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Richard A. Muller

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Beschreibung

Sie lesen Jetzt das Wort »Jetzt« – und schon ist es vergangen. Das flüchtige Dasein der Gegenwart hat Philosophen und Physiker vor die größten Rätsel gestellt: Was ist die Zeit? Und warum fließt sie? Generationen von Wissenschaftlern haben sich vergeblich um Antworten bemüht, einige haben es aufgegeben. Nicht so Richard A. Muller. Er hat eine Theorie der Zeit aufgestellt, die neu ist und experimentell überprüfbar. Um sie vorzustellen, erklärt er zunächst mit großem Geschick die physikalischen Grundkonzepte wie Relativität, Entropie, Verschränkung, Antimaterie und Urknall. Darauf aufbauend entfaltet er seine provozierend neue Sicht mit all ihren Folgen für die Philosophie oder die Frage nach der Willensfreiheit. Eine kraftvolle und überzeugende Vision für die Lösung des alten Rätsels der Zeit. »Muller hat einen bemerkenswert frischen und aufregenden Ansatz für die Erklärung der Zeit.« Saul Perlmutter, Physik-Nobelpreisträger »Ein provokatives und gut argumentiertes Buch über die Natur der Zeit.« Lee Smolin

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Seitenzahl: 522

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Richard A. Muller

Jetzt

Die Physik der Zeit

Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel

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Inhalt

EinleitungTeil I Verblüffende ZeitKapitel 1 Das verschränke RätselKapitel 2 Einsteins Regression in die KindheitKapitel 3 Das springende JetztKapitel 4 Widersprüche und ParadoxaKapitel 5 Grenze Lichtgeschwindigkeit, Schlupfloch LichtgeschwindigkeitKapitel 6 Imaginäre ZeitKapitel 7 Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiterTeil II Ein gebrochener PfeilKapitel 8 Ein Pfeil der VerwirrungKapitel 9 Die Entmystifizierung der EntropieKapitel 10 Die Mystifizierung der EntropieKapitel 11 Die Zeit wird erklärtKapitel 12 Unser unwahrscheinliches UniversumKapitel 13 Das Universum bricht ausKapitel 14 Das Ende der ZeitKapitel 15 Die Entropie kommt unter die RäderKapitel 16 Der Zeitpfeil: AlternativenTeil III Gespenstische PhysikKapitel 17 Eine Katze, tot und lebendigKapitel 18 Das Quantengespenst wird gekitzeltKapitel 19 Einstein bekommt AngstKapitel 20 Die Rückwärts-Zeitreise wird beobachtetTeil IV Physik und RealitätKapitel 21 Über die Physik hinausKapitel 22 Cogito ergo sumKapitel 23 Freier WilleTeil V JetztKapitel 24 Der 4-D-UrknallKapitel 25 Die Bedeutung des JetztAnhang 1 Die Mathematik der RelativitätZeitdilatationLängenkontraktionGleichzeitigkeitGeschwindigkeiten und die LichtgeschwindigkeitZeitumkehrDie Mathematik des ScheunenparadoxonsDie Mathematik des ZwillingsparadoxonsMathematik des TachyonenmordesMathematik der Wirkung der Gravitation auf die ZeitAnhang 2 Zeit und EnergieAnhang 3 Der Beweis, dass eine irrationale Zahl istAnhang 4 Die SchöpfungAnhang 5 Die Mathematik der UnschärfeAnhang 6 Physik und GottIch selbstDanksagungenAbbildungsnachweiseRegister

Einleitung

Jetzt – jener rätselhafte, flüchtige Zeitpunkt, der seine Bedeutung in jedem Augenblick ändert – verwirrt seit jeher Priester, Philosophen und Physiker, und das aus gutem Grund. Um das Jetzt zu verstehen, braucht man Kenntnisse über Relativitätstheorie, Entropie, Quantenphysik, Antimaterie, Zeitreisen in die Vergangenheit, Verschränkung, den Urknall und dunkle Energie. Erst jetzt verfügen wir über alle physikalischen Kenntnisse, um das Jetzt zu verstehen.

Die schwer fassbare Bedeutung von Jetzt war ein Stolperstein für die Entwicklung der Physik. Wir verstehen die Zeitdehnung durch Geschwindigkeit und Gravitation und sogar die Umkehr der Zeit in der Relativitätstheorie, aber wir haben keine Fortschritte gemacht, wenn es darum geht, die verblüffendsten Aspekte der Zeit zu verstehen: ihr Fließen und die Bedeutung des Jetzt. Das grundlegende Zeichenbrett der Physik, Raum-Zeit-Diagramm genannt, geht über solche Fragen hinweg; Physiker halten dieses Fehlen unsinnigerweise manchmal für eine Stärke und gelangen zu dem Schluss, das Fließen der Zeit sei eine Illusion. Aber das ist rückständig. Solange wir die Bedeutung des Jetzt nicht dingfest machen können, werden weitere Fortschritte in der Erforschung der Zeit – jenes Schlüsselaspekts der Realität – weiterhin auf Hindernisse stoßen.

Mit diesem Buch verfolge ich das Ziel, die wesentlichen physikalischen Aspekte zusammenzusetzen wie Puzzlesteine, bis sich ein eindeutiges Bild des Jetzt herauskristallisiert. Damit das klappt, müssen wir auch diejenigen Puzzlesteine finden und entfernen, die an den falschen Orten eingesetzt wurden.

Dass das Rätsel bisher so schwer zu lösen war, liegt daran, dass dazu ein breites Spektrum physikalischer Kenntnisse erforderlich ist. Physik ist weder einfach noch geradlinig, und deshalb behandelt dieses Buch eine ungeheure Menge von Themen – eigentlich vielleicht zu viele für einen einzigen Band. Man kann deshalb durchaus hin und her blättern und mit Hilfe des Registers wichtige Gedanken finden, die man vielleicht vermisst hat. Ebenso kann man sich meine Erzählung als eine Art Krimi vorstellen, in dem sich allmählich immer mehr Anhaltspunkte ergeben, bis sie schließlich zu einer bemerkenswerten Auflösung führen.

Mein Hintergrund ist vorwiegend die Experimentalphysik – die Konstruktion und Benutzung neuer Gerätschaften, mit denen man physikalische Tatsachen, die zuvor verborgen waren, vermessen oder gelegentlich auch neu entdecken kann. Zwei meiner Projekte standen in unmittelbarem Zusammenhang mit unseren Kenntnissen über die Zeit: eine Messung der Mikrowellentrümmer des Urknalls und eine genaue Vermessung der früheren Ausdehnung des Universums einschließlich der Entdeckung dunkler Energie, die diese Expansion beschleunigt. Ich muss zwar zugeben, dass ich auch einige rein theoretische Fachartikel geschrieben habe, das tat ich aber vor allem dann, wenn die Finanzmittel für Experimente knapp waren oder wenn die Theorie nach meiner Überzeugung vom richtigen Weg abgekommen war. So weit ich weiß, ist dies derzeit das einzige Buch, das gezielt von der Zeit handelt und von einem Physiker geschrieben wurde, der tief in der experimentellen Arbeit steckt; ich werde versuchen, einige Einblicke in die Herausforderungen und Frustrationen zu geben, mit denen solche Arbeiten verbunden sind.

Der Weg zum Verständnis des Jetzt besteht aus fünf Teilen.

In Teil I mit der Überschrift Verblüffende Zeit erläutere ich zunächst einige handfest nachgewiesene und dennoch erstaunliche Aspekte der Zeit, die im Wesentlichen von Albert Einstein entdeckt wurden. Zeit kann sich nicht nur dehnen, biegen und umkehren, sondern solche Verhaltensweisen haben auch Einfluss auf unser tägliches Leben. Das Satellitensystem GPS, das dafür sorgt, dass wir uns nicht verirren, stützt sich in großem Umfang auf Einsteins Relativitätsgleichungen, die von diesen seltsamen Eigenschaften der Zeit handeln. Die Relativitätstheorie hat uns den Begriff der vierdimensionalen Raumzeit beschert. Die wichtigste Aussage von Teil I lautet: Wir wissen eine Menge über die Zeit, und ihr Verhalten ist nicht einfach, aber gut bekannt. Wie schnell sie läuft, hängt von den lokalen Bedingungen der Geschwindigkeit und Gravitation ab, und selbst die Reihenfolge von Ereignissen – die Frage, welches Ereignis sich zuerst abgespielt hat – ist keine allgemeingültige Wahrheit. Darüber hinaus liefert uns Einsteins Relativitätstheorie einen großen Teil des Gerüsts, das wir brauchen, um die Bedeutung des Jetzt zu verstehen.

Der Teil II trägt die Überschrift Ein gebrochener Pfeil. Hier entferne ich aus dem Puzzle ein Stück, das an die falsche Stelle gepresst wurde, eine Theorie, die den Fortschritt beim Verstehen des Jetzt mehr als jede andere behindert hat. Dieser falsch angebrachte Puzzlestein ist die Theorie des Physikers Arthur Eddington, die angeblich eine Erklärung für den Zeitpfeil liefert – für die Tatsache, dass die Vergangenheit über die Zukunft bestimmt und nicht andersherum. Um ihn aus dem Weg zu räumen, präsentiere ich zuerst die bestmögliche Argumentation, die seine Theorie unterstützt, und erst danach mache ich auf ihre tödlichen Schwächen aufmerksam.

Eddington führte das Fließen der Zeit auf die Zunahme der Entropie zurück, die ein Maß für die Unordnung im Universum darstellt. Heute wissen wir über die Entropie des Universums viel mehr als Eddington, der seine Theorie 1928 formulierte, und ich werde darlegen, dass er das Pferd von hinten aufzäumte. Das Fließen der Zeit verursacht die Zunahme der Entropie, nicht andersherum. Die Erzeugung von Entropie hat nicht die tyrannische Wirkung, die man ihr häufig zuschreibt. Wie sich herausstellt, ist die Kontrolle über die Wege der Entropie entscheidend für unser Verständnis des Jetzt.

Im Teil III, Gespenstische Physik, kommt ein weiteres wichtiges Element für das Verstehen des Jetzt hinzu: die geheimnisvolle Wissenschaft der Quantenphysik. Sie ist vielleicht die erfolgreichste Theorie aller Zeiten – Vorhersagen und Beobachtungen stimmen bis auf zehn Dezimalstellen überein –, und doch ist sie sowohl beunruhigend als auch besorgniserregend. Das gespenstische Verhalten der Quantenwellen und ihrer Messung verletzt in krasser Weise Einsteins Relativitätsprinzipien, allerdings nicht so, dass man es unmittelbar beobachten oder ausnutzen könnte. Das Verhalten der Quantenwelle stellt unser Realitätsempfinden in Frage und entwickelt es weiter – ein Empfinden, das sich als entscheidend erweisen wird, wenn wir Licht in das Jetzt bringen wollen. So ergibt sich aus der Quantenphysik unter Umständen die höchst beunruhigende – oder vielleicht auch befreiende – Folgerung, dass die Vergangenheit nicht mehr über die Zukunft bestimmt, oder jedenfalls nicht vollständig. Einige Aspekte der Quantenphysik, die der Intuition am stärksten widersprechen, insbesondere das seltsame Merkmal der Verschränkung, wurden experimentell bestätigt, und diese (überraschenden!) experimentellen Befunde legen die Vermutung nahe, dass die eingeschränkte Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, für alle Zeiten eine grundlegende Schwäche der Physik bleiben wird.

In Physik und Realität, dem Teil IV, untersuche ich die Grenzen der Physik. Keine Sorge, die Zeit und das Jetzt gehören nicht in diesen Bereich; sie haben ihren Ursprung in der Physik, aber wie wir sie wahrnehmen, hängt von unserem Gespür für die Realität ab, einem Gespür, das über die Physik hinausreicht. Die Mathematik bildet eine Welt der Realität ab, die sich nicht durch physikalische Experimente belegen lässt; das gilt sogar für etwas so Einfaches wie die Tatsache, dass die Quadratwurzel von 2 eine irrationale Zahl ist. Andere Themen dagegen sind real, gehören aber nicht in die Domäne für der Physik; dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie die Farbe Blau eigentlich aussieht. Die Leugnung nichtphysikalischer und nichtmathematischer Wahrheiten wurde von Philosophen als Physikalismus bezeichnet. Der Physikalismus ist ein Glaube und hat alle Merkmale einer Religion. Leider führen die Indizien entgegen Einsteins glühender Hoffnung zu der Schlussfolgerung, dass die Physik unvollständig ist und nie in der Lage sein wird, die gesamte Realität zu beschreiben.

Im Teil V mit der Überschrift Jetzt werden die einzelnen Anhaltspunkte des Puzzles zusammengesetzt und zeigen in einem einheitlichen Bild, warum die Zeit fließt und welche Bedeutung der flüchtige Augenblick hat, den wir Jetzt nennen. Die Lösung liegt in einem Ansatz, der den Urknall vierdimensional betrachtet. Die Explosion des Universums schafft ständig nicht nur neuen Raum, sondern auch neue Zeit. Der vorderste, expandierende Rand der Zeit ist das, was wir als Jetzt bezeichnen, und der Fluss der Zeit ist die ständige Erschaffung von neuen Jetzts. Wir erleben den neuen Augenblick anders als den vorangegangenen, weil er der einzige ist, in dem wir Entscheidungen treffen und unseren freien Willen ausüben können, um damit die Zukunft zu beeinflussen und zu verändern. Allen Argumenten der klassischen Philosophen zum Trotz wissen wir heute, dass der freie Wille mit der Physik vereinbar ist; wer anders argumentiert, orientiert sich an der Religion des Physikalismus. Wir können die Zukunft nicht nur mit wissenschaftlichen, sondern auch mit nichtwissenschaftlichen Kenntnissen wie Empathie, Tugend, Ethik, Fairness und Gerechtigkeit beeinflussen, um so den Fluss der Entropie zu lenken und eine Stärkung der Zivilisation – oder auch ihre Zerstörung – ins Werk zu setzen.

Drei mögliche Tests dieses vierdimensionalen Modells der fortschreitenden Zeit schaue ich mir näher an. Die beobachtete beschleunigte Expansion des Universums, die im Zusammenhang mit der dunklen Energie steht, sollte von einer Beschleunigung im Ablauf der Zeit begleitet sein. Diese Theorie sagt vorher, dass die Zeit derzeit schneller fließt als in der Vergangenheit, und das führt zur Vorhersage einer neuen und (möglicherweise) beobachtbaren Zeitdehnung, einer neuen Rotverschiebung. Effekte sind vielleicht auch bei der Untersuchung der ersten Augenblicke des Urknalls zu erkennen; diese Ära der Inflation, so die Hoffnung, kann man vielleicht eines Tages durch den Nachweis von Gravitationswellen erforschen, die damals ausgesandt wurden; solche Wellen können wir indirekt beobachten, indem wir das Polarisierungsmuster der Mikrowellenstrahlung studieren.

Der dritte Test wurde konzipiert, als das LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory, Laser-Interferometer-Observatorium zur Beobachtung von Gravitationswellen) 2016 erstaunlicherweise zwei große, verschmelzende schwarze Löcher nachweisen konnte. Solche Ereignisse lassen neuen Raum entstehen, und nach der 4-D-Theorie entsteht dabei auch neue Zeit; diese sollte im späteren Teil des Pulses für eine Verzögerung sorgen, die man beobachten kann, wenn zukünftige Ereignisse größer oder näher sind und sich durch ein stärkeres Signal verraten.

Wer mehr über die mathematischen Grundlagen lesen will, findet Einzelheiten über die Relativitätstheorie und die mathematischen Befunde in mehreren Anhängen; darüber hinaus stehen dort auch einige phantasievolle Gedichte und Gedanken über die nichtphysikalische Realität.

Machen wir uns also daran, das Puzzle zusammenzusetzen.

Teil IVerblüffende Zeit

Kapitel 1Das verschränke Rätsel

Was die Zeit angeht, waren große Philosophen verzweifelt und verwirrt – erst die Physik macht uns Hoffnung, sie verstehen zu können.

Hier ist eine Tatsache über Sie selbst, die nur die Wenigsten kennen – vielleicht kennt sie niemand außer Ihnen: Sie lesen genau jetzt dieses Buch. Ich kann sogar noch präziser werden: Sie lesen genau jetzt das Wort Jetzt.

Außerdem habe ich etwas behauptet, von dem Sie wissen, dass es stimmt, wobei ich persönlich es aber nicht wusste und immer noch nicht weiß: Sie lesen genau jetzt das Wort Jetzt, aber mir ist diese Tatsache vollkommen unbewusst – es sei denn, ich blicke Ihnen gerade über die Schulter und Sie zeigen beim Lesen mit dem Finger auf die Wörter.

Jetzt ist ein äußerst einfacher, aber auch faszinierender und rätselhafter Begriff. Wir wissen, was er bedeutet, und doch können wir ihn kaum definieren, ohne uns im Kreis zu drehen. »Jetzt ist der Zeitpunkt, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt.« Nun gut, aber definieren wir jetzt einmal Vergangenheit und Zukunft, ohne das Wort Jetzt zu verwenden. Und was wir mit Vergangenheit und Zukunft meinen, ändert sich ständig. Vor kurzer Zeit lag das Lesen dieses Absatzes noch in der Zukunft. Jetzt liegt es zum größten Teil bereits in der Vergangenheit.

Jetzt liegt der ganze Absatz in der Vergangenheit (es sei denn, Sie blättern zurück). Jetzt bezeichnet einen bestimmten Zeitpunkt. Aber dieser Zeitpunkt verändert sich ständig. Deshalb benutzen wir Uhren. Sie sagen uns, welche Zahlen mit dem Jetzt verbunden sind; das nennen wir die momentane Uhrzeit. Uhren aktualisieren sich ständig, in der Regel jede Sekunde. Die Zeit schreitet erbarmungslos fort. Wir können im Raum stillstehen, aber nicht in der Zeit. In der Zeit bewegen wir uns, aber über diese Bewegung haben wir keine Kontrolle – es sei denn, Zeitreisen würden sich als möglich erweisen.

Die Bedeutung von Jetzt ist nur eines von vielen Geheimnissen jenes seltsamen Phänomens, das wir Zeit nennen. Es ist bemerkenswert, dass wir eine Menge über die Zeit und insbesondere über ihre seltsamen, der Intuition widersprechenden Aspekte wissen, die mit Einsteins Relativitätstheorie zu tun haben, aber ebenso bemerkenswert ist auch, dass wir so wenig über die Grundlagen der Zeit wissen – darüber, was sie ist und in welcher Verbindung sie zur Realität steht. Dieses Buch handelt von der Zeit – von dem, was wir wissen und was wir nicht wissen.

Fließt die Zeit? Am 18. April 1906 um 5 Uhr 12 wurde San Franzisco von einem starken Erdbeben erschüttert. Der Zeitpunkt dieses Ereignisses bewegt sich nicht; wir können ihn in der Wikipedia nachschlagen. Was sich aber bewegt, was tatsächlich fließt, ist die Bedeutung von Jetzt. Das Jetzt schreitet voran, verändert sich, bewegt sich in der Zeit vorwärts.

Vielleicht ist es auch sinnvoller, wenn man sagt, dass die Zeit am Jetzt vorüberfließt. Das ganze Thema der »Bewegung« lässt sich nur schwer beschreiben. Wenn wir sagen, dass ein Auto sich bewegt, stellen wir seine Position zu einem bestimmten Zeitpunkt und dann seine Position zu einem anderen Zeitpunkt fest. Die Geschwindigkeit ist die zurückgelegte Strecke, dividiert durch die dafür notwendige Zeit – sie wird beispielsweise in Kilometern pro Stunde angegeben. Diese Methode versagt völlig, wenn wir das Jetzt beschreiben wollen. Jetzt ist genau jetzt; warten wir einen Augenblick, dann ist Jetzt immer noch genau jetzt. Bewegt es sich? Ja, die Bewegung der Zeit wird daran deutlich, dass die Bedeutung von jetzt sich ständig verändert. Mit welcher Geschwindigkeit bewegt sich die Zeit? Mit einer Sekunde pro Sekunde.

Es gibt noch eine dritte Sichtweise: Danach wird die Zeit in jedem Augenblick neu erschaffen, und diese neu erschaffene Zeit stellt das Jetzt dar. Sind das nun philosophisch oder physikalisch unterschiedliche Sichtweisen? Kann man sie sich aussuchen, oder steckt in einer davon mehr Wahrheit, mehr Sinn als in der anderen? Diese Frage gehört zu denen, die ich in dem vorliegenden Buch untersuchen werde.

Angenommen, die Zeit bliebe stehen. Würden wir es bemerken? Wenn ja, wie? Oder nehmen wir an, sie würde stoßweise fließen, oder mit einer ganz anderen Geschwindigkeit. Könnten wir den Unterschied feststellen? Nicht ohne weiteres, zumindest dann nicht, wenn wir die Darstellung der Zeit übernehmen, wie sie in Filmen häufig verwendet wird, so wie etwa in Dark City, Klick, Interstellar oder Lara Croft: Tomb Raider. Wie wir Menschen die Bewegung des Jetzt, das Fließen der Zeit wahrnehmen, hängt offensichtlich davon ab, wie viele Millisekunden es dauert, bis ein Signal von einem Auge, einem Ohr oder einer Fingerspitze zum Gehirn gelangt und dort aufgezeichnet, wahrgenommen und erinnert wird. Beim Menschen sind das einige Zehntelsekunden, bei einer Fliege nur wenige Tausendstelsekunden. Das ist der Grund, warum es uns so schwerfällt, eine Fliege zu fangen. Für die Fliege nähert sich die bedrohliche Hand in Zeitlupe – ganz ähnlich wie in Clockstoppers.

Die Geschwindigkeit der Zeit ist nicht nur in der Science-Fiction ein heikles Thema. Die Relativitätstheorie liefert uns ganz bestimmte Beispiele, insbesondere im Zwillingsparadoxon. Ein Zwilling reist nahezu mit Lichtgeschwindigkeit und erlebt weniger Zeit als der zu Hause gebliebene Bruder, spürt aber keinen Unterschied; beide Zwillinge erleben die Zeit auf die gleiche Weise, obwohl sie ganz unterschiedlich fließt. Dieses seltsame Phänomen wollen wir ein wenig genauer betrachten.

Die Hoffnung, das Jetzt zu verstehen, stützt sich auf den ungeheuren Fortschritt der Physik im 20. Jahrhundert. Aber sehen wir uns kurz an, welche Frustrationen man in der Antike erlebte.

Das unbeschreibliche Jetzt

Die Physik von Aristoteles nahm von der Antike bis zur Renaissance eine beherrschende Stellung ein. Sie war die wissenschaftliche Bibel für die katholische Kirche des Mittelalters. Galileo leugnete einige in diesem Buch aufgestellte Behauptungen und wurde deshalb vor Gericht gestellt. In vier Kapiteln seiner Physik schlug Aristoteles sich mit den Begriffen von Zeit und Jetzt herum, und am Ende war er völlig verwirrt. Er schrieb:

Weiter, was das »Jetzt« angeht, welches augenscheinlich Vergangenes und Zukünftiges trennt, so ist nicht leicht zu sehen, ob es die ganze Zeit hindurch immer ein und dasselbe bleibt, oder ob es immer wieder ein anderes wird. Wenn es einerseits wieder und wieder ein anderes wird, kein Teil aber dessen, was in der Zeit immer wieder ein anderes (ist), gleichzeitig (mit anderen sein kann) – sofern nicht der eine umfaßt, der andere umfaßt wird, so wie ein kleinerer Zeitabschnitt von einem größeren (eingeschlossen wird) –, und wenn, was jetzt nicht ist, früher aber war, notwendig irgendwann einmal zugrunde gegangen sein muß: dann können auch die Jetzte nicht gleichzeitig im Verhältnis zueinander sein, sondern es muß je das frühere untergegangen sein …[1]

Sind das tiefsinnige Gedanken, oder sind sie einfach nur verworren? In dem Bemühen, über das Jetzt genaue Aussagen zu machen, verhedderte sich Aristoteles in seinen eigenen Worten. Ein wenig Trost können wir in der Tatsache finden, dass selbst ein so angesehener Denker das Thema offensichtlich undurchschaubar fand.

Augustinus klagt in seinen Bekenntnissen, er sei nicht in der Lage, das Fließen der Zeit zu verstehen: »Was ist Zeit? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; wenn ich es erklären möchte, weiß ich es nicht.« Diese Klage wurde im 15. Jahrhundert geschrieben, sie hallt aber auch im 21. noch in uns wider. Ja, wir wissen, was Zeit ist. Warum also können wir sie nicht beschreiben? Was für ein Wissen haben wir da eigentlich?

Augustinus’ Dilemma erwächst zum Teil aus seiner Maxime, dass Gott allmächtig, allwissend und überhaupt Alles ist. Zusätzlich vollzieht er einen erstaunlichen Gedankensprung: Gott muss auch zeitlos sein. Dieser bemerkenswerte Gedanke bereitete den Weg für die moderne Physik – eine Physik, die das Verhalten von Objekten in der Zeit mittels Raum-Zeit-Diagrammen beschreibt, ohne aber einen Bezug zu der Tatsache herzustellen, dass die Zeit fließt oder dass ein Jetzt existiert.

Für Menschen, so Augustinus, gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur drei Gegenwarten: »eine Gegenwart vergangener Dinge, die Erinnerung; eine Gegenwart gegenwärtiger Dinge, den Anblick; eine Gegenwart zukünftiger Dinge, die Erwartung.« (Gab dies Dickens die Anregung zu A Christmas Carol?) Es ist aber nicht zu verkennen, dass er mit seiner Einsicht unzufrieden ist. Er sagt: »Meine Seele strebt danach, dieses höchst verworrene Rätsel zu kennen.«

Auch Albert Einstein hatte Schwierigkeiten mit dem Begriff des Jetzt. Der Philosoph Rudolf Carnap schreibt in seiner Intellektuellen Autobiographie:

Einmal sagte Einstein, das Problem des Jetzt beunruhigte ihn ernstlich. Er erklärte, die Erfahrung des Jetzt bedeute etwas Besonderes für den Menschen, etwas von Vergangenheit und Zukunft wesentlich Verschiedenes, aber dieser wichtige Unterschied komme in der Physik nicht vor und könne dort nicht vorkommen. Dass die Wissenschaft diese Erfahrung nicht erfassen könne, schien ihm ein Gegenstand schmerzlicher, aber unvermeidlicher Resignation zu sein … Es gebe etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt, das schlicht außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liege.[2]

Carnap ist mit Einsteins Schlussfolgerung nicht einverstanden und sagt: »Da die Wissenschaft im Prinzip alles sagen kann, was sagbar ist, bleibt keine unbeantwortbare Frage übrig.« Aber wenn man anderer Meinung ist als Einstein, muss man sehr vorsichtig sein. Es ist bemerkenswert einfach, seine Grübeleien abzutun, als wären sie nur emotional und von ihrem Wesen her nicht tiefgründiger als unsere eigenen Gedanken. Einsteins einfache Aussagen sollte man niemals für Anzeichen eines einfachen Denkens halten. Philosophen meinen manchmal, sie würden große Tiefsinnigkeit erreichen, wenn sie gewichtige Wortschöpfungen wie »chronogeometrischer Fatalismus« erfinden (womit die Annahme einer konstanten Lichtgeschwindigkeit gemeint ist). Einstein dagegen hatte eine Art, Dinge so zu sagen, dass sogar ein Kind sie verstehen konnte – eine Fähigkeit, die ihn zum meistzitierten Wissenschaftler aller Zeiten machte.

Manche Theoretiker interpretierten die Tatsache, dass das Fließen der Zeit in der Physik nicht vorkommt, nicht wie Einstein als Mangel, sondern als Zeichen einer tiefer liegenden Wahrheit. So äußert beispielsweise Brian Greene in seinem Buch Der Stoff, aus dem der Kosmos ist die Ansicht, die Relativitätstheorie rufe »die Gleichheit im Universum aus, mit dem Erfolg, dass jeder Augenblick so real wie jeder andere ist«. Er erklärt, wir hätten eine »hartnäckige Illusion von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«[3] – eine Sichtweise, die an Augustinus erinnert. Da die Relativitätstheorie das Fließen der Zeit nicht behandelt, zieht er den Schluss, dieses Fließen könne kein Teil der Wirklichkeit, sondern nur eine Illusion sein. Für mich zäumt er mit einer solchen Logik das Pferd von hinten auf. Statt daran festzuhalten, dass Theorien unsere Beobachtungen erklären, geht dieser Ansatz davon aus, dass man die Beobachtungen so lange hin und her drehen muss, bis sie zur Theorie passen.

Die Atheisten spotteten, Einstein sei im höheren Alter von der Physik weggedriftet und habe einen religiösen Glauben entwickelt. Sie äußerten sich aber nie zu seiner Sorge, die Wissenschaft könne nicht einmal diese wesentlichsten Aspekte der Welt bearbeiten: das Fließen der Zeit und die Bedeutung des Jetzt. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass alles, was sich durch die Physik nicht untersuchen lässt, auch nicht Teil der Realität ist. Ist diese Aussage eine Behauptung, die sich überprüfen lässt, oder ebenfalls eine religiöse Glaubensüberzeugung? Philosophen geben einem solchen Dogma den Namen Physikalismus. Kann man die Überzeugung, dass die Physik alles einschließt, überprüfen und beweisen? Oder rechnet man damit, dass alle Physiker diesem Glauben anhängen, genau wie das Christsein eine inoffizielle, aber notwendige Voraussetzung ist, wenn man sich als potentieller US-Präsident positionieren will? Angenommen, man stellt den Physikalismus in Frage: Läuft man dann Gefahr, wie Einstein verhöhnt zu werden, weil man in Richtung der Religion abdriftet?

Sir Arthur Eddington genießt unter Physikern wegen vieler experimenteller und theoretischer Beiträge großes Ansehen, besonders blieb er aber in Erinnerung, weil er scheinbar eine bahnbrechende Erklärung für den Zeitpfeil lieferte, jene (zumindest für diejenigen, die darüber nachgrübeln) rätselhafte Tatsache, dass wir uns an die Vergangenheit erinnern, nicht aber an die Zukunft. Aber auch wenn Eddington eine Erklärung für die Richtung der Zeit anbot, war ihr Fließen für ihn ein Rätsel. In seinem 1928 erstmals erschienenen Buch Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner philosophischen Deutung schrieb er, dass es das große Rätsel der Zeit sei, dass sie vergeht. Und dann klagt er, dass das ein Aspekt sei, den der Physiker manchmal zu vernachlässigen scheint.

In seinem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit erwähnt Stephen Hawking das Jetzt-Dilemma nicht. Vielmehr konzentriert er sich auf das, was wir wissen, und womit sich die aktuellen theoretischen Arbeiten befassen. Hawking spricht über den Pfeil der Zeit, aber nicht über ihr Fließen; er diskutiert die Relativität der Zeit, aber nicht das Rätsel des Jetzt. Das Gleiche tun auch praktisch alle anderen neueren Bücher über die Zeit. Sie handeln von potentiellen Theorien, mit denen man die Gleichungen der Physik »vereinheitlichen« kann, aber nicht von solchen, mit denen sich die Bedeutung des Jetzt und sein Fließen erklären ließen.

Aber es besteht Hoffnung.

Gebrochene Symmetrie

Wenn wir mit dem Begriff des Jetzt klarkommen wollen, müssen wir uns auf eine Reise durch eine abstrakte, erstaunliche Physik begeben: durch die Physik der Zeit, die Bedeutung der Realität und eine neuerliche Untersuchung des freien Willens. Zu Beginn erörtern wir das wundersame, eigenartige Verhalten der Zeit; es grenzt ans Unglaubliche, ist aber handfest nachgewiesen. Die größten Durchbrüche fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als Einstein entdeckte, dass die Geschwindigkeit der Zeit sowohl von der Geschwindigkeit als auch von der Gravitation abhängt. Die Zeit ist flexibel, dehnbar und kann sich sogar umkehren. Diese Effekte sind so stark, dass sie bei der Konstruktion der heutigen GPS-Satelliten berücksichtigt werden. Wäre das GPS-System nicht so eingestellt, wie es Einsteins Entdeckungen entspricht, es würde uns kilometerweit in die Irre führen. Und auch jeder, der ein Handy besitzt, trägt die Relativität in der Tasche.

Die seltsamsten Aspekte der Zeit treten in den schwarzen Löchern auf, jenen rätselhaften Objekten, die wir mittlerweile überall im Kosmos finden. Wer in ein schwarzes Loch stürzt, wird nicht nur in Stücke gerissen, sondern reist (jedenfalls nach der derzeitigen Theorie) außerdem nicht nur in die Unendlichkeit, sondern, wie wir noch genauer erfahren werden, sogar darüber hinaus. Betrachtet man schwarze Löcher mit einem neuen Blick, so sieht man weit mehr als nur Schwärze. Um dabei unser Gespür für die Realität stark zu strapazieren, brauchen wir nicht in ein schwarzes Loch zu fallen. Schwarze Löcher sind auch für den Zeitpfeil von Bedeutung; nach der derzeitigen (noch nicht belegten) Theorie enthalten sie (zusammen mit einem »Ereignishorizont« in der Unendlichkeit) den größten Teil der Entropie im Universum.

Anschließend werden wir uns mit der Zeit nach der Relativitätstheorie beschäftigen, in der Eddington über die Richtung der Zeit nachgrübelte und zu dem Schluss gelangte, dass sie durch ein bestimmtes physikalisches Gesetz festgelegt wird, den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik; dieser besagt, dass die Unordnung in der Welt, die in Form ihrer Entropie gemessen wird, zunimmt und für alle Zeiten weiter zunehmen wird. Es ist ein seltsames Gesetz, das nicht auf einer physikalischen Grundlage aufbaut, sondern auf der Tatsache, dass unser Universum eigenartig gut organisiert ist; deshalb besagen die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, dass es nur eine Richtung gibt: abwärts, hin zu immer mehr Durcheinander und Zufälligkeit mit dem Kältetod als letztem Ziel. Ist das unsere Zukunft? Nicht unbedingt. Zunehmendes Durcheinander im Universum ist paradoxerweise von zunehmender Organisation begleitet, die sich mit der Bildung von Planeten, Lebewesen und Zivilisation verbindet.

Wie ich darlegen werde, gibt es zu dem Zeitpfeil, der in Richtung der Entropie weist, ernstzunehmende Alternativen, darunter einige rätselhafte Aspekte der Quantenphysik, die man bisher nicht versteht. Die »Theorie der Messung« wird häufig erwähnt und zitiert (»theory of measurement« liefert bei Google 239 Millionen Treffer), in Wirklichkeit gibt es eine solche Theorie aber nicht. Die dramatischste Entdeckung im Zusammenhang mit Messungen war die experimentelle Bestätigung einiger seltsamer Eigenschaften der Verschränkung, eines Phänomens, das verdeckte, schneller als das Licht ablaufende Vorgänge voraussetzt. Möglicherweise versteckt sich in der noch zu entdeckenden Theorie der Messung auch die Antwort auf einige ungelöste Fragen nach der Zeit. Wenn wir die Bedeutung des Jetzt aufklären wollen, wird die Quantenphysik eine Schlüsselrolle spielen.

Manche Fachleute glauben, die Zeit sei ein Teil unseres Bewusstseins und könne sich nie auf die Physik reduzieren lassen. Die meisten Physiker sind zwar der Ansicht, die gesamte Realität sei ihre Domäne, wie ich aber zeigen werde, stimmt das nicht – manche Kenntnisse sind ebenso real wie die Beobachtungen der Wissenschaft, man hätte sie aber experimentell niemals entdecken können und wird sie niemals durch Messungen bestätigen. Ein einfaches Beispiel ist die Tatsache, dass man die Quadratwurzel von 2 nicht als Bruch schreiben kann, der nur ganze Zahlen enthält. Ein anderes ist das Wissen darüber, wie die Farbe Blau aussieht.

Ist der Zeitpfeil ein psychologisches Phänomen? Würden wir es bemerken, wenn die Zeit rückwärts liefe? Wie der große Physiker Richard Feynman deutlich gemacht hat, können wir die Positronen – Antimaterieteilchen, die in der Science-Fiction Raumschiffe antreiben und heute bereits in Krankenhäusern zur medizinischen Diagnose eingesetzt werden – als Elektronen betrachten, die sich in der Zeit rückwärts bewegen. Kann auch das Jetzt sich in der Zeit rückwärts bewegen? Können wir es?

Am Ende werde ich die Ansicht vertreten, dass die Ursachen für das Fließen der Zeit und die Windungen des rätselhaften, flüchtigen Jetzt tatsächlich im Bereich der Wissenschaft liegen – aber nicht im Konzept der Entropie, sondern in den physikalischen Aspekten der Kosmologie. Um das Jetzt zu verstehen, müssen wir nicht nur die Relativität und den Urknall miteinander verbinden, sondern auch begreifen, dass das Gemetzel der Entropie seine Grenzen hat. Wir werden uns mit der Frage beschäftigen müssen, welche Folgerungen sich aus der Quantenphysik für das Thema und insbesondere (was vielleicht überrascht) für die Bedeutung des freien Willens ergeben. Diese neue Vorstellung vom freien Willen ist zwar für die Erklärung des Jetzt nicht notwendig, sie wird aber wichtig, wenn wir erkennen wollen, warum das Jetzt für uns eine so große Bedeutung hat.

 

Raum und Zeit bilden gemeinsam die Bühne, auf der wir leben und sterben; es ist die Bühne, auf der die klassische Physik ihre Vorhersagen macht. Aber die Bühne selbst wurde bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht erforscht. Wir sollten die Story, die Gestalten, die Windungen der Handlung zur Kenntnis nehmen, aber nicht ihre Plattform. Dann kam Einstein. Er hatte die geniale Erkenntnis, dass auch die Bühne in den Bereich der Physik gehört, dass Raum und Zeit überraschende Eigenschaften haben, die man analysieren und zur Grundlage von Vorhersagen machen kann. Auch wenn er daran verzweifelte, das Jetzt zu verstehen, sind seine Arbeiten für unser Verständnis von zentraler Bedeutung. Einstein machte der Physik die Zeit zum Geschenk.

Kapitel 2Einsteins Regression in die Kindheit

Die entscheidenden Fragen nach der Zeit sind die einfachsten …

 

Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr die Zeit nie verstehen.

 

Mit besten Empfehlungen an Matthäus 18,3

 

 

Auch wenn es sich vielleicht so anhört, stammt das folgende Zitat nicht aus einem Kinderbuch über die Uhrzeit:

Wenn ich zum Beispiel sage: »Jener Zug kommt hier um 7 Uhr an«, so heißt dies etwa: »Das Zeigen des kleinen Zeigers meiner Uhr auf 7 und das Ankommen des Zuges sind gleichzeitige Ereignisse.«[4]

Dieser scheinbar banale Satz stand am 30. Juni 1905 in den Annalen der Physik, der führenden physikalischen Fachzeitschrift jener Zeit. Den Artikel kann man mit Fug und Recht als die grundlegendste und wichtigste Abhandlung in der Physik seit 1687 bezeichnen, als Isaac Newton das Fachgebiet mit der Veröffentlichung seiner Principia mehr oder weniger begründet hatte. Sein Autor sollte zum Inbegriff des Genies und der wissenschaftlichen Produktivität werden, und 95 Jahre später wurde er vom Time Magazin (welch zutreffender Name!) als Mann des Jahrhunderts bezeichnet – eine Ehre, die kaum jemand in Frage stellte. Jene Worte über den kleinen Zeiger seiner Uhr wurden von Albert Einstein verfasst.

Abb. 2.1

Albert Einstein 1904, ein Jahr vor der Relativitätstheorie.

Einsteins Aufsatz trug den Titel »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«. Was haben kleine Zeiger von Uhren und die Ankunft von Zügen mit der Elektrodynamik zu tun, der Erforschung von Elektrizität und Magnetismus? Wie sich herausgestellt hat, eine ganze Menge. Einsteins Artikel handelt in Wirklichkeit von Raum und Zeit, und er verfolgte damit das Ziel, beide zu Forschungsthemen der Physik zu machen. Ein passenderer Titel wäre vielleicht »Die Relativitätstheorie – ein revolutionärer Durchbruch in unserer Auffassung von Raum und Zeit«. Vor Einstein waren Raum und Zeit nur Koordinaten, die dazu dienten, eine Frage zu stellen und die Lösung zu formulieren. »Wann wird der Zug ankommen?« Die Antwort wird in Form eines Zeitpunktes gegeben. Einstein zeigte, dass es so einfach nicht war.

Die Relativitätstheorie

Was ist Zeit? Sie zu definieren, erweist sich als ziemlich schwierig. Newton drückte sich unbekümmert vor diesem Thema. In seinem großen Werk Principia schrieb er: »Zeit, Ort und Bewegung definiere ich nicht, da sie allen wohlbekannt sind.« Wohlbekannt vielleicht, aber schwer dingfest zu machen. Auch Einstein definierte die Zeit nicht, aber er untersuchte sie mit bemerkenswerter Tiefgründigkeit und entdeckte dabei vollkommen unerwartete Aspekte. In seinem grundlegenden Aufsatz über die Relativitätstheorie fährt Einstein im gleichen, fast lächerlich banalen und manchmal langweilig-pedantischen Stil fort:

Befindet sich im Punkte A des Raumes eine Uhr, so kann ein in A befindlicher Beobachter die Ereignisse in der unmittelbaren Umgebung von A zeitlich werten durch Aufsuchen der mit diesen Ereignissen gleichzeitigen Uhrzeigerstellungen.

Wen spricht Einstein hier an? Blutige Amateure? Sagt er nicht nur das Selbstverständliche? Warum bedient er sich einer derart kindlichen Ausdrucksweise?

Dafür hatte er gute Gründe. Um Fortschritte zu erzielen, musste Einstein die versteckten Vorurteile und Grundannahmen widerlegen, die seine Berufskollegen unwissentlich hegten. Zu diesem Zweck musste er zunächst deren Annahmen offenlegen und deutlich machen, dass sie nicht zwangsläufig so naheliegend waren und – wichtiger – auch nicht stimmten. Er musste sich auf die grundlegendsten Prinzipien zurückbesinnen – Prinzipien, die wir uns als Kinder aneignen, wenn wir zum ersten Mal lernen, die Uhr zu lesen; zu diesen Prinzipien gehört die Allgemeingültigkeit der Zeit: Danach kann man auch dann, wenn Uhren manchmal falsch gehen, immer danach streben, sie zu synchronisieren, und wenn der Vater sagt, das Kind solle etwas jetzt tun, hat »jetzt« für ihn und das Kind die gleiche Bedeutung.

Er musste aus dem Puzzle einen Stein entfernen, den man fälschlicherweise an eine unpassende Stelle gepresst hatte.

Einstein war zu der Erkenntnis gelangt, dass mehrere scheinbar offensichtliche, selbