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«Ich liebe dieses Buch!» Lauren Groff Ein fesselnder Roman über den wohl bekanntesten deutschen Hexenprozess gegen Katharina Kepler, die Mutter des Astronomen und Physikers Johannes Kepler, erzählt aus der Sicht einer starken, unabhängigen Frau. Leonberg, kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs: Der kaiserliche Astronom und Protestant Johannes Kepler ist mit den gewagten Thesen seines heliozentrischen Weltbildes bei den württembergischen Herrschern nicht sonderlich beliebt und muss ins Exil. In der Zwischenzeit hält man sich an seiner Mutter Katharina schadlos und beschuldigt sie der Hexerei. Rivka Galchen schreibt aus Sicht «Kätherlin» Keplers, einer unabhängig denkenden, im besten Sinne «eigenwilligen» Frau von diesem historisch belegten, langjährigen Hexenprozess (1615–21) und stellt sich und uns die Frage, wie wirkmächtig selbstständig handelnde Frauen in der Historie waren. In Galchens Roman prallen Welten aufeinander, politisch, religiös und gesellschaftlich, an einem historischen Wendepunkt vor Krieg, Pest und einsetzender Renaissance. «Dieser Roman enthält zahlreiche Lektionen für unsere eigene Zeit, über die Macht von Furcht und Aberglauben, Böses entstehen zu lassen. Dabei verzücken Galchens spielerisch poetische Sätze wie die Magie in Märchen.» Oprah Winfrey «Galchen verwebt verschiedene Perspektiven und zeigt, wie leicht sich in einem Klima der Angst und Ignoranz eine Mobmentalität durchsetzen kann, wenn eine Frau einfach nur außerhalb der Norm steht.» The New York Times
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2024
Rivka Galchen
Roman
Ein fesselnder Roman über den wohl bekanntesten deutschen Hexenprozess gegen Katharina Kepler, die Mutter des Astronomen und Physikers Johannes Kepler, erzählt aus der Sicht einer starken, unabhängigen Frau.
Leonberg, 1618: Die Pest grassiert, Krieg wird ausbrechen, Angst und Misstrauen herrschen. Der kaiserliche Astronom und Protestant Johannes Kepler ist mit den gewagten Thesen seines heliozentrischen Weltbildes bei den württembergischen Herrschern nicht sonderlich beliebt und muss ins Exil. In der Zwischenzeit hält man sich in Leonberg an seiner Mutter Katharina schadlos. Rivka Galchen schreibt aus Sicht «Kätherlin» Keplers, der Sicht einer unabhängig denkenden, im besten Sinne «eigenwilligen» Frau von dem historisch belegten, langjährigen Hexenprozess (1615–21) und stellt sich und uns die Frage, wie wirkmächtig selbstständig handelnde Frauen in der Historie waren. In Galchens neuem Roman prallen Welten aufeinander, politisch, religiös und gesellschaftlich, an einem historischen Wendepunkt vor dem Dreißigjährigen Krieg, Pest und einsetzender Renaissance.
«Dieser Roman enthält zahlreiche Lektionen für unsere eigene Zeit, über die Macht von Furcht und Aberglauben, Böses entstehen zu lassen. Dabei verzücken Galchens spielerisch poetische Sätze wie die Magie in Märchen.» Oprah Winfrey
«Eine weise Meditation über das hysterische Spiel mit abstrusen Schuldzuweisungen, das uns im Internetzeitalter so vertraut ist.» Lauren Groff
Rivka Galchen wurde 1976 in Toronto geboren und wuchs in Norman, Oklahoma, auf. Sie studierte die seltene Mischung von Literatur und Medizin in Princeton und an der Mount Sinai Medical School. Ihr Romanerstling «Atmosphärische Störungen» war ein großer Erfolg in den USA und wurde von den bedeutendsten Rezensenten auf den Titelseiten der Feuilletons gelobt. Der New Yorker listete sie 2010 unter die 20 besten ihrer Generation unter 40. Rivka Galchen lebt in Manhattan.
Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel «Everyone Knows Your Mother Is a Witch» bei Farrar, Straus and Giroux, New York
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Everyone Knows Your Mother Is a Witch» Copyright © 2021 by Rivka Galchen
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München, nach dem Original von HarperCollins Publishers Ltd 2021
Coverabbildung Shutterstock
Design: Emma Pidsley
ISBN 978-3-644-04531-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Familie
Nachfolgend beginne ich meinen Bericht mithilfe meines Nachbarn Simon Sattler, da ich weder lesen noch schreiben kann. Ich bestehe darauf, dass ich keine Hexe bin, nie eine Hexe war, mit keinen Hexen verwandt bin. Aber schon sehr früh im Leben hatte ich Feinde.
Als Kind war Mare, unsere Kuh vom Gasthaus meines Vaters, bitterböse zu mir. Ich wusste nicht, warum. Wenn sie heute hier wäre, würde ich nicht zögern, ihr ein blaues Seidenband um den Hals zu binden. Sie starb am Milchfieber, ohne mein Zutun, doch als kleines Kind hatte ich das Gefühl, es getan zu haben, weil Mare mich getreten und ich sie Fettwanst geschimpft hatte. War sie meine Feindin? Es braucht Zeit und Erfahrung, das Vertrauen einer Kuh zu gewinnen.
Jetzt bin ich über siebzig Jahre alt. Ich will keine Zeit mehr auf die Feinde oder Lieben meines jugendlichen oder mittleren Alters verwenden. Ich will nur sagen, dass ich nie zuvor jemals auch nur im Geringsten mit dem Gesetz in Konflikt geraten bin. Nicht wegen Streiterei, nicht wegen Fluchens, nicht wegen Liederlichkeit, nicht wegen des kleinsten Diebstahls. Trotzdem wird mir in diesem Prozess die Macht zugesprochen, Mensch und Tier zu vergiften, zu lähmen, durch geschlossene Türen zu gehen, der Tod von Schafen, Ziegen, Kühen, Säuglingen und Rebstöcken zu sein oder auch zu heilen – ganz nach Belieben.
Dabei kann ich, wie Ihr wisst, nicht einmal beim Tricktrackspiel gewinnen.
Wenn meine Verteidigung misslingt, wird man versuchen, ein Geständnis durch Folter zu erzwingen, zuerst mit Daumenschrauben, dann mit Beinschienen, dann mit Aufziehen am Brett – oder etwas Ähnlichem. Es hängt davon ab, wen der Rat für die Aufgabe bestellt. So mir Gnade widerfährt, werde ich enthauptet und danach verbrannt. So keine Gnade waltet, werde ich ohne vorherige Enthauptung verbrannt. Dergleichen ist es letztes Jahr sieben Frauen in Regensburg ergangen. Meine Kinder haben sich unter Hinzuziehung einiger Hilfe auf meine Verteidigung verständigt.
