Jette erst recht. Einzig echte Freunde - Fee Krämer - E-Book

Jette erst recht. Einzig echte Freunde E-Book

Fee Krämer

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Beschreibung

Jette ist neun Jahre alt und findet, dass ihr Papa sich zu viel um sie kümmert. Sogar beim Zähneputzen überwacht er sie – telefonisch, weil er abends im Wohnzimmer arbeiten muss (das »Wohnzimmer« ist das Café, in dem Jettes Papa Chef ist). Gemeinsam mit ihrem besten Freund Konrad heckt Jette einen Plan aus: Damit sie ihre Ruhe hat, braucht Papa Elternzeit (also Zeit, die er nur mit Jettes Mama verbringt). Dumm nur, dass Papa alleinerziehend ist. Es muss ja nicht Jettes echte Mama sein, findet Konrad. Viele Kinder haben eine neue Mama. Und eine neue Mama finden, das kann ja wohl nicht so schwer sein!

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Seitenzahl: 209

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Fee Krämer

Jette erst recht

Einzig echte Freunde

Roman

Mit Bildern von Judith Drews

FISCHER E-Books

Inhalt

Viel Luft für viel RegelZeit fürs ReporternLiebe ListeEine bunte ÜberraschungEin scheues Pony wird vermessenWaschmaschinengedanken und TrommelkinoEs riecht nach einem guten PlanRotweiß gestreifte SchnurrbärteDie Wahrheit hinter einem roten VorhangDie Gedanken rennen ZickzackFLUMMHier schnuppert nur einer… KLICK KLACK KLICK KLACK …Alle lieben PimDas Dinge-DingsDenkschokoladeTrauriger Mut und glückliche AngstDer Herr-Mann-FundtischKlar Schiff!Gelbwangenkakadu KirkDer gefundene FinderlohnDas Gute im schlechten GewissenJette oder nie!Ein Keller voller LichtDank

»Wenn du drei Wünsche frei hättest, welche wären das?«

Der kahlköpfige Mann lässt langsam seine Zeitung sinken und schaut mich an. Seine Augen stehen ganz dicht beieinander. Wie bei einem Adler.

»Wenn du drei Wünsche frei hättest, welche wären das?«, wiederhole ich und kaue dabei auf dem Radiergummi herum, der am Ende von meinem Bleistift steckt.

Der Kahle räuspert sich. »Ich … ich weiß nicht.«

»Fällt dir denn gar kein Wunsch ein?«, frage ich ihn, während ich einen Stuhl von dem kleinen runden Holztisch wegziehe und mich dem Glatzkopf im Schneidersitz gegenübersetze. Den Bleistift stecke ich hinter mein Ohr. Das machen alle echten Reporter so.

Der Kahle legt die Zeitung zusammen und trinkt einen Schluck von seinem Kaffee.

Bestimmt überlegt er. Vielleicht wünscht er sich Haare. Auf seiner Glatze glitzern viele kleine Schweißperlen. In meinem Notizbuch notiere ich:

3 Wünsche? Eine haarige Angelegenheit!

Als ich wieder hochblicke, sind die Lippen des Kahlen ganz schmal geworden. Sein Mund kräuselt sich zu einem spitzen Mündchen. Fast weiß ist es, weil er es so fest zusammenpresst. Damit sieht er noch mehr nach Adler aus.

»Ich wünsche mir einen weiteren Cappuccino«, zischt er und schiebt mir seine leere Tasse entgegen.

»Kommt sofort!«

Das ist Papa. Er scheucht mich von meinem Stuhl.

»Jette, lass die Gäste hier in Ruhe ihren Kaffee trinken! Frag doch später Konrad nach seinen Wünschen.«

»Aber Konrads Wünsche kenne ich schon. Er will ein Fernglas und einen Globus. Außerdem wäre er gern der Älteste von seinen Geschwistern und nicht der Jüngste.« Ich rümpfe die Nase.

Während mich Papa vom Tisch wegschiebt, sagt er mit Schokoladenstimme zu dem kahlköpfigen Gast: »Bitte entschuldigen Sie, der Cappuccino geht natürlich aufs Haus.«

Der Kahle nickt und vertieft sich mit seinen Adleraugen wieder in die Zeitung.

Papa schiebt mich weiter in die Küche des Wohnzimmers. Ja, eine Küche im Wohnzimmer. Das hat nicht jeder. Dass das bei uns so ist, liegt daran, dass wir ein Café haben, das ›Wohnzimmer‹ heißt. Und Papa ist dort der Chef.

Dieser Chef steht jetzt mit mir in der Küche neben der Knetmaschine und hat die Arme vor der Brust verschränkt. Er schaut auf mich herunter. Zwischen seinen Augen bildet sich eine tiefe Furche.

»Jette, du weißt, dass du die Gäste nicht mit deiner Fragerei nerven sollst.«

»Das mache ich nicht!«, versuche ich mich zu verteidigen. »Er saß dort ganz allein. Ich glaube, er war einsam und hat sich über meine Fragen gefreut.«

Papa klopft mit den Fingerspitzen auf die Knetmaschine.

»Wir haben eine Abmachung, Tochterherz, und die besagt, dass du keine Fremden befragst, sondern nur Menschen, die du kennst. Menschen, die dich kennen. Dich und deine Fragerei.«

»Aber er sah wirklich so aus, als hätte er viele Wünsche!«, erkläre ich Papa.

Seine Stirnfurche wird tiefer.

Ich seufze. »Ist gut. Ich frage keine Fremden.«

»Danke, Frau Reporterin.« Er zwickt mich in die Nase. Dabei bleibt etwas vom Mehl an meiner Nasenspitze hängen, das wie eine weiße Staubschicht über der ganzen Küche liegt. Ich muss niesen. Auf dem Weg nach draußen mopse ich ein Stück vom Kirschkuchen, der fertig aufgeschnitten auf dem Herd steht.

Papa macht der Welten besten Kuchen, und das Wohnzimmer ist vor allem deswegen immer so gut besucht, weil die Menschen das inzwischen wissen und fast ein bisschen süchtig nach den Vanille-Zitrone-Eclairs und den weichen Karamellmuffins sind.

Wenn man durch unsere Straße läuft, riecht man das Wohnzimmer schon siebzehn Häuser weiter. Es duftet nach süßem Teig und nach warmer Schokolade und nach den Himbeeren, die Papa aufkocht und aus denen er kleine Herztörtchen mit Sahne formt.

Plötzlich höre ich es hinter mir in der Küche scheppern. Dem Scheppern folgt ein lauter Papa-Fluch.

»Himmelarschundzwirn!«

Schnell lasse ich das Kirschkuchenstück in einer leeren Nüsschenschale verschwinden, die auf dem Tresen steht.

Auch die Gäste haben das Scheppern und den Fluch gehört. Der Kahle lässt die Zeitung sinken. Außer ihm sind noch zwei alte Damen im Wohnzimmer. Es sind Damen und keine Frauen, weil sie ganz feine Kleider tragen und ihre grauen Haare zu hübschen Nestern getürmt haben.

Wir alle schauen auf die Schwingtür zur Küche.

Wieder scheppert es dahinter, und Papa flucht einen zweiten Fluch.

»Du ausgebuffte kleine Ratte, ich krieg’ dich!«

Die Damen wechseln einen ausgesprochen langen Blick, und ich weiß jetzt, warum Papa flucht. Wegen Herrn Mann.

Herr Mann ist meine Ratte und hat Wohnzimmerverbot. Weil Ratten in einem Café nämlich nichts zu suchen haben, sagt Papa.

Herr Mann scheint es trotz Papas Verbot irgendwie in die Küche des Wohnzimmers geschafft zu haben.

Ich habe einen Verdacht. Mein Blick wandert runter zu meiner Bauchtasche, in der ich immer alles griffbereit habe, was ich fürs Reportern brauche. Mein Notizbuch, einen Spitzer und einen Bleistift. Wenn Herr Mann nicht in seiner Box ist, schläft er meistens in meiner Bauchtasche. Er fühlt sich pudelrattenwohl dort.

Aber jetzt ist Herr Mann nicht in meiner Bauchtasche. Der Reißverschluss steht ein Stückchen offen. Gerade so weit, dass auch eine Ratte mit Kugelbauch bequem herausklettern kann.

