Jenseits der Idylle - Udo Schmidt - E-Book

Jenseits der Idylle E-Book

Udo Schmidt

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Beschreibung

Oberstudienrat Wilcke wird wegen eines Skandals an eine Berufsschule nach Sassnitz auf Rügen strafversetzt. Durch sein mutiges Eintreten für einen Schüler gerät er ins Visier der kriminellen Rockerbande »Pro Germania«. Diese verschiebt Drogen nach Schweden und wird durch einen ehemaligen Offizier der Roten Armee gesteuert. Nach einem fast tödlichen Anschlag auf Ron Wilcke schaltet sich Hauptkommissar Bergmann aus Stralsund ein. Nach und nach decken Wilcke und Bergmann einen Sumpf von Zwangsprostitution und Drogenhandel zwischen dem Fährhafen Mukran und Schweden auf. Durch Zufall fallen Wilcke Stasi-Dossiers in die Hände, die ein bestehendes Netzwerk ehemaliger DDR-Größen dokumentieren. Er gerät in höchste Gefahr, da diese auch exponierte Persönlichkeiten aus der Gesellschaft belasten.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ich danke meiner Frau Ulrike

für ihre Geduld und Sorgfalt beim

Lektorieren des Manuskripts

Inhaltsverzeichnis

Prolog

K1 Mieses Spiel

K2 Reset

K3 Mukran

K4 Die Organisation

K5 Angezählt

K6 Vor dem Sturm

K7 Kalte Wut

K8 Spirale der Gewalt

K9 Die Akte

K10 Endspiel

K11 Weichenstellung

K12 Die Abrechnung

Prolog

Ron konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange er schon auf diesem harten Stuhl saß. Seinem Zustand nach zu urteilen, schon viele unendlich lange Stunden. Durch den ständigen Wechsel zwischen Bewusstsein und Ohnmacht war sein Zeitgefühl ausgeschaltet.

Sie hatten ihn in dieses Loch verschleppt, gefesselt und verschnürt wie ein Paket. Er war ihnen schutzlos ausgeliefert. Die Fußknöchel waren mit Kabelbinder so fest an die Stuhlbeine gebunden, dass die Haut darunter aufgeplatzt war und blutete. Die Arme waren brutal hinter seinem Rücken an den Handgelenken und an den Ellenbogen zusammengebunden. Sein Kopf fiel immer wieder haltlos nach vorn auf die Brust, der Atem war laut und röchelnd. Bei jedem Atemzug liefen Blut und Schleim aus seiner verletzten Nase über die geschwollenen und aufgeplatzten Lippen und suchten sich ihren Weg über den Hals auf die Brust. Der ganze Körper war ein einziger brennender Schmerz.

Rons Tag hatte ganz normal angefangen. Nichts deutete auf dieses schreckliche Ereignis hin. Er hatte gerade den Volvo vor seiner Wohnung geparkt und abgeschlossen. Plötzlich blitzten Lichter in seinem Kopf auf, dann fiel er in absolute Dunkelheit.

Sie hatten ihn in dieses kalte, muffige und feuchte Rattenloch verfrachtet, um ihn auszuquetschen, zu foltern und vielleicht sogar zu töten. Angeblich hätte er sich eingemischt. Womit sie auch Recht hatten. Ron wusste daher genau, was sie mit »sich einmischen« meinten, und was sie von ihm wollten. Es war ihnen ernst mit dieser Aktion, daran ließen sie keine Zweifel aufkommen. Sie verstanden eine Menge von der Anwendung schmerzhafter Verhörmethoden.

Immer wieder wurde sein Kopf an den verklebten Haaren hochgerissen, und er musste durch die geschwollenen Augenlider in das grelle Licht eines Scheinwerfers starren. Dieser wurde von einem lautstarken und stinkenden Generator mit Strom versorgt.

Alle drei Entführer waren große und bullige Typen mit Gesichtsmasken, in denen nur Löcher für Augen und Mund sichtbar waren. Sie wollten nicht, dass er die Gesichter erkennen würde. Da sie mit dem Rücken zur grellen Beleuchtung standen, waren sie nur mit ihren schwarzen Umrissen zu erkennen. Vielleicht wollten sie ihm nur eine Lektion erteilen, ausquetschen und ihn dann laufen lassen. Ron gab sich aber keiner Illusion diesbezüglich hin. Er war erledigt.

Wie aus dem Nichts kamen die Schläge. Regelmäßig, hart und präzise, gerade so, dass er nicht sofort bewusstlos wurde. Begleitet wurden die Schläge von immer den gleichen geflüsterten Fragen. Er sollte sich wohl an keine Stimme erinnern können. Obwohl das lächerlich war, da sie ihn doch sowieso töten wollten.

»Warum mischt du dich ein? Was willst du von uns? Warum hast du einem von uns die Kniescheibe zertrümmert? Wer hat dich auf uns angesetzt? Wieso beobachtest du uns in Mukran?

Warum hast du bei uns auf dem Clubgelände drei Kumpels fertiggemacht? Was willst du von unseren Freundinnen, die uns aus Schweden besuchen?«

Ron konnte keine der Fragen zufriedenstellend beantworten. Er starrte wortlos durch die geschwollenen Augenschlitze in die schwarzen Masken.

Einer der Typen hatte ein braunes und ein blaues Auge. Ron konnte das deutlich erkennen, als dieser bis auf wenige Zentimeter an sein zerschundenes Gesicht herankam. Iris Heterochromie zuckte es ihm durch den Kopf. Sehr selten. Wie kam er bloß in diesem Moment auf diese wissenschaftliche Bezeichnung? Anscheinend funktionierte sein Gehirn noch.

Niemand hatte ihn geschickt. Er hatte nur einem Schüler helfen wollen, der in dem Seitenweg neben dem Schulgebäude von zwei Schlägertypen in die Zange genommen worden war. Dass er bei seinem Eingreifen einem der Angreifer die Kniescheibe zertrümmerte, basierte auf einer von Ron erlernten Kampftechnik aus der Zeit beim Militär. Sein präziser Fußtritt gegen das Knie des Angreifers war daher kein Zufallstreffer. Glück für ihn oder Pech für den Schläger, je nach Sichtweise. War aber auch egal. Jetzt hatte er Pech.

Der zweite Schläger, ebenfalls ein bulliger und fetter Typ, versuchte erst gar nicht, sich mit ihm anzulegen, sondern schleppte seinen vor Schmerz brüllenden Freund davon. Er war sich wohl sicher, dass Rons Aktion gegen die Kniescheibe seines Kumpels kein Zufall war.

Ein paar Mal war Ron während der Behandlung weggetreten und hatte in der dunklen Schmerzlosigkeit Zuflucht gefunden. Ein deutliches Zeichen seiner nachlassenden Widerstandskraft. Sie waren doch keine Profis, da sie sich beim Dosieren ihrer Angriffe gegen Gesicht und Körper nicht immer im Griff hatten. Für ein paar Sekunden konnte er den klatschenden Schlägen, den grellen Blitzen im Gehirn und dem beißenden Schmerz entkommen. Licht aus, Angst vergessen.

Sie hatten mehrere Rippen mit ihren groben Springerstiefeln bearbeitet. Diese waren mit neonfarbenen Schnürsenkeln geschmückt. Unter seinen Achseln hatten sie Zigaretten auf der nackten Haut ausgedrückt, um ihn zum Reden zu bringen.

Immer wenn er bewusstlos wurde, holten sie ihn mit einem Schwall kalten Wassers zurück. Sein Körper war ein einziges zuckendes Bündel. Aber er hielt durch und sagte nichts. Was hätte er auch sagen können. Betteln und bitten wollte er nicht, Informationen hatte er nicht.

Seine Chancen, hier wieder lebend rauszukommen, sanken von Minute zu Minute. Wenn sie ihn nicht direkt umbrachten, würde sein Organismus bald von allein den Dienst quittieren.

Es war ein verdammt schlechter Moment, um in diesem stinkenden Verließ zu sterben.

Noch einmal röchelte er: »Ich bin hier ein neuer Lehrer und unterrichte den Jungen, den zwei von euch angegriffen haben. Zwei gegen einen Schüler, wie mutig. Da musste ich ihm doch helfen! Ihr solltet ihn nur in Ruhe lassen.«

Danach ließ er seinen Kopf wieder sinken und rührte sich nicht mehr. Sie sollten glauben, dass er fertig war, ohne Aussicht, wieder zu sich zu kommen. Das war seine einzige Chance.

»Schmeißt ihn in den Bodden. Am besten in Altefähr in den Strelasund vor der Brücke. Dann treibt er in der Fahrrinne in den Kubitzer Bodden. Ihr könnt mein kleines Schlauchboot nehmen, das am Anfang des Bootshafens bei Café Oelmann vertäut liegt. Es hat einen leisen silbernen 5 PS-Motor und wird nur ab und zu zum Angeln benutzt. In Deckung des kleinen Cafés hält sich dort um diese Zeit kein Mensch auf. Niemand wird euch bemerken. Das Boot ist leicht zu finden. Wickelt das Dreckschwein beim Transport in eine Persenning, die hinten im Transporter liegt. Das Schlauchboot kann aber nur einer steuern, es ist zu klein für drei Mann.«

Anscheinend war der Typ mit den unterschiedlichen Augen der Boss. Er warf einem der beiden anderen schwarzgekleideten Männern einen Schlüssel zu.

Als der Anführer verschwunden war, nahmen sich die beiden Typen noch einmal Ron vor. Er fühlte die brutalen Schläge nicht mehr, die Dunkelheit war gnädig, hatte ihn geholt und hielt ihn fest.

***

Das Rattern eines kleinen Außenbordmotors und das Schaukeln und Plätschern eines Schlauchbootes weckten Ron auf. Halb besinnungslos fühlte er, dass er unter einer Plane lag. Sie hatten ihn mit Kabelbindern an den Handgelenken und Fußgelenken gefesselt. Durch seine geschwollenen Augenlider konnte er nur das schmutzige Wasser auf dem Boden des Bootes erkennen. Ein paar Springerstiefel mit gelben Schnürsenkeln standen dicht neben seinem schmerzenden Kopf. Es war eng hier im kleinen Boot. Er war gezwungen, wie ein Embryo zusammengekrümmt zu liegen.

Ron erfasste instinktiv, dass seine Chance aufs Überleben davon abhing, ob der Lenker des Bootes ihn für tot hielt. Er schloss die Augen und versuchte die Atemfrequenz ganz flach und langsam zu halten. Eine andere Wahl hatte er auch nicht, da seine schwer geprellten Rippen fürchterlich schmerzten. Tiefes Durchatmen wäre deshalb auch gar nicht möglich gewesen, selbst wenn er gewollt hätte.

Der Schein einer Taschenlampe leuchtete kurz in sein Gesicht, das kaum noch als ein solches zu erkennen war. Getrocknetes und verkrustetes Blut unterdrückte jede Bewegung und setzte ihm eine braune Maske auf. Das Einzige, das Ron erkennen konnte, war, dass dem schwarz gekleideten Typen an der rechten Hand ein Glied des kleinen Fingers fehlte.

Der Mann an der Pinne räusperte sich und spuckte auf Rons Gesicht. Dann riss er die Plane zur Seite und packte Ron fluchend an der Schulter, um ihn über den Wulst des Bootskörpers ins Wasser zu rollen. Erst im dritten Versuch schaffte er es. Mit einem klatschenden Geräusch fiel er über Bord.

Das letzte, was er hörte, war »hoffentlich fressen dich die Fische«. Danach schlug das kalte Wasser über ihm zusammen. Sofort verschwand seine Lethargie und sein Gehirn und damit sein Überlebenswille funktionierten wieder. Er hielt den Atem an, damit kein Wasser in die Lunge kam. Bewegungslos trieb er wieder an die Oberfläche.

»Scheiße, der geht so nicht unter«, murmele der Typ und holte ein Teleskop-Gaff hervor, mit dem Angler normalerweise große Fische ins Boot zogen.

Er verlängerte den Schaft des Angelgerätes und drückte mit der Unterseite des großen Hakens gegen Rons Brust, um ihn unter die Wasseroberfläche zu stoßen.

Der Schmerz war unglaublich, als das Eisen gegen seine verletzten Rippen stieß. Es kostete Ron sämtliche Energie, völlig entspannt den Toten zu mimen und weiterhin die Luft anzuhalten. Langsam wurde er in die Tiefe gedrückt. Dabei verfing sich der Haken des Gaffs in dem Kabelbinder, mit dem seine Handgelenke gefesselt waren.

Als Rons Peiniger glaubte, dass er ihn tief genug ins Wasser gedrückt hatte, zog er das Gaff mit einem Ruck nach oben. Rons Hände waren plötzlich frei, das Metall hatte den Plastikstrang zerrissen.

Die Drehzahl des Außenborders erhöhte sich und das Boot entfernte sich. Ron kam nach Luft schnappend an die Oberfläche und sah nur noch den breiten Rücken des Bootsführers an der Pinne, der es sehr eilig hatte, an Land zu kommen.

Der Job war diesem nicht leichtgefallen. Zusammenschlagen, jemanden foltern oder einschüchtern waren kein Problem für ihn und belasteten ihn nur oberflächlich. Das musste er in der Regel auch nicht allein durchziehen, sondern mit seinen Kumpels. Aber allein einen Toten entsorgen, das hatte etwas Bedrohliches, das war hart. Er war abergläubisch und hatte Angst, dass er dem Geist des Toten später noch einmal begegnen würde. Wie recht er doch hatte.

***

Ron atmete so tief ein wie es die Schmerzen erlaubten, um den Auftrieb im Wasser zu erhöhen. Er hielt sich mit den Armen paddelnd über Wasser. Es gab kaum Wellengang und die Wassertemperatur war zwar kalt aber im Moment erträglich.

Ron hob den Kopf so hoch er konnte und schaute sich um. Es war dunkel, in der Ferne sah er die Lichter der Stadt Stralsund und die Positionslampen der großen Rügenbrücke. Bis dahin zu schwimmen war in seinem Zustand aussichtslos, insbesondere er noch an den Füßen gefesselt war.

Seine Kraft ließ rasch nach, sein Körper machte nicht mehr mit. Die Folter hatte so viel Energie gekostet, dass sein Körper streikte. Ron drehte er sich auf den Rücken, um seine Kräfte zu sammeln. Er begann zu frieren. Gedanken jagten durch seinen Kopf. Was konnte er unternehmen? Ihm fiel nichts ein. Er kannte sich hier nicht aus. Wie weit war es bis zum Ufer? Zu weit!

Panik kam auf. Ron zwang sich zur Ruhe. Kräfte sparen. Weiter schwimmen? Nach einiger Zeit wich die Kälte aus seinen Gliedern, ein sicheres Zeichen, dass sein Körper die Lebensfunktionen abschaltete, und das Blut nur noch die inneren Organe versorgte. Er musste sich sofort etwas einfallen lassen, oder aufs Sterben warten.

Nein, so weit war er noch nicht. Er gab nicht kampflos auf. Wibke wartete auf ihn. Es sollte nicht das Ende sein, bevor sein Leben hier richtig losging. Ron drehte sich wieder auf den Bauch und begann langsam mit den Armen Schwimmbewegungen zu machen, während er mit den gefesselten Beinen wie ein Delphin ausschlug.

»Gib nicht auf, halt durch«, feuerte er, ja schrie er sich laut an. Allzu weit konnte er doch nicht vom Land entfernt sein. So eine Distanz war doch zu schaffen. Er hatte doch vor vielen Jahren gelernt, weit über die Grenzen hinauszugehen und niemals aufzugeben.

Seine Bewegungen wurden immer langsamer, immer wieder schluckte er brackiges Ostseewasser.

Plötzlich sah er einen großen und runden Gegenstand vor sich auftauchen. »Eine Boje oder Tonne für die Schifffahrt!«, schoss es ihm durch den Kopf.

Ron schwamm darauf zu und konnte die Kette umfassen, mit dem die Boje am Rand der Fahrrinne verankert war. Ein zweites langes Tau hing daneben lose im Wasser. Er ergriff das moosbewachsene und schmierige Seil, band es zweimal um seinen Oberkörper und sicherte es durch zwei halbe Schläge. Dabei blieb er in engem Kontakt mit der Boje. Selbst wenn er das Bewusstsein verlieren würde, hatte er eine Chance, mit dem Kopf über Wasser zu bleiben und nicht sofort zu ertrinken.

Nachdem er seinen Oberkörper mit der dunklen Tonne verbunden hatte, klammerte er sich an die Kette der Rettungsinsel. Er musste jetzt wach bleiben. Unbedingt. Seine Chancen, gerettet zu werden, waren minimal. Aber eine andere Möglichkeit sah er nicht.

»Bleib wach Ron, bleib wach! Bete, fluche oder erzähle irgendwelchen Unsinn, aber bleib um Himmels willen wach. Denk an Wibke, die auf dich wartet.«

Ron kämpfte um sein Leben und unterdrückte die lähmende Panik. Der Tampen war fest um ihn gebunden, vielleicht fand man ihn noch durch einen glücklichen Zufall.

Langsam wurde es schwarz um ihn. Ging so sterben? Er würde es jetzt wohl herausfinden. Das letzte, was er sah, war das lachende Gesicht von Wibke. Sie wartete.

K1 Mieses Spiel

Es würde ein lausiger Tag werden. Ron witterte Verdruss, als er abends von seinem Kollegen und stellvertretenden Schulleiter, Studiendirektor Jürgen Birn, angerufen wurde. In der zweiten Pause solle er bitte zum Schulleiter Dr. Schlecht wegen eines dringenden »Vier-Augen-Gesprächs« kommen. Es ginge wohl um seine Notengebung und um einen unangenehmen Vorfall in einer Abschlussklasse.

