in die Höhe und die Fenster schienen ihr freudig zuzublinzeln. Der grüne Efeu, welcher Teile der graubraunen Mauersteine bedeckte, kletterte an manchen Stellen fast bis zum Dach hinauf und die Sonne zauberte sich bewegende und verschiedenfarbige Schatten auf das Grün. Cassandra war fasziniert von diesem Anblick und für einige Sekunden vergaß sie ihre Trauer. Neugierig streckte sie den Kopf zum Fenster raus und sah sich weiter um. Schwarze verschnörkelte, altmodische Laternen zierten den Weg, der hinauf zur Burg führte. Interessiert wanderte ihr Blick weiter. Sie fühlte sich von dem Anwesen magisch angezogen. Es war einfach traumhaft schön. Die prächtige altertümliche Burg umfasste sechs Stockwerke mit einer Menge Fenster, die in der Sonne glitzerten. Dem stillen Betrachter mussten sie wie Diamanten vorkommen, wenn nicht eine Kleinigkeit die Harmonie dieses Anblicks gestört hätte. Die Fenster waren allesamt vergittert. Zusätzlich war das ganze Gelände von einem meterhohen Metallzaun umgeben. Anscheinend damit niemand auf die Idee kam sich unerlaubt zu entfernen. Cassandra schluckte schwer und ein Frösteln zog über ihre Haut. Sie hatte das Gefühl einen Hochsicherheitstrakt zu betreten. Es war wie in einem Gefängnis, alleine schon wegen des Zauns, der das ganze Gebiet umsäumte und als Abschluss noch mit Stacheldraht versehen war. Ihr Blick wanderte weiter über das Gelände. An der Innenseite des Zauns gab es Büsche und Bäume und ab und zu einige Beete mit bunten Blumen. Um die ganze Burg herum zogen sich saftiger grüner Rasen und einige kiesbestreute Wege, die sich wie Schlangen durch das grüne Meer wanden. Die Grünanlage des Grundstückes war stattlich und gepflegt und dennoch kam es einem Gefängnis gleich. „Hier findet wohl der Hofgang statt“, brummte Cassandra bitter, obwohl sie von der gepflegten Anlage sehr beeindruckt war, aber das würde sie unter keinen Umständen zugeben. Auf sie wirkte das Ganze wie ein prächtiger Park, in dem man spielen und toben konnte so viel man wollte. An mehreren Stellen standen Bänke und Tische im Schatten der Bäume, für einen gemütlichen Plausch oder eine erholsame Lesepause. Liebevoll gepflanzte Blumen kuschelten sich zwischen Rasen und Kieswege und rundeten das Ergebnis des Gesamteindrucks vollkommen ab. Es war einfach wunderschön anzusehen. Eigentlich war dies ein Ort zum Wohlfühlen, aber es blieb eben ein Knast, da änderten auch die schönsten Blumen nichts dran. Während Cassandra sich noch immer selbst bemitleidete und jeden Winkel des Internats in sich aufsog wie ein ausgetrockneter Schwamm, hatte Adrien den Toyota längst zum Stillstand gebracht und war ausgestiegen. Er hatte sogar schon das Gepäck aus dem Kofferraum geholt, und trug es in die Eingangshalle. Die Tür dorthinein stand weit offen, im Gegensatz zum eisernen Tor an der Einfahrt, das sich sofort nach passieren des PKWs wieder geschlossen hatte. Als Julia ihre Tochter aufforderte aus dem Wagen zu steigen, zog diese ein verächtliches Gesicht und stieg meckernd aus. „Du kannst es wohl kaum erwarten mich loszuwerden. Mein Zimmer hast du wahrscheinlich auch schon vermietet. Wie fühlst du dich eigentlich so, als hinterhältigste Mutter der Welt?“ Provokant reckte sie ihr Kinn nach vorne und starrte ihre Mutter herausfordernd an. Giftig funkelte Julia zurück. Sie musste sich sehr zusammenreißen um ihrer Tochter nicht wieder eine zu scheuern. „Diese Strafe hast du dir selbst zuzuschreiben. Vielleicht lernst du hier endlich mal nach den Regeln zu spielen. Und jetzt beweg dich endlich.“ „Ja, ja. Regeln, die Erwachsene aufgestellt haben“, maulte Cassandra und trat genervt vor einen kleinen Kieselstein, der ihr im Weg lag. Julia gab keine Antwort mehr und ging voraus. Zähneknirschend trottete Cass hinterher, die Hände mürrisch in den Taschen vergraben. Sie war so sauer, dass sie es gar nicht ausdrücken konnte. Nichts und niemand würde ihre Laune heute verbessern können, das war ihr jetzt schon klar. Adrien wartete bereits auf die Beiden. Er hatte die drei Koffer in der Vorhalle abgestellt und zeigte ungeduldig auf seine Armbanduhr. „Das wurde aber auch Zeit, wir sind sowieso schon zu spät.“ Zügig trieb er die Beiden an und stoppte erst vor der Tür des Direktorats, welches auf der linken Seite kurz hinter dem Eingang lag. Adrien klopfte an und wartete geduldig, während Cassandras Blicke erneut auf Wanderschaft gingen. Auf der linken Seite gab es noch weitere Türen, die sie als Lehrerzimmer, WC, Bücherei, Aufenthaltsraum, Küche und Speisesaal identifizierte, da sie beschriftet waren. Was wohl hinter den anderen Türen war? Von Neugier getrieben wollte sie gerade losziehen um das zu erforschen, doch leider hatte sie keine Zeit mehr dazu, da eine dunkle, sympathische Männerstimme sie hereinbat. Die Benedicts traten in ein dunkel getäfeltes Zimmer, in dessen Mitte ein alter und schwerer Schreibtisch, wie ein übriggebliebenes Fossil, thronte. Dahinter war ein riesiges Doppelfenster in die Mauer eingelassen worden, dass bis auf den Boden reichte, so dass das Zimmer lichtdurchflutet war. Gitter gab es an diesem Fenster nicht. Anscheinend waren die nur für die Zimmer der Schüler vorgesehen. Links hinter dem Schreibtisch standen ein Schrank voller Handakten und ein kleiner Tresor, und rechts führte eine Verbindungstür ins Lehrerzimmer. Da diese Tür offen stand, schloss der Direktor sie. Anschließend ging er auf die Benedicts zu und reichte ihnen nacheinander die Hand. Nur Cassandra ignorierte die Begrüßung mit giftigem Blick und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. George Kimberley lächelte milde über diese Zurückweisung. Er war daran gewöhnt und störte sich nicht daran. Jedes Kind, das zum ersten Mal vor ihm stand zeigte ihm die kalte Schulter, doch das würde sich im Laufe der Zeit mit Sicherheit ändern. „Es freut mich, dass sie hier sind. Setzen sie sich doch bitte“, bat George freundlich und deutete höflich auf eine Reihe von Stühlen. Während Adrien Platz nahm blickte er den Schulleiter entschuldigend an. „Es tut mir leid, dass wir uns verspätet haben, aber wir steckten in einem Stau fest.“ George winkte ab und Julia musterte den Pädagogen eingehend. Vor ihr saß ein älterer Mann von ungefähr fünfzig Jahren. Er war ziemlich groß und hatte dunkelblonde Haare, die schon einige graue Stellen aufwiesen. Er trug einen grauen Anzug mit Hemd und Krawatte und hinterließ einen sehr gepflegten Eindruck. Seine strahlenden stahlblauen Augen blickten sie warm an und beruhigten sie ein wenig. Er machte auf sie einen sehr sympathischen Eindruck, weniger auf Cassandra, die nichts leiden konnte, was mit dem Internat zusammenhing. George bemerkte die hasserfüllten Blicke und schmunzelte. Manche Kinder machten sich das Leben wirklich selbst schwer, aber es war auch noch zu früh für die Erkenntnis, dass dies ein Neuanfang war. Alles brauchte seine Zeit. Er musterte Cassandra offen und sah ihren anhaltenden abweisenden Blick, der ihn nicht im Geringsten störte. Viele junge Menschen hatten ihm schon gegenübergesessen und ihm eisige Blicke zugeworfen, daran war er gewöhnt. Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. „Es ist halb so schlimm, dass sie erst jetzt kommen, so habe ich die Gelegenheit, die junge Dame auf ihr Zimmer zu führen und ihr das ein oder andere von meinem Internat zu zeigen“, sagte er und beobachtete dabei Cassandras Reaktion. „Gleichzeitig kann ich sie auch besser kennenlernen. Es wird dir hier sicher gefallen Cassandra.“ Verächtlich schürzte sie die Lippen. Hier würde es ihr nie im Leben gefallen. „Ich werde in dieser Pissbude sicher nicht chillen“, fauchte sie und zog trotzig ihr Basecap tiefer in die Augen. Sie wollte sich hier nicht wohlfühlen und deshalb tat sie es auch nicht. George schmunzelte über diese Hartnäckigkeit, dennoch war er sicher, dass er Cassandra eines Besseren belehren konnte. Dann wandte er sich wieder an die Eltern. „Die Formalitäten sind ja soweit erledigt. Ergeben sich später irgendwelche Fragen, so können sie mich jederzeit anrufen.“ Er erhob sich, da es an der Zeit war Abschied zu nehmen. „Ich glaube, dass sie ruhigen Gewissens fahren können, Mr. und Mrs. Benedict. Ihre Tochter wird sich hier schon einleben.“ Adrien stand ebenfalls auf und reichte dem Schulleiter die Hand. Er spürte den kräftigen Händedruck des Mannes, der von nun an auf seine Tochter aufpasste, und war sicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. Dann wandte er sich an seine Tochter, um sie zum Abschied zu umarmen, aber Cass wich grimmig vor ihm zurück. Adriens Wangenmuskeln zuckten verräterisch und wer ihn gut genug kannte wusste wie sehr ihn dieses Verhalten traf, doch das gab er nicht zu erkennen. Schulterzuckend drehte er sich um und zog auch Julia hinter sich her. Ohne sich noch mal umzudrehen, gingen die Beiden weg. Mit Tränen in den Augen und einem schweren Herzen blickte Cass ihnen hinterher. Ihre Lippen bebten vor Enttäuschung, und Wut stieg in ihr hoch. Bis zur letzten Sekunde hatte sie noch gehofft, wieder mit nach Hause fahren zu dürfen. Zornig trat sie vor einen Stuhl. Das konnte einfach nicht wahr sein. Das würde sie ihnen nie verzeihen, dass sie sie wie ein altes Möbelstück einfach hier abgeladen hatten. Stirnrunzelnd beobachtete George sie. Da schien er sich ja ein besonders bockiges Exemplar eingefangen zu haben. Cassandras Gesicht zeigte eindeutig wie wütend sie war und ihr ganzer Körper charakterisierte Ablehnung. George konnte sich vorstellen wie enttäuscht sie war, aber auch dieser Schmerz würde eines Tages vergehen und dann würde sie erkennen wie schön das Leben war. „Du wirst dich sicher bald an dein neues Zuhause gewöhnen“, meinte er versöhnlich. „Ich zeige dir gleich mal dein Zimmer, dort kannst du dann deine Koffer abstellen.“ Cass gab nur ein unwilliges Knurren von sich. Sie würde sich bestimmt nicht an dieses Internat gewöhnen. Das war doch sicher nur ein schlechter Scherz ihrer Eltern. „Ich weiß gar nicht was ich hier soll. Ich bin doch kein Verbrecher“, maulte sie. Anstatt ihr eine Antwort zu geben, ging George zum Lehrerzimmer und bat jemanden darum das Haupttor für die Benedicts zu öffnen. Cass konnte leider nicht erkennen, mit wem er sprach, sosehr sie sich auch reckte und streckte und sich bemühte einen Blick in das andere Zimmer zu werfen. George bemerkte ihre Neugierde, unterließ es aber fürs Erste das Mädchen zu rügen. Schließlich war es erst einige Minuten hier und er wollte es nicht gleich zur Begrüßung kritisieren. Kinder benötigten Regeln im Leben, aber auch ein wenig Entgegenkommen und Vertrauen. „Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“ Mit einer freundlichen Geste bat er sie ihm zu folgen. Grimmig schlurfte sie ihm hinterher. Was hatte sie auch für eine Wahl. Fürs erste war sie hier gefangen und es würde sich zeigen was sie daraus machen konnte. Also folgte sie dem Schulleiter in Richtung Treppe, während Julia auf dem Weg zum Auto in Tränen ausbrach. „Hoffentlich war es wirklich das Richtige. Es tut mir so leid, dass mein Mädchen dort alleine bleiben muss.“ Behutsam nahm Adrien sie in die Arme und küsste ihr die Tränen vom Gesicht. Es schmerzte ihn sie so zu sehen, aber das ließ sich nun mal nicht vermeiden. „Wir sehen sie ja in den Weihnachtsferien. Du weißt, dass sie uns keine andere Wahl gelassen hat. Jetzt lass uns nach Hause fahren. Es wird alles wieder gut, versprochen.“ Julia drehte sich noch einmal kurz um, bevor sie endgültig in den Wagen stieg. Sie sah, wie ihre Tochter gerade mit dem Schulleiter die, mit rotem Teppich ausgelegte, Treppe hinaufschritt. „Machs gut mein Schatz“, hauchte sie und warf ihr eine Kusshand zu. Sie wusste, dass es das Beste für ihr Kind war, aber es fiel ihr unendlich schwer es fremden Menschen zu überlassen. „Mach dich nicht verrückt Jules. Du wirst sehen, alles wird besser, sobald sie einige Zeit hier verbracht hat.“ Sie stiegen in ihr Auto und Adrien fuhr los. Bald schon hatten sie das Internat hinter sich gelassen.
Mr. Kimberley führte Cassandra in ihr neues Zimmer in der ersten Etage, damit sie ihre Koffer abstellen konnte. Einen Koffer trug sie selbst und zwei hatte er an sich genommen. „In diesem Zimmer wirst du fortan mit drei anderen Mädchen wohnen“, erklärte er. „Ihr müsst jeden Morgen vor dem Frühstück euer Bett gemacht haben und nach dem Essen geht es dann zum Unterricht, an dem du heute auch noch teilnehmen wirst. Deine Mitschüler werden dich sicher über alles Weitere informieren.“ Cass hatte nur stumm zugehört und bedauerte sich wieder einmal selbst, weil sie mit drei anderen Mädchen in einem Zimmer schlafen musste. Das war wirklich grausam. Was wäre, wenn die anderen Mädchen ätzend waren? Kam sie dann in ein anderes Zimmer? Ein Versuch konnte zu gegebener Zeit sicher nicht schaden. Mit gequältem Blick starrte sie durch das leere Zimmer auf die vergitterten Fenster. Sie hatte jetzt schon das Gefühl kaum noch Luft zu bekommen. Definitiv konnte sie hier nicht leben. Das war einfach nur die Hölle. George sah ihre bekümmerten Blicke doch das durfte er nicht zu nah an sich herankommen lassen. Er mochte Kinder und er empfand auch Mitleid, doch auf dieser Schule waren eben nur die schwierigen Fälle und denen durfte er gerade am Anfang nicht den kleinen Finger reichen. „Stell deine Sachen erst mal in die Ecke, auspacken kannst du später. Deine Kappe lässt du bitte auch hier. Es gibt keinen Grund sich unter einer Mütze zu verstecken.“ „Das ist mein Style und deshalb behalte ich sie auf“, fuhr Cassandra den Schulleiter giftig an. „Das wirst du mit Sicherheit nicht tun. Ich möchte, dass du die Kappe abnimmst und auf einen der Koffer legst. Nach dem Unterricht kannst du sie gerne wieder aufsetzen.“ Störrisch zog Cassandra ihr Basecap tiefer ins Gesicht und machte Anstalten das Zimmer zu verlassen. George packte die Schülerin grob am Arm und zog ihr gleichzeitig die Kappe vom Kopf. „Du kannst hier ein angenehmes Leben führen Cassandra, aber wenn du es dir lieber schwer machen möchtest, musst du mit den Konsequenzen klarkommen.“ George legte die Kappe auf einen der Koffer. „Nach dem Unterricht kannst du sie dir wieder holen. Und jetzt zeige ich dir hier erst einmal ein paar wichtige Einrichtungen.“ Er ließ sie los und bat sie ihm zu folgen. Cassandra warf Mr. Kimberley einen vernichtenden Blick zu und rieb sich ihren schmerzenden Arm. Da ihr aber nichts anderes übrig blieb, folgte sie ihm wieder hinunter. Er zeigte ihr den Speisesaal und die Küche, dann die Toiletten, die Bücherei und die erste Hilfe Station. „Momentan haben wir noch keinen Arzt. Für größere Untersuchungen kommt einmal im Monat ein Arzt aus der Stadt und um die kleineren Verletzungen kümmern sich zurzeit die Lehrer. Wenn dir also etwas fehlt, dann kannst du gerne zu mir kommen.“ Cassandra machte ein verächtliches Geräusch und kaute gelangweilt an ihrer Unterlippe, während sie ihre Blicke umherschweifen ließ. George störte sich nicht daran und führte sie weiter zu einem der Klassenzimmer. „Ich hoffe du lebst dich hier gut ein. Du weißt, dass dies ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche ist, also mach das Beste daraus. Solltest du irgendwelche Probleme haben, dann kannst du dich getrost an mich oder einen anderen Lehrer wenden.“ Georges Stimme klang freundlich und dennoch bestimmt. Er mochte Kinder, aber er ließ sich nicht von ihnen auf der Nase herumtanzen. Das ganze Leben bestand aus Regeln und jeder musste lernen sie zu beachten. „Das ist voll nett“, erwiderte Cassandra mit einem boshaften Grinsen und zuckersüßer Stimme. „Ich habe da tatsächlich ein Problem. Meine Alten haben mich gegen meinen Willen hierher geschleift und ich will hier wieder weg. Können sie mir dabei helfen?“ Die Augen des Schulleiters verdunkelten sich böse. „So wie es aussieht, bist du auf Streit aus, aber das werden wir dir schon abgewöhnen.“ Für ihn war diese Unterhaltung nun zu Ende. Er wandte Cassandra den Rücken zu und klopfte an die Klassentür, vor der sie mittlerweile standen. Eine Frau mittleren Alters öffnete die Tür. Sie hatte rotbraune Haare und war sehr schlank. Ihre Kleidung wirkte bieder, da sie einen grauen Rock und eine weiße Bluse trug. Was sie aber vollends wie eine Schreckschraube aussehen ließ, waren ihre hochgesteckten Haare. Cassandra schürzte verächtlich die Lippen. Diese Lehrerin sah aus wie eine Gefängniswärterin. Das konnte ja heiter werden. „Hoffentlich hat diese alte Schachtel einen guten Herzschrittmacher“, dachte Cassandra und rieb sich in Gedanken schon die Hände. Es war sicher kinderleicht, die Alte zu vergraulen. Sie erreichte den Rausschmiss aus der Schule auf jeden Fall. Mit ein wenig Phantasie brachte sie die Dozenten so auf die Palme, dass sie keine andere Wahl mehr hatten. Als sich die Dozentin nach dem Grund der Störung erkundigte, wurde Cass aus ihren Gedanken gerissen. Die braunen Augen der Lehrerin musterten den Direktor fragend, der sogleich eine Erklärung abgab. „Entschuldige bitte die Störung Stacy, aber ich habe hier eine neue Schülerin. Ihr Name ist Cassandra Benedict. Ich bitte dich die junge Dame einzuweisen.“ Die Dozentin nickte und George überließ Cassandra der Obhut der Lehrerin. Während Cass dem Internatsleiter noch nachblickte, stellte sich die Dozentin vor. „Mein Name ist Mrs. Ortega. Am besten setzt du dich dort hinten neben Lisa“, sagte sie mit einer etwas schrillen Stimme, weshalb sie auch hinter vorgehaltener Hand als Schulsirene bezeichnet wurde, und deutete auf den einzigen freien Platz neben einem Mädchen mit einem langen blonden Pferdeschwanz. Neugierig wurde Cassandra beobachtet, als sie sich träge wie Karamellmasse durch den Klassenraum bewegte und ihre Mitschüler mit düsteren Blicken fixierte. In aller Seelenruhe setzte sie sich auf ihren Platz und zog geräuschvoll den Stuhl an den Tisch. Mrs. Ortega warf nur einen kurzen Blick in ihre Richtung, ehe sie sich wieder ihrem Unterricht widmete. Lisa stieß ihre neue Tischnachbarin sanft in die Seite und stellte sich flüsternd vor. Cassandra brummte notgedrungen auch ihren Namen. Ihr war nicht danach Freundschaften zu schließen, da sie sowieso nicht lange bleiben würde. In diesem Irrenhaus konnte sie es nie im Leben aushalten. Wenigstens das Klassenzimmer war gemütlicher als in ihrem Heimatort. Es strahlte eine besondere Atmosphäre aus. Es war ebenso altertümlich eingerichtet wie das Büro des Direktors. Tische und Stühle bestanden aus dunklem Holz. Ebenso wie der Schreibtisch der Dozentin, der parallel zur Tür stand. Hinter Mrs. Ortega war die Schultafel angebracht, die als einziges Objekt nicht antik war, aber dennoch gut mit den anderen Möbeln harmonierte. Alles schien sich gut zu ergänzen. Die Tische waren jeweils für zwei Schüler gedacht und standen in gebührendem Abstand hintereinander. Zwischen den beiden Sitzreihen war ein breiter Gang, durch den die Lehrerin kontrollierend auf und ab schritt. Ihre Blicke huschten wachsam über die Schüler und ihre Kunstprojekte, da jedes Kind einen Baum nach der eigenen Vorstellung zeichnen sollte. Mrs. Ortega erklärte Cassandra kurz und knapp, was sie zu tun hatte und wandte sich danach einem Mädchen zu, um dessen Arbeit zu begutachten. Das Schulmaterial wurde zum größten Teil von der Schule gestellt, damit allen Jugendlichen Material zur Verfügung stand. Cassandra hatte allerdings keine besondere Lust am Unterricht teilzunehmen. Sie interessierte sich ausschließlich dafür einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, da sie unbedingt noch heute von der Schule fliegen wollte. Gelangweilt balancierte sie ihren Bleistift zwischen den Fingern und überlegte womit sie anfangen sollte. Als Mrs. Ortega ihr den Rücken zukehrte, legte Cass grinsend ihren Stift beiseite und holte ein Kaugummi aus ihrer Hosentasche. Rasch steckte sie es in den Mund und fing laut schmatzend an zu kauen. Das würde ein Kinderspiel. Als Krönung legte sie dann noch ihre Beine auf den Tisch und wippte demonstrativ mit ihrem Stuhl hin und her. Der Hohn in ihrem Gesicht war kaum zu übersehen. Sie wollte beweisen, dass sie sich nichts aufzwingen ließ. Niemand würde sie in die Knie zwingen. Sie wollte hier raus und das war ein guter Anfang um ihr Ziel zu erreichen. Lisa blickte ihre neue Klassenkameradin erschrocken an und stieß ihr warnend in die Rippen. Sie würde noch die Aufmerksamkeit der Dozentin auf sich ziehen, wenn sie weiterhin so laut schmatzte. Doch die Warnung kam ohnehin zu spät. Mrs. Ortega, die gerade einem Jungen etwas erklären wollte, drehte sich entsetzt nach dem Störenfried um. „Wer wagt es hier so unmanierlich zu schmatzen?“, rief sie erbost und suchte mit ihren Augen die Klasse ab. Wie hypnotisiert blieb ihr Blick an Cassandra hängen, die gerade dabei war eine große Kaugummiblase zu fabrizieren. Nachdem diese geplatzt war, grinste Cass auch noch frech und winkte der Dozentin fröhlich zu. „Das war eine meiner Größten“, witzelte sie und signalisierte mit ihrem erhobenen Daumen wie toll sie das fand. Das wiederum veranlasste Mrs. Ortega dazu die Schülerin zu rügen. „Das solltest du dir gleich wieder abgewöhnen. Bitte spuck das Kaugummi aus und setz dich ordentlich hin.“ Die schrille Stimme der Lehrerin schmerzte in den Ohren und ließ ein Frösteln über Cassandras Körper laufen. Für diese Stimme brauchte die Alte echt einen Waffenschein. Aber immerhin hatte sie es geschafft, sie zu ärgern. Lisa, der es unangenehm war, dass ihre Sitznachbarin die Aufmerksamkeit der Ortega auf sich gezogen hatte, wurde ganz klein auf ihrem Platz und sie wünschte sich ein Loch herbei um darin zu verschwinden. Cassandra störte das jedoch überhaupt nicht. Das war ja gerade der Zweck ihrer Übung. Bemüht nicht zu sehr zu grinsen, blickte sie in aller Seelenruhe auf ihre Fingernägel, während sie mit der Ortega sprach. „Ey, sind sie auch bei den anonymen Kaugummikauern?“, fragte sie ohne die Lehrerin eines Blickes zu würdigen. Cassandra wusste, wie sie jemanden auf die Palme brachte und das verschaffte ihr eine besondere Genugtuung. Vorfreude keimte in ihr auf und sie konnte das Ergebnis kaum erwarten auf das sie auch nicht lange warten musste. Mrs. Ortegas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie hatte ja schon viel erlebt, aber das war der Gipfel der Unverschämtheit. Zornbebend sah sie die Schülerin an. „Es ist deine Entscheidung, ob du dich mit mir anlegen willst“, presste sie zwischen den Zähnen hervor. „Ich kann dir garantieren, dass du verlieren wirst. Jetzt spuck das Kaugummi aus, bevor ich unangenehm werde!“ Cassandra wollte schon wieder zu einer patzigen Antwort ansetzen, als ihr etwas Besseres einfiel. Ihr Grinsen wurde unverschämt breit, als sie das Kaugummi einfach vor ihrem Platz ausspie. Angeekelt sprang die Ortega ein paar Schritte zurück, als das Kaugummi direkt vor ihren Füßen landete. Mit einem Mal war die ganze Klasse mucksmäuschenstill. Nicht einmal das Kratzen eines Stiftes war zu hören. Alle Augen waren auf Mrs. Ortega und Cassandra gerichtet. Einige Schüler konnten sich plötzlich nicht mehr beherrschen und fingen an zu kichern. Auch Lisa konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Sie hatte beide Hände vor den Mund gedrückt, damit sie nicht laut losprustete. Außerdem versuchte sie ein entsetztes Gesicht zu machen, damit die Ortega ihr keine Strafe aufbrummte. Die Sache gefiel ihr allmählich. Sie hatte Mrs. Ortega noch nie springen sehen und dieses Bild war echt eine Goldmedaille wert. Die Dozentin allerdings war fassungslos über diese Frechheit. Sie konnte nicht glauben wie rücksichtslos sich die neue Schülerin benahm. „Cassandra!“, schrie sie mit ihrer schrillen Stimme und blickte sich mit zornigem Blick in der Klasse um, da sie in ihrem Rücken Gelächter vernommen hatte. „Ihr anderen seid ruhig und du ...“, sie zeigte mit ihrem Finger auf Cassandra. „... hebst das Kaugummi auf und wirfst es in den Mülleimer.“ „Davon haben sie vorhin aber nichts gesagt“, maulte Cassandra gespielt mürrisch. Dann stand sie auf, blieb vor dem Kaugummi stehen und blickte hinunter auf das kleine klebrige Etwas. Aber vom Fleck rührte sie sich nicht. „Was ist los, bist du da angewachsen?“, keifte die Ortega zornig. „Bring das klebrige Ding sofort in den Müll.“ Cassandra wurde regelrecht von ihrem Glücksgefühl überflutet. Innerlich rieb sie sich vor lauter Schadenfreude die Hände. Alles lief genau nach Plan. Es war einfach perfekt. Spätestens heute Abend würde Mr. Kimberley sie freiwillig wieder nach Hause schicken, weil sie für dieses Internat einfach untragbar war. Gekonnt setzte sie eine Unschuldsmiene auf und erwiderte zuckersüß: „Sorry, ey, aber ich habe zurzeit voll den Hexenschuss und kann mich nicht bücken.“ Demonstrativ drückte sie ihre Hand an den Rücken und stöhnte gekünstelt. Mrs. Ortega war sprachlos über diese Frechheit, und die ganze Klasse starrte neugierig von einem zum anderen. Gleich würde es ein Donnerwetter von der ganz gemeinen Art geben. Ungeduldig warteten sie darauf, dass es zur Sache ging. Die Ortega sah bereits aus wie ein roter, aufgeblasener Luftballon, der jeden Augenblick explodieren würde. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln. Doch ehe das geschah, schoss plötzlich aus der hinteren Reihe ein Junge mit kastanienbraunem Haar nach vorne, hob das Kaugummi auf und warf es rasch in den Mülleimer. Er warf Mrs. Ortega einen entschuldigenden Blick zu, hob bedauernd die Schultern und nahm rasch wieder Platz. Wie Cassandra später erfuhr, war das der Klassensprecher Norbert, der immer Ruhe zwischen Dozenten und Schülern haben wollte. Ein Wangenmuskel der Dozentin zuckte verräterisch. Man sah ihr an wie sie innerlich vor Wut kochte. „Das hat dir das Leben gerettet Cassandra!“, zischte sie mit kalter und schriller Stimme. „Und jetzt setz dich wieder hin!“ Ohne das Mädchen noch eines Blickes zu würdigen, fuhr sie mit ihrem Unterricht fort. Sie hatte sich dazu entschieden eine geeignete Maßnahme gegen dieses Verhalten mit dem Schulleiter zu besprechen. Sie wusste wie schwierig die Kinder in den ersten Tagen waren, aber das war kein Freifahrtschein für so ein Benehmen. Dieses Verhalten musste korrigiert werden, damit nicht andere Schüler auf die gleichen Ideen kamen. Cassandra setzte sich enttäuscht hin und überlegte was sie als Nächstes machen konnte. Wenn dieser Blödmann sich nicht eingemischt hätte, wäre die Ortega sicher wutentbrannt aus der Klasse gelaufen, um dem Direktor Bericht zu erstatten. Das war echt dumm gelaufen, aber nicht mehr zu ändern. Also musste sie die Lehrer weiterhin bis aufs Blut reizen, damit sie ihr Ziel erreichte. Als Lisa sie plötzlich grinsend in die Seite knuffte, wurde Cassandra aus ihren Gedanken gerissen. „Das war megasupertoll. Du weißt echt, wie man mit Miesmuscheln umgeht.“ Lisa blickte sie mit ihren meeresgrünen Augen beeindruckt an und Cass genoss diese Bewunderung, obwohl sie eigentlich nicht vorhatte Freundschaften zu schließen. Lässig winkte sie ab. „Das war erst mal der Anfang, die Steigerung kommt noch, wart‘ s ab.“ Ehe Lisa nachhaken konnte, war der Unterricht allerdings vorbei und die Glocke läutete. Geräuschvoll packte die Dozentin ihre Sachen zusammen und Cassandra kam nicht umhin frech in ihre Richtung zu grinsen und einmal freundlich zu winken. Die Ortega warf ihr noch einen finsteren Blick zu, ehe sie im Eiltempo hinausmarschierte. Cassandra und Lisa brachen in Gelächter aus. Dieses Spielchen hatte echt Spaß gemacht und ihre Laune extrem gehoben.
Leider währte die Freude nicht lange. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, sprangen die anderen Schüler auf und umkreisten sie. „Was fällt dir eigentlich ein, Mrs. Ortega einfach das Kaugummi vor die Füße zu spucken, willst du uns Ärger einhandeln?“, grollte einer und hob drohend seine Faust. Cass gähnte auf ihrem Stuhl demonstrativ, um zum Ausdruck zu bringen, dass es sie nicht im Geringsten interessierte, was die anderen über sie dachten. Nur Lisa, versuchte die Krachmacher zu übertönen und ergriff Partei für sie. „Ich fand es gut was sie gemacht hat, das hat die Schulsirene schon lange verdient.“ „Ich gebe Lisa Recht, auch wenn ich die Ortega erst kurz kenne“, meinte Cassandra beiläufig und betrachtete interessiert ihre Fingernägel. „Diese Frau erinnert mich ungemein an eine Flasche Essig.“ Niemand widersprach, dass die Ortega so einen Eindruck hinterließ, dennoch wollte keiner, dass eine Neue hier die Führung übernahm. So gab es verschiedene zornige Meinungen darüber, die heiß diskutiert wurden und es wäre garantiert in einer Prügelei ausgeartet, wenn nicht in diesem Augenblick Mr. McCall, der Dozent für Mathematik den Raum betreten hätte. Wie die Schatten huschten alle auf ihre Plätze und es wurde still im Klassenzimmer. Der blonde Dozent tat so als hätte er das nicht bemerkt und begrüßte die Klasse freundlich wie immer. Er war anscheinend sehr beliebt, denn Cassandra bemerkte, wie ihn jeder aufmerksam ansah. Seine blonden Haare, die schon einige graue Stellen aufwiesen, waren auf die rechte Seite gekämmt, was ihn ein wenig streng erscheinen ließ. Aber davon ließ sie sich sowieso nicht beeindrucken. Mit dem hellen Anzug und der Krawatte sah er sehr gepflegt aus und seine wachen, blauen Augen wanderten aufmerksam durch den Raum. Dann entdeckte er Cassandra, die ihn unverhohlen musterte. „Oh, ein neuer Glanz in unserer Mitte“, stellte er fest und sah sie offen an. „Darf ich fragen, wie du heißt?“ David McCall war immer freundlich, aber auch bestimmt. Er bemühte sich den Kindern ein gutes Vorbild zu sein und ihnen zu helfen, wenn es nötig war.