»Du versteckst dich also, ja? Du pelziges Würstchen auf vier Beinen. Ich werd’ dich schon finden«, hören wir aus der Küche. Die Damen tuscheln, der Kahle legt den Kopf schief, und ich stürme zur Küchentür. Ich will auf keinen Fall, dass Papa Herrn Mann vor mir findet.

Doch bevor ich die Schwingtür erreicht habe, flitzt Herr Mann unter ihr hindurch ins Wohnzimmer. Dann schwingt sie auf, und Papa stürmt hinterher, in der Hand eine teigige rote Rührschüssel.

Die Damen haben Herrn Mann noch nicht entdeckt, aber sie erschrecken sich vor dem rührschüsselschwenkenden Papa.

»Huuuch!«, quietscht eine der beiden.

Obwohl er wirklich ziemlich dick ist, schießt Herr Mann wie ein weißer Pfeil durchs Wohnzimmer. Zwei Schritte hinter ihm Papa, der immer noch wütend die Rührschüssel schwingt.

Ich will Herrn Mann helfen, aber ich weiß nicht, wie. Papa ist wirklich schnell.

Herr Mann rennt auf den Tisch zu, an dem der Kahle sitzt. Kurz vor dem Tischbein will er bremsen und stellt seinen runden Rattenkörper quer. Weil aber die alten Kacheln im Wohnzimmer so glatt sind, rutscht er das letzte Stück auf seinen rosafarbenen Rattenfüßen und prallt dann an das Holzbein. Hoffentlich hat er sich nicht weh getan!

Hat er nicht, denn Herr Mann ist ein zähes Stück. Er rappelt sich auf und klettert ziemlich schnell am Stuhlbein des Kahlen hoch, über seinen Schoß und von dort auf den Tisch. Der Kahle sitzt einfach nur da und starrt abwechselnd auf seinen Cappuccino und Herrn Mann.

Da steht auch schon Papa vor dem Kahlen.

RAWUMMMMS!

Papa lässt die Rührschüssel verkehrt herum genau über Herrn Mann auf den Tisch sausen, so dass Herr Mann darunter gefangen ist.

Papa schnauft, und seine Nasenlöcher blähen sich wie bei einem Drachen, kurz bevor er Feuer spuckt.

»Ha! Was sagst du jetzt, du durchgeknallte Rennratte?«

Als er die Rührschüssel auf den Tisch geknallt hat, hat Papa nicht nur Herrn Mann eingefangen. Er hat die Schüssel direkt auf den Henkel der Cappuccinotasse geschlagen. Die Tasse kullert in einer Cappuccinopfütze über die Tischplatte, und dicke braune Kaffeetropfen tropfen dem Kahlen auf die grau glänzende Anzughose. Der Kahle starrt Papa an, und Papa kneift die Augen zusammen. Als würde er sich wünschen, bei Herrn Mann unter der Rührschüssel zu sein, damit die Adleraugen des Kahlen ihn nicht sehen.

Der Kahle richtet sich langsam, ganz langsam, auf. Die kaffeenassen Hosenbeine kleben an seinen Oberschenkeln, und die engen Augen sind weiter auf Papa gerichtet.

»Sie sind doch nicht ganz normal! Dieses ganze Café ist nicht ganz normal!«

Mit diesen Worten geht der Kahle und hinterlässt eine milchige Cappuccinospur auf dem Boden.

Am anderen Ende des Wohnzimmers beugen sich die Damen über ihre Törtchen und tuscheln.

Papa lupft vorsichtig die Rührschüssel ein kleines Stück, so dass er mit der Hand daruntergreifen und Herrn Mann packen kann. Der quiekt, traut sich aber anscheinend nicht, Papa zu beißen. Mit der Rührschüssel in der einen und dem zappelnden Herrn Mann in der anderen Hand geht Papa in Richtung Küche. Auf dem Weg dorthin ruft er den beiden Damen zu: »Bitte entschuldigen Sie vielmals! Kommen Sie jederzeit auf einen Gratiskaffee vorbei!«

Und zu mir sagt er mit Eisstimme: »Mitkommen!«

Ich ziehe den Kopf ein und trotte ihm hinterher.

In der Küche starrt Papa schon wieder auf mich herunter. Seine Augen blitzen unter seiner furchtbar tiefen Stirnfurche. Herr Mann zappelt in Papas großer Faust. Schnell nehme ich Papa Herrn Mann ab und lasse ihn in meiner Bauchtasche verschwinden. Dort kringelt er sich zusammen und bedeckt die Augen mit seinem kahlen Schwanz. Nur seine Nase schaut aus dem weißen Fellberg heraus und schnüffelt noch ein wenig.

Ich schließe den Reißverschluss bis auf einen kleinen Spalt, damit Herr Mann noch genügend Luft bekommt.

»Papa …«

»Nein, Jette! Komm mir jetzt nicht mit einer schnellen Entschuldigung! Du weißt genau, dass Herr Mann hier unten nichts zu suchen hat. Wenn einer der Gäste das dem Gesundheitsamt meldet, dann können wir den Laden dichtmachen. Dann müssen wir eigenhändig alle Sessel und Tische aus dem Wohnzimmer tragen. Dann stehen wir vor dem Ruin!«

Papa wirft die Worte wie Blitze nach mir.

»Du kennst deine Grenzen einfach nicht, Jette!«

Mein Kopf sinkt immer tiefer.

»Ich weiß«, stammele ich. »Ich wollte doch gar nicht …«

»Was wolltest du nicht? Herrn Mann mit ins Wohnzimmer bringen? Das hat ja wunderbar geklappt!«

Ich hebe vorsichtig den Kopf, um herauszufinden, ob noch mehr Blitze auf mich herunterregnen. Aber Papa steht einfach nur da. Die Augenfurche ist zwei sorgenvollen breiten Stirnfalten gewichen.

»Ich will nicht, dass das Wohnzimmer schließen muss und wir die Sessel und Tische raustragen müssen«, flüstere ich leise.

Wenn das Wohnzimmer schließen müsste … ich will gar nicht daran denken. Das Wohnzimmer ist der schönste Ort, den man sich vorstellen kann. Es ist meine Höhle und die ganze Welt zugleich. Ich kenne jeden Winkel dort, und trotzdem kommt mit jedem Gast etwas Neues. Oft liege ich auf dem roten Sofa, eine alte Feder bohrt sich mir in den Rücken, und ich zähle die goldenen Sterne auf der dunkelblauen Wand hinter dem Tresen. Vom Sofa aus hat man auch die Eingangstür bestens im Blick und kann jeden Menschen betrachten, der ins Wohnzimmer kommt. Viele Gäste kenne ich, denn sie sind fast jeden Tag hier. Am liebsten aber mag ich neue Gäste.

Da gibt es die Schüchternen, die zunächst in der Tür stehen bleiben und sich unsicher umschauen. Und es gibt die Lauten, die die Tür hinter sich zuknallen, schnurstracks auf eine Ecke zusteuern und ihre Zeitung auf den Tisch pfeffern. Alle bringen fremde Düfte mit. Und was noch viel besser ist: Mit jedem fremden Gast kommt eine neue Geschichte.

Papa seufzt.

»Ich weiß doch, wie sehr du das Wohnzimmer liebst.«

Er legt seine großen schweren Arme um mich und beugt sich ein Stückchen herunter.

»Meine kleine Rattenfängerin«, brummt er dann in die Stelle zwischen Kopf und Schulter. Diese kleine Mulde direkt am Hals, in der es immer ganz warm und weich ist. Papas Bart kitzelt, und ich muss lachen.

Dann lehnt sich Papa an die Arbeitsfläche.

»Aber Jette, damit eins klar ist, Herr Mann hat absolutes Wohnzimmerverbot. Und weil du es anscheinend selbst nicht schaffst, Verantwortung für Herrn Mann zu übernehmen, mach ich das ab jetzt.«

Ich weiß nicht, welche neue Regel mir Papa gleich aufdrücken wird, fest steht nur: Ich werde sie nicht mögen.

Papa holt Luft, um mir die Regel zu erklären. Es scheint eine lange Regel zu sein, denn er atmet sehr tief ein. Viel Luft für viel Regel.

Dann kommt die viele Luft auf einmal aus ihm heraus: »Wann immer du das Wohnzimmer betrittst, wirst du als Allererstes zu mir in die Küche kommen und mir deine Bauchtasche zeigen. Ich will dort weder Herrn Mann noch deine Reporterausrüstung sehen. Keine Ratte. Kein Notizbuch. Beides hat hier nichts zu suchen.«

Weil ich es nicht tue, nickt Papa, um zu betonen, dass er recht hat.

»Aber Papa!«

Diese Regel gefällt mir ganz und gar nicht. Ich bin Reporterin und muss meine Fragen fragen. Unbedingt und ganz vor allem im Wohnzimmer. Denn hier sind all die spannenden Menschen. Außerdem ist Herr Mann immer dabei, in seiner Box wird er sich zu Tode langweilen.

Doch Papas Gesicht ist eingefroren. Die Furche ist wieder da. Er wird nicht mit sich reden lassen.

Während sich meine Unterlippe langsam nach vorne schiebt, pikst Papa vorsichtig mit dem Zeigefinger in meine Bauchtasche und sagt: »So, ihr beiden. Und nun Abflug! Oben steht für dich Abendbrot bereit. Ich komme gleich nach.« Und damit schiebt er mich aus der Küche.

Oben in unserer Wohnung ist der Tisch tatsächlich schon gedeckt. Ich schnappe mir einen Teller, Brot, eine Scheibe Salami und das Marmeladenglas. Damit setze ich mich aufs Sofa vor den Fernseher. Während ich ihn einschalte, öffne ich meine Bauchtasche, so dass Herr Mann die Abendbrotauswahl begutachten kann. Sofort klettert er aus der Tasche, setzt sich auf mein Knie und beugt sich schnüffelnd über den Teller. Er entscheidet sich für die Salamischeibe. Eine gute Wahl.

Ich verteile also die rote Erdbeermarmelade auf einer Brotscheibe und nehme einen großen Bissen.

Auch Herr Mann hat Hunger, mit beiden Pfoten schiebt er ein großes Stück Salami in seine Backen. Je mehr er schiebt, desto dicker werden sie.

Zusammen mit meinem Marmeladenbrotbissen versuche ich, auch die Wut auf Papa runterzuschlucken. Das funktioniert aber nur sehr schlecht.

Jetzt darf nicht nur Herr Mann auf keinen Fall mehr ins Wohnzimmer, ich darf dort auch nicht mehr reportern.

In diesem Moment klingelt das Telefon.

Ich lasse Herrn Mann vor dem Fernseher sitzen, schlittere auf Socken in den Flur und hebe den Hörer ab.

»Ja bitte? Wer will was warum wissen und von wem?«

Am anderen Ende seufzt Papa.

»Jette, hast du denn nie Feierabend? Auch eine Reporterin muss doch mal den Stift beiseitelegen.«

»Warum? Fragen habe ich doch auch am Abend. Und sogar die wichtigsten, weil ich über das nachdenke, was ich am Tag erlebt habe.«

»Tochter, du bist unglaublich altklug.«

»Quatsch. Ich bin gar nicht alt. Aber klug bin ich, das stimmt. Sonst wäre ich ja nicht deine Tochter.«

Sehen kann ich es nicht, aber ich fühle es: Papa grinst. Wenn ich besonders nett zu ihm bin, darf ich vielleicht doch wieder mit Reporterausrüstung ins Wohnzimmer.

»Bist du schon fertig mit Abendbrot?«, fragt er.

»Wäre ich, wenn du nicht angerufen hättest, um zu fragen, ob ich schon fertig bin.«

»Ich muss hier noch die Abrechnung machen. Ruf mich an, wenn du dir die Zähne putzt.«

»Papa!«

»Drei Minuten, mindestens! Und bei diesem spannenden zahnsportlichen Ereignis will ich live zugeschaltet werden.«

»Das ist unfair!«

»Unfair ist, wenn du die Zahnpasta nur isst, mich dann anhauchst und sagst, du hättest dir sogar vier Minuten lang die Zähne geputzt.« Pause. »Jette, ich kann es zwar nicht sehen, aber ich fühle es: Du rollst mit den Augen!«

»Ja! Also jaaa, ich ruf dich später an.«

Damit lege ich auf und schreie laut. Einen Wutschrei schreie ich.

Ein Wutschrei dauert nur ganz kurz und ist fürchterlich laut. Bei einem echten Wutschrei muss man sich die Ohren zuhalten, weil der eigene Schrei so laut ist.

Auch Herr Mann hat gehört, dass es ein Wutschrei war. Er hat sich aufgerichtet, ein Salamizipfel hängt ihm aus dem Maul, und er starrt mit großen Knopfaugen zu mir herüber. Er weiß schon: Auf einen Wutschrei folgt meistens ein zweiter. Ich warte kurz und höre in mich hinein. Dann fühle ich ihn. Die Finger- und Zehenspitzen fangen an zu kribbeln, das kündigt den Wutschrei an, und wie ein Kugelblitz schießt er durch meinen Körper, bis ich ihn aus meinem Mund wieder herauslasse.

»MUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHHH!«

Ich lasse mich auf den Boden fallen und rufe: »Weißt du, Herr Mann, ich bin Jette, Rattenmama und eine Reporterin noch dazu. Und wenn ich mir die Zähne putze, will Papa am Telefon dabei sein. Das ist doch unfair!«

Aber Herr Mann hat sich von meinem Doppel-Wutschrei nicht beeindrucken lassen. Er starrt jetzt wieder abwechselnd auf den Fernseher und die Salamischeibe, die eigentlich nur noch eine viertel Salamischeibe ist. Beides tut er sehr gebannt.

»Außerdem darf ich im Wohnzimmer nie wieder reportern, und du darfst dort nie wieder rein!«

Das müsste eigentlich auch Herrn Mann wütend machen. Aber der tastet nur mit einer Pfote nach dem Salamischeibenviertel, während auf dem Bildschirm ein Film über Astronauten läuft.

Jette erst recht! Ich muss mit Konrad sprechen. Das mit Papa wird einfach zu viel. Zu viele Papa-Augen und Papa-Ohren, die wissen wollen, was ich tue und ob ich es richtig tue. Zu viel Kümmern, zu viel Sorgen.

Vielleicht weiß ja Konrad, wie ich es schaffe, dass Papa sich nicht mehr so viel um mich kümmert. Der hat ja schließlich auch einen Vater. Und dazu sogar noch eine Mutter. Also doppelt so viele Möglichkeiten, bekümmert zu werden.

Ich stehe noch immer am Telefontisch im Flur. Konrads Nummer weiß ich auswendig.

»Konrad? Hier ist Jette. Du, ich brauche deinen Rat! Oh, Entschuldigung, Frau Kriemel. Kann ich bitte Konrad sprechen?«

Während ich warte, dass seine Mutter Konrad ans Telefon holt, kann ich sehen, wie sich Herr Mann plötzlich auch für das Marmeladenglas interessiert. Bis zu den Schultern hat er seinen Kopf schon hineingesteckt.

»Jette?«, höre ich Konrad am anderen Ende der Leitung sagen. »Du, wir sind gerade beim Abendessen.«

»Ich muss dich nur schnell etwas fragen«, versuche ich ihn am Hörer zu halten. »Ich finde, mein Vater kümmert sich zu viel um mich. Immer muss er wissen, was ich tue. Ständig macht er neue Regeln. Das nervt! Hast du vielleicht eine Idee, was ich dagegen machen kann?«

Eine Pause. Im Hintergrund höre ich Besteck auf Teller klappern. Dann flüstert Konrad gedämpft: »Also bei uns kümmern sich unsere Eltern auch viel um uns. Aber abends, nach acht, da ist Elternzeit. Da dürfen wir sie nur noch in Notfällen stören.«

»Elternzeit. Aha. Und gibt es auch zu anderen Tageszeiten Elternzeit?«, frage ich.

»Ja. Jedes erste Wochenende im Monat. Da verbringen meine Eltern ein gemeinsames Wochenende beim Wellness, und Oma Mine passt auf uns auf«, erklärt Konrad.

»Ein ganzes Wochenende?«

Ich kann es nicht fassen. Aber es stimmt, ich war selber schon an solchen Wochenenden zu Besuch bei Konrad. Und Oma Mine passt nun wirklich nicht wahnsinnig aufmerksam auf Konrad auf. Sie findet, dass man mit neun fast alles selbst entscheiden kann. Ich mag Oma Mine.

»Und wie verfrachte ich meinen Papa in Elternzeit?«, frage ich Konrad.

»Dazu brauchst du eigentlich eine Mama«, sagt er langsam.

»Haha!«, antworte ich mürrisch.

»Muss ja nicht deine echte sein. Laura hat doch auch einen neuen Vater«, versucht Konrad mich aufzuheitern.

»Koooooonrad«, höre ich im Hintergrund Konrads Mutter rufen.

»Ich muss auflegen«, sagt Konrad. »Wir sehen uns morgen vor der Schule.«

Und schon ist er weg.

Elternzeit. Das klingt sehr gut. Vor allem, wenn man zwei Eltern hat. Ich habe aber nur einen Papa.

Langsam schlurfe ich zurück zum blau flimmernden Fernseher und Herrn Mann. Er sitzt im Marmeladenglas und kaut auf einem Brotkanten, während hinter ihm auf dem Bildschirm ein Astronaut weite Sprünge auf der felsigen Mondlandschaft macht.

»Kein Wunder, dass dich die Gäste nicht im Wohnzimmer haben wollen!«, sage ich zu Herrn Mann. Er ist über und über mit roter Erdbeermarmelade beschmiert und starrt immer noch auf den Fernseher.

»Komm, lass uns duschen gehen«, sage ich zu ihm.

Da zieht er den Kopf ein und versinkt vollständig im Glas. Herr Mann ist ein leidenschaftlicher Bader, aber duschen kann er nicht leiden. Ich schnappe mir das Marmeladenglas samt Herrn Mann und verschwinde damit ins Bad.

Im Spiegel kann ich sehen, dass ich nicht viel besser aussehe als Herr Mann. Eine Mischung aus Erdbeermarmelade und Kirschsaft hängt mir in den Mundwinkeln, und irgendwie hat es auch etwas Kuchenrest unter mein linkes Auge geschafft.

Ich stelle das Marmeladenglas mit dem erdbeerverschmierten Herrn Mann neben die Badewanne und lasse heißes Wasser in die Wanne laufen. Baden wir eben doch. Eine halbe Flasche Badeschaum mit rein, damit auch ausreichend weiße weiche Duftwatte auf dem warmen Wasser schwimmt. Fertig.

»Weißt du, Herr Mann, wir müssen dafür sorgen, dass Papa auch Elternzeit bekommt«, sage ich in Richtung Marmeladenglas, während ich in die Wanne steige. Eine rote Erdbeernase schnüffelt mir entgegen.

»Dann hätte er nicht mehr so viel Zeit, auf uns aufzupassen, ist doch klar!«, erkläre ich der Nase. Und während ich aus dem Schaum einen kleinen Ball forme, füge ich hinzu: »Wir können allerdings vergessen, dass Mama wiederkommt. Die findet es ja anscheinend in London viel besser als hier.«

Ich muss an die letzte Postkarte denken, die sie mir vor ein paar Wochen geschickt hat. Vorne drauf ist ein Foto der englischen Königin. Darauf kann man erkennen, dass die echt alt ist. Außerdem hat sie ein sehr schickes blaues Kleid an und eine mit Diamanten besetzte Krone auf dem Kopf. Sie springt aus einem Hubschrauber, der über eine Brücke fliegt, und darunter steht: Watch out, Mr Bond.

Mama hat geschrieben, dass es ihr gutgeht und dass sie mir Geschenke gekauft hat, die sie schicken möchte. Angekommen sind die aber bisher noch nicht.

Und dass sie bald kommen wird, um mich zu besuchen, schreibt sie. Seit sie weg ist, hat sie das noch nie gemacht. Aber ich hab sowieso gar keine Lust, dass sie kommt. Papa und ich brauchen sie nicht. Wir kommen hervorragend ohne sie zurecht. Wenn er mich nicht gerade dauerüberwacht.

Herr Mann klettert aus dem Glas und läuft vorsichtig am Wannenrand entlang. Ich nehme eine Handvoll Schaum und puste ihm die weißen Flocken entgegen. Das kann er gar nicht leiden. Aber er schüttelt sich danach immer so lustig.

Jetzt thront auch auf Herrn Manns Kopf eine Krone. Mit der weißen Schaumhaube zwischen den Ohren putzt er sich zaghaft die Pfoten. Ich nehme ihn hoch und setze ihn auf meine Hand. Mit schrägem Kopf schaut er mich an.

»Papa braucht eine Frau, dann haben wir mehr Zeit für uns! Dann kann ich dich wieder ins Wohnzimmer schmuggeln, und ich kann wieder das sein, was ich bin: eine Reporterin«, sage ich ernst zu ihm. »Wir müssen aber dafür sorgen, dass es die Richtige ist. Ich glaube nicht, dass Papa das selbst entscheiden kann – guck dir doch Mama an. Pah!«

Vorsichtig lasse ich den schaumigen Herrn Mann wieder auf den Badewannenrand gleiten, klettere aus der Wanne und kuschele mich in meinen froschgrünen Bademantel. In meiner Hose, die auf den nassen Fliesen liegt, taste ich nach meinem Handy. Ich finde es in der linken Hosentasche, zusammen mit groben Krümeln, feinem Sand und einem goldenen Bonbonpapier, das ich heute morgen gefunden habe. Mit Badewasser-Krümel-Sand-Schrumpelfingern tippe ich:

Konrad! Müssen morgen Elternzeit für meinen Vater planen. Treffen uns um halb 8 im Wohnzimmer. Jette. PS: Finde mal heraus, warum deine Eltern sich verliebt haben. Danke.

Zufrieden grinse ich mich im Spiegel an. Da fällt mein Blick auf die Zahnbürste, und ich seufze.

Bevor ich am nächsten Morgen in die Schule gehe, überprüft Papa meine Bauchtasche. Herr Mann darf nämlich nicht mit. Dann mache ich mich auf den Weg – natürlich gehe ich nicht direkt in die Schule, sondern treffe vorher Konrad im Wohnzimmer.

So früh morgens ist das Café noch geschlossen. Papa kommt immer erst um acht ins Wohnzimmer. Konrad und ich werden es also für uns alleine haben.

Vorsichtig schließe ich die Hintertür auf. Durch die blitzeblanke Küche schleiche ich nach vorne, wer weiß, ob nicht doch jemand da ist. Aber das Wohnzimmer ist leer. Die Morgensonne scheint durch die großen Fenster und spiegelt sich im Glas der Kuchenauslage. Ein leichter Teig-Orangen-Geruch liegt in der Luft. Ich atme den fruchtigen Duft tief ein und lasse mich auf das rote Sofa plumpsen.

Wir haben eine halbe Stunde Zeit, um herauszufinden, wie wir Papa verlieben können. Ich frage mich nur, ob Papa überhaupt verliebbar ist. Wer weiß, vielleicht kann sich gar keine Frau in Papa verlieben. Vielleicht hat er keine Frau, weil er unverliebbar ist!

Es klopft leise ans große Fenster. Das ist Konrad.

Ich mache ihm ein Zeichen, dass er durch die Hintertür kommen soll. Kurz darauf sitzt Konrad neben mir auf dem Sofa und kratzt einen weißen Zahnpastafleck von seinem dunkelroten T-Shirt.

»Elternzeit also, ja?«, fragt er mich.

Ich nicke.

»Damit du mehr Zeit für dich haben kannst, ja?«, fragt er.

Ich nicke. Das hab ich ihm doch gestern schon alles erklärt.

»Verstehe ich nicht, Jette, die brauchst du doch gar nicht!« Konrad zeigt einmal durch das ganze leere Wohnzimmer. Da ist weit und breit kein Papa.

»Pah. Das denkst du vielleicht! Aber eigentlich will mich Papa die ganze Zeit bewachen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust.