Jenseits des Stromes - Heinz Kruschel - E-Book

Jenseits des Stromes E-Book

Heinz Kruschel

4,9

Beschreibung

Der Rinderzüchter Karl Röske wird Mitte der 1960er Jahre in eine LPG im Norden geschickt, in der die Feldbaubrigadierin, alleinstehende Mutter von zwei Kindern, gerade mal 180 Mark im Monat nach Hause bringt. Erst beobachtet er nur, doch dann mischt er sich mit klugen Ratschlägen ein. Die Genossenschaftsbauern sehen sofort an ihrem Geldbeutel, dass sich gute Arbeit auch auszahlt. Er findet Freunde, Mitstreiter, aber auch hasserfüllten Klatsch. Eigentlich sollte Röske nur einige Monate bleiben, höchstens ein Jahr. Als aber der Vorsitzende der Genossenschaft und der Bürgermeister vom Kreis seine Abberufung verlangen, damit ihr geordnetes, ruhiges Leben nicht gefährdet ist, sträubt sich Röske. Das spannend geschriebene Buch gibt einen interessanten Einblick in eine vergangene Zeit, als die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften das Leben im Dorf bestimmten.

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Impressum

Heinz Kruschel

Jenseits des Stromes

ISBN 978-3-95655-108-6 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1964 im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Nach Norden kroch ein Zug auf der eingleisigen Strecke, immer am Ufer des großen Flusses entlang, tauchte in niedrige Kiefernwälder unter und zog die fünf Wagen mühsam hügelan.

Dreißig Kilometer weit brachte er die Reisenden in der Stunde, schüttelte sie unsanft gegen die harten Rückenlehnen und schnaufte in eintönigem Rhythmus: Nicht schlafen, wir sind gleich da, nicht schlafen, nicht schlafen ...

In jedem Abteil empfahl ein Reklameschild den Abschluss der Lebensversicherung. Hohe Öfen mit eisernem Schutzgitter träumten von vergangenen Zeiten und auch von künftigen, denn im Winter werden sie wieder gebraucht - wie vor einem halben Jahrhundert, als man die Strecke einweihte. Gusseiserne Öfen sind dauerhaft. Karl Röske döste vor sich hin. Zwei schwerhörige Frauen, schwarze Tücher um verrunzelte Köpfe, unterhielten sich. Über eine verstorbene Nachbarin, die - man will zwar nicht schlecht reden - doch die Nase recht hoch getragen habe, weil der Sohn auf Arzt studiert in Berlin. Über den Doktor in der Kreisstadt, der den eigenen Mann immer auf Ischias behandelt habe, und nun sei es was an der Wirbelsäule, er müsse punktiert werden, und das komme doch gleich nach dem Kaiserschnitt. Und über den großen Seehund, der Gott weiß wie in die Havel gekommen sei und den Fährmann Pigorsch gefangen habe ...

Eigentlich konnte Karl Röske bei jeder Gelegenheit schlafen, im Stehen wie im Sitzen, aber heute störte ihn das schrille Gerede der beiden Alten.

Oder bildete er sich das nur ein?

War es vielleicht das Gespräch beim Rat des Bezirkes, das Wiedersehen mit Fritz Theek, die neue Aufgabe? Früher hatte ihm ein Auftrag nichts ausgemacht. War es die Angst, dass er es mit seinen fünfundfünfzig Jahren nicht mehr schaffen würde?

Dass er nicht lache. Fünfundfünfzig ist kein Alter. Er brauchte doch keine Bange zu haben. Wenn sie ihn nach Weißlose schickten, meinten sie auch, dass er, Karl Röske, es schaffen wird.

Natürlich meinten sie das. Recht hatten sie, und er sollte stolz darauf sein. Es gab ein Aber, verdammt noch mal, denn in der Genossenschaft steckte ein Stück eigenes Leben, und da waren Freunde, die man länger als ein Jahrzehnt kannte.

Und nun: Adieu.

Beim Bezirk hatten sie gesagt, es sollte nur auf einige Monate sein, bis zum Abschluss der Getreideernte vielleicht, allerhöchstens ein Jahr. Aber er kannte solche Versprechungen. Dann hieß es: Sie brauchen dich doch, Genosse Röske, du kannst sie nicht enttäuschen, das ist auch eine Frage des Bewusstseins. Vertrauen haben sie zu dir, das ist viel.

Ja. Das ist viel. Er ist der letzte, der das nicht einsieht. Aber schwer ist es, aus einem Ort wegzugehen, in dem man ständig das Wachsen der eigenen Arbeit gesehen hat, die Wirkung seiner Gedanken, Pläne und Taten. Eine andere Genossenschaft, ein anderer Ort, ein anderer Kreis. Und ein Mann, unverheiratet, der verpflanzt wird in einen anderen Boden. Zum Teufel mit diesen Grübeleien.

Der Zug hielt. Eine Station wurde ausgerufen: Scharlibbe. Eigenartiger Name. Und Röske erinnerte sich daran, vor Kurzem in der Zeitung einen Artikel über die slawischen Ortsnamen der Umgebung gelesen zu haben, von einem Russischlehrer geschrieben. Scharlibbe soll von „Skoroljube" abzuleiten sein, ins Deutsche übersetzt so viel wie „Einer, der sich schnell verliebt".

Karl Röske rieb sich die Stoppelwangen. Es muss dreißig Jahre her sein, dachte er, vielleicht auch schon einiges drüber, dass ich mir in diesem Ort ein Mädchen, von dem ich nicht mal mehr den Vornamen weiß, mit den Fäusten erobert habe, gegen einen braun gekleideten in schwarzen Stiefeln und mit hakligem Kreuz auf der Binde. Ein Mädchen im Frühling und einer, der sich schnell verliebt. So war er gewesen. Es hatte viele Frauen in seinem Leben gegeben, aber keine, die bei ihm geblieben war. Oder konnte er es bei keiner aushalten? Heute denkt man nicht mehr an solche Geschichten, wenn man den Herbst im Blute hat und einen krummen, runden Rücken und Hornhaut an Zehen und Händen. Schön war die Jugend. Nein. Nein, sie war nicht schön, es blieb einem gar nichts weiter übrig, als heute jung zu sein.

Die alten Frauen hangelten sich vorsichtig vom Trittbrett hinab, Röske schob ihnen die Weidenkörbe nach, in denen es jiepte und schilpte. Im Nachbarwagen wurde die Tür zugeschlagen, und die kleine Lokomotive tat einen neuen ersten Schnaufer. Noch dreißig Minuten Fahrt bis Sandau, dann endete diese Strecke wie abgeschnitten, und dabei fehlten noch gute zwanzig Kilometer bis zu der Berliner Bahn, die von Wittenberge über Glöwen nach Nauen führte. Weiß der Teufel, was sich damals die kurzsichtigen Honoratioren gedacht haben, den Weg nach Norden zu vernageln. Sorgten sie sich um das beschauliche Anglerparadies im Elb-Havel-Winkel?

Karl Röske trat zum Fenster, das im Takt des Zuges im Rahmen schepperte, und blickte hinaus. Die Sonne schien, und es regnete. Da laufen die Kinder hinaus, weil sie schneller wachsen möchten, da reiben sich die Bauern die Hände und nicken sich zu, denn Sonnenregen verspricht Schönwetter für die nächsten Tage. Und das könnten sie schon gebrauchen.

In diesem Jahr war der Frühling spät gekommen und zögernd, als schämte er sich, erst im Mai den warmen, aufregenden Wind geschickt zu haben, der die Krokusse öffnete und den Löwenzahn leuchten ließ. Nun aber musste das schöne Wetter anhalten, wenn es eine gute Ernte geben sollte.

Die Luft wurde grau, und nur noch am Horizont, jenseits der Elbe, war ein helles Rot. Dort tauchte die Sonne unter. Noch wenige Minuten bis Sandau, dann würde er sein Fahrrad nehmen und nach Bläßnitz-Lüttjenheide fahren, den Weg an der Heide entlang. Vielleicht zum letzten Male. In einer Woche müsste er in Weißlose sein, diesem Fleckchen in der altmärkischen Wische. Fritz Theek hatte ihm nicht viel über das Dorf erzählt. „Fahre ohne Vorurteil", hatte er gesagt, „ich komme dich besuchen, wenn du zwei Monate dort bist. Was soll man auch sagen über so ein Dorf, es ist früher nie aufgefallen, im Gegenteil. Aber nun bekamen wir Briefe, ohne Unterschrift, einige Bauern wollen austreten aus der Genossenschaft. Du wirst in der Viehzucht arbeiten, als Brigadier und Mitglied der Parteileitung und des Vorstandes."

Nun gut, er würde ohne Vorurteil fahren, tappen und suchen, die Menschen kennenlernen und sie beurteilen. So einfach scheint das zu sein. In der Vorstellung jedenfalls.

Karl Röske sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten bis Sandau. Um diese Zeit fährt auch kein Bus mehr in den Landstrich zwischen Elbe und Havel. Dann stehen die Frauen, vom Stadtkauf zurückkehrend, an der Straße und winken den Autos. Weil hier die Welt zu Ende ist.