Es gibt zwei Dinge, die eine Frau allein tun muss: Sie steht für ihren eigenen Glauben und für ihr eigenes Sterben. So sagt Martin Luther. Oder so sagt Ihr, dass Martin Luther sage oder sagte. Ich bin im selben Jahr geboren, in dem Luther starb. Ich habe die katholische Kommunion nur ein Mal empfangen, irrtümlich. Meine Tochter Margareta ist mit einem Pastor verheiratet. Er sagt, das mache nichts. Mein Sohn Johannes pflichtet ihm bei. Ich habe größte Hochachtung vor Luther. Auch er wurde verunglimpft. Noch einmal, Simon, ich bin Euch dankbar, dass Ihr bei mir sitzt, für mich schreibt, mein gesetzlicher Beistand seid.
Dies ist mein wahres, wahrhaftigstes Zeugnis.
An einem Dienstagvormittag im Mai 1615, vor nunmehr vier langen Jahren, klopfte es zaghaft an meine Tür. Ein sommersprossiger Knabe sagte mit gesenktem Blick, ich möge ihm zum herzoglichen Vogt Lukas Einhorn folgen. Der Knabe hatte helle Augen und trug saubere kurze Hosen. Es war heiß draußen. Ich bot ihm einen schwachen kühlen Wein an, aber er errötete und lehnte ab. Warum ich gerufen würde?, fragte ich. Er sagte, es sei eine offizielle Vorladung. Aber er wusste nicht, warum.
Ihr werdet Euch erinnern, Simon, wie verdorben der Frühling war in jenem Jahr. Die Rüben waren schrumpelig, die Rettiche dürr. Der Rhabarber, für gewöhnlich eine Pracht, kam auf Stroh hinaus, und der Spargel gleichermaßen. Davor hatte es einen grimmigen Winter gegeben. An einem verschneiten Abend war ein Geißbock an meiner Tür erschienen, ein Bettler wie Jesus, dachte ich und ließ ihn ein, und er war so gefroren, dass sein Barthaar brach wie Zuckerguss, als er den Kopf gegen mein Tischbein stieß. Ich traf einen Hirten von außerhalb von Rutesheim, dem die Nase abfiel, als er sich schnäuzen wollte. Es waren Unheil verkündende Monate gewesen. Der Preis für einen Sack Mehl hatte sich fast verdoppelt. Die halbe Stadt musste bei den Kornspeichern borgen.
Aber jener Dienstag war ein sonniger Tag. Ich zog meine Stiefel an, küsste meine liebe Kuh Milli, ließ die Wäsche stehen.
Und ich hatte eine schmeichelhafte Vermutung, warum ich einbestellt wurde. Ihr werdet mich auslachen, wenn ich Euch das erzähle. Ich dachte, Lukas Einhorn wolle meine Hilfe. Meine Hilfe! Wegen der dunklen und schwierigen Zeiten, versteht Ihr? Er war neu als herzoglicher Vogt und hatte keine Vorstellung, wie dieses Amt auszuüben sei. Ich nahm an, Einhorn wolle mich bitten, meinen Sohn Hans zu fragen, ein Horoskop oder gar einen ganzen astrologischen Kalender für ihn zu erstellen. Ein Groll kam mir, als ich dachte, dass er die Arbeit für Gotteslohn erwarten würde. So viele, die Adlige geheißen werden, bitten Hans um astrologische Kalender, um Wettervorhersagen, um persönliche Horoskope. Sogar Kaiser Rudolf hatte ihn gefragt: Was sagen die Sterne zu dem Krieg mit Ungarn? Und sogar der Kaiser hat es nie dazu gebracht, ihm sein Gehalt zu zahlen. Der neue Kaiser ist nicht besser. So geht es mit manchen Leuten, immer dasselbe. Sie könnten ihn genauso gut bitten, ihnen die Kniehosen zu flicken. Hans lebte damals schon in Linz. Er hatte gerade wieder geheiratet und lehrte an einer kleinen Schule. Eine Stellung an seiner Tübinger Universität war ihm wegen eines Unsinns über die Frage, wie die Hostien der Kommunion beschaffen seien, verwehrt worden, und obwohl er an den vornehmsten Höfen bekannt ist, wird er nur in minderem Stand entlohnt. Damals, in jenem Mai, war er in alle möglichen Konflikte mit Druckern verstrickt und überdies auf der Suche nach einem Freier für seine Stieftochter. Ich galt als diejenige, die Hans’ Ohr hatte. Aber der Mann hat nur die gleichen zwei Ohren, die Gott auch uns anderen geschenkt.
Ich bekomme hier in Leonberg so wenig Anerkennung für Hans’ Platz in der Welt, und das ist gut so – wer will schon des Teufels Neid heraufbeschwören? Aber ich glaube, ich wartete auf die Gelegenheit, ein Kompliment zurückzuweisen, um sagen zu können, Hans’ Erfolge seien seine eigenen, nicht meine, wenngleich Hans behauptet, und ich zweifle nicht an seinen Worten, dass sich die Fantasie einer werdenden Mutter dem Kind einprägt. Und Hans sieht aus wie ich, nicht wie sein Vater, Gott hab ihn selig oder wie man sagt. Während ich dem Knaben folgte, dachte ich: Nun denn, ich werde Hans um das Horoskop bitten, oder was der Untervogt auch wollen mag, das hilft meinem Sohn Christoph, der im selben Jahr gerade erst das Bürgerrecht der Stadt erworben hatte und es, genau wie Hans, zu etwas bringen wollte in der Welt, warum nicht? Wir kamen an einem der kleinen Bürgergärten vorbei, wo Kornblumen und blaue Kamille einander überwucherten. Ein weißes Kaninchen kreuzte meinen Weg. Draußen vor der Residenz des herzoglichen Vogts legte ein junger Steinmetz letzte Hand daran, Einhorns Schild in einen Stein zu meißeln. Das Wappen zeigte ein Einhorn, das sich, einem Schlachtross gleich, auf den Hinterbeinen aufbäumt. Nichts als Eitelkeit.
In der kühlen Amtsstube der Vogtei wies mir der Knabe einen Platz neben einem vulgär ausgestopften Fasan zu und verschwand. Der Fasan hatte grüne Glasaugen. Die Federn sahen ölig aus, der Fasan böse. Zum Bösen geneigt, meine ich, im Gegensatz zu dem Bösen entsprungen. Ich war durstig. Ich wartete dort, neben dem reglosen Fasan.
Also, Kätherlin, sagte ich mir, du bist kein Kind mehr, du musst deine eigene Lichtquelle sein. Du kannst Ja sagen, dass du um das Horoskop bitten willst, oder du sagst Nein, aber wenn du Nein sagst, solltest du es höflich tun.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich gewartet habe. Dann kam eine Frau herein. Eine Frau, die ich kannte. Es war Ursula Reinbold. War sie auch einbestellt worden? Ihr Haar löste sich aus dem Knoten. Die Locken waren verschwitzt. Ihr Gesicht gerötet. Sie lachte, weinte – beides. Ursula hat keine Kinder, sie sieht aus wie ein rechter Werwolf, ist mit einem drittklassigen Glaser verheiratet. Es ist ihre zweite Ehe. Zu meinem großen Unglück sind zwei von Ursulas Brüdern aufgestiegen in der Welt. Einer dient dem Herzog von Württemberg als Hofbarbier, der andere als Forstmeister zu Leonberg. Den Barbier nenne ich Barbier. Den Forstmeister, Urban Kräutlin, nenne ich den Krautkopf. Das passt doch, nicht wahr? Spricht man mit den Leuten aus Ursulas Heimatort, wie mein Sohn Hans es getan hat, weiß jeder, dass sie als junge Frau wirkmächtige Kräuter nahm, die ihr der Apotheker gab – der Apotheker, mit dem sie vor ihrer ersten Ehe eine Liebschaft hatte. Weithin bekannt ist auch ihre spätere Affäre mit Jonas Zieher, dem sommersprossigen Kupferschmied, in der Zeit vor ihrer zweiten Ehe. Zieher stand neulich vor Gericht, weil er einen ehrenwerten Mann als «Gevatter des Teufels» geschmäht hatte, und musste fünf Pfennige büßen. Aber ich greife vor. Was ich sagen will, ist, dass Ursulas Bruder, der Krautkopf, mit ihr gekommen war. Er trug einen grünen Jagdumhang, seine Haltung war erbärmlich, die Wangen rot angelaufen. Hinter ihm kam, backenbärtig, der herzogliche Vogt Einhorn, zerzaust, einen gescheckten Spaniel in den Armen. Sie rochen nach Trinkerei. Zusammen sahen sie aus wie Strauchdiebe, die sich im Morgengrauen mit dem Rahm davongestohlen haben.
Ich weiß, Simon, Ihr werdet denken, dass es unklug ist, aber ich möchte gern etwas über Einhorn sagen, den herzoglichen Vogt, den ich lieber das falsche Einhorn nenne. Er stammt nicht aus dieser Gegend. Die wunderbare Herzogin Sybilla, möge sie in Frieden ruhen, hat ihn hergebracht. Das falsche Einhorn musste sich Sybillas Urteil in allen Belangen fügen. Aber dann ist sie so plötzlich gestorben. Der Herzog war abgelenkt davon, Soldaten zu zählen, Verträge zu unterzeichnen, Spitzenmanschetten zu ordern. Er schenkte dem, was in Leonberg geschah, keine Beachtung, und so riss das falsche Einhorn Machtbefugnisse an sich, die dem Herzog zugestanden hätten. Er begann, sich aufzuplustern. Trug sein Haar länger. Ließ sich einen neuen Kragen fertigen. Er stolzierte umher und erzählte jedem, der es hören wollte, dass er sich in Leonberg über die Maßen langweile und die Weiber in Stuttgart reizvoller seien. Ich meine, das falsche Einhorn geriert sich wie ein Fischotter im Wams.
Dieser Bericht ist für nachher bestimmt, wenn mein Prozess zu Ende ist, wie auch immer das Ergebnis.
Zu Lebzeiten der Herzogin Sybilla kamen Menschen von weit her, um ihren Medizingarten zu sehen. Er war häufig geöffnet, zum Lustwandeln oder für Festlichkeiten. Es gab Nelken und Pomeranzen und leuchtenden Huflattich gegen Husten. Es gab aromatische Wurzelstöcke fürs Zahnen, seltenes Löffelkraut. Es gab eine Sesamart, die Sybilla neben Nieswurz zog. Zusammen gebrüht, konnten die beiden Pflanzen bei mancherlei Wahnsinn helfen, das jedenfalls vermutete Sybilla. Sogar die Teufelstrompete wurde in ihrem Garten gehegt. Ich könnte fortfahren. Oft nahm ich mit Sybillas Erlaubnis Ableger mit nach Hause. Sie kannte sich aus. Ich will hinzufügen, dass sie bemerkenswertes Interesse an meiner Erforschung von Kräutern für das Antoniusfeuer zeigte. Selbst eine Bäuerin wie mich nahm sie ernst. Nicht wegen Hans. Sondern weil sie eine Gelehrte war. Sybillas Garten ist jetzt kaum mehr als ein Ziegengrab. Einhorn hat ihn vernachlässigt.
Ich verstehe, was Ihr meint, Simon. Ich will keine Feinde schaffen, wo keine sind. Aber ich berichte grundlegende und unleugbare Tatsachen über einen Mann, der beinah müßig, wie zum Zeitvertreib, mein Verfolger wurde.
Das falsche Einhorn fläzte sich in einen Sessel hinter dem Tisch. Er kraulte seinen Spaniel am Kinn, turtelte, lächelte. «Schon seltsam, was Gott uns alles zu tun hinterlassen hat. Aber egal, was für Fehler wir machen, am Ende wird er sie berichtigen, darum kommt es vielleicht gar nicht so drauf an, was wir eigentlich tun. Trotzdem müssen wir Miene machen, uns etwas anzustrengen, hab ich recht?» Diese Rede war an den Spaniel gerichtet. Dann blickte er auf. «Also gut. Hm. Wo war ich? Ach ja. Die Keplerin. Das seid Ihr, ja?»
Ich sagte, fürwahr, die sei ich.
«Wie mir zur Kenntnis gelangt ist, sollt Ihr Eure sehr beträchtlichen dunklen Mächte dafür benutzt haben, dass diese liebenswerte Glasersfrau» – er blickte zu Ursula hinüber, die ermutigend nickte – «ächzt, weint, zuckt, sich vor Schmerzen windet, unfruchtbar ist und gackert.»
«Kein Gackern, Herr», sagte Ursula. «Aber das andere, ja.»
«Nun denn, das Gackern beiseite, Keplerin. Aber der Rest.»
«Es war ein Gift, das sie mir gegeben hat», sagte Ursula. «Ein bitterer Wein, ein Hexentrunk.»
«Unterbrich ihn nicht, Schwester», zischte der Krautkopf. «Wir bitten höflichst um Verzeihung, Herr.»
Einhorn küsste seinen Spaniel auf den Kopf, ließ sich das Gesicht lecken. Dann setzte er ihn ab. «Tut mir leid, ist einfach so viel los hier», sagte er mit einem erneuten Lächeln. «Ich hätte nie gedacht, als ich den Posten hier bekam, dass es in einem Nest wie diesem so viele … Aufgaben geben würde. Der eine will Almosen, der andere das Recht zu sammeln und zu jagen, die Zimmerleute wollen sich nicht mit dem Schandfleck des Galgenbaus besudeln. Wo waren wir? Hier: Also verfüge und verlange ich kraft meines Amtes, dass Ihr den Fluch, die Wunde oder die Verletzung ungeschehen macht oder ein Gegengift bereitet, Euch dabei aller Mächte bedient, teuflisch oder was Ihr sonst noch braucht. Ich gebe Euch die Erlaubnis. Ich verlange es. Auf dass ihr geholfen werde, diesem lieben armen und demütigen Weib, das heute hier vor uns steht.»
Ich blickte mich um. Sprach er wirklich mit mir? Der glasäugige Stopffasan war stumm. Ich wandte mich Ursula zu, die auf ihren Schoß starrte. «Das ist doch albern», sagte ich. «Ihr seid alle betrunken.»
Der Krautkopf, sich von seinem Sitz erhebend, sagte: «Wir hören auf, Euch bei den Leuten als Hexe zu verschreien. Nehmt nur den Fluch zurück. Bitte. Wir wollen keine unbotmäßige Entschädigung. Nur was recht und billig ist. Ein besseres Geschäft könnt Ihr nicht machen.» Es war wie ein Feilschen um Knöpfe. «Was durch Hexerei angerichtet, kann nur durch Hexerei aufgehoben werden, ich habe mich kundig gemacht», sagte er. «Sie kann nicht urinieren ohne stechende Schmerzen. Sie greint vor hohen Gästen. Ihr Mann sagt, für ihn tauge sie nicht mehr. Was hat Euch meine Schwester nur getan? Wenn Ihr den Glaser hasst, warum nicht ihn angreifen? Habt Ihr denn kein Erbarmen? Ihr habt eigene Kinder. Sie ist meiner Mutter Kind –»
Plötzlich lag er auf den Knien, zog mich am Rock, flehte um den Spruch, den Gegenzauber, erzählte mir, wie schrecklich sie leide. Ich hätte mich mehr fürchten sollen, das weiß ich jetzt. Aber alles, was ich sehen konnte, worunter Ursula litt, waren Fettflecken auf ihrer Bluse und Haar, das dringend aufgesteckt gehörte. Unseligerweise sagte ich das auch.
Wisst Ihr, Simon, es gab eine Zeit, da habe ich auf dem Markt gern mit Ursula gelacht. Sie war so gut darin, den stotternden Käsehändler nachzuahmen und auch den alten Pastor mit seinen Predigten. Wenn ich heute daran denke, war es immer ein gemeines Lachen. Als die Herzogin Sybilla ihren Sommerpalast in Leonberg errichtete, nahm sie viele Anbieter und Handwerker aus der Stadt in Lohn und Brot. Sie gab meinem eigenen Sohn Christoph den Auftrag, eine prachtvolle Zinnbadewanne zu fertigen, und entlohnte ihn mit hundertachtzig Gulden. Ursula bedrängte Christoph, dass er ihren Gemahl, den Glaser Reinbold, einführe, aber Sybilla wollte den drittklassigen Glaser nicht.
«Ihr müsst ihr helfen», sagte der Krautkopf. «Seine Ehren, der herzogliche Vogt, haben es befohlen.»
Ursula weinte oder tat wenigstens so, und selbst mir rührte es das Herz, da sie heulte wie ein kleines Kind. Ich streckte meine Hand nach ihr aus. Ich war versucht, ihr das Haar zu richten. Und dummerweise sagte ich: «Es wird gleich besser werden.»
Darauf mühte sich der Krautkopf schwankend auf die Beine und zog sein kurzes Schwert aus der Scheide. Es war ein eitles Schwert, dergestalt gefertigt, dass es am Griff mit Band umwickelt schien, etwas, was ein Edelmann bestellt und im letzten Moment zurückgewiesen haben mochte, sodass der Schwertmacher darauf sitzen geblieben war. «Nimm den Fluch von ihr, du zahnlose Hexe!»
Ich habe noch fast alle Zähne, nur die überflüssigsten verloren. Aber das sagte ich nicht. Die Angst hatte mich nun doch beschlichen, war angekommen, wo sie hingehörte. Es schien, als hätte Gott vergessen, wo ich war. Da kam mir das Bild von dem abgetrennten Daumen einer Frau aus der Nähe von Augsburg in den Sinn. Er war unter Schrauben und Streckbrett abgerissen. Die Tortur sollte ihr Geständnis erzwingen. Aber es kam keines, und so schickte man sie in die Zelle zurück. Am nächsten Tag wurde sie von der Anklage wegen Hexerei losgesprochen. Als die Wächter hingingen, um sie freizulassen, fanden sie die Frau tot auf. Niemand trug eine Spende für ihr Begräbnis bei.
Entgegen dem, was meine Kinder glauben mögen, und obwohl ich mich sehr fürchtete, sagte ich nur, was genau angemessen war. Ich sagte, es sei unrecht, eine alte Frau mit solch fantastischen und abscheulichen Anklagen zu überraschen. Und es sei auch nicht nach dem Gesetz. Anklagen sollten vor einem Gericht erhoben werden, nicht unter der Schneide eines Schwerts zur späten Mittagsstunde, wenn eine alte Frau nach Hause gehöre. Ich sei nicht einmal in Begleitung eines männlichen Beistands. Dies wiederholte ich, dass ich ohne Beistand sei.
In so vielen Jahren des Lebens lernt man hin und wieder ein bisschen was dazu.
Der Krautkopf schüttelte sein Schwert.
Ich sagte, ich hätte nichts getan, um Ursula zu schaden, und könne nichts tun, um sie zu heilen.
«Das ist nicht wahr», sagte der Krautkopf.
«Euer eigener Bruder ist persönlicher Leibarzt des Herzogs», sagte ich. «Wenn er ihr nicht helfen kann, wie sollte ich es können?»
«Was Teufelswerk ist, kann nur der Teufel aufheben.»
«Ihr wollt, dass ich den Teufel rufe?»
«Ich will –»
«Den Teufel müsst Ihr selber rufen.»
Der Krautkopf strauchelte, trat dem jaulenden Spaniel auf den Schwanz.
«Jetzt wird’s hier aber ungemütlich», rief das falsche Einhorn. Er nahm den Spaniel wieder hoch. Wie absurd, die von mir ausgehende Gefahr! Im selben Moment setzte mir der Krautkopf die Spitze seines Schwerts auf die Brust. Der Tand, den mein Sohn Christoph aus Zinn für mich gefertigt hatte, klimperte. Mein Mieder riss auf. Ich schrie.
«Dieses Geplänkel wird langweilig und gefährlich», sagte das falsche Einhorn und trat einen Schritt vor. «Steckt das Schwert weg, bitte», sagte er zum Krautkopf. Dann wandte er sich an mich und fragte, ob ich den beiden nicht einfach geben könnte, was sie wollten, nur einen kleinen Gegenzauber, sei das wirklich so schwierig?
Ich sagte, ich sei eine arme Witwe und ungehörig wider das Gesetz einbestellt worden.
«Welches Gesetz?», sagte Einhorn, als wachte er gerade auf. Ein Papier, das auf einem Nebentisch lag, interessierte ihn plötzlich. Etwas hatte ihn ernüchtert. Er setzte den Hund ab und näherte sich mir. «Was für ein blödsinnig verschwendeter Morgen.» Er inspizierte mich. «Euer Kleid ist leicht zu flicken.» Er langte an seine Weste, zog drei Pfennige heraus. «Das wird fürs Ausbessern reichen. Oder Ihr flickt es selbst. Wie Ihr wollt.» Er hielt mir die Türe auf und sagte, ich könne gerne, liebend gerne gehen. Er sagte, wir alle sollten gehen. Dann zu mir: «Fürwahr, Ihr seid ohne Beistand. Diese Zusammenkunft ist, nun ja, sie ist nichtig. Sie hat nie stattgefunden. Vor den Augen des Gesetzes und somit des Herrn ist dieser Nachmittag unsichtbar.»
Einmal, als ich Pilze sammeln ging, traf ich auf einen mächtigen Elch, dem der größte Teil des linken Geweihs fehlte. Ein Auge war zugeschwollen, von Eiter verkrustet. Sein Gang war unstet. Er roch nach Schaum. Das Grunzen war schaurig. Indes er sich bewegte, schien der Wald um ihn her verwandelt: Die Blätter waren Augen geworden. Ich wurde geprüft oder eingeladen oder war im Sterben begriffen. Dann stieß der kranke Elch ein neuerliches Gebrüll aus, lauter: als triebe er sich den Geist aus. Weinbergslauch kitzelte mich am Knöchel. Der Elch zog von dannen. Ich ging heim.
Nein, Simon, meiner Familie habe ich’s nicht gleich erzählt. Keiner Seele habe ich es gleich erzählt. Nicht einmal Euch, wie Ihr wisst. Auf dem Heimweg pflückte ich etwas Wegwarte und brachte sie meiner Kuh Milli, die gesund und unverändert schien. Die nächsten Stunden waren seltsam, beunruhigend, wie im Traum, gewöhnlich. Vielleicht war das Ereignis bedeutungslos gewesen. Vielleicht war es gar nicht geschehen, ganz wie Einhorn es müßig verkündet hatte. Ich machte meine Wäsche fertig, gab Milli wieder einen Abschiedskuss und ging rüber zu Christophs Haus.
«Ich bin nicht bei Laune und will keine Ratschläge hören», sagte mein Sohn, als er die Tür öffnete. «Keine Meinungen, keine Ansichten oder Empfehlungen und keine Miesmacherei.»
«Schon gut», sagte ich.
«Ein Mann will auch mal eine ganze Wurst essen.»
Seine Zunftsteuer war heraufgesetzt worden. Das hatte er tagsüber auf der Zunftversammlung erfahren.
«Ich, der Junior», fuhr er fort, «sagte natürlich: Jawohl, die Herrschaften, danke sehr, ich bin vollkommen einverstanden!, und jetzt muss ich mir nicht anhören, dass jemand hier so tut, als hätte ich die Wahl gehabt.»
Christophs Frau Gertraude stand am Herd und kochte eine einfache Suppe mit Klößen. «Wenn sie ihm sagten, der Himmel sei grün, würde er sagen Jawohl, die Herrschaften, ein liebliches Smaragdgrün.» Sie gab reichlich Dill in die Suppe, wovon ich hoffte, dass Christoph es nicht merkte, denn er ist kein Freund von Dill. «Smaragdgrün, würde er sagen und sich, einmal daheim, bei mir über den Zinnpreis beklagen.»
«Zu sagen, der Himmel sei grün, tut keinem weh, Gertie», sagte Christoph. «Deswegen muss keiner hungern.»
«Er ist eine Feldmaus, Mama Kepler.»
So beschloss ich, beim Abendessen am Tisch zu sitzen, ohne etwas von meiner Begegnung mit dem Werwolf, dem Krautkopf und dem falschen Einhorn zu sagen. Ich schlug es mir aus dem Kopf.
Doch mein Entschluss wurde bald auf die Probe gestellt. Gertie hatte gerade ein Flugblatt über die jüngsten Hexenprozesse in Eltingen gelesen. «Die drei Frauen wurden zusammen hingerichtet, alle auf demselben Podest. Das kommt die Stadt billiger, verstehst du. Aber sie nehmen keinen Schlachter, sie lassen es sich einen echten Henker kosten.» Gertie liebt es, von dem Geizhals zu hören, dessen Herz, nachdem er gestorben war, in der Truhe mit seinen Juwelen gefunden wurde. Von der heiligen Nonne, die den Piraten, der sie entführt hatte, zum Mann nahm. Sie liest jedes Flugblatt, das sie in die Finger bekommt. Was sollte ich mich grämen, dass ich selbst nicht lesen kann?
«Zwei der drei hingerichteten Frauen hießen Barbara», sagte sie.
Zum Glück hörte Christoph nicht zu. Er hatte einen Stapel Abrechnungen vor sich, den er beim Suppeschlürfen ärgerlich durchblätterte. Klein Agnes, sechs Jahre alt, spielte nebendran auf dem Fußboden, rührte mit einem Löffel Bohnen um.
«Zwei Barbaras?», versuchte ich, meinen Teil beizutragen. «Muss ein Unglücksname sein.»
«Vielleicht», sagte Gertie stirnrunzelnd.
«Wer ist Barbara?», fragte Klein Agnes von unten.
«Oh, es gibt viele Barbaras», sagte Gertie. «Mach dir keine Sorgen.»
Gertie erzählte mir, dass der Henker, ein gewisser Jeronimas Breuning, von seinem gewohnten Platz in Nördlingen angeheuert worden sei. Am Ende habe dieser Breuning die Frauen ein letztes Mal sprechen lassen, «wie es sich gehört, weißt du. Man kann den Leuten nicht einfach so den Kopf abschlagen, ohne ein Wort, wie manche Schlachter es tun». Die erste Barbara flehte darum, dass ihre Kinder versorgt würden. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie gestanden hatte. Sie sagte, sie habe keine Händel mit dem Teufel. Und sie habe nichts zu essen bekommen, darum falle ihr das Denken schwer, auch seien ihr die Beine gebrochen worden.
«Es schmeckt, als äße ich hier Blumen», sagte Christoph.
«Ist aber kein Dill drin», log Gertie.
«Hat die Barbara geweint?», fragte Agnes.
«Das steht da nicht», sagte Gertie.
«Warum glaubst du immer alles, was du liest, Gertie?», sagte Christoph. «Stand die Barbara nicht da? Wenn sie auf dem Podest gestanden hat, dann waren ihre Beine nicht gebrochen –»
Gertie tat ihn mit einer Handbewegung ab. «Hör dir das an, Mama Kepler, das ist es nämlich, was ich dir eigentlich erzählen wollte. Diese erste Barbara hat nur ein Übel in ihrem Leben gestanden. Sie sagte, sie habe das Haar ihrer kleinen Tochter mit einem Pulver gegen Milben behandelt, aber das Pulver sei zu stark gewesen und habe das kleine Mädchen getötet –»
«Welches kleine Mädchen?», fragte Agnes.
Gertie redete weiter: «Sie hatte das Pulver auf Anraten des Apothekers benutzt. Stell dir vor! Wenn einem da nicht das Herz für diese Frau aufgeht –»
«Kanntest du die Barbara?», fragte Agnes.
Nein, das nicht, erklärte Gertie, die Barbara habe außerhalb der Stadt gelebt, hinter dem Metzgerhof, und man sagte, sie sei nie eine für Gemeinsamkeit oder Hochzeiten gewesen. «Die zweite Barbara, die habe ich erkannt. Sie verkaufte Seife auf dem Markt. Eine seltsame Person, roch nach eingelegten Gurken. Als sie mit ihren letzten Worten an der Reihe war, sagte sie nur, Gott kenne sie. Gott kenne sie, und sie kenne Gott, mehr sei nicht zu sagen. Schön und gut, aber wen kennt Gott nicht?»
Christoph legte seine Abrechnungen nieder. «Gertie, gibt es nicht ein bisschen Senf? Das ist keine Suppe, das ist eine Schafweide.»
Ich sagte leise, Dill sei sehr gut für die Fruchtbarkeit wie auch für die Knochen. Gertie holte den Senf.
Dann kündigte sie mir an, jetzt komme, was sie das Beste nannte. «Die dritte Frau hatte rotes Haar», sagte sie. «Du weißt, was dabei herauskommen kann. Diese Rothaarige war ein echtes Spektakel. Sie trat lachend auf das Podest und verspottete den Henker, er sehe aus wie eine Hummel.»
Simon, ich habe Hinrichtungen immer gemieden und nehme an, dass Ihr es ähnlich haltet, aber ich habe gehört, alle Henker würden sich in leuchtenden und kostspieligen Farben kleiden; sie verdienen jede Menge Geld und zeigen es. Gertie fuhr fort zu erzählen, alsdann habe die lachende Rothaarige gestanden, siebzehn Maultiere, dreiundvierzig Hühner und sechs Ziegen getötet zu haben. Von sechsundachtzig Stück Vieh, die sie krank gemacht habe, seien einundsiebzig gestorben. So ungefähr müssen die Zahlen gewesen sein. Außerdem schrieb sie sich den Tod von elf Säuglingen zu. Der Teufel hatte sie zum ersten Mal beim Schafescheren heimgesucht. Grün gewandet, trug er einen feinen schwarzen Wollhut mit einer ungewöhnlich schmucken Feder – der schönste Mann, den sie je gesehen hatte. Der teuflische Liebhaber stellte sich als kaltherzig heraus, aber er hatte ihr ein Versprechen abgenommen.
Ich war plötzlich sehr müde. Agnes bat um einen Nachschlag Suppe, den ich ihr gab.
«Die Rothaarige bestritt ihre Schuld nur in einem Punkt: dass sie nie auf einem Hexensabbat getanzt habe. Sie tanze nicht gern und sei immer dagegen gewesen.»
«Ach», sagte ich.
«Sag, was du willst, aber ich tanze für mein Leben gern.»
Christoph kratzte seine Schüssel aus.
Agnes’ Kleid war mit Suppe getränkt.
Christoph sagte: «Das einzig Wichtige ist die Frage, wie viel Gulden von diesen Frauen konfisziert wurden und in wessen Tasche sie gewandert sind.»
Als Christoph und Gertie geheiratet haben, galten sie als ein gutes Paar, wozu Christophs stattliche Erscheinung sicher das Ihrige beitrug. Aber um ehrlich zu sein, dürfen wir nicht vergessen, dass Christoph trotz aller seiner Vorzüge der Sohn einer wenig begüterten Witwe war. Er hatte als Handwerksgeselle gearbeitet. Mit bewundernswerter Geschwindigkeit hatte ihn Gerties Vater, der Zinngießer war, in seine Zunft eingeführt. Und ich muss sagen, Christoph hat ihn nicht enttäuscht. Ich will nicht schlecht über meine Schwiegertochter reden. Aber ich bekam die Suppe nicht herunter. Während ihres ganzen Geplauders hatte ich nur einmal daran genippt.
«Hast du keinen Hunger?»
Meine Kuh Milli habe letztens besonders reichhaltige Milch gegeben, sagte ich. Die ungewöhnliche Hitze habe mir den Appetit verschlagen, sagte ich. Und wie köstlich die Suppe duftete. Ich für meinen Teil liebte ja Dill, der auch dem Blut so gut bekomme. Ich würde meine Enthaltung sicher noch bereuen. Ich bat darum, mir Nadel und Faden zu geben, und nähte den Riss zu, den das Schwert des Krautkopfs in mein Mieder geschlitzt hatte.
Simon, Ihr könnt Euch wohl vorstellen, wie es war, diese quälende, einfältige Mahlzeit zu verlassen. Und als ich nach Hause kam, war Jerg Hundersinger da. Vor achtzehn Monaten hatte Jerg sich fünfundzwanzig Gulden zu einer Rate von fünf Prozent bei mir geliehen. Jetzt hatte er einen Korb voll Aprikosen, einen Büschel Waldmeister dabei. Daher wusste ich, noch ehe er den Mund auftat, dass er seine Rate nicht zahlen würde. Geldverleih ist so eine Sache. Niemand mag den Geber. Niemand mag den Nehmer. Es war nicht einfach gewesen, so viele Jahrzehnte hindurch Witwe zu sein. Und es ist traurig, dass ich die Erbschaft der Behausung meines geliebten Vaters als mein Glück bezeichnen muss.
Ich bot Jerg etwas Kaltes zu trinken an.
Er sagte, nein danke.
Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass mein Angebot einer Erfrischung abgelehnt wurde.
Aber wenigstens setzte er sich. «Ich habe gehört, einer der Schweinehirten hätte zwei volle Säcke feines Mehl gefunden. Draußen im Wald, nach Westen», sagte er. «Was für ein Trick.»
«Auf Holz geklopft», sagte ich.
«Meint Ihr?»
Ich aß eine Aprikose. Sie war säuerlich und schmeckte nach Lavendel. Ich bot Jerg erneut etwas zu trinken an. Es war heiß. Er schwitzte.
Er reagierte nicht auf mein Erfrischungsangebot. «Ich kann Euch diesen Monat nichts zurückzahlen.»
Ich sagte, das wundere mich nicht.
«Aber Ihr könnt Euch auf mich verlassen», sagte er. «Bevor die Weinernte vorbei ist.»
Meine Gedanken waren woanders. Was wusste ich schon, wie bald meine Unkosten in die Höhe schießen, der Ertrag meiner Felder eingezogen, mein dürftiger Besitz beschlagnahmt werden würde?
«Komisch, das mit dem Schweinehirten und den Mehlsäcken», sagte Jerg. «Ich habe nie zwei Säcke feines Mehl im Wald gefunden. Nie ein Band gefunden. Nie eine Münze.»
«Ich fand einmal einen Schlüssel», sagte ich.
«Einen Schlüssel wofür?»
«Ich war noch klein. Er ging mir bald wieder verloren.»
Jerg aß gleich drei von den mitgebrachten Aprikosen. «Solches Glück habe ich nie gehabt», sagte er. «Ich bin mit einem zusätzlichen Daumen geboren, seht Ihr?»
Er zeigte mir den Extradaumen. Den hatte ich natürlich schon gesehen, aber kaum einen Gedanken daran verschwendet. Obwohl man meinen möchte, dass ein Finger zu viel wirklich auffallen und deine Aufmerksamkeit anziehen müsste.
Er sagte: «Für Euch wäre es traurig, einen Finger zu verlieren, erst recht, wenn es ein Daumen wäre. Als ich jünger war, habe ich mir überlegt, den Barbier zu bitten, ihn zu entfernen, oder gar den Metzger. Aber am Ende fehlte mir der Mut.»
«Ihr betreibt eine hervorragende Bäckerei, Jerg», sagte ich. Ich sah, dass er niedergeschlagen war. «Wie Euer Vater. Seine Eierplätzchen waren die besten. Genau wie Eure.»
«Das Geschäft steckt in einer endlosen Dürre», sagte er. «Vielleicht ist es der Daumen.»
«Ich glaube, es ist der Mehlpreis.»
Er aß die letzten beiden Aprikosen. Mir sollte es recht sein. Durchs Fenster sah ich des Hufschmieds älteste Tochter kommen. Jerg ging ans Fenster und klopfte sanft an das Glas. «Das ist mal eine klare Scheibe», sagte er, «sehr gute Arbeit.»
Es war keine gute Arbeit. Der drittklassige Glaser Reinbold hatte sie vor Jahren gemacht, damals, als ich hin und wieder noch einen Trunk mit Ursula dem Werwolf nahm, sie sich nach Hans’ Beziehungen erkundigte, mir Komplimente für meine Strickerei machte, mir zeigte, welches Pilzpulver sie für ihr neuestes Wundermittel hielt. «Warum wollt Ihr nichts trinken?», fragte ich Jerg.
«Ich habe keinen Durst», sagte er.
«Wie denkt Ihr über den Glaser Reinbold?»
Jerg antwortete nicht direkt.
«Wie denkt Ihr über die Glasersfrau?»
Er sah mich an. «Ihr wisst, dass ihr Bruder jetzt dem Herzog dient. Ein Doktor.»
«Fürchtet Ihr Euch vor der Reinboldin?»
Er schüttelte den Kopf. «Das sind nur halbgebildete Leute, geistig verhungert, wenn Ihr wisst, was ich meine. Darbende Leute.» Er schlang die Finger ineinander.
«Fürchtet Ihr Euch vor mir?»
Er seufzte. «Kätherlin, meine Frau nennt mich mindestens drei Mal am Tag einen Teufel. Glaubt Ihr, ich fühle darum unter meinem Hut nach Hörnern? Es ist eine sündige Welt. Manche von uns haben einfach Pech. Drei Jahre Missernten. Ich habe nichts Schlechtes getan. Ich nehme an, Ihr auch nicht.»
«Was wirft man mir vor?»
«Es sind immer die, die nichts Schlechtes tun, die in Schwierigkeiten geraten. Ich höre nicht darauf, aber manche Leute tun es, Kätherlin. Halbgebildete, wie gesagt. Und Gierige. Und solche, die zu stolz sind, Geld zu leihen. Neider. Ihr wisst schon – die üblichen Monster. Muss ich leider sagen.»
Meine Zeit im Rathaus war kein Traum gewesen. Das Unwirkliche daran war die Illusion. Die Erklärung des herzoglichen Vogts, dass das, was geschehen war, ungeschehen sei – die war nicht richtig.
Ich bin in Eltingen aufgewachsen, jenem Ort, wo die besagten beiden Barbaras und eine dritte Frau hingerichtet wurden. Ich hatte nichts mit diesen Frauen zu tun, das möchte ich klarstellen, Simon. Mit neun Jahren kam ich nach Leonberg. Ich blicke nicht von oben herab auf die Leute aus Eltingen oder auf meine Schwiegertochter, die ebenfalls von dort kommt. Mein Bruder Jeremias, ein gut gestellter Bauer, lebt immer noch dort. Trotzdem ist es nicht ohne Bedeutung, dass die Glems, die so gemächlich durch Leonberg fließt, in Eltingen eine ungestüme Kehre macht, sich dann verengt und tückisch wird, ehe sie sich wieder zur doppelten Breite ausdehnt, wodurch sie der ganzen Gegend eine beunruhigende Atmosphäre verleiht. Schon als kleines Mädchen habe ich das gespürt. Mehrmals traf ich dort im Walde Wiedergänger an, aber ich war ein Kind und konnte nicht verstehen, was ich sah. Die Ringelblumen, die in jenem Abschnitt am Ufer der Glems wachsen, haben kleine Blätter und fast keinen Geruch. Hiobstränen gedeihen im Überfluss. Kennt Ihr Hiobstränen, Simon? Das ist eine seltsame Pflanze ohne Blüte, und ich habe Wanderer gesehen, die aus den harten Scheinfrüchten Rosenkränze machten – nicht dass die Rosenkränze ihnen Frieden gebracht hätten: Sie bleiben zitternde Bündel Angst. Gott schreibt seine Botschaft nicht nur in die Bibel ein, sagt Luther, sondern auch in die Wälder und die Sterne. Manche fürchten, unter einem unglücklichen Stern geboren zu sein. Ich nicht. Ich fürchte, bei mir war es ein unglücklicher Ort.
Peinlich berührt, wie dumm ich gewesen war, kehrte ich schnell zu Christoph, Gertie und Agnes zurück und erzählte ihnen, was mir zugestoßen war. Ich hoffte, sie würden über die alte Mama Kepler lachen und sagen, da sei nichts dabei. Christoph sagte: «Dieser Glaser ist ein widerlicher fauler Mistkerl sondergleichen, strohdumm und mit weniger Herz als der kleinste Fisch. Ich wette tausend Gulden, dass diese talentlose Laus hinter der ganzen Sache steckt.»
Nun war der Glaser Reinbold bei Einhorn ja gar nicht anwesend gewesen.
«Aber wer hat seiner törichten Frau diesen Floh ins Ohr gesetzt?», fuhr Christoph fort. «Der Nichtskönner natürlich. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, um mich schlechtzureden, seit er bei den Aufträgen der Herzogin leer ausgegangen war. Bin ich die Herzogin? Wohl kaum. Er hat mich beim Fischhändler als Hitzkopf verschrien. Ich, ein Hitzkopf? Und natürlich sucht er sich den Fischhändler aus, weil der jeden bedient und keine Hemmungen hat. Dieser kleine Mistkäfer will mir gerade jetzt, wo ich eine Leihe aufgenommen habe, um dieses Heim zu bezahlen, mein Handwerk ruinieren. Die Herzogin Sybilla ist tot! Wenn ich ihm damals keinen Auftrag verschaffen konnte, wie zum Teufel könnte ich es heute? Ich weiß nicht, was wir tun sollten, Mama.»
Christoph war mehr als einmal wegen despektierlicher Reden vor Gericht gebracht worden. Es war glimpflich ausgegangen. Die Parteien trafen sich, die Worte wurden für nichtig und nie gesagt erklärt, ein Bußgeld zur Verwendung für öffentliche Bauarbeiten wurde eingezogen, und die unehrerbietigen Worte stehen nicht einmal in den Gerichtsakten, so wird mir jedenfalls gesagt. Eine vernünftige Versöhnung. Zumindest unter Ehrenleuten.
«Wir sollten Verleumdungsklage einreichen», sagte Gertie.
«Hier gibt es eine, die sich immer für die Wurstmacherin des Hauses hält», sagte Christoph.
«Mama macht sehr gute Würste», sagte Klein Agnes.
«Ich sage nichts über Würste», sagte Gertie. «Ich sage nur: Du musst Verleumdungsklage einreichen. Die Zunft wird nicht erfreut sein, ein als Sohn einer Hexe verdächtigtes Mitglied zu haben, das kann ich dir versichern.»
«Und ich kann dir versichern, dass Einhorn nicht an einen versoffenen Morgen mit rechtswidriger Anklage erinnert werden will», entgegnete Christoph. «Er scheint völlig inkompetent zu sein. Wenn nicht gar kriminell. Und unsere Klage liefe über seinen Vorsitz – wie soll das gehen? Er wird uns verwursten. Es wird ein fröhliches Gelage mit Kepler-Würsten geben!»
«Wir verklagen ja nicht Einhorn», sagte ich.
«Aber es kommt alles zusammen, Mama …»
Gertie sagte, Würste hin oder her, wir könnten es uns absolut nicht leisten, keine Verleumdungsklage zu erstatten, denn sie habe ein Flugblatt gelesen …
«Ich will nichts von deinen Flugblättern hören –»
«Bei Gott und Mama Kepler, von diesem werde ich dir erzählen», sagte Gertie. Es ging um eine ältere Frau aus Sindelfingen, Gertie wusste um sie, es war eine wahre Geschichte, und diese Frau, als Martins Weib bekannt, hatte es für unter ihrer Würde gehalten, sich gegen die Behauptung, dass sie eine Hexe sei, zu wehren. Jene, die das behaupteten, seien Lügnerinnen, sagte sie, ihrem Stand weit unterlegen, einfach lächerlich, und sie werde deren niedriger Gemeinheit nicht die Ehre einer offiziellen Replik erweisen, solche Sachen. Es waren zwei junge Schwestern aus dem Altenstift, in dem sie lebte, die ihr Hexerei vorwarfen. Und Martins Weib, wiewohl hoch über alledem, fand sich vor Gericht wieder. Und was war es, was den Richtern bei dem Prozess am verdächtigsten erschien? Dass Martins Weib sich nie über den Hexenschimpf beschwert hatte.
«Was ist mit ihr passiert?», fragte Klein Agnes.
«Ihr Kopf wurde am Stadtrand auf einen Spieß gesteckt. Kinder bewarfen ihn mit Steinen.»
«Gertie, bitte», sagte Christoph.
In Wirklichkeit waren Gerties Beiträge sehr aufschlussreich. «Sie dürfen dich nur dann zum Geständnis foltern, wenn es zwei verlässliche Ankläger gibt», sagte sie. «Ich glaube nicht, dass der Krautkopf zählt – er hat nie behauptet, du hättest ihm geschadet, nur seiner Schwester, stimmt’s? Wenn du aber eine Verwandte hast, die auch eine Hexe ist, also ja, dann ist es ein Problem. Du hast keine solche Verwandte, nicht wahr? Wenn doch, können sie, glaube ich, ohne Verzug ein Geständnis durch Folter erzwingen, aber –»
Agnes unterbrach: «Ich weiß auch was über Hexen.»
«Geh hinaus, Agnes», sagte Christoph.
«Der Metzgerjunge hat gesagt, ich wäre eine Hexe aus einem Hexenloch», sagte Agnes.
«Welcher Metzgerjunge?», fragte Christoph.
Da klopfte es mit erschreckend lauten Schlägen an die Tür. Mir kam ein Bild vor Augen, wie meine kränklichen Weinreben geschnitten wurden und bluteten.
Meine Tochter Margaretha sieht keinen Tag älter aus als zwölf, Simon, obwohl sie über dreißig ist, aber noch immer kinderlos, obgleich sie allerlei Mittel probiert hat, aber ihr Mann, der Pastor Binder, wollte keinen Fenchelsamen nehmen, und sie bedrängt ihn nicht. Sie ist ganz anders als ich, meine Greta. In Leonberg gab es bereits Schulunterricht für Mädchen, als sie in das Alter kam. Ich machte ihr jeden Tag Speckwürfel im Brotteig. Damals sagte sie mir, sie sei gut Freund mit der Zahl acht und liebe auch die Elf. Es mangelt ihr an dem Unglück und den Schwierigkeiten, die mir im Leben so viel geholfen haben, Simon. Sie denkt Gutes von der Welt und aller Kreatur darin. Als ihr Vater fortging, um sein Glück als Soldat zu suchen, war sie noch zu klein, um sich daran zu erinnern, so hat sie wenigstens das auf ihrer Seite.
Das Klopfen an der Tür – es war kein Werwolf, auch kein kaiserlicher Gardist oder Bettler. Es war Greta. Sie umarmte mich. «Ich weiß aus tiefstem Herzen, es wird alles gut», sagte sie.
«Gibt es etwa schon ein Flugblatt darüber?», fragte Gertie.
«Ich hörte die Gerberskinder auf dem Markt reden», sagte Greta. «Da bin ich gleich losgerannt.»