Ron arbeitete als Oberstudienrat in einer Wirtschaftsschule. Er unterrichtete Klassen mit Schwerpunkt Bürowirtschaft und Informationstechnik. Dieser Job machte ihm Spaß, da fast alle Schülerinnen und Schüler großes Interesse an diesen Themen hatten. Schließlich klimperten sie alle mit irrer Geschwindigkeit in verschiedensten Apps auf ihren Smartphones oder Tablets herum, die im Grunde nichts anderes waren, als kleine Ausgaben von Desktop-PCs. Viele von ihnen hatten hochgerüstete Spielecomputer in ihrem häuslichen Arbeitszimmer stehen und beherrschten diese perfekt.

Alle Arbeiten im Schuljahr waren bis auf einige abschließende Korrekturen beendet. Zwei Wochen vor dem Abgabetermin hatte er die meisten seiner Abschluss- und Zeugnisnoten bereits im Schulcomputer in eine spezielle Datei eingegeben.

Diese Zeit vor der Zeugnisausgabe hasste er. Viele Schüler, speziell die, die sich im Unterricht überhaupt nicht engagierten, versuchten auf der Zielgeraden vor den Zeugniskonferenzen ihre Noten noch zu verbessern. Da wurden massenhaft Referate angeboten, die bequem aus

Wikipedia heruntergeladen und als eigene geistige Leistung verkauft wurden. Und mit diesen miesen Plagiaten sollte dann eine schlechte Note ausgeglichen werden. Solche Referate nahm Ron erst gar nicht mit dem Hinweis an, dass sich die Gesamtnote durch ein Ungenügend wegen des Plagiats weiter verschlechtern würde.

Andere feuerten Scheinargumente ab wie »sie haben mich auch nie drangenommen«, oder »ich habe mich immer beteiligt, aber sie haben mir nie eine Chance gegeben, meine Leistungen zu verbessern!«

Er kannte alle Argumente auswendig, da sie sich seit Jahren immer wiederholten. Es kam selten etwas Neues oder Originelles hinzu, denn der Schülerphantasie waren kreative und intellektuelle Grenzen gesetzt.

Ganz besonders ärgerlich wurde es für Ron, wenn sie gebetsmühlenartig wiederholten, dass sie aber die Zwei jetzt brauchten. Unbedingt. Besonders jetzt, da sie sich mit dem Zeugnis bewerben wollten. »Verstehen sie doch bitte…!«

Schlimm wurde es, wenn er in die Nähe von Rassisten gelotst wurde.

»Die schlechte Note bekomme ich doch nur, weil sie was gegen Türken haben«, wobei das Wort Türken durch jedes andere Land im Arabisch sprechenden Raum ersetzt werden konnte.

So einen Vorwurf ließ Ron an sich abperlen und bat in der Regel die ganze Klasse um eine Stellungnahme. Danach war dann Ruhe, weil sich niemand mit diesem aus der Luft gegriffenen Vorwurf auseinandersetzen wollte. Er war alles andere als ein Rassist und das wussten alle.

Ron ließ sich nicht beirren. Nie! Er ließ die Bittsteller auch immer ausreden, so dass sie sein freundliches und abwartendes Gesicht als Schwäche auslegten und neue Hoffnung schöpften, ihn herumzukriegen.

Eine Schülerin hatte es auf die Spitze getrieben.

Mirabell, von der Wortbedeutung her die Bewundernswerte und Schöne, mit Nachname König, 18 Jahre alt, packte gehörig in die Trickkiste, um ihre Note von knapp vier auf glatt zwei zu befördern. Sie war die Tochter eines großen Bauunternehmers, der im Förderkreis der Schule für die IT-Ausstattung eine Menge Geld springen ließ und weitere Spenden in Aussicht stellte.

Die sehr gut aussehende Schülerin hatte schon vor der ganzen Klasse ihre Show abgezogen. Worte wie Ungerechtigkeit, Bevorzugung und weitere Nettigkeiten prallten von ihm ab. Sie müsse in Bürowirtschaft unbedingt die Zwei haben. Die anderen Kursteilnehmer blickten verzweifelt zum Himmel, da sie das nervige Getue von dieser Zicke langsam leid waren.

Ihre teure Schultasche der Marke Gucci, kein Fake, wie sie betonte, enthielt ein Schminktäschchen und einige Blatt Papier. Lernmaterial wie Fotokopien oder Arbeitsblätter lieh sie sich. Einen Kugelschreiber staubte sie für die jeweilige Stunde von einer Mitschülerin ab. Sie hatte Angst, dass ihr eigenes Schreibgerät, das sie zu Hause gelassen hatte, das Innenfutter der edlen Tasche einfärben könnte. Das behaupteten einige Kursteilnehmer grinsend hinter vorgehaltener Hand.

Ron interessierte nicht, wie sie sich schminkte oder einnebelte. Aber ihr desinteressiertes Gähnen während seines Unterrichts ging ihm doch gegen den Strich. Außerdem erschien sie selten vor neun Uhr, wenn der Unterricht um acht begann. Entsprechend fielen die mündliche und zwangsläufig auch die schriftliche Note aus. Sie hatte einfachen keinen Bock und setzte in ihrem ereignisreichen Leben andere Prioritäten, wie es in Schülerkreisen vielsagend hieß.

Er verstaute gerade die letzten Ordner mit fertigen Unterrichtsmaterialien für das kommende Schuljahr in seiner Tasche, als es klopfte. Mira, wie sie gern genannt wurde, stand in der Tür und bat, eintreten zu dürfen.

Er nickte und machte zum ersten Mal in seiner Schullaufbahn den Fehler, mit einer Schülerin allein im Klassenraum oder in einem Aufzug zu sein. Das war sein unumstößliches Prinzip. Normalerweise wäre er aufgestanden und mit der jungen Dame nach draußen in den Flur gegangen.

Mira zog wieder die Tragiknummer ab. Sie bat und bettelte, was das entsetzte Gesicht hergab. Ron erklärte ihr geduldig in aller Ruhe noch einmal in aller Ausführlichkeit, warum es keinen Zweck hatte, ihn zu bedrängen. Er würde nicht einen Deut nachgeben und aus einer schwachen Vier eine Zwei machen.

Dann wurde Mira deutlicher. Sie setzte sich neben ihn auf den Schreibtisch, schob die Tastatur zur Seite und zog den Rock hoch. Sie war nackt und zeigte ihm ihre rasierte Scham. Während sie mit dem Mittelfinger leicht über ihre Klitoris strich, flüsterte sie, dass sie schon immer scharf auf ihn sei, und er können sie jetzt sofort vögeln, wenn er wolle.

Ron reagierte entsetzt. Spontan sprang er auf, fasste sie an den Oberarm und zog sie entschlossen zur Tür und öffnete sie.

Empört schrie er sie an: »Machen sie, dass sie rauskommen! Sie spinnen wohl! Glauben sie wirklich, dass ich mich auf so ein Spielchen einlasse?«

Mit diesen Worten schloss er die Tür. Er hörte nur noch, wie sie einer wartenden Freundin zurief: »Das wird er noch bereuen! Den kriege ich dran!«

Ron war entsetzt und sprachlos. Einmal nicht aufgepasst, schon passierte das, was nie passieren durfte. Ihm war klar, dass in Zeiten der »#MeToo-Bewegung« solch ein Vorfall für ihn gefährlich werden konnte.

***

Ron ließ alles stehen und liegen, schloss das Klassenzimmer ab und eilte ins Sekretariat. Dort bat er, mit dem Schulleiter zu sprechen. Es wäre dringend.

Zum Glück war Dr. Schlecht in seinem Büro. Er saß hinter seinem alten Schreibtisch unter einer handsignierten Zeichnung von Günter Grass. Daneben hing ein gerahmter Spruch von Willy Brandt: »Wir wollen mehr Demokratie wagen«. Der ganze Raum strahlte den pseudorevolutionären Muff der siebziger Jahre aus. Am Fenster stand eine Büste von Marx. Es fehlten nur noch ein Bild von Che Guevara und ein »Atomkraft-Nein-Danke«-Plakat aus den Achtzigern.

Dabei hatte Ron ein unkompliziertes Verhältnis zu Schlecht, obwohl er dessen politische Einstellung nicht unbedingt teilte. Die bei jeder Gelegenheit offen zur Schau gestellten sozialpolitischen Ansichten waren zu aufgesetzt, und seine pastorale Art kam auch bei den Kollegen schlecht an. Er predigte Wasser und goss sich selbst eine Spätlese vom Feinsten ein. Seine Rolex am Arm und das neuste Modell von Mercedes mit 300 PS zeigten in eine etwas andere Richtung. Aber das war für Ron kein Problem, da sein Chef ihn in Ruhe seinen Job machen ließ und sich nie einmischte.

Er setzte sich vor den Schreibtisch und erzählte von der absonderlichen Begegnung mit der Schülerin König. Er erwähnte auch die spezielle Notensituation. Sofort wiegelte Dr. Schlecht ab. Es wäre richtig, dass er sofort zu ihm gekommen sei. Nein, er brauche kein Gedächtnisprotokoll zu schreiben. Nein, da würde ganz sicher nichts nachkommen, dafür würde er schon sorgen.

Einigermaßen beruhigt ging Ron zurück in seinen Computerraum und erledigte dort den Rest seiner Arbeit. Anschließend schrieb er, trotz der Entwarnung durch seinen Chef, ein Gedächtnisprotokoll und druckte es mehrfach aus. Er wollte auf Nummer sicher gehen.

Drei Tage später saß er wieder vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten. Die Situation hatte sich atmosphärisch vollkommen geändert. Schon beim Betreten des Sekretariats schaute ihn die Sekretärin schulterzuckend an. Sie hatte wohl Mitleid mit ihm.

»Herr Kollege Wilcke«, diese Anrede verhieß nichts Gutes, »eben waren zwei Rechtsanwälte in Begleitung von Mirabell König hier und haben sich über sie beschwert. Sie haben bei der Schulaufsicht schwere Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen sie erhoben. Sogar ein Attest eines Arztes ist dabei, in dem ein Hämatom am Oberarm von Frau König attestiert wird.«

Dabei wedelte Dr. Schlecht mit einem Blatt Papier herum, das wohl die Kopie dieser Beschwerde enthielt und die Wichtigkeit der Situation betonen sollte.

»Lächerlich«, entgegnete Ron noch ganz ruhig, »ich habe ihnen doch den Sachverhalt zwei Minuten nach diesem Vorfall mitgeteilt. Sie meinten sogar, dass ein Gedächtnisprotokoll nicht nötig sei.«

Der Schulleiter wandte sich wie ein Aal.

»Herr Kollege Wilcke, jetzt hat diese Angelegenheit eine Dimension angenommen, die ich nicht mehr kontrollieren kann. Dr. Schnadberger und sein Sozius, zwei Juristen mit einem hervorragenden Ruf, haben die Sache in die Hand genommen. Der Ruf der Schule ist wegen ihnen«, er unterbrach sich und suchte nach einer weniger gefährlichen Formulierung, »ist wegen des unglücklichen Vorfalls in ein schlechtes Licht geraten.«

»Das ist ein konstruierter Komplott«, unterbrach Ron erbost seinen Chef. Sein Kopf bekam eine gefährliche Rötung.

»Frau König wollte, dass ich meine Note von vier auf zwei korrigiere und hat mir dafür Sex angeboten. Nichts anderes ist passiert. Und ich habe sie sofort aus dem Klassenzimmer geschmissen. Da können sie doch nicht von unglücklichem Vorfall reden.«

Dr. Schlecht rutschte weiter unruhig auf seinem Ledersessel herum. Ihm war klar, dass er eine unglückliche Figur machte.

»Herr Dr. Schlecht«, setzte Ron seine Ausführung wütend fort, »ich gehe davon aus, dass sie mir volle Rückendeckung geben. Ich bin seit mehr als 15 Jahren in diesem Kollegium, und sie haben mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich als Kollegen schätzen. Was haben sie den beiden Jura-Fuzzis gesagt?«

»Mäßigen sie sich«, antwortete Dr. Schlecht mit rotem Kopf. Ron hatte genau den richtigen Nerv getroffen und ihn in die Enge getrieben.

»Ich muss jetzt Schaden von der Schule abwenden und auch sie schützen. Das hat jetzt Vorrang.«

»Sie müssen mich nicht beschützen«, zischte Ron seinen Chef an. »Ich werde sofort in die Offensive gehen und über einen Rechtsanwalt gegen die junge Dame wegen falscher Anschuldigung und Rufschädigung juristisch vorgehen. Ich habe keine Angst vor so einer Auseinandersetzung.«

Ron ließ seine Worte einen Moment wirken und setzte nach.

»Zum Glück habe ich nach unserer Unterredung, gegen ihren ausdrücklichen Rat vor drei Tagen, sofort ein umfangreiches Gedächtnisprotokoll geschrieben, in dem ich neben dem peinlichen Vorfall mit Frau König auch meine Notengebung im Allgemeinen erklärt und in diesem Fall objektiv dokumentiert habe.«

Ron griff in seinen Aktenkoffer und holte ein bedrucktes Blatt heraus und wedelte genauso damit herum, wie vorher sein Chef mit der Beschwerde der Anwälte.

Die Gesichtsfarbe von Dr. Schlecht wechselte von Rot nach Violett. Er schnappte aufgeregt nach Luft und rang nach Worten. Nervös trommelte er mit seinen Fingern auf die Schreibunterlage. Er sah sich wohl schon in der Bildzeitung.

»Eh, kann ich diesen Ausdruck haben?«, fragte er spontan und hielt die Hand auffordernd in Rons Richtung.

Ron reichte ihm das Blatt und bemerkte, dass er mehrere Kopien davon hätte. Ihm schwante Übles. Garantiert waren schon Entscheidungen zu seinem Nachteil gefallen.

»Herr Wilcke«, der Schulleiter plusterte sich ein wenig in seinem Sessel auf und wurde formell, »das Schuljahr ist in zwei Wochen beendet, und ich beurlaube sie bis zum Ferienanfang, eventuell sogar bis zum Schuljahresbeginn. Damit nehme ich sie aus der Schusslinie.«

Es fehlte nur noch, dass er »im Namen des Volkes« gesagt hätte.

»Sie tun was?«, fauchte Ron ihn an. »Sie müssen mich aus der Schusslinie nehmen? Wegen dieser verwöhnten Zicke? Was ist hier los? Was läuft hier noch hinter den Kulissen? Hat der Bauunternehmer König hier seine Finger drin?«

»Es läuft nichts hinter den Kulissen. Die in Aussicht gestellten Spenden von Herrn König für das neue Schulnetzwerk haben nichts mit diesem Vorfall zu tun. Außerdem nehme ich mir als Schulleiter das Recht heraus, die Notengebung für Frau Mirabell König genauestens und auf sachliche und fachliche Richtigkeit zu untersuchen.«

Jetzt war es raus. Hier liefen Geschäfte ab, die man gemeinhin als Vorteilsnahme bezeichnete. Sein Schulleiter, der Edelsozialist, war abhängig, wahrscheinlich sogar erpressbar. Der Mistkerl opferte lieber einen altbewährten Kollegen für eine saftige Spende, oder aus Angst vor deren Verlust. Es fehlte ihm an Rückgrat und Solidarität. Erbärmlich.

Ron stand auf, beugte sich vor und nagelte seinen Chef mit seinem wütenden Blick förmlich in den Chefsessel

»Dann hat es wohl keinen Zweck mehr, dass wir uns weiter unterhalten. Mit Hilfe eines erstklassigen Rechtanwalts werde ich die Sache in die Öffentlichkeit bringen. Das ziehe ich durch, denn ich habe mir nichts vorzuwerfen.«

»Um Gotteswillen, tun sie das nicht«, rief Dr. Schlecht entsetzt aus. »Ich will hier auf keinen Fall die bergische Presse oder den WDR im Hause haben. Verstehen sie doch! Wenn wir den Ball flach halten, passiert garantiert nichts.«

»…und mein guter Ruf ist im Eimer«, unterbrach ihn Ron wütend und beugte sich noch weiter vor. »Ich höre schon die Sprüche »wo Rauch ist, ist auch Feuer, irgendwas ist schon dran, von allein kommt so was doch nicht, usw. usw!« Wollen sie mich so eiskalt abservieren?«

Der Schulleiter sprang auf und beugte sich ebenfalls vor, sodass sich ihre Gesichter fast berührten. Dabei rang er hörbar nach Luft.

»Ich war nicht bei diesem Vorfall dabei und muss auch die Erzählung von Fräulein König berücksichtigen. Der Arzt schreibt, dass sie am Oberarm verletzt wurde. Woher kommt das wohl?«

»Weil ich sie aus meinem Klassenzimmer geschmissen habe. Weil sie den Rock hochgezogen hatte und nackt war. Deshalb musste ich sie hinauswerfen. Verstehen sie das?«

Die Tonlage der Auseinandersetzung wurde aggressiver.

Ron fühlte, er hatte schon verloren, als er das Direktorzimmer betreten hatte.

Er richtete sich zur vollen Größe auf und drehte sich um. Eine Sekunde zögerte er, aber dann brach es aus ihm heraus.

»Was sind sie für ein Feigling«, rief er im Hinausgehen. »Sie sind ein Opportunist und sollten sich schämen! Ich warte auf ihre Post. So läuft das jetzt wohl, oder?«

Die letzten lautstarken Sätze hatte er bei geöffneter Tür zum Sekretariat gerufen. Die Mitarbeiterinnen konnten alle hören, was er seinem Chef an den Kopf warf.

Kurze Zeit später packte er seine Unterlagen samt Notebook in seinem Computerraum zusammen. Dann leerte er sein Fach, da er nicht wusste, ob er jemals wieder in dieser Schule arbeiten würde. Bevor er ging, schaute er im Netzwerk nach, ob die Note von der schönen Mirabell geändert worden war. War sie. Von vier auf zwei. Er notierte sich die Uhrzeit der Änderung und die der Unterredung mit seinem Chef. Die sorgfältige und sachlich fundierte Überprüfung seiner Note war blitzschnell über die Bühne gegangen.

Was würden jetzt seine Schüler von ihm denken? Er hätte kotzen können. Dr. Schlecht war zu weit gegangen. Das würde er nicht hinnehmen.

***

Es hatte sich schon herumgesprochen, dass er verdächtigt wurde, eine Schülerin sexuell belästigt zu haben. Solche Geschichten verbreiten sich unter Kolleginnen und Kollegen hinter vorgehaltener Hand und über die sozialen Medien in unglaublicher Geschwindigkeit. Über »hast du schon gehört« bis »der kam mir schon immer komisch vor« wird in solchen Fällen die komplette Bandbreite hämischer Kommentare abgegriffen. Mitleidslos. Unterschiedslos!

Auf dem großen städtischen Parkplatz neben der Schule hatten es einige Kollegen, die gerade mit dem Unterricht fertig waren, plötzlich sehr eilig wegzufahren. Kein Gruß, kein Winken, man übersah ihn und schaute in eine andere Richtung. So einfach ging das. Hinter seinem Rücken wurde gequatscht und mit jedem Tag würde die Geschichte noch mehr aufgebauscht. Er war vom heutigen Tag an in dieser Schule isoliert und stigmatisiert. Für immer ein Paria!

Es spielte ab jetzt keine Rolle mehr, ob etwas an der Geschichte dran war oder nicht. Der Verdacht würde bis ans Ende seiner Dienstzeit an ihm kleben bleiben. Dabei spielte es keine Rolle, wenn sich später seine Unschuld herausstellen würde. Diese traurige Tatsache hatte er in ähnlich gelagerten Fällen bei betroffenen Kollegen festgestellt. Dahinter steckte eine gewisse Gesetzmäßigkeit.

Vielleicht war doch was dran an der Sache, auch wenn der Vorwurf der Belästigung fallen gelassen würde. Er kannte seine Kollegen und Ron wusste, wie man sich an so etwas aufgeilen und gleichzeitig jemanden fertigmachen konnte.

Ein trauriges Beispiel lieferte ihm ein Kollege aus einer benachbarten Stadt. Der sollte auf einer Klassenfahrt ein Mädchen angefasst und zum Sex aufgefordert haben. Eine Freundin trat als Zeugin auf. Der Mann war erledigt. Trotz aller Unschuldsbeteuerungen. Von heute auf morgen war er gesellschaftlich isoliert und geächtet. Selbst beste Freunde tauchten ab und mieden seine Gegenwart. Ansteckungsgefahr!

Seine Frau hielt den öffentlichen Druck nicht mehr aus und zog nach einigen Wochen mit beiden Kindern aus der gemeinsamen Wohnung aus. Ihr Misstrauen wuchs von Tag zu Tag. Der Druck in der Nachbarschaft und in der Schule der Kinder wurde ebenfalls immer größer. Zum Schluss hatte sie ihr Vertrauen zu ihm verloren und gab auf. Scheidung!

Ein befreundeter Arzt dröhnte ihn mit Psychopharmaka zu und zog ihn für mehrere Monate aus dem Verkehr. Er war suizidgefährdet. Später sollte er versetzt werden.

So lange wartete er nicht. Auf der A1 fuhr er mit Höchstgeschwindigkeit ohne Anschnallgurt vor einen Brückenpfeiler. Aus. Vorbei. Tot.

Die allgemeine Anteilnahme und das Entsetzen waren groß. Trotzdem gab es nette Kollegen, die von »selbst schuld« sprachen und seinen Tod in keiner Weise bedauerten. Diese sorgten dafür, dass eine Sache nie zu Ende ging, egal ob schuldig oder nicht.

Als einige Wochen nach seinem Tod die Freundin des betroffenen Mädchens nach einem Streit die Zeugenaussage zurückzog, kippte die »belästigte« Schülerin sofort um. An den ganzen Vorwürfen war nichts dran, sie wollte sich interessant und den Kollegen nur fertigmachen.

Die Jugendstrafen waren milde, ihr Leben und Zukunft sollten nicht zerstört werden.

Für einige Kollegen war die Sache damit immer noch nicht beendet und zogen weiter über den verstorbenen Kollegen her.

Ron packte den Laptop nebst Unterrichtsmaterialien in seinen Kombi und fuhr nach Hause. Unterwegs musste er sich zwingen, konzentriert zu fahren und auf den Verkehr zu achten.

In was war er nur hineingeraten? So schnell ging das. Bei der ersten undurchsichtigen Situation ließ sein Chef ihn fallen, wie eine heiße Kartoffel. Von Fürsorgepflicht oder Solidarität mit einem Kollegen keine Spur. Es könnte was dran sein.

Außerdem musste er sich auch noch zusätzlich für den Ruf und das Wohl der Schule kümmern.

In ihm kroch eine elende Wut hoch. In dieser Schule würde er nie wieder unterrichten. Nicht unter diesem korrupten Schulleiter, diesem Heuchler und Feigling. Er würde augenblicklich einen Versetzungsantrag stellen, in dem er den ganzen Sachverhalt ausbreiten würde.

Ron schloss seine Mietwohnung auf und schleppte seine Sachen in sein Arbeitszimmer, in dem neben dem üblichen Mobiliar ein Sandsack für sein Boxtraining vorhanden war. Dieser hing an einer Kette, die unter der Decke fest verankert war. Darunter lagen dünne Boxhandschuhe aus Kunstleder.

Die ganze Wohnung sah seit seinem Einzug immer noch nach Durchreise aus. Alte Kartons mit noch älteren persönlichen Sachen stapelten sich übereinander im Flur. Es sah aus, als wenn er auf ein Umzugsunternehmen warten würde.

Nach seiner Trennung mit anschließender Scheidung war er vor einem Jahr hier eingezogen und eigentlich niemals richtig angekommen.

Sein Smartphone summte auffordernd und Ron nahm das Gespräch an.

»Hallo Ron«, meldete sich seine Ex-Frau Renate, »was hat mir Bernhard erzählt, als er vom Tennisplatz nach Hause kam? Du bist suspendiert?«

»Mein Gott«, stöhnte Ron, »geht die Stille Post so schnell?«

Er überlegte, was er ihr sagen sollte. Jedes Mal, wenn er ihre Stimme hörte, kam ein ungutes Gefühl in ihm hoch. Der Scheidungsverlauf hatte tiefe Spuren in ihm hinterlassen. Und bei dem Namen Bernhard machte sich zusätzlich eine aggressive Stimmung in ihm breit.

»Ich bin nicht suspendiert, nur beurlaubt«, korrigierte er sie.

»Dr. Schlecht traute sich wohl nicht, mich suspendieren zu lassen, weil ich sonst die Sache in die Öffentlichkeit getragen hätte. Davor hat er Angst. An der ganzen Sache ist überhaupt nichts dran. Trotzdem ziehe ich meine Konsequenzen. Mit diesem Arschloch als Chef will ich nichts mehr zu tun haben.«

Dann erzählte er kurz, was sich abgespielt hatte.

»Ich erinnere mich, dass du dich doch immer gegen solche Attacken gewappnet hast. Wie konnte dir so etwas passieren?«, fragte Renate vorwurfsvoll und gleichzeitig neugierig.

»Einhundert Mal aufgepasst, einmal nicht. Das reicht fürs ganze Leben. Ich warte jetzt erst einmal ab, was ich für amtliche Post bekomme. Gleichzeitig werde ich mich mit meinem Rechtsanwalt beraten. Danach beantrage ich sehr wahrscheinlich meine Versetzung. Möglichst weit weg.«

»Die Kids waren ziemlich geschockt, als ich ihnen davon erzählt habe. Sie sollten es lieber von mir erfahren als von ihren Mitschülern in der Schule. Du weißt ja, wie schnell so etwas rum ist. Aber sie sind genau wie ich sicher, dass da nichts dran ist.«

»Bitte grüß Jens und Britta von mir und versichere ihnen, dass ich nichts Unanständiges gemacht habe. Bitte! Ich bin jetzt zu aufgeregt, um mit ihnen zusprechen.«

Ron war bis in die Fingerspitzen nervös und wollte jetzt nicht weiter mit ihr telefonieren.

Seine Ex-Frau versicherte ihm, dass sie ihn unterstützen würde. Sie hatte wohl noch immer ein schlechtes Gewissen wegen der damaligen Scheidung und der Umstände, die dazu geführt hatten. Es tat ihr gut, ihm ihre Solidarität zu zeigen, vermutete Ron.

Als sie das Gespräch beendet hatten, blinkte sein Smartphone erneut auf. Am liebsten hätte er das Ding an die Wand geschmissen. Er wollte eigentlich nur allein sein und ein, zwei oder drei Bier trinken. Irgendwie musste er was gegen die Anspannung tun.

»Hallo Herr Wilcke«, begrüßte ihn die Stimme von Frau Bertel, die nette Sekretärin seines Chefs.

»Ich wollte sie nur kurz informieren. Im Sekretariat sind alle Kolleginnen geschockt, weil unser Chef sie so respektlos und unfair behandelt hat. Wir haben ihren lautstarken Abgang alle miterleben dürfen.«

Ron musste grinsen und antwortete, dass er diesen Abgang auch genau beabsichtigt hatte. Und dass der Schulleiter sich nicht für ihn einsetzen würde, war ihm nach dem Gespräch auch klar.

»Es waren zwei Rechtsanwälte und das Fräulein König bei ihm«, fuhr die Sekretärin fort, »und haben ihn schwer unter Druck gesetzt. Dr. Schlecht hat dabei eine erbärmliche Figur abgegeben. Nichts, aber auch gar nichts hat er unternommen, um sie zu schützen. Das haben wir alle mitbekommen. Die Zicke hat herumgeheult und geschrien was das Zeug hielt. Und…«, Frau Bertel machte eine Pause, »…er hat tatsächlich ihre Note geändert, wie wir im Computer festgestellt haben. Und das, ohne einen Blick in ihre Leistungsübersicht zu werfen. Wir fragen uns, welche Macht diese Leute über ihn haben.«

Ron schluckte und atmete tief durch.

»Liebe Frau Bertel. Ich weiß zu schätzen, was sie mir gerade erzählt haben. Aber sie werden verstehen, dass ich nach meiner Auseinandersetzung mit Dr. Schlecht nie wieder mit ihm zusammenarbeiten kann. So einen Vertrauensbruch werde ich nicht hinnehmen. Und was die Notenänderung betrifft, ist das letzte juristische Wort noch nicht gesprochen. Ich werde dagegen angehen. Mein Entschluss steht fest, ich lasse mich versetzen, gleichgültig wie die Sache ausgeht.«

Frau Bertels Stimme wurde schrill vor Aufregung.

»Das ist ein weiterer Grund, warum ich anrufe. Bitte behalten sie für sich, was ich ihnen jetzt erzähle, beziehungsweise von wem sie diese Information haben, sonst kann ich im Stadtarchiv Bücher abstauben. Der Chef hat schon mit dem Dezernenten telefoniert und die ganze Sache aus seiner Sicht breitgetreten. Halten sie sich fest! Sie werden versetzt. Der Chef hat so eine Angst vor ihnen, dass es gar nicht weit genug entfernt sein kann.«

»Natürlich werde ich sie nicht verraten«, sagte Ron und bedankte sich noch einmal.

»Grüßen sie ihre Kolleginnen im Sekretariat von mir. Wir haben uns in den vielen Jahren immer sehr gut verstanden. Ich glaube nicht, dass wir uns dort jemals wiedersehen. Es tut mir wirklich leid. Allerdings würde ich mich freuen, wenn sie mich ab und zu anrufen und mich über die neuesten Entwicklungen informieren. «

Bier oder Aggressionsabbau, was hatte jetzt Vorrang? Der Anruf von Frau Bertel hatte ihn doch mächtig aufgeregt.

Ron entschied sich für letzteres, zog sich um und streifte die dünnen Boxhandschuhe über. Dann prügelte er auf den Boxsack ein. Lange Grade, Doubletten, rasend schnelle Schlagfolgen. Im Arbeitszimmer waren nur die klatschenden Geräusche seiner Handschuhe auf dem Ledersack zu hören. Bei jedem Schlag stöhnte und schnaufte er laut, bis nach einigen Durchgängen die Luft knapp wurde. Schweißüberströmt und nach Atem ringend, machte er nach einer Weile eine Pause.

Er hatte in den letzten Monaten zu wenig trainiert. Das rächte sich jetzt. Mit 42 ging die Leistungskurve rapide nach unten, wenn er nichts für seine Fitness tat. In den nächsten Wochen hatte er aber genug Zeit, an seiner Kondition zuarbeiten. Außerdem plante er, in Zukunft wieder regelmäßig in ein Center zum Training zu gehen, um seine Reflexe im Kampfsport zu verbessern. Das heißt, wenn es an dem Ort, an den er versetzt würde, so etwas überhaupt gab.

Er versuchte einen zweiten Trainingsdurchgang zu boxen, brach aber schnaufend den Versuch ab. Es kam nicht in den nötigen Rhythmus. Die Auseinandersetzung mit Dr. Schlecht saß in seinem Kopf und nahm ihm die nötige Konzentration.

***

Ron ging ins Bad und duschte. Danach zog er sich an und holte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank in der Küche. Essen konnte er jetzt nichts, der Magen war immer noch wie zugeschnürt.

Er trank einen großen Schluck Bier und dachte nach. Was sollte er jetzt unternehmen? Auf Post warten, aktiv die Initiative ergreifen und in die Offensive gehen? Er wusste es nicht. Nach seinen Erfahrungen war in ähnlichen Fällen letzteres meistens schiefgelaufen. Aber sollte er sich wegducken?

Der Gedanke daran machte ihn rasend, und zusätzlich machte sich ein Gefühl der Hilflosigkeit breit. Konnte jemand mit Geld im Rücken einen Unschuldigen so fertigmachen? Anscheinend, wenn der Preis stimmte.

Entschlossen nahm er das Smartphone und rief seinen Freund Rolf an, mit dem er hin und wieder Squash und Tennis spielte. Dieser war Rechtsanwalt und hatte ihn bei seiner Scheidung sehr gut vertreten. Sie kannten sich seit der gemeinsamen Schulzeit.

»Hi Rolf, hier ist Ron. Hast du einen Moment für mich?«, fragte er, als sich der Rechtsanwalt meldete.

»Ja habe ich, ich rufe dich in fünf Minuten wieder an, ich muss nur noch einen Brief beenden.«

Der Rechtsanwalt hörte am Tonfall der Stimme seines Freundes, dass irgendetwas im Busch war.

Ron trank sein Bier aus und wurde ruhiger. Er war unsicher und grübelte. Sollte er eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen seinen Chef schreiben oder sich direkt an den Dezernenten mit seinem Gedächtnisprotoll wenden und die einseitige Änderung der Note anprangern? Was würde er damit erreichen? Vielleicht gingen sein Chef und der Dezernent gemeinsamen Hobbys nach.

Er schüttelte unschlüssig den Kopf. Er brauchte professionellen Rat. Die Wartezeit bis zum Rückruf des Rechtsanwalts verkürzte er sich mit einer weiteren Flasche Bier. So langsam kam er runter, das Bier beruhigte ihn.

Nach einer Weile klingelte sein Smartphone.

»Was ist los, was hast du für ein Problem?«, meldete sich Rolf.

Ron packte aus und erzählte in allen Einzelheiten, was passiert war. Er vergaß auch nicht die Sache mit der unglaublichen Notenänderung zu erwähnen.

»Das sieht nicht gut aus für dich«, resümierte Rolf. »Es steht Aussage gegen Aussage. Heutzutage neigt man mehr dazu, einer Frau zu glauben. Auf jeden Fall hast du die Arschkarte gezogen, egal wie es ausgeht.«

Ron wartete eine Sekunde und suchte nach Worten.

»Wie würdest du denn in meinem Fall reagieren? Was könnte denn im besten und im schlechtesten Fall dabei herauskommen, wenn ich mich gegen diese Verschwörung wehren würde?«

»Es gibt zwei mögliche Möglichkeiten, wie du auf diese Vorwürfe reagieren kannst«, begann Rolf seine Ausführung.

»Zuerst einmal solltest du Widerspruch einlegen, wenn etwas Offizielles kommt. Davon gehen wir jetzt aus. Dann tritt ein Automatismus in Kraft und die Versetzung wird erst einmal gestoppt. Aber die Beurlaubung wird bis zur Klärung des Falles bestehen bleiben.«

»Und wie sehen da meine Chancen aus?«, fragte Ron.

»Um es ehrlich zu sagen, ganz schlecht. Du wirst versetzt werden. Wenn nicht jetzt, dann später. Es sei denn, die junge Dame zieht ihre Anschuldigungen zurück. Aber so wie ich dich kenne, wirst du an dieser Schule aus guten Gründen nie wieder arbeiten wollen.«

Rolfs Worten konnte Ron anmerken, dass er Mitleid mit ihm hatte.

»Und die zweite Möglichkeit, die du ansprachst?«, fragte er resignierend.

»Nun«, fuhr Rolf fort, »die würde ich dir empfehlen. Dafür brauche ich nur deine Unterschrift, den Rest erledige ich dann für dich.«

»Du schreibst, beziehungsweise ich schreibe in deinem Namen eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen deinen Chef, in der du die Details der ungeprüften Notenänderung darlegst. Diese bringst du dann noch in den Zusammenhang mit der Spende der Firma König und dem Auftreten seiner Tochter in deinem Klassenraum.«

Der Rechtsanwalt machte eine Pause, bevor er weitersprach.

»Aber auch da wird nicht viel passieren. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Das kann ich aus leidvoller Erfahrung sagen. Bei der Notenänderung wird so lange an der pädagogischen Schraube gedreht, bis sie passt und legal ist.«

»Das ist mir egal«, fauchte Ron wütend, »ich werde auf keinen Fall hier ohne ein Rauchsignal verschwinden. Und so wie ich meinen Chef kenne, wird der sich bei so einer Dienstaufsichtsbeschwerde vor Angst in die Hosen scheißen. Das allein tut mir erst einmal gut.«

»Machen wir es doch so«, unterbrach der Rechtsanwalt Ron. »Du schickst mir dein Gedächtnisprotokoll per Mail zu und auch die Schilderung, wie es zu der Notenänderung kam. Unbedingt brauche ich die schriftlichen Halbjahresnoten der Schülerin und die mündlichen Noten mit der Begründung. Zusätzlich schick mir bitte auch die genaue zeitliche Abfolge des Vorfalls und des folgenden Gesprächs mit deinem Chef und der unmittelbaren Notenänderung. Das hast du hoffentlich protokolliert «

Ron brummte zufrieden und versprach, ihm die Aufzeichnungen und die genauen Zeitabläufe zu schicken.

***

In den folgenden zwei Wochen grub sich Ron in seiner Wohnung ein. Er räumte auf und befreite sich von überflüssigen Papierbergen. Er tat das aus Vorsicht, da ihm klar war, dass er demnächst umziehen würde. Wohin? Mit Sicherheit weit weg.

Aus der Schule hörte er nichts. Totenstille. Keiner seiner Kollegen rief ihn an. Wahrscheinlich hatten sie Angst, sie könnten sich durchs Telefon die Pest an den Hals holen. Dabei hatte er nie das Gefühl gehabt, dass er im Kollegium unbeliebt war. Im Gegenteil. Er hatte sich immer bei bestimmten schulinternen Ereignissen und deren Organisation und Durchführung sehr kollegial mit eingebracht.

Seit er geschieden war, hatten nette Kolleginnen ein ganz besonders herzliches Verhältnis zu ihm. Wobei es bei herzlich und unverbindlich blieb. Er blockte alle Annäherungsversuche freundlich ab. Als er das zweite Lehrerexamen nach der verkürzten Referendariatszeit abgelegt hatte, befolgte er immer das Prinzip, nie ein engeres Verhältnis mit einer Kollegin anzufangen. Es gab genug Beispiele, wo solche Beziehungen fürchterlich schiefgingen, und das meist zu Lasten des ganzen Kollegiums.

Ron war nicht auf Mitleidsbekundungen angewiesen. Trotzdem fand er das Verhalten seiner Kollegen mehr als merkwürdig.

Ron ging jetzt täglich ins Studio und boxte sich den Frust aus dem Leib. Gleichzeitig frischte er seine erlernten Kampfsporttechniken auf. Es tat ihm gut, als er bemerkte, wie schnell seine alte Kraft wiederkehrte und seine Reflexe wieder besser wurden. Auch sein körperlicher Zustand verbesserte sich rapide. Wenn er nach dem Duschen in den Spiegel schaute, blickte er einem blauäugigen Mann mit energischem Gesichtsausdruck ins Gesicht, dessen blonde, mit grauen Streifen durchzogene Mähne unbedingt gestutzt werden musste.

Die winzigen Fettpölsterchen um die Hüfte störten ihn nicht und seine Brust- und Schultermuskulatur trat deutlich hervor. Bei einer Größe von 188 wog er nur 85 Kilo. Er wirkte austrainiert und schwor, sich nie wieder so hängen zu lassen, wie in den letzten Monaten.

Als er mit 26 Jahren als Hauptmann der Reserve nach acht Jahren die Bundeswehr verließ, hatte er die Physis eines Zehnkämpfers. Er wusste mit 18 nicht, was er nach dem Abitur studieren sollte und ging als Zeitsoldat zur Bundeswehr. Dort erkannte man sehr schnell seine Qualitäten und steckte ihn nach der Grundausbildung in die »Division Schnelle Kräfte«, auch DSK genannt. Er war dort in der Graf-Zeppelin-Kaserne im württembergischen Calw stationiert. Er erinnerte sich gern an diese unglaublich harte, aber auch glückliche Zeit. Mit 22 besuchte er die Bundeswehrhochschule in Hamburg und studierte dort Betriebswirtschaftslehre, Informatik und Pädagogik.

Bei einer Sportveranstaltung in der Bundeswehrhochschule verletzte Ron sich am Knie. Diagnose: Kreuzbandriss und Knorpelschaden. Damit war es aus mit seiner Karriere als Retter seines Vaterlandes.

Er verließ nach dem Studium die Bundeswehr als Reserveoffizier und konnte sofort in einem Berufskolleg als Lehrer anfangen.

Ron wurde nach seinem verkürzten Referendariat sehr schnell wegen seiner Dienstzeit bei der Bundeswehr zum Studienrat und dann zum Oberstudienrat befördert. Weitere Beförderungen lehnte er immer wieder ab, da er den reinen Unterrichtsbetrieb liebte. Als Studiendirektor wäre er zu sehr durch Verwaltungs- und Organisationssaufgaben vom Unterrichten abgehalten worden.

***

Dann lag plötzlich die erwartete Post in seinem Briefkasten. Es waren zwei Briefe. Beide in den üblichen Bio-Behördenumschlägen aus recyceltem Papier.

Mit spitzen Fingern legte Ron die Briefe auf den Küchentisch und setzte sich hin. Dann öffnete er den ersten Brief.

Es war die Bestätigung, dass die Dienstaufsichtsbeschwerde eingegangen sei und er nach eingehender Prüfung eine Stellungnahme dazu bekommen würde.

So eine schwammige Antwort hatte er erwartet. Verwaltungsdeutsch. Vielleicht würde er nie einen Bescheid bekommen.

Der zweite Brief war sehr umfangreich. Aufmerksam las er ihn durch. Neben den Hinweisen auf verschiedene Paragrafen des Beamten- und Verwaltungsrechts konnte er fettgedruckt lesen, dass er nach Sassnitz auf die Insel Rügen versetzt würde. Er würde dort eine Kollegin vertreten, die im neuen Schuljahr eine vorerst einjährige Babypause einlegen würde. Die Schule hieß Regionales Berufliches Bildungszentrum, Außenstelle Sassnitz und lag in der Straße der Jugend. Da war in der Nähe des Hafens von Sassnitz, wie er später bei Google Maps im Internet feststellte. Der Straßenname war wohl noch aus der DDR-Zeit übernommen worden. Na ja, gegen Jugend hatte er nichts.

Ganz unten im Schreiben bekam er die Adresse, die Telefonnummer und den Ansprechpartner in der neuen Schule mitgeteilt. In sechs Wochen müsse er dort zum ersten September seinen Dienst im Bereich Wirtschaft und Verwaltung antreten.

Sie empfahlen ihm noch, dort etwas früher zu erscheinen, da die üblichen Lehrerkonferenzen in der letzten Ferienwoche vor Schulbeginn stattfinden würden.

Seine Planstelle an der alten Schule bliebe bis auf weiteres bestehen, so dass er nach Klärung aller Sachverhalte unter Umständen wieder an seine alte Schule zurückkehren könnte.

Ron schluckte ein paar Male und stützte seinen Kopf auf seine Hände. Jetzt war es also raus. Er konnte packen und sich eine Wohnung auf der Insel Rügen suchen. Nun, er hatte sich innerlich bereits darauf eingestellt. Aber Sassnitz? War das nicht am Arsch der Welt?

Sofort informierte er sich im Internet über die Berufsschule. Sie war sehr überschaubar und war in einem großen Verbund mit Stralsund und anderen Städten organisiert. Sein Bereich würde wahrscheinlich die Ausbildung von Groß- und Einzelhandelskaufleuten umfassen. Aber das würde sich bald klären.

Ron hatte kein Problem mit diesen Klassen, da sie auch an seinem ehemaligen Berufskolleg vorhanden waren, und er darin hin und wieder tätig war. Die Einarbeitung würde ihm leichtfallen, insbesondere auch in diesen Klassen das Fach Bürowirtschaft gelehrt wurde.

***

Noch am gleichen Tag begann Ron mit der Organisation seines Umzugs nach Sassnitz, obwohl er noch mehr als sechs Wochen Zeit hatte. Er wunderte sich, wie emotionslos er an die Sache heranging. Das Packen und Aussortieren alter Sachen erledigte er mechanisch.

Im Internet hatte er sich sofort ausführlich mit Rügen und Sassnitz beschäftigt und fand seine neue Wirkungsstätte gar nicht mal unattraktiv. Oberflächlich betrachtet wurde die Insel vom Tourismus geprägt. Aber das betraf nur die Ferienzeiten. Kulturell war dort eine Menge los, und die Nähe zu der alten Hansestadt Stralsund versprach doch interessante Aspekte für die Zukunft. Er würde vorurteilsfrei dorthin fahren und das Beste daraus machen.

Sein neuer Wohnort Sassnitz war eine Hafenstadt mit Fährverbindungen vom Hafen Mukran nach Skandinavien.

Die riesigen Buchenwälder im angrenzenden Nationalpark Jasmund und die Kreidefelsen in der Nähe der Stadt gehörten zum UNESCO-Weltnaturerbe.

Auf jeden Fall würde er dort nicht vor Langeweile sterben.

Bereits am nächsten Morgen, nach Erhalt der Briefe, rief Ron in Sassnitz in seiner neuen Schule an. Er hatte sich vorher im Internet über die Organisationsstruktur der Schule informiert. Daher wusste er sofort, als sich eine Frau Angela Wagner meldete, dass diese die Leiterin seiner zukünftigen Abteilung Wirtschaft und Verwaltung war.

Ron nannte seinen Namen und wurde herzlich begrüßt. Anscheinend war die Schulleitung froh, dass sich so schnell ein geeigneter Ersatz für Frau Steinbach gefunden hatte. Frau Wagner hatte wohl keine Ahnung, warum er versetzt worden war, da sie sehr unbefangen mit ihm sprach.

Um irgendwelchen Gerüchten vorzubeugen, ging Ron in die Offensive und gab eine kurze Erklärung ab, warum er gerade jetzt in Sassnitz seine Lehramtstätigkeit aufnehmen würde.

Frau Wagner zögerte und antwortete erst nach einer kleinen Pause. Sie räusperte sich und bemerkte, dass sie das schon alles wüsste. Aber es wäre ihr egal. Seine Erklärungen würden ihr genügen. Er solle doch so schnell wie möglich bei ihr erscheinen, damit sie und der Schulleiter über alles, das heißt, in erster Linie über seinen Unterrichtseinsatz reden könnten.

Ron war erleichtert. So einfach hatte er sich das nicht vorgestellt. Die Schulleitung hatte sich wohl über seine berufliche Laufbahn informiert. Eventuell wussten sie auch von seiner Dienstaufsichtsbeschwerde.

Ob sie ihm einen Tipp geben könne, wie er an eine geeignete Wohnung kommen könne, fragte er sie. Frau Wagner gab ihm die Adresse eines seriösen Maklers und beschrieb die aktuelle Mietsituation in Sassnitz und Umgebung als entspannt. Er würde sicher sofort etwas Passendes finden.

Bevor sie das Gespräch beendeten, kündigte Ron an, so schnell wie möglich in Sassnitz zu erscheinen. Er wünschte, die Schule und die Örtlichkeiten in Ruhe kennenzulernen.

Innerhalb kürzester Zeit war er mit der Organisation seines Umzugs fertig. Er hatte sofort seine Wohnung gekündigt. Der Vermieter zeigte sich einsichtig und verzichtete nach Zahlung einer zusätzlichen Monatsmiete auf Einhaltung irgendwelcher Fristen.

Mit dem Makler in Sassnitz kam Ron auch klar. Er hatte drei Wohnungsangebote, wobei ihm eine besonders gefiel. Drei Zimmer mit Terrasse, die Einrichtung inklusive Küche konnte er gegen eine Abschlagszahlung übernehmen. Die Miete lag unter der, die er für seine alte Wohnung bezahlen musste.

Schwierig wurde es für Ron, als er Jens und Britta erklärte, dass er nach Sassnitz umziehen würde. Aber die Aussicht, sie im Herbst zu sich zu holen, milderte den Trennungsschmerz.

Das alte Leben war vorbei, das neue Leben in Sassnitz konnte beginnen.

K2 Reset

Bereits in der ersten Morgendämmerung verließ Ron die Stadt und fuhr auf die A46. Nach einigen Kilometern wechselte er auf die A43 und nahm Kurs auf Münster. Er wollte möglichst früh in Sassnitz ankommen, um notwendige Besorgungen und Einkäufe noch am gleichen Tag zu erledigen. Das milde Wetter war ideal für eine lange Fahrt von fast 700 km. Kurz vor Münster wechselte er auf die A1 und fuhr in Richtung Bremen.

Leichter Morgennebel dämpfte das Licht der aufgehenden Sonne und packte die Landschaft links und rechts der Autobahn in Watte. Ron hatte noch nicht gefrühstückt, daher wollte er eine kleine Pause einlegen.

Er verließ die Autobahn und fuhr auf einen Autohof. Nach dem Tanken aß er zwei belegte Brötchen und trank noch in Ruhe eine Tasse Kaffee. Jetzt zahlte sich aus, dass er so einen frühen Zeitpunkt für seine Abreise gewählt hatte, denn bisher war er ohne jeglichen Stau zügig vorangekommen.

Sein Wagen, ein großer blauer Volvo-Kombi, war bis in den letzten Winkel vollgepackt mit persönlichen Sachen. Möbelstücke nahm er noch nicht mit, die wenigen von Bedeutung hatte er einlagern lassen. Die zeitlosen und zweckmäßigen Möbel, die auf den Fotos des Maklers abgebildet waren, konnte er übernehmen. Das erleichterte seinen Umzug enorm. Sollte er länger in Sassnitz bleiben, würde er das eine oder andere Stück, an dem er noch hing, abholen lassen. Den Rest würde er einem Sozialkaufhaus spenden.

Ron wollte vor acht Uhr an Hamburg vorbei sein, da er sonst im morgendlichen, sich stadteinwärts schiebenden Berufsverkehr ausgebremst worden wäre. Auch das funktionierte einwandfrei. Der übliche Morgenstau vor dem Elbtunnel baute sich gerade auf, als er den Knotenpunkt passierte und nach Osten abbog. Hinter Hamburg war freie Fahrt angesagt. An Lübeck vorbei ging es weiter auf die A20 in Richtung Rostock.

Rons Gefühlswelt war gespalten. Seine Wut und seine Enttäuschung wegen der Umstände seiner Abreise waren noch nicht völlig verraucht. Außerdem litt er immer wieder unter der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Langsam kam eine »jetzt-erst-Recht-Stimmung« in ihm hoch, ein Zeichen, dass er begann, die seelische Belastung in den Griff zu bekommen.

Es traf ihn hart, dass er seine Kids eine Weile nicht mehr sehen würde. Er hatte sich Zeit genommen und sich von den beiden verabschiedet. Sie verstanden, warum er gehen musste und würden ihn im Herbst in Sassnitz besuchen.

Von seiner alten Schule und den lieben Kollegen hörte er nichts. Gar nichts. Auch Rolf, sein Rechtsanwalt, hatte noch keine weiteren Informationen für ihn. Im Grunde war Ron aber froh über das Verhalten seiner ehemaligen Kollegen. Es machte den Wechsel in eine neue berufliche Umgebung für ihn leichter.

Die Aussicht, in nächster Zeit in Sassnitz zu leben, erzeugte eine positive Neugier in ihm. Er war gespannt, was ihn erwartete. Fast eine Woche hatte er sich über die Insel mit ihrer abwechslungsreichen Geschichte informiert.

Bereits um 1000 unserer Zeitrechnung war die Insel wegen ihrer Lage ein begehrtes Sprungbrett nach Europa und Skandinavien gewesen. Dänen, Schweden, sogar Wallenstein im dreißigjährigen Krieg, waren scharf auf Rügen und die Hansestadt Stralsund.

Die Schweden bauten sogar nördlich des kleinen Fährhafens Schaprode um 1700 eine Schwedenschanze, von der aus sie die Meerenge zur Insel Hiddensee kontrollierten und den Seeweg nach Stralsund überwachten.

Die DDR-Marine baute riesige militärische Anlagen im Norden Rügens, da die strategische Bedeutung dieser Insellage im kalten Krieg von großer Bedeutung war.

Sassnitz besaß für die Insel Rügen mit seinem bedeutenden Hafen in Mukran eine besondere Bedeutung. Nach der Wende starteten von hier Fähren nach Trelleborg in Schweden, nach Rönne im dänischen Bornholm, ins Baltikum und nach Petersburg in Russland. Eine spezielle Fähre transportierte Güterzüge nach Russland, wobei die verschiedenen Spurweiten angepasst wurden. Es war die größte Eisenbahnfähre in Europa.

Seit der Erweiterung der EU im Osten wurden diese Fährverbindungen in die östlichen Länder aber eingestellt, da die Landwege einfacher zu bedienen waren.

Gegen Mittag fuhr Ron über die große Rügenbrücke in Stralsund. Er hatte sich Zeit gelassen und im Restaurant auf dem Rastplatz Fuchsberg in Ruhe etwas gegessen.

Der Blick von der riesigen Brücke auf die in der Sonne gleißenden Ostsee, war wie eine offene Tür zu einer neuen Welt. Die weißen Segel der spielzeuggroßen Boote auf dem Wasser versetzten ihn schlagartig in eine positive Stimmung.

Am Ende der Brücke wurde der Verkehr dichter. Eine Menge Sommer-Touristen fuhren um diese Tageszeit an die Ostküste von Rügen.

In Bergen wurde er wegen Straßenbaumaßnahmen von der hervorragend ausgebauten B96 umgeleitet. Er folgte der B196 in Richtung Binz, einem angesagten Seebad. Nach einigen Kilometern bog er von der Bundesstraße links ab in Richtung Prora.

Dieser Name in Verbindung mit der Nazi-Organisation »Kraft durch Freude« war ihm seit langem durch TV-Dokumentationen ein Begriff. Hier sollte vor dem Krieg Nazideutschland Urlaub machen. In einer monumentalen Ferienanlage konnten gleichzeitig mehr als 20000 Gäste Ferien machen. Dadurch sollte die Volksgesundheit gepflegt, und die Menschen für ihre Aufgaben als ausgewählte Herrenrasse fitgemacht werden.

Die DDR benutzte diese Gebäudereihen später für militärische Zwecke.

Den Anblick dieses mehrere Kilometer langen KdF-Gettos empfand Ron als deprimierend. Hier wurden jetzt in den ehemaligen Ruinen restaurierte Eigentumswohnungen für Betuchte zu unvorstellbaren Preisen angeboten. Gettos de luxe.