Als das Züglein in die Station einfuhr, war Röske der einzige Fahrgast, der aus dem Abteil stieg. Aus dem ersten Wagen kletterte eine müde Kindergruppe, auf die ein Lastwagen wartete.

Auf dem Bahnsteig stand ein Mädchen in cremefarbenem Kostüm und hochhackigen spitzen Schuhen, einen großen Koffer und Taschen bei sich. Ein Mädchen, das zu Scharlibbe passt, fuhr es Röske durch den Sinn, dorthin, wo sich einer schnell verliebt. Und er belächelte sich selbst, weil er am Schlips fummelte und den Knoten hochschob. Der Bart ist seit vorgestern, dachte er, aber was macht's.

Er blieb vor ihr stehen. „Na, Deern, wo soll's hingehen?'

Sie war blond und hatte schwarze Augenbrauen, einen Mund, rot wie die Blüten des Sanddorns im Mai. Sie sah Röske an, beileibe nicht verlegen, und glättete einen zerknüllten Zettel. Ihre Fingernägel waren rot lackiert. „Nach Bläßnitz-Lüttjenheide", las sie ab, „bekomme ich da noch einen Bus?"

„Morgen um sechs erst wieder."

Nach Bläßnitz-Lüttjenheide will sie, überlegte Karl, wer hat denn da so eine hübsche Tochter in der Stadt? Die Schwiegertochter Weschkats ist es nicht, und Harkes Tochter ist dunkel, doch das ändert sich ja manchmal von heute auf morgen. Er forschte in ihren Zügen und wusste nicht, zu wem sie gehören könnte. Das Mädchen von einem Burschen vielleicht?

„Dann nehme ich ein Taxi", sagte sie.

Jawohl, eine Taxe, das ist richtig; hallo, Taxi, anhalten, ich will nach Bläßnitz-Lüttjenheide. Röske lachte.

„Sie! Machen Sie sich lustig?"

Eine Taxe. Bis Bläßnitz ist die auseinandergefallen. „Deern, Deern, hier gibt es keine. Nur in der Kreisstadt, die haben aber nur eine, und die schicken sie nicht in die Prärie, nee, nichts zu machen!"

Das Mädchen mit dem Blütenmund lächelte nun auch. Aber sie fragte nicht nach einem Hotel, wie Röske schon befürchtet hatte, sondern zeigte auf ihr Gepäck.

„Kann ich das aufgeben?"

„Das geht. Und dann?"

„Ich muss erst einen Kognak trinken auf den Schreck. Oder gibt es so was nicht?"

„Wenn die Lieferung zur rechten Zeit gekommen ist und der Zug wieder 'raus aus dem Bahnhof. Der Wirt ist nämlich auch Stationsvorsteher, Gepäckaufbewahrer und Brandschutzmensch. Aber ich weiß, wo der Kognak steht, kommen Sie."

Röske dachte: Sie fragt nicht, wie sie wohl nach Bläßnitz-Lüttjenheide kommen kann, sie will einen Kognak auf den Schreck, irgendwie gefällt sie mir, alles, was recht ist, die Rotlackierten sind nicht die Zimperlichsten. Da habe ich Begleitung am Abend, wer hätte das gedacht. Als sie ins Gastzimmer kamen, in dem nur der Lokführer saß und einen Kaffee trank, fragte Röske mit einem Blick auf das Regal: „Was für einen denn? Weinbrand-Verschnitt? Wodka? Auslese? Alles da, Deern, der Konsum war mal pünktlich."

Sie setzte sich, ohne den Stuhl abzuwischen, und schlug die Beine übereinander.

„Auslese natürlich, Verschnitt ist doch untrinkbar."

Oho, Kleine, du bist auch anspruchsvoll, hast ein gutes Stipendium gehabt, wie? Na warte, du sollst dich wundern, und Röske goss hinter der kleinen Theke einen doppelten Weinbrand ein. Marke Verschnitt.

„Trinken Sie einen mit?", fragte sie und besah sich das Gesichtchen in einem Taschenspiegel.

„Ich bleibe bei meinem billigen Verschnitt, eine Angewohnheit, wissen Sie!", lachte er und goss sich einen dreistöckigen Auslese ins Glas.

Der Lokführer griente und ging. Er musste das Züglein heute noch sicher nach Schönhausen zurückbringen. Das Mädchen lächelte Röske zu.

„Prost denn, ich heiße Ruth Piers."

Röske deutete eine Verbeugung an. Lange nicht gemacht, dachte er. „Röske, Karl."

Sie tranken, das Mädchen setzte ab, schielte auf den Mann und trank in einem Zuge das Glas leer.

„Noch einen?", fragte Röske scheinheilig.

„Danke. Der reicht."

„Schmeckt er denn?"

„Ein bisschen zurückgeblieben."

Die kennt sogar die Marken, dachte Röske, ein pfiffiges Mädchen, zu wem mag sie nur wollen in Bläßnitz? Und in Lüttjenheide wohnen nur zwei Familien: die Wickboldts und die alten Varnes mit ihrer Sippe, da kenne ich jeden in der Verwandtschaft.

„Und wie komme ich nun weiter?", fragte sie, bot ihm eine Zigarette an, Marke Orient mit Mundstück, und lächelte liebenswürdig.

Man werde schon einen Weg finden, meinte er, und was sie denn in dem gottverlassenen Nest suche. Er sei nicht neugierig, nein, aber wenn man schon einen gemeinsamen Weg habe ...

„Wieso?”

„Ich muss auch nach Bläßnitz." Und nach einer Weile: „Mein Wagen steht hier unter, ich bringe Sie hin, Fräulein Ruth."

Sie blickte ihn zweifelnd an.

Der Stationsvorsteher kam in den Raum, legte die Mütze auf die Theke und zog die Uniformjacke aus. Er hatte einen spitzen Bauch.

„Eine Hast ist das", sagte er und ließ helles Bier in ein Glas laufen, „und keiner, der hilft. Alles musst du allein machen. Hast du dich bedient, Karl? Das Fräulein auch? Dein Fahrrad habe ich 'rausgeholt und an den Schuppen gestellt. Kannst dir auch mal 'n Moped leisten; wie du verdienst, und dann so'n Schinken von Rad, Vollballon, da klappern zwanzig Jahre schon mit, gut und gerne. Alter Knauser!"

Röske hatte erwartet, dass das Mädchen jetzt lauthals zu lachen begann über die Geschichte mit dem Wagen in der Garage, aber sie zwinkerte nur und fragte: „Habe ich recht gehört. Sie wollen nach Bläßnitz-Lüttjenheide? Zu Besuch? Oder arbeiten Sie etwa dort? Vielleicht in der LPG?"

Mein Gott, dachte Röske, was liegt ihr an unserem Dorf? Kriegt sie ein Kind? Von einem unserer Burschen, der sich drücken will? Wehe dem.

„Wo soll ich sonst arbeiten in Bläßnitz", sagte er.

„Das ist prima, erzählen Sie. Stimmt es, dass die Arbeitseinheit klotzig ist, wie man mir gesagt hat?"

Klotzig? Merkwürdige Ausdrucksweise haben diese jungen Leute, dachte Röske, aber was interessiert sie das eigentlich, kommt sie von der Zeitung? Aber die kommen nicht mit der Bahn, und die vom Kreis bringen keinen Koffer mit, sondern bloß 'ne Aktentasche. Wie war ihr Name? Ruth, Ruth Piers. Hatte er den nicht schon irgendwo gelesen?

„Tja, Deern, wir sind klotzig in Bläßnitz", meinte er gemütlich, „über zwölf Mark hat es letztes Jahr für die Einheit gegeben. Das soll erst der Anfang sein. Wollen Sie nicht mitmachen?"

„Natürlich. Morgen schon."

Röske schluckte. Natürlich will sie. Rot lackiert und Auslese und Orient und Nylons und morgen schon.

„Hannes, gib mir 'nen Doppelten", rief er und schreckte den Wirt hinter einer Illustrierten auf.

„Zwei", sagte Ruth Piers, und mit einem Male wusste Röske, wo er diesen Namen gelesen hatte: auf einem Schreiben einer Fachschule für Landwirtschaft. Na, denn prost.

„Deine Nichte", sagte der Wirt anerkennend, als er die Gläser auf den Tisch stellte, „alles was recht ist ..."

„Quatsch", sagte Röske, „Nichten gibt's bei mir nicht." Er hob das Glas. „Prost, auf die Rinderzucht."

„Woher wissen Sie?"

„Ich bin man bloß Ihr Brigadier!"

Sie lachte dunkel, fast männlich. „Das ist ein Zufall", sagte sie, „der Schnittpunkt zweier Notwendigkeiten ..."

„Was?"

„Dass wir uns hier treffen müssen!"

„Diese Jugend glaubt an Wunder", meinte Röske, „haben Sie schon was von einer Ergänzung der Notwendigkeit gehört? Wo sollen wir uns treffen? Entweder auf dem Wege nach oder in Bläßnitz. Oder? Zufall! Ihr tragt die Produkte eines ganzen Industriezweiges auf dem Körper und ..."

