Stadt in Angst - Udo Schmidt - E-Book

Stadt in Angst E-Book

Udo Schmidt

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Beschreibung

Ehemalige DDR-Größen (Stasi) versuchen mit terroristischen Mitteln einen Stimmungswandel in der Bevölkerung gegen das herrschende demokratische System herbeizuführen. Sie schrecken vor dem Einsatz von Bomben, chemischen Waffen und Mord in Stralsund nicht zurück. Dabei bedienen sie sich modernster digitaler Techniken. Sie haben Zugriff auf das Netzwerk der Polizei und sind den Ermittlungen immer einen Schritt voraus. Hauptkommissar Bergmann führt mit seinem Team einen fast aussichtslosen Kampf gegen diese Terrorgruppe.

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Seitenzahl: 328

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Für Ulrike, die mir beim Schreiben mit Rat und Tat zur Seite stand!

Inhaltsverzeichnis

K1 – 54°15' Nord 13°46' Ost

K2 – Das Statement

K3 – Absturz mit Perspektive

K4 – Trügerische Ruhe

K5 – Konfusion

K6 – Der Plan

K7 – Vor dem Sturm

K8 – Kein Zurück

K9 – Die Reaktion

K10 – Spurensuche

K11 – Panik

K12 – Abwärts

K13 – Der Fall

K14 – Zugriff

K1 – 54°15' Nord 13°46' Ost

Lichtlose Nacht. Feuchte Kälte. Schwarzes Wasser draußen vor dem Thiessower Haken, dem südlichsten Punkt von Rügen. Mitten im Greifswalder Bodden. Nicht weit entfernt vom Leuchtturm Oie.

Kaum ein Laut war zu hören. Doch! Das leise Plätschern von kleinen Wellen gegen die Bordwand eines Fischerbootes erzeugte ein rhythmisches Geräusch. Gleichzeitig stiegen blubbernd einige Blasen im Wasser hoch und zerplatzten leise an der Oberfläche.

Ein Loch in der Wolkendecke gab für einen Moment den Mond frei. Dieser fräste ein silbernes Lichtband ins Wasser. Der Rumpf des ankernden Fischerbootes reflektierte das Mondlicht. Es war ein großes Boot. Ganz aus grauem Metall. Alle Positionsleuchten waren ausgeschaltet. Gespenstisch, unwirklich, bedrohlich. Als der Mond wieder hinter einer Wolkenbank verschwand, verschluckte die Nacht das Boot. Nur weit entfernt waren am unsichtbaren Horizont die Lichter des Greifswalder Hafens zu erkennen.

Zwei schwarze Schlauchboote mit kleinen Außenbordmotoren waren an der Reling vertäut. Am Heck des großen Fischerbootes liefen von einer Winde Stahlseile über Rollen ins Wasser. Fünf Männer in grauen und gummierten schemenhaften Anzügen mit integrierten Stiefeln, Hauben und Gummihandschuhen, standen zusammen. Sie beugten sich über die Bordwand und schauten suchend ins Wasser. Stumm. Keiner sagte einen Ton. Lichtreflexe von Helmleuchten blitzten unterhalb einer kleinen roten Boje auf.

Zwei Taucher arbeiteten in fast fünf Meter Tiefe über unsichtbarem Grund.

Dann wurde die unwirkliche Stille durch den durchdringenden Klingelton eines Smartphones zerrissen.

»Verdammt«, zischte eine Gestalt und hob die Haube an, »ich habe doch extra gesagt, das Handy stumm zu schalten. Du verdammter Idiot! Das Klingeln hört man auf dem Wasser über riesige Entfernungen.«

Der Angesprochene zuckte mit den Achseln, schob sein Telefon unter die Haube und flüsterte leise.

»Ja doch! Klappt alles wie geschmiert. Wir sind hier in 30 Minuten fertig. Natürlich halten wir uns an den Plan. Wir kappen den Anker und lassen das Boot treiben. Die Behälter werden vorher umgeladen. Danach verschwinden wir. Geht alles klar.«

Der Sprecher hielt einen Moment inne und lauschte.

»Nein, wir lassen nichts zurück. Alle Spuren werden beseitigt, soweit das im Dunklen möglich ist.«

Er reichte das Handy weiter an einen der vier verkleideten Männer. Dieser horchte angestrengt und wiederholte im Wesentlichen das, was sein Kumpel bereits gesagt hatte. Dabei drehte er den anderen den Rücken zu.

»Die beiden werden entsorgt«, fügte er flüsternd hinzu. »Das Handy und die Makarow gehen zusammen mit den Schutzanzügen ab ins Wasser. Nur die Gummihandschuhe nehmen wir mit. Dabei hielt er seine Hand vor den Mund, um sicher zu gehen, dass das Gespräch nicht belauscht wurde. Wir treffen uns in zwei Stunden am vereinbarten Strandabschnitt. Danach sagst du uns noch einmal, wie es weitergeht.«

Die beiden Taucher schwebten über dem schlammigen Grund und fluchten stumm vor sich hin. Das brackige eiskalte Wasser setzte ihnen zu und sog die Wärme aus ihren Körpern. Die alten Trockenanzüge waren für solche Einsätze bei Wassertemperaturen von drei bis vier Grad Celsius völlig ungeeignet. Die Isolation war gleich null. Außerdem waren sie nicht dicht und durch die porösen Nähte sickerte Wasser in den Anzug und sorgte dafür, dass die Körpertemperatur noch schneller sank.

Bereits beim Anziehen der Ausrüstung fiel ihnen das spröde Material auf. Es knisterte bei jeder Bewegung wie trockenes Pergament. Die Flossen waren uralt und passten mehr schlecht als recht. Das traf auch auf die Masken zu, die schmerzhaft auf die Gesichter drückten. Die technische Ausrüstung war uralt, Tauchjackets, Lungenautomaten und Regler verdienten ihre Namen nicht. So etwas hätte längst in die Mülltonne gehört. Als erfahrene Taucher wussten sie, dass selbst in fünf Meter Tiefe ihre Arbeit nicht ohne Risiken war.

Sie hätten lieber ihre eigenen Tauchjackets mit modernen Lungenautomaten benutzt. Das hatte der Auftraggeber aber strikt abgelehnt. Aber bei der hohen Bezahlung fragten sie nicht weiter und akzeptierten widerwillig die veraltete und marode Ausrüstung. Aus dem Grunde hatten sie auch keine weiteren Fragen gestellt, als sie vom Schlauchboot in das große Boot umsteigen mussten. Sie vermuteten, dass das Boot von einem der Männer in einem nahen Hafen geklaut worden war. Sie wollten auch gar nicht wissen, was hinter dieser Aktion steckte. Das Geld war stärker.

Jede Bewegung und jeder Flossenschlag wirbelte Schlamm auf und ließ den Strahl der Taschenlampen bereits nach einem halben Meter in einem braunen Nebel verschwinden. Nahezu blind zogen sie tastend kleine Netze unter Metallkisten, die mit glitschigen Algen überzogen waren. Jedes Netz hing an einem dünnen Kabel, das mit dem Boot verbunden war. Die Kisten waren nicht sehr groß, höchstens 30x30x50 cm oder kleiner. Über den Inhalt hatte man ihnen nichts gesagt. Sie sollten allerdings mit äußerster Vorsicht mit den Behältern umgehen und Erschütterungen möglichst vermeiden. Der Inhalt ginge sie nichts an und sollte bleiben, wo er war. Drinnen.

Weitere Einzelheiten erfuhren sie nicht und wollten sie auch gar nicht wissen. Die zweitausend Euro Anzahlung für jeden reichten aus, dass sie sich weitere Fragen verkniffen. Zusätzliche dreitausend waren ihnen nach Erledigung des Jobs versprochen worden. Fünftausend für beide. Nur das interessierte sie und ließ sie das mulmige Gefühl bei dieser Aktion vergessen.

Einige Tage zuvor hatte sie ein unscheinbarer, fast gesichtsloser Mann in einer Kneipe in Warnemünde mit ihren Namen angesprochen. Er setzte sich ohne Aufforderung an ihren Tisch und fixierte sie beide. Werner Bolten und Gustav Schnier nannte er sie. Er wusste genau, zu wem die Namen passten. Woher er ihre Namen hatte, sagte er nicht. Auch als sie ihn vor ihrem Einsatz danach fragten, reagierte er nicht. Er kannte sie eben und hatte Informationen über ihren bisherigen beruflichen Werdegang eingeholt.

Sie saßen fast jeden Morgen ab 11 Uhr immer in der gleichen kleinen Kneipe und warteten auf... nichts. Nach dem Ende ihrer langjährigen Dienstzeit bei den Marine-Tauchern in Rostock beendeten sie im Range eines Hauptgefreiten ihr Dienstverhältnis. Eine weitere Verpflichtung war nicht mehr möglich, da es für den Dienstgrad eines Unteroffiziers nicht gereicht hatte. Ihre Zeit war einfach abgelaufen.

Jetzt schlugen sie in Stralsund im Hafenbereich die Zeit tot und hofften darauf, einen Job angeboten zu bekommen. Aber wer brauchte in dieser Gegend hochspezialisierte Taucher? Feuerwehr und Polizei hatten ihre eigenen gut ausgebildeten Leute. Und um Jobs entlang der Küste hatten sie sich nicht gekümmert. Kein Antrieb.

Ihre Pläne, irgendwann einmal eine Tauchschule am Roten Meer aufzumachen, hatten sie spätestens um zwei Uhr nachmittags nach dem fünften Bier auf demnächst oder irgendwann verschoben. Die Ersparnisse aus ihren Abfindungen schrumpften und ihre Hoffnungen auf einen Job schwanden. Harz IV richtete sich als Dauerzustand ein. Die Mieten für die kleinen Zimmer würden in einigen Monaten zu einem Problem werden. Ihre äußere Erscheinung wurde immer ungepflegter. Sie hatten dringend ein Bad und frische Wäsche nötig.

Und dann tauchte vor einigen Tagen am späten Nachmittag dieser unscheinbare Typ auf und sprach sie beide mit ihrem Namen an. Unglaublich. Er musste sie wohl schon eine Weile beobachtet und sich über sie informiert haben. Wie auch immer, es war ihnen egal.

Der grau gekleidete, unscheinbare Mann, dessen Gesicht unter dem Hut fast so grau erschien wie die Handschuhe, die er trug, legte zwei Umschläge auf den Tisch. Dann schob er sie weiter in ihre Richtung, bis sie direkt vor ihnen lagen. Wortlos und regungslos. Das geschah beiläufig, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Die beiden Extaucher fixierten stumm die Umschläge, Neugier und Interesse wurde in ihnen wach, was wohl so beabsichtigt war.

»Hab 'n Job für zwei ehemalige Marinetaucher. Fünftausend nach Erledigung. 2000 für jeden jetzt als Anzahlung. Alles easy. Zwei Stunden unter Wasser. Bei Nacht. Tiefe fünf Meter. Bergung von vier bis fünf alten Metallkanistern. Kein Risiko. Fragen?«

Werner Bolten schaute seinen Kumpel an. Sie waren völlig überrascht. Dieser schnappte nach Luft. Sie brauchten ein paar Sekunden, um den Alkoholnebel in ihrem Kopf zu lichten.

Woher wusste der Kerl, dass sie Geld brauchten? Warum so viel Geld für einen leichten Job. So etwas konnte doch jeder Bademeister erledigen. Oder? Und warum trug der Typ in der Kneipe einen grauen Mantel, graue Lederhandschuhe und einen grauen Hut?

»Was für einen Haken hat dieser Tauchgang?«, fragte Gustav den Mann. »Fünftausend sind eine Menge Geld für so eine kleine Sache.«

»Kein Haken, keine Fragen, absolut ohne Risiko für erfahrene Taucher. Nur Maul halten, wenn ihr fertig seid. Ihr seht mich danach nie wieder und könnt mit dem Geld machen, was ihr wollt.«

Bolten und Schnier schnappten sich die beiden braunen Briefumschläge und öffneten sie. Ein Bündel Euroscheine lächelte sie an. Der Anblick des Geldes verdrängte alle weiteren Fragen. Bargeld war Geld, dem man die Quelle der Herkunft nicht ansah. Es sei denn, die Scheine waren durchnummeriert und stammten aus einer kriminellen Aktion, wie eine Geiselnahme oder ein Banküberfall.

Für zwei Stunden Tauchen waren fünftausend Euro eine Riesensumme, die ihn und seinen Kumpel für die nächste Zeit über Wasser halten würde.

»Wann und wo?«, fragte Bolten und hielt krampfhaft seinen Briefumschlag fest. »Wir haben Zeit und können das schnell erledigen.«

Gustav Schnier nickte begeistert, hielt aber die Klappe, da Werner immer der Wortführer war. Schon bei der Marine lief das so, und er selbst war immer gut damit gefahren.

»Morgen um die gleiche Zeit seid ihr hier. Dann bekommt ihr Ort und Zeit genannt. Ihr braucht keine Ausrüstung. Liegt alles bereit.«

Am nächsten Tag wurden sie bereits erwartet. Zeit für ein Bier hatten sie nicht mehr. Vor der Kneipe stand ein blauer Golf, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sie begrüßten den Besitzer, der genau wie am Tag zuvor ganz in grau gekleidet war. Er war eine völlig unscheinbare Gestalt. Schwer zu beschreiben, irgendwie gesichtslos.

Der Mann deutete auf den Kofferraum seines Wagens. Er trug wieder die grauen Handschuhe. Im Wagen lagen zwei Seesäcke und zwei alte Pressluftflaschen.

»Da ist alles drin, was ihr braucht. Ich hole euch übermorgen um 22 Uhr mit der Ausrüstung hier ab und bringe euch und die Tauchklamotten zu eurem Einsatzort. Von dort fahrt ihr mit meinen Leuten ein Stück in den Bodden hinein und steigt auf ein größeres Boot um. Seid unbedingt pünktlich, der Zeitplan duldet keine Minute Verzögerung. Ihr erhaltet genaue Anweisungen, wie ihr einige Metallbehälter bergen könnt. Alles muss reibungslos, schnell und absolut professionell über die Bühne gehen.«

Der Sprecher hob nicht einmal seine eisige Stimme, als er mit ihnen sprach. Sein Gesicht blieb völlig ausdruckslos, die Hände plus Handschuhe steckten in den Taschen seines grauen Mantels.

»Ihr habt jetzt noch die Gelegenheit abzuspringen und mir das Geld zurückzugeben. Wenn ich mich jetzt umdrehe und gehe, seid ihr fest gebucht. Ist das klar?«

Gustav Schnier und Werner Bolten schauten sich an. In ihren Taschen steckten die beiden braunen knisternden Briefumschläge. Sie verstanden sich blind und nickten zustimmend. Von den Umschlägen wollten sie sich nicht mehr trennen.

»Das läuft wie verabredet. Hauptsache sie halten ihr Wort und kommen hinterher mit der verabredeten Kohle rüber.«

Die Mundwinkel im Gesicht des grauen Mannes verzogen sich ein wenig, was wohl Ausdruck von Erheiterung andeuten sollte.

»Ihr bekommt genau das, was ich euch versprochen habe. Verlasst euch drauf. Allerdings werdet ihr schön euren Mund halten und mit niemandem über den Auftrag quatschen. Ansonsten wird es unangenehm für euch. Und…«, der Graue hielt einen Moment inne und schaute beide prüfend an, »ihr tanzt hier ohne Alkoholfahne an. Ihr müsst fit sein. Okay?«

Und jetzt erledigten sie in fünf Meter Tiefe einen Job, der nicht einfacher sein konnte. Netz für Netz schoben sie routiniert unter die Metallbehälter. Für so einen Einsatz waren sie ausgebildet worden. Jeder Handgriff saß.

Die Tauchzeit ging dem Ende zu und sie stiegen Blasen ausstoßend zur Oberfläche hoch. Sie spuckten das Mundstück des Atemreglers aus und zeigten mit erhobenen Daumen an, dass sie ihre Arbeit erfolgreich erledigt hatten. Genau zehn Minuten vor der geplanten Zeit.

Zahlreiche Hände halfen ihnen an Bord, wo sie steif und breitbeinig stehen blieben. Sie rissen sich die Masken vom Gesicht, in dem sich tiefe rote Ringe eingedrückt hatten und entledigten sich der Pressluftflaschen plus Tauchjackets. Ihre Gesichter, insbesondere die Lippen, waren von der Kälte aufgequollen.

Erschöpft setzten sie sich auf die Reling und schauten die vermummten Männer an, die sich vor ihnen aufgebaut hatten. Sie wunderten sich über die gummierten Anzüge der Gestalten und ein unangenehmes Gefühl machte sich breit. Ob der Job so gefahrlos war, wie man versprochen hatte?

»Es hat reibungslos funktioniert, wie wir es besprochen haben«, wandte sich Werner Bolten an einen der Männer. »Ihr könnt die Kästen jetzt mit der Winde hochhieven.«

Die fünf Männer in ihren Schutzanzügen blieben regungslos vor ihnen stehen.

»Seht zu, dass ihr die nassen Klamotten loswerdet«, rief einer der Männer.

Die beiden Taucher drehten sich um und beugten sich nach vorn, um die viel zu engen Flossen von den schmerzenden Füßen zu ziehen. Dann war es vorbei. Zweimal ertönte ein Plopp aus einem Schalldämpfer einer alten Makarov-Pistole. Die beiden Taucher sackten nach vorn auf den Boden. Sie hatten beide Einschusslöcher direkt am Hinterkopf. Der Tod trat ein, noch bevor sie auf dem Boden aufprallten. Die Geschosse durchschlugen den ganzen Kopf. Eines riss einem der beiden Taucher den halben Unterkiefer weg. Das andere Geschoss blieb im Kopf des zweiten Tauchers stecken.

Angeekelt wandte sich der Schütze ab und warf die Pistole über Bord. Dann befahl er, die Körper der Toten zu beschweren, um sie im Bodden zu versenken.

Ein erschrockenes und erregtes Murmeln war hinter den Hauben einiger Männer zu hören.

»Von Umlegen oder Mord war nie die Rede«, meinte einer von ihnen mit fast überschnappender Stimme. Er nannte sich Konrad Wirner. Schwankend ging er auf den Schützen zu und hielt sich an der Reling fest. »Das war nicht abgesprochen, das kannst du so nicht mit uns machen! Wir sind keine Killer.«

»Ihr hängt jetzt mit drin«, erwiderte der Schütze lakonisch. Er hatte wohl diesen Einwand erwartet. »Glaubt ihr wirklich, dass die beiden die Klappe halten würden, wenn wir unsere Pläne umsetzen? Nein, die Liquidierung war das einzig Richtige.«

Die übrigen Männer standen unschlüssig zusammen. Sie waren immer noch geschockt von den beiden plötzlichen Hinrichtungen. Sie wussten genau, dass sie sich in diesem Moment als Mittäter schuldig gemacht hatten.

»Schmeißt sie jetzt mit den Jackets, die sie schon ausgezogen haben, über Bord. Beschwert sie mit den beiden schweren Schäkeln hinter mir. Dann bleiben sie auf dem Grund liegen. Lasst uns endlich die vier Metallkästen hochholen und in die Schlauchboote verladen. Achtet darauf, dass in den Transportboxen genügend Wasser ist. Die Metallkästen müssen beim Transport komplett mit Wasser bedeckt sein.«

Leise fluchend half er den zögernden Männern, die beiden Leichen ins Wasser zu werfen. Gurgelnd versanken sie. Die kleine, am Grund verankerte rote Boje, die längsseits schwamm, war plötzlich verschwunden.

Dann wandten sie sich der Winde zu. Die Elektromotoren liefen surrend an und zogen langsam die Stahlseile hoch.

»Vorsicht!«, flüsterte der Anführer eindringlich, »die Kästen sollen möglichst nicht gegen die Bordwand schlagen. Langsam.«

Der Anführer deutete auf zwei Männer aus der Gruppe.

»Ihr geht zusammen in die Schlauchboote und nehmt die Transportboxen mit. Schnappt euch die Kanister und löst vorsichtig die Netze, die um sie herumliegen. Sie sind nur unhandlich, aber nicht allzu schwer. Maximal 40 Kilogramm. Packt die Kanister in die Transportboxen und füllt Waser ein. Wir lichten inzwischen den Anker und lassen den Kutter treiben.«

Fünf Minuten später waren die Metallkanister in die Boxen gehievt. Die gummierten Schutzanzüge wurden mit den Pressluftflaschen und den Flossen zusammengebunden und ebenfalls in die See geworfen, wo sie rasch versanken. Das vorher benutzte Smartphone flog im hohen Bogen hinterher. Nur die Gummihandschuhe nahmen sie mit.

Die Außenbordmotoren starteten und sie legten im Schritttempo mit geringer Drehzahl von dem Fischerboot ab.

Sie versuchten jedes laute Geräusch zu vermeiden. Nur das gleichmäßige Summen der kleinen Motoren war zu hören. Mit langsamer Fahrt fuhren sie ohne Licht an der Küste entlang. Der Mann im ersten Boot kannte die Route. Er orientierte sich an den Lichtern, die am Ufer zu sehen waren. Das zweite Boot war aus Sicherheitsgründen durch einen langen Tampen mit dem ersten verbunden. Somit war ihr Plan nicht gefährdet, wenn ein Motor ausfiel.

Sie passierten die Insel Vilm. Weit ab sahen sie die Lichter des Hafens von Lauterbach. Obwohl es dunkel war, duckten sie sich, sobald die Mondscheibe durch die Wolken schimmerte. Sie hatten Angst, entdeckt zu werden.

Nach einer endlos langen Zeit, so schien es ihnen, passierten sie Neuendorf. Der Mann, der das erste Boot steuerte, hob den Kopf und schaute angestrengt nach vorn in Fahrtrichtung.

Plötzlich sah er voraus das kurze Aufblitzen einer Taschenlampe. Er nahm sofort Kurs aufs Ufer und nach zwei Minuten liefen die Boote knirschend auf das sandige Ufer. Sie hatten es geschafft.

Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit und eilte zu ihnen.

»Hat alles geklappt?«, fragte er und ohne auf eine Antwort zu warten, »ihr seid fünf Minuten zu spät. Schafft die Boxen auf die Ladefläche des Transporters. Danach macht ihr die Boote mit den Messern platt und zieht die Hüllen samt Motoren ins Gebüsch. Lasst uns schnell hier verschwinden!«

Jetzt, wo sie ihre Angst verloren hatten, funktionierte die Gruppe wieder. Mit Messern wurden die Gummis der Schlauchboote zerschnitten und die Reste zusammengefaltet. Die zerstückelten Teile wurden zusammen mit den Motoren in ein Gebüsch gezogen.

»Ist das Fischerboot sauber?«, fragte der Anführer, der die Gruppe erwartet hatte. Es war der Mann im grauen Outfit, der die beiden Taucher angeheuert hatte. »Habt ihr alle Spuren beseitigt?«

Der Anführer der vier anderen Männer zeigte mit dem Daumen nach oben, und demonstrierte wortlos, dass alles planmäßig abgelaufen sei. Die anderen schauten betreten auf den Boden. Das Smartphone, die Makarov und die Schutzanzüge lagen auf dem Grund des Boddens. Die Leichen waren mit Gewichten beschwert versenkt worden. Ebenso die Tauchausrüstungen. Sie hofften, dass nichts von allem entdeckt würde.

Die Briefumschläge mit dem Geld hatten sie aus den normalen Klamotten der Toten entnommen und eingesteckt. Unterwegs warfen sie die Kleidungsstücke nacheinander über Bord. Das gestohlene Fischerboot trieb führerlos auf der See und würde irgendwo auf Grund laufen und keinen Hinweis auf die Bergung der Metallkisten geben. Also alles in bester Ordnung. Das hofften sie.

»Ihr wisst, wohin die Reise geht. Haltet euch genau an die von mir vorgeschrieben Route. Wir treffen uns in zwei Stunden in Stralsund. Fahrt vorsichtig und achtet auf die Geschwindigkeit!«

K2 – Das Statement

Der rote Toyota, ein sogenannter Pickup mit großer Fahrerkabine, war bis auf wenige Meter ans Ufer gefahren und stand mit seinen riesigen und wuchtigen Rädern im feuchten Sand. Er besaß eine große Ladefläche. Aus Sicherheitsgründen hatten sie vor dem Beladen ihre gummierten Handschuhe angezogen. Unter der Aufsicht von Ludwig Marin wurden die vier Transportboxen vorsichtig aufgeladen. Jede einzelne davon wurde mit Spanngurten gesichert.

Den Transporter hatten sie vor einigen Stunden von dem Ausstellungshof eines Autohändlers für Importwagen gestohlen. Er sollte noch in der gleichen Nacht, sofort nach dem Transport, in einer Nebenstraße in Stralsund abgestellt werden. Sorgfältig kontrollierten sie nach dem Beladen noch einmal den Anlandungsplatz der Schlauchboote. Sie wollten sicher gehen, dass die versteckten Überreste der Boote in den nächsten Tagen nicht gefunden würden.

Leise fluchend stiegen die fünf Männer in die Kabine des Pickups ein. Zum Reden war ihnen nicht. Sie hatten sich kaum bewegt auf den Booten und froren entsetzlich. Die nasse Kälte saß ihnen in den Knochen und hatte sie trotz der dicken Jacken und Hosen fast erstarren lassen. Jede Bewegung schmerzte. Sie spürten in jeder Sekunde ihr Alter, das weit jenseits von 50 Jahren lag.

Zum Glück waren die nächtliche Bergung und Transport der Kanister reibungslos über die Bühne gegangen. Es gab keine Zeugen. Die beiden toten Taucher waren, so hofften sie, im Bodden für immer verschwunden. Alle Spuren waren nach strenger Anweisung sorgfältig beseitigt worden. Somit war der erste wichtige Schritt zur Durchführung ihrer verschwörerischen Pläne erfolgreich verlaufen.

Der Kopf ihrer Gruppe, der Planer, der Graue, war schon verschwunden und hatte sich in seinem blauen Wagen auf den Weg nach Stralsund gemacht. Er würde dort auf sie warten. Einigen von ihnen war nicht wohl bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen.

Als sie losfuhren, schauten sie sich stumm an. Trotz der erfolgreich verlaufenen Aktion war die Stimmung gedrückt. Die Stille lag wie Blei auf ihnen.

Ihnen war klar, dass sie in der Falle saßen. An eine Hinrichtung der Taucher hatte bis auf Ludwig Marin und sein Kumpel Manfred Luk niemand gedacht. Als Beteiligte und Mitwisser hing die komplette Gruppe fest an der Angel ihres Anführers. Angst machte sich breit.

»Sag mal Ludwig«, Konrad Wirner, der neben seinem Freund Rolf Wüsthof saß, gab sich einen Ruck, beugte sich nach vorn und schaute Ludwig Marin an, der den Wagen steuerte.

»War es wirklich nötig, die beiden Taucher umzubringen? Beide waren wie wir Leute aus Mecklenburg-Vorpommern. Also Landsleute. Sie hätten Kumpels von uns sein können. Von Mord oder Hinrichtung war bei unseren Treffen nie die Rede!«

Bevor der Angesprochene antworten konnte, fauchte Manfred Luk den Fragenden von der Seite an.

»Was soll diese dämliche Frage? Egal wer sie sind und woher sie kamen. Die beiden hätten uns identifizieren können. Damit wären unsere Aktionen zum Scheitern verurteilt gewesen, bevor es richtig losgegangen wäre. Und…«, Luk suchte einen Moment nach Worten, »glaubst du, die wären mit den 5000 Euro zufrieden gewesen, wenn sie von unseren Aktionen aus der Presse erfahren hätten? Sie hätten zwei und zwei zusammengezählt und uns erpressen können. Oder, noch schlimmer, sie hätten die Polizei informieren können. Von ihrer Seite aus hatten sie nichts Verbotenes gemacht. In solch einem Fall wären wir geliefert und alles wäre umsonst gewesen. Nein, es gab keinen anderen Weg, unsere Pläne erfolgreich durchzuführen. Wir können nur uns allein vertrauen, Mitwisser sind Gift für uns.«

Wirner schaute betreten zu Boden. Er war in etwas hineingerutscht, das nach seiner Ansicht eine Nummer zu groß für ihn war. Er war nur ein unbedeutende Druckereibesitzer und sein Freund und Mitarbeiter Rolf Wüsthof, hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Für die Polizei war er ein unbeschriebenes Blatt.

Sie hatten über ein bisschen Terror, Anschläge auf Einrichtungen gesprochen. Der einzige Zweck dieser Aktionen war, Angst und Schrecken zu erzeugen. Das ging in Ordnung, das passte zu ihrer Wertvorstellung. Sie waren bereit, die Politik mit Druck zu verändern. Jetzt aber nach den beiden Morden hatte er schlichtweg Angst vor dem, was noch kommen würde.

»Und was sagst du dazu?«

In Wirner regte sich der Trotz. Nochmals sprach er Ludwig Marin an. Er versuchte ruhig und sachlich zu wirken, aber innerlich zitterte er.

»War das die einzige Möglichkeit, die möglichen Probleme mit den Tauchern auf so brutale Weise zu lösen? Werden noch weitere Morde folgen?«

Rolf Wüsthof neben ihm nickte zustimmend. Auch er hatte Angst und Gewissensbisse.

Ludwig Marin steuerte konzentriert den Wagen und suchte nach Worten. Man fühlte, wie es in ihm arbeitete. Dann brach es plötzlich aus ihm heraus.

»Das kann ich nicht vorhersagen. Und… was heißt hier Mord?«, schrie er. »Sind Soldaten, die für eine Sache kämpfen, die sich in einem Krieg befinden, gemeine Mörder? Ich verbitte mir den Begriff Mord in unserem Zusammenhang. Es gibt große Ziele, die den Tod von Menschen rechtfertigen. Die Geschichte wird darüber urteilen, ob wir gemeine Mörder sind oder Freiheitskämpfer, die für eine großartige und gerechte Sache kämpfen.«

Ludwig Marin sammelte sich und unterdrückte seine Erregung. Er hatte diese Diskussion kommen sehen und war darauf vorbereitet.

»Wir sitzen verdammt nochmal in einem Boot und steuern ein gemeinsames Ziel an. Wir wollen die Kapitalistenschweine aus dem Westen und die korrupten Behörden hier fertig machen. Das heißt, die Bevölkerung soll erst verunsichert und dann sensibilisiert werden. Wofür? Ein Beispiel: Der größte Teil der Produktionsmittel hier in Mecklenburg-Vorpommern liegt seit der kampflosen Übernahme durch die Kapitalisten in den Händen von verdammten Wessis. Und was tun die? Sie saugen unsere Bevölkerung aus. Ja sie lutschen sie regelrecht aus.«

Marin schlug bei jeder Silbe heftig auf das Lenkrad und nickte gleichzeitig dabei mit dem Kopf. Er schien außer sich zu sein.

»Die Gewinne, die bei uns erwirtschaftet werden, fließen fast alle in die Konzernzentralen in Frankfurt, Hamburg oder München, um nur einige Zentren im Westen zu nennen. Uns bleiben nur die Reste, die man uns hinwirft, damit wir nicht krepieren. Als der Westen uns annektierte, hat der Fettwanst Kohl uns blühende Landschaften versprochen. Und was ist passiert? Wir haben Landschaften, die vielleicht blühen. Aber nicht so, wie Kohl uns das vorgegaukelt hat.«

Er wischte mit dem Handrücken den Speichel vom Kinn, der von seinen Lippen herunterlief und atmete schwer.

»Die armen Schweine werden immer ärmer und die vollgefressenen und skrupellosen Geldheinis aus dem Westen immer reicher. Und die meisten hier im Land merken noch nicht einmal, dass sie in der Mausefalle sitzen. Sie schlucken einfach die Tatsache, dass in allen vergleichbaren Jobs rund 20% weniger verdient wird als im Westen.«

Marins Hände umklammerten vor Erregung das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Ich wollte damals, Anfang 90, mit knapp 25 Jahren der neuen Situation eine Chance geben. Genau wie ihr! Wir hatten alle Hoffnung auf einen Neuanfang, der für alle bessere Lebensbedingungen bedeuten würde. Wir waren bereit, hart zu arbeiten und zu lernen. Klar, wir hätten irgendwo in Westdeutschland nach einer Ausbildung an einer Werkbank stehen können. Aber wir leben hier in Mecklenburg-Vorpommern. Das ist unsere Heimat. Die Gelder für den Neuaufbau sind investiert worden. Wo? Na klar, in westdeutsche High-Tech-Maschinen in Westdeutschland oder in Edelhotels an der Küste, wo unsere Landsleute für fünf Euro die Stunde mit billigen polnischen Saisonarbeitern konkurrieren und arbeiten müssen. Was machen die jungen Leute, wenn sie hier keine Perspektive oder wenigstens Arbeit haben? Sie hauen ab in den Westen, wo sie genauso verarscht werden, wie hier.«

Es herrschte betretenes Schweigen, nur das dumpfe Grollen des Motors war zu hören. Marin wurde noch heftiger.

»Die Chancen sind vertan, unsere Geduld ist erschöpft. Jetzt wird abgerechnet, bevor wir zu alt geworden sind und uns nicht mehr wehren können. Wir haben unsere Lebenschancen der Siegermacht aus dem Wessiland überlassen. Mit unserer Ausbildung in unserer geliebten DDR hat man uns auf die Rutschbahn ins Elend gesetzt und ausgemustert, bevor wir überhaupt in der Lage waren, unsere Qualitäten beweisen zu können. Schluss, aus und vorbei! Jeder von uns hat sich für die DDR und damit für eine gute Sache eingesetzt. Ist das ein Grund, uns wie Parias oder den letzten Dreck zu behandeln? Nein, wir müssen uns nach deren Meinung schämen für unsere Liebe zum alten und gerechten Vaterland.«

Marin warf einen Blick über die Schulter. Er bemerkte die Unsicherheit in den Gesichtern.

»Konrad und Rolf«, sprach Ludwig zwei von ihnen direkt an. »Ihr arbeitet seit der Wende unter anderen Namen in einer kleinen Druckerei, die euch mehr schlecht als recht ernährt. Der Begriff Insolvenz oder Pleite ist euch nicht fremd. Ohne meine Geldspritze von einigen tausend Euro wäre euer Laden jetzt dicht. Die lukrativen Druckaufträge bekommen immer die großen Verlagshäuser oder riesige Druckereien, an deren Spitze Manager aus Hamburg oder Düsseldorf stehen. Euch bleiben nur die Brosamen wie Werbeblättchen oder Flyer, die euch die Großen überlassen.«

Die beiden Angesprochenen nickten stumm. Es stimmte, was Ludwig Marin sagte. Es beschrieb ihre Situation. Trotzdem waren sie von den heutigen Geschehnissen nicht restlos überzeugt. Sie standen immer noch unter Schock und fühlten sich von den Ereignissen überfahren.

Ludwig Marin fühlte genau, dass die Stimmung gegen ihn war, und er sie mit Pauschalbehauptungen nicht überzeugen konnte. Er riss sich noch mehr zusammen und fuhr in ruhigem Ton fort.

»Wir haben uns zusammengeschlossen, um etwas zu ändern. Wenn die Bevölkerung merkt, dass wir es ernst meinen, werden viele auf unsere Seite umschwenken oder wenigstens mit uns sympathisieren. Ich habe euch das schon mehrfach erklärt. Und…«, er machte eine Pause, bevor er weitersprach, »unter Bevölkerung verstehe ich diejenigen, die nach 1990, so wie wir, auf die Fresse geflogen sind. Georg und ich sind auch nur untergekommen, weil viele von uns – so wie ihr auch - unsere Identität mit Hilfe einiger Genossen gewechselt haben. Sonst würden wir in Prora Röhren für die Gasleitung zählen und als Stasi-Schweine beschimpft werden.«

Konrad Wirner hatte, genau wie sein Freund Rolf, damals nicht die Identität wechseln müssen, auch wenn das Marin eben behauptete. Er nahm das nur an. Sie arbeiteten früher in einem volkseigenen Betrieb als Drucker und hatten sich nichts vorzuwerfen. Deshalb ließ er trotz der Einschüchterungsversuche nicht locker.

»Worauf sollen unsere geplanten Aktionen denn letztendlich hinauslaufen? Welche Macht haben wir denn? Die wenigen Genossen können doch kaum etwas ausrichten. Und… was wollen wir überhaupt in absehbarer Zeit erreichen?«

Darauf hatte Marin gewartet. Die vorformulierte Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

»Jeder Bauer weiß, dass ein Boden aufbereitet werden muss, bevor man aussät. Das braucht Wissen und Erfahrung. Genau so etwas machen wir. Zuerst muss die Bevölkerung an der Küste sensibilisiert werden. Unter Bevölkerung verstehe ich die, die sich kaum noch eine Wohnung wegen der ständig steigenden Mieten leisten können und im Winter ohne Arbeit dastehen. Was glaubt ihr, wie die reagieren, wenn man ihnen eine bessere Zukunft verspricht? Mit besserer Zukunft meine ich mehr Einkommen, sichere Arbeitsplätze und mehr Selbstbewusstsein. Dann kommen auch viele von denen zurück, die in den Westen abgehauen sind und uns hier im Stich gelassen haben. Dann ist hoffentlich der Boden für eine neue sozialistische Partei vorbereitet. Ihr werdet neben vielen anderen hier an der Küste Mitbegründer sein. Ihr habt die Aufgabe, Zeichen zu setzen, damit immer mehr Genossinnen und Genossen erwachen und sich uns anschließen. Seid sicher, wir werden erwartet. Tief drinnen!«

Dieses auswendig gelernte Statement von Ludwig Marin reichte, um jeden weiteren Einwand zu unterbinden. Bedrücktes Schweigen machte sich neben Verständnislosigkeit breit.

»Was ist denn letztendlich unser ultimatives Ziel? Wir können schließlich nicht in den bewaffneten Kampf gegen Polizei und Ordnungsbehörden eintreten.«

Konrad Wirner ließ sich mit solchen Floskeln nicht abspeisen.

»Nein, müssen wir nicht!«

Marin hatte sich weiter beruhigt und versuchte den Ball flach zu halten. Der Wirner ging ihm auf die Nerven. Auf den würde er, genau wie auf dessen Freund, aufpassen müssen. Der dachte zu viel nach und war wenig belastbar. Dabei hatte er von ihm, beziehungsweise von ihrem Chef der Aktion, 5000 Euro bekommen, damit er mit seiner Druckerei nicht pleiteging. Der sollte doch besonders dankbar sein und die Klappe halten. Außerdem hatten sie ihn jetzt in der Hand.

»Die Parteien, die sich in den Neunzigern hier und damit auch im Westen gebildet haben, sind alle korrupt. Die machen in Opposition und fischen nach Parteigeldern. Und nette Pöstchen im Politgetriebe und Vorständen von Konzernen sind auch drin. Da frage ich mich, wie die für unsere benachteiligten Brüder und Schwestern eintreten wollen, wenn sie selbst in gemachten Betten liegen. Nein! Wenn die Gesellschaft hier genügend aufgerüttelt und informiert ist und versteht, was man ihnen angetan hat, werden wir in einer echten Partei, einer sozialistischen Partei auferstehen. Und glaubt mir, die Chancen stehen nicht schlecht.«

Wirner hatte genug gehört und schwieg. Er würde abwarten und die Augen offenhalten. An Mord und Terror wollte er sich nicht beteiligen.

Ludwig Marin schloss mit den Worten: »Aus einem Feuer wird ein Flächenbrand, wenn man Brandbeschleuniger benutzt. Und das machen wir jetzt. In Rostock und Schwerin haben wir eine Menge von Unterstützern, die nur auf uns warten. In Greifswald formiert sich auch der Widerstand. Wir werden größer.«

Danach war Ruhe im Pickup. Konrad schaute Rolf an und zuckte resignierend mit den Achseln. Sie waren müde und hatten keine Lust mehr auf weitere Belehrungen aus einem sozialistischen Handbuch der SED.

Über die L29 fuhr der Pickup in Richtung Poseritz und bog dann auf die B96 nach Stralsund ab. Auf der Fahrt über die Rügenbrücke hielt der Fahrer sich streng an die Geschwindigkeitsbeschränkungen. Auf keinen Fall wollte er riskieren, angehalten zu werden.

Hinter der großen Brücke bog er rechts ab und fuhr auf der L213 weiter, bis er hinter einer Kleingartensiedlung nicht weit von einem kleinen Flugplatz anhielt. Die Männer stiegen aus und warteten.

»Da seid ihr ja. Seid ihr gut durchgekommen? Ich habe auf meiner Fahrt nichts Auffälliges bemerkt.«

Der Strippenzieher im grauen Outfit stand plötzlich neben ihnen. Er war durch ein kleines Tor hinter einer geräumigen Hütte gekommen.

Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie die Behälter abgeladen und zur Hütte gebracht. Die Tür zu einem kleinen Geräteschuppen stand offen.

Kein Wort wurde gesprochen. Der "Graue" zog Ludwig Marin zur Seite und flüsterte mit ihm. Er nickte und drehte sich um zu seinen Männern.

»Wir sind fertig fürs erste. Konrad fährt den Wagen wie vereinbart in die Stadt und stellt ihn dort in einer Nebenstraße ab. Wischt im Wagen alles ab, was ihr angefasst habt. Ich rufe euch an, wann wir uns treffen und uns für die nächsten Aktionen vorbereiten. Ihr habt gut gearbeitet. Und…«, Ludwig machte eine Kunstpause und schaute jeden seiner Leute eindringlich an, »kein Wort zu Niemanden!«

Bis auf Marin stiegen alle ein. Konrad startete den Motor. Als sich der Pickup entfernte ging Ludwig Marin zu seinem Chef, den er unter dem Namen Werner Stier kennengelernt hatte. Sie öffneten die Eingangstür, gingen in die Hütte und schalteten ein kleines Licht an.

An einem grob gezimmerten Tisch saßen zwei schwarz gekleidete große Männer im mittleren Alter. Sie hatten im Dunklen auf Stier gewartet. Auf ihren Handrücken konnte Ludwig ein Tattoo erkennen, das wie eine Windrose mit einem Totenschädel im Zentrum aussah. Er hatte ähnliche Tattoos früher schon einmal gesehen. Sie waren typisch für eine Mitgliedschaft in einer Spezialeinheit des russischen Innenministeriums. Leise unterhielten sie sich eine Weile auf Russisch, das der Chef fließend beherrschte. Ludwig Marin verstand kein Wort. Sein Schulrussisch war über die Jahre zu sehr eingerostet.

Nach einigem Hin und Her stellte Werner Stier die beiden vor.

»Also, das sind Oleg und Gregor. Zwei Spezialisten in Sachen Sprengstoff. Das heißt, sie können Bomben bauen und entschärfen. Sie wissen Bescheid und bereiten das Material auf, das wir brauchen.«

Werner ging zu einem kleinen Schrank und holte eine große Reisetasche heraus. Diese wuchtete er auf den Tisch. Die beiden Russen griffen hinein und holten kleine Metallzylinder heraus, die mit einer Kappe verschraubt waren. Sie ähnelten den Aluminiumhülsen von teuren kubanischen Zigarren aus einem Tabakladen. Nur waren sie etwas größer. Zusätzlich fanden sie einen Lederbeutel, in dem wohl Bernsteinstückchen aufbewahrt waren.

Sie nickten grinsend und legten die Teile wieder zurück in die Tasche.

Werner stand auf und legte den beiden Männern die Schlüssel für die Hütte auf den Tisch. Sie würden jetzt für 24 Stunden beschäftigt sein und sich um die Kanister kümmern. Da im Augenblick wegen der Jahreszeit auf dem Gelände nichts los war, bestand keine Gefahr, dass sie entdeckt würden. Die Parzelle lag am Ende der Gartenanlage und eine hohe Hecke schützte vor neugierigen Blicken.

Werner Stier nickte den beiden freundlich zu als er ging. Vorher legte er zwei Umschläge auf den Tisch, die wohl als Anzahlung für die Dienste der beiden zu verstehen waren.

»Was machen die beiden denn jetzt genau?«, fragte Ludwig seinen Chef, als sie sich zu Fuß auf den Weg machten. Sind das Sprengstoffspezialisten?«

Werner nickte und Ludwig konnte im Licht einer kleinen Leuchte, die am Rande der Anlage stand, erkennen, dass er zufrieden vor sich hinlächelte. Immer wieder fiel ihm auf, wie klein Stier war. Er selbst war knapp 1,80 groß und trotzdem mehr als einen Kopf größer.

»Die präparieren die Metallzylinder mit weißem Phosphor und Bernsteinstücken. Wenn sie fertig sind, verschwinden sie wieder mit dem Geld. Den Rest der Bezahlung bekommen sie morgen Abend. Dann treffe ich sie wieder. Wenn unsere ersten Aktionen gelingen, wovon ich ausgehe, werden wir die nächsten Schritte planen und in Angriff nehmen. Dazu muss ich allerdings C4-Sprengstoff besorgen, um meinen Vorrat aufzufüllen. Außerdem habe ich noch sehr wirkungsvollen Sprengstoff versteckt, den ich allerdings noch aufbereiten muss. Glaube mir, unsere Aktionen werden die Geldsäcke in Berlin aufschrecken. Die Zeitungen werden sich überschlagen. Das garantiere ich.«

Sie gingen zufrieden den Weg entlang der Gartenanlage, bis sie zu Werners blauen Golf kamen.

»Sag mal Werner«, Ludwig schaute seinen Nachbarn an, der ruhig und vorsichtig in die Innenstadt steuerte, »wie weit werden wir eigentlich gehen? In welchen Zeiträumen bewegen wir uns?«

Werner Stier antwortete, ohne seinen Blick von der Straße zu wenden.

»Das wird sich zeigen. Das hängt ganz davon ab, wie gut ihr arbeitet und wie die Ergebnisse aussehen. Zuerst werden wir uns die Öffentlichkeit aufs Korn nehmen. Die allgemeine Verunsicherung wird die Presse dazu benutzen, um die Behörden richtig unter Druck zu setzen. Dann gehen wir gezielt gegen wichtige Personen wie zum Beispiel Richter oder Staatsanwälte vor. Erst dann werden wir Forderungen stellen, die sie natürlich ablehnen werden. Wenn es dann aber richtig knallt und Menschenleben zu beklagen sind, werden wir verdeckt an die Entscheidungsträger herangehen. Wir werden anfangs keine großen Erfolge verzeichnen, aber man wird uns entgegenkommen.«

Stier schaute kurz zu seinem Beifahrer herüber, der fasziniert zuhörte,

»Nehmen wir als Beispiel den Fall des Genossen Gentner. Du weißt, dass dieser seit Wochen in U-Haft sitzt und demnächst sein Urteil vor Gericht erwartet. Neben seiner Verwicklung in Drogen- und Prostitutionsgeschäften haben sie ihm auch noch einen Mordversuch angehängt. Er ist ehemaliger Stasi-Offizier, der gezwungen war, unter falsche Identität an der Berufsschule in Sassnitz zu arbeiten. Hauptsächlich aber war er der eigentliche Kopf eines verzweigten Netzwerks von Widerstandskämpfern. Damals nannte er sich Willi Börner. Er besaß hervorragende Verbindungen zu ehemaligen KGB-Leuten in Petersburg. Sein Leben hat er dem Kampf gegen das System gewidmet. Alle verdeckten Geschäfte liefen im Verborgenen mit der Absicht, den Kapitalisten zu schaden. Dem müssen wir helfen. Wenn er schon nicht freikommen wird, so wollen wir erreichen, dass seine Haftzeit stark verkürzt wird. Die Zielperson wird daher Richter Brandes sein, der die Verhandlung leiten wird. Darum werde ich mich persönlich kümmern.«

»Ist Gentner nicht der, der mit einem Russen, Smirnow war doch sein Name, diese kriminelle Rockerbande geführt hat und indirekt für den Tod einer Nutte verantwortlich ist? Die Presse war doch voll mit Storys über die junge Nutte aus Rumänien oder Bulgarien. Außerdem soll er doch auf einen Lehrer aus dem Westen losgegangen sein und den schwer verletzt haben. Ohne dessen Frau, die eine bekannte Größe im asiatischen Kampfsport hier an der Küste ist, wäre der Lehrer jetzt vermutlich tot.«

»Genau!« Werner Stier ereiferte sich. »Die beiden haben dafür gesorgt, dass die Tarnung von Gentner aufflog. Diese angeblichen Rocker waren in Wirklichkeit keine Kriminellen, sondern tapfere Genossen, die im Widerstand arbeiteten. Auch wenn die Presse von einer kriminellen Vereinigung sprach, so waren sie feine Kerle, die unsere Ziele verfolgten.«

»Und warum willst du auf diesen, Wilcke war doch sein Name, losgehen? Der hat sich doch eigentlich gar nicht eingemischt?«

»Da täuscht du dich«, erwiderte Stier heftig. »Dieser ausgebildete Einzelkämpfer hat die angebliche Rockerbande kaltgestellt und für die Enttarnung Gentners gesorgt. Ihm waren wohl zufällig Stasi-Akten in die Hände gefallen, in denen auch Dossier von Gentner und anderen Parteigenossen enthalten waren. Diese Akten sind vorher alle vom Bundesnachrichtendienst gefälscht worden, um uns ans Zeug zu flicken. Sie sind gefakte Beweismittel, um die Siegerjustiz durchzusetzen. Es sollen sich noch eine Menge weiterer Akten über ehemalige Stasigrößen in den Händen der Polizei befinden.«

Ludwig Martin hätte gerne weiter Fragen gestellt, aber er bemerkte eine gewisse Ungeduld bei Stier. Er hätte nämlich gerne mehr über seinen Boss erfahren. Aber Stier mauerte