„Sie haben ja recht. Also der Viehzuchtbrigadier. Ich finde Sie sehr sympathisch!"

Röske sah sie an. Den Umgang mit der Farbe versteht sie, dachte er, hoffentlich auch mit Tieren. Wenn ich aber noch länger mit ihr Kognak trinke, tanzt sie mir bald auf der Nase 'rum, Röske, altes Haus, du bist eine Respektsperson für das Kind, ich weiß, du möchtest jetzt jünger sein. Du bist der Vorgesetzte und kein Schnapspartner.

Er sagte: „Dann wollen wir mal, es ist dunkel."

„Schon?"

Er stand auf, legte einen Schein auf den Tisch. „Der Schnaps war nur für die Gesundheit, sonst erkälten Sie sich noch, Ruth. Stimmt so, Hannes."

Der Dicke wischte den Schein in eine Schublade.

„Darf ich mein Gepäck bei Ihnen einstellen?'', fragte ihn Ruth.

„Schon geschehen", brummte der Wirt und schielte auf ihre Beine. „Dienst am Kunden, Frollein, wissen Sie, Mitropa!"

Auf dem menschenleeren Bahnsteig pendelte eine Lampe. Unter ihr stand das Fahrrad, ein Ungetüm, blau angestrichen, mit einem Gepäckträger zum Transport von Zentnersäcken.

„Der Wagen", sagte Ruth, „damit wollen wir?"

„Ja", sagte er kurz, dass sie ihn erstaunt ansah, „vornehmer geht's nicht."

Der Gepäckträger erwies sich als zu wacklig, sodass sich das Mädchen auf die Rahmenstange setzen musste. Es war finster, in den Büschen summte es, der Weg war nur ellenbreit, sodass Röske Mühe hatte, mit dem ausgewachsenen Mädchen die Balance zu halten, zumal sie nicht bequem sitzen konnte und dauernd hin und her rutschte.

Nach einer Viertelstunde legten sie eine Pause ein.

„Das sind Verkehrsmöglichkeiten, was?", fragte Karl Röske, „wenn Sie das gewusst hätten, wären Sie wohl nicht gekommen?"

„Doch, natürlich wäre ich."

Seltsames Mädchen, dachte Röske, oder sind sie so heutzutage? Wer kennt sich da aus.

„Und warum?"

„Ja, das ist so eine Sache. Ich habe nicht wahllos zugestimmt, als nach der Prüfung die Kommission in die Schule kam und die Genossenschaften vorschlug."

„Ach."

„Eine mickrige Genossenschaft wäre nichts für mich. Aber eine starke, wie Ihre, mit Viehzucht, wo die Bauern gern arbeiten, weil sie viel verdienen, hohe Arbeitseinheit und Prämien ..."

Röske zertrat seine Zigarette.

„Das haben Sie schon gesagt, das also war ausschlaggebend für Sie. Und das hat man berücksichtigt auf dieser Schule?"

„Natürlich, ich hatte die besten Noten."

„Wir gehen ein Stück zu Fuß", sagte er, ohne eine Antwort abzuwarten. Und so gingen sie nebeneinanderher auf dem sandigen Wege, das Mädchen streifte die hochhackigen Schuhe von den Füßen, ging auf feinen Strümpfen durch das feuchte Gras und wunderte sich über den Mann, der seinen Witz wohl in der Gaststube des Bahnhofs gelassen hatte.

Was ist nur mit unserer Jugend, dachte Röske, diese Ruth Piers. Schule besucht, sicher bei den Pionieren und in der FDJ gewesen, Funktionär vielleicht, mit Medaillen und so, und dann studiert, weiß Bescheid mit Dialektik und Klassenkampf. Dann sucht sie sich eine gute Genossenschaft aus und fragt nicht danach, wo die schlechte ist, die dringend Fachkräfte braucht, nein, vorbildliche Arbeitsbedingungen sucht die Dame mit dem Blütenmund. Die Jugend von heute ist wohl äußerlich jünger, als wir damals waren, und innerlich älter, als wir heute sind. Unsereiner muss in diesem Alter noch in eine schlechte LPG.

Als sie auf der Anhöhe standen, von der aus man Lichter blinken sah, sagte er: „Da liegt das vorbereitete Nest, in dem Sie gut verdienen können. Ein langer Weg, aber er lohnt sich, nicht wahr? Aber wenn man die Prüfung mit Eins macht, na bitte. Ei ist Ei, sagte der Pfarrer und griff sich das größte."

Ruth Piers schürzte die Lippen. Also so war es, der Mann ist ein Moralist und wird gleich von seiner harten Jugend erzählen, von dem armen Kindchen im Ackerrain und dem Gutsverwalter und dem Vater, der ein Landarbeiter war, und von den Nazis und dem Aufbau nach fünfundvierzig. Soll er doch. Er lebt anders, er denkt anders und ist sicherlich zufrieden. Was früher war, ist Geschichte, heute ist Gegenwart, wozu braucht die eine Korsage, die fünfzig Jahre alt ist. Sie war sich jedenfalls keiner Schuld bewusst.

„Was wollen Sie denn?", fragte sie. „Ich will anwenden können, was ich gelernt habe, und vorwärtskommen. Kann ich das in einer miesen Produktion?"

Röske schwieg. Er schob das Rad, seine Schritte wurden größer, wuchtiger, man merkte, dass er wütend war.

Ein Zauber, dachte das Mädchen und spürte, dass mit ihren Nahtlosen nichts mehr zu machen sein würde. Die waren hin. Aber sie wollte eine Antwort, immerhin war er ihr Brigadier, mit dem man es nicht verderben durfte am ersten Tage.

„Ist es nicht so", sagte sie hastig, „wir wollen was haben vom Leben, sonst bereut man es später bloß. Ich weiß: das Kollektiv. Ich bin auch dafür, Brigadier, wirklich, aber wenn man sich sein Leben einrichten will, ist sich jeder selbst der Nächste. Man lebt nur einmal. Und dann so gut es geht, das will jeder."

Röske knurrte. Diese Weltanschauung kenne er nicht, die komme wohl von weit her.

„Wieso?"

Leute, die nur daran dächten, ihr eigenes Leben einzurichten, hätten noch nie was verändert.

„Was wollen Sie damit sagen?"

„Nichts." Es tat ihm schon leid, so hart mit dem Blütenmund verfahren zu sein, er konnte eben nicht über seinen Schatten hinaus, Spießer hasste er seit jeher. Aber diese hier? Hat sie denn schuld, dass sie so denkt? Ihre Kommission in der Schule war damit einverstanden, dass sie in eine Genossenschaft geht, in der alles läuft wie am Schnürchen, in der die Technik Trumpf ist.

„Schon gut", sagte er, „Sie werden noch lernen. Bei uns fühlt sich jeder wohl."

Ruth Piers spürte, dass er einlenkte, und schob ihren Arm unter seinen. „Darf ich? Meine Füße werden wohl Blasen haben. Ihr Auto, wissen Sie?"

Alter Stoffel, dachte er, du hältst Vorträge über Selbstlosigkeit und lässt die Kleine laufen. Und er nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit in der Kreisstadt Nahtlose zu kaufen.

„Steigen Sie auf." Sie fuhren ins Dorf hinunter. Die Cremefarbene saß ganz still und blickte neugierig nach den breiten geduckten Häusern, die schattenhaft in den Gärten lagen, nach den Männern und Frauen, die an den Staketen lehnten, erzählten und „Hallo" riefen, als sie im Dämmer den Brigadier mit seiner Beifahrerin erkannten. Hat sich Röske-Karl was angelacht auf seine alten Tage, mochten sie denken, wird auch Zeit für den stieseligen Junggesellen, denn sie sahen nicht, wie jung und hübsch das Mädchen war, das er da zu später Stunde ins Dorf bugsierte.

Er hielt vor einem Fachwerkhaus, auf dem ein knorriger Giebelspieß thronte, und sagte: „Ich bringe Sie zum Vorsitzenden, da werden Sie die Nacht bleiben können, bis sich was gefunden hat."

Eine helle, jungenhafte Stimme fragte: „Spät genug kommst du, Karl. Hatten sie für dich schon einen Schreibtisch bereit beim Bezirk?"

Ein Kopf beugte sich im Obergeschoss über die Fensterbrüstung, und die gleiche Stimme sagte wieder: „Ach ... Moment bitte, ich mache Licht."

Es knarkste auf den Treppenstufen, die Haustür wurde von einem dunkelhaarigen Manne geöffnet, der sich verlegen in das strubblige Haar griff, als er das Mädchen erblickte. Lutz Koop, der Vorsitzende, war noch jung, erst vor drei Jahren von der Hochschule gekommen.

„Willst du uns nicht 'reinlassen", sagte Röske, lächelte verschmitzt und legte den Arm um die weichen, warmen Schultern des Mädchens. „Ich bringe da gleich die neue Rinderzüchterin mit, Ruth Piers heißt sie."

Koop staunte. „Der Fotograf soll sich das Lehrgeld wiedergeben lassen", meinte er, „Sie sind viel hübscher als auf dem Passbild. Willkommen und auf gute Freundschaft. Bitte einzutreten."

Das musste man dem Vorsitzenden lassen, Lebensart hatte er, so schön hätte es Röske nicht sagen können, und die einladende Handbewegung - vornehm wie ein Empfangschef. Vor einigen Jahren, als Röske in Berlin ausgezeichnet wurde, war er im Johannishof untergebracht und von einem Empfangschef begrüßt worden, der vornehmer und imposanter tat als der Minister selber. -

Im Wohnzimmer stellte Antje, die Frau des Vorsitzenden, den Fernseher ab, und Röske musste erzählen, wo und wann er das Mädchen getroffen hatte.

Ruth hielt ihre geschundenen Füße unterm Sessel versteckt und tat still und aufmerksam und war Röske dankbar, dass er nichts von dem Gespräch erzählte, das sie unterwegs geführt hatten. Nein, ein Schwätzer war der Brigadier nicht.

„Natürlich bleiben Sie vorläufig bei uns, was sollen Sie das erste beste Zimmer nehmen", sagte Antje Koop in ihrer bedächtigen Art und betrachtete neugierig die lackierten Nägel der Fremden. Sie hatte das auch mal probiert, aber der Lack war ihr ins Nagelbett gelaufen und hatte die Finger verschmiert. Antje war fürs Moderne, sie trug eine Ponyfrisur und ging gern flott gekleidet, auch auffallend, sodass Lutz immer bremsen musste. Das Dorf, die Leute, der Tratsch und sie als Frau des Vorsitzenden. Nur damit überzeugte er sie, nicht die verteufelt kurzen Röcke anzuziehen, die sie sich aus der Stadt besorgt hatte und die ihre dicken Knie frei ließen.

Ruth Piers lächelte etwas krampfhaft zurück und schuffelte vorsichtig die brennenden Füße aneinander. Knacks machte es da, und breite Laufmaschen kletterten die Beine aufwärts.

„Ach, du liebe Güte", rief Antje schrill, dass die Männer zusammenschraken, „die Strümpfe! Hat Sie der Karl etwa barfuß laufen lassen?"

Röske setzte eine hilflose Miene auf. Ruth lachte. „Kommen Sie, machen Sie sich frisch", forderte Antje das Mädchen auf und zog es hinaus.

Koop seufzte. „Eine Puppe", sagte er, „schau, schau, aber nichts für den Stall, wir werden sie an den Ortseingang stellen, für den Fremdenverkehr."

„Quatsch", sagte Röske, „die ist nicht so. Prüfung mit Eins gebaut, intelligent, kennt sogar den Unterschied zwischen Verschnitt und Auslese, ohne auf die Marken zu sehen. Alles andere gibt sich schon."

„Du machst mir Spaß, Karl. Wegen der wird's Schlägereien geben und Krach bei den Verheirateten. Zu hübsch, da kommt keine 'ran bei uns. Und ob sie was kann?"

„Wird sie beweisen, erzieht sie nur in eurer Genossenschaft!"

„Soll das ein Witz sein? Was heißt hier ‚eurer'?"

„Kein Witz, ich wandere wieder mal."

„Du hast also nachgegeben beim Bezirk? Sie haben dich überredet? Beim Bewusstsein gepackt? Du hast doch wenigstens Bedenkzeit, wie?"

„Was soll man machen", sagte Röske, „in Weißlose geben die besten Kühe vier Liter Milch, solche schlachten wir hier bei uns. Die Bauern sollen murren, es geht nicht voran, einige wollten austreten aus der Produktion. Sie haben mich eben 'rumgekriegt. Ich habe es satt, immer nach Argumenten zu suchen, zu beweisen, dass ich hier unabkömmlich bin. Das passt mir nicht."

„Aber wir brauchen dich doch."

„Wirklich?"

Röske dachte: Der Wickboldt ist längst so weit, dass er den Brigadier machen könnte, hier läuft der Betrieb ohne mich. Ist es da nicht Zeit, was anderes zu machen, wenn so ein Gefühl aufkommt?

„Als vor drei Wochen der Instrukteur da war", meinte Koop eindringlich, „warst du anderer Meinung, Karl. Schön, Weißlose braucht Hilfe, sie haben ähnliche Bedingungen wie wir, aber es geht nicht voran. Das ist so eine Sache mit der Hilfe, uns ist es auch nicht leichtgefallen, wir mussten selber aus dem Schneider 'rauskommen. Haben wir nicht alle gesagt: Soll es bei uns etwa zurückgehen, wir geben keine Leute her. Einen guten Rat, schön, den können sie haben, der kostet keinen roten Heller. Aber schaffen müssen sie allein. Hast du damals widersprochen?"

Röske hatte nicht widersprochen, nein, aber gewurmt hatte es ihn hinterher, dass Fritz Theek unverrichteter Dinge wieder abfahren musste.

Darum war er auch der Einladung des Bezirks gefolgt und hingefahren.

„Denken wir nicht nur an uns", sagte er, „das Jahr wird nicht leicht werden, das Fleisch ist knapp in den Läden. Und in Weißlose brauchen sie einen Viehfachmann!"

Er stopfte sich eine Pfeife Tabak. Nun müsse er gehen, in den nächsten Tagen werde er seine Arbeit übergeben.

Koop trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. „An uns denkst du dabei nicht. An mich, daran, dass wir deinen Rat brauchen, deine Erfahrungen ..."

„Große Worte, Lutz, die hohl klingen."

„Dann denk doch mal an dich. Jede Aufgabe hast du bisher übernommen, bist nicht mehr der jüngste ..."

„Ja, ja, ja", unterbrach ihn Röske ungehalten, „kenne ich, das Lied, hat in mir selber gesungen auf der Fahrt zurück. Weiß man denn immer vorher, wie man's richtig macht? Ich weiß aber, dass es falsch ist, im eigenen Saft zu schmoren und sich nicht vom Topfboden zu lösen."

„Wer soll denn hier dein Nachfolger werden?"

„Hans Wickboldt."

Es verschlug Lutz Koop die Sprache. Ausgerechnet Wickboldt, den damals, im Frühjahr 1960, Röske nicht mal in der Genossenschaft haben wollte, weil er mal stellvertretender Ortsbauernführer gewesen war, den er verdächtigt hatte, die verendeten Kälber auf dem Gewissen zu haben.

Röske ahnte die Gedanken des Vorsitzenden. Er sagte: „Inzwischen sind zwei Jahre vergangen, ich weiß wohl, was du denkst. Ich habe mich geirrt damals, war übervorsichtig und voller Vorurteile. Hans Wickboldt schafft es, das kannst du mir glauben."

„Fachlich schon."

„Na also. Was nützt euch ein Redner? Nicht die Handvoll. Und die Leute hören auf den Hans, weil er seine Sache versteht."

„Wickboldt also. Früher der stärkste Mittelbauer."

„Seit über zwei Jahren bei uns. Diskutieren wir denn wieder wie seinerzeit? Du willst mich halten, deine Argumente sind fadenscheinig, Bläßnitz ist kein Staat im Staate, mir fällt es nicht leicht, mache es nicht noch schwerer."

Lutz Koop ging erregt durch das Zimmer. Draußen schwatzten die Frauen im Badezimmer, auf der Straße dudelte ein Kofferradio: „Komm ein bisschen näher zu mir her, noch ein bisschen, noch ein bisschen, noch ..." Die Wanduhr zeigte mit kurzem, hartem Schlag die zehnte Abendstunde an.

„Wir leben nicht allein auf der Welt", sagte Röske leise, „als Menschen nicht, als Kommunisten viel weniger. Außerdem komme ich zurück. Nach der Ernte." Natürlich wusste Koop, dass sein Brigadier recht hatte. Denen in Weißlose muss geholfen werden, auch mit Wickboldt wird es gehen, zumal nun die Neue da ist. Nur: Der Verlust tut weh.

„Es muss wohl sein, Karl", sagte Lutz traurig wie ein Junge, dem man den Spielgefährten nimmt.

„Weißlose ist nicht aus der Welt, fünfundzwanzig Kilometer und ein Strom, mehr nicht", sagte Karl Röske und lächelte, als müsste er sich selber Mut machen.

Die Tür klappte.

„Ich habe es gehört", sagte Antje, „du willst gehen, muss das denn sein?"

„Tja, dat is nu so."

„Dich kriegen sie auch immer 'rum."

Röske griente. Das nun fasse ich als Lob auf, dachte er und winkte ab, als Lutz seine Frau zurechtwies: „Lass, Antje, es hat seine Richtigkeit so. Auch die Bauern werden seine Gründe einsehen müssen."

„Ich staune, bisher hast du anders gesprochen."

„Es muss sein. Trinken wir eine Flasche darauf, Antje, holst du was 'rauf?"

Die Frau ging, kopfschüttelnd.

„Sie wollen weg, Brigadier?", fragte Ruth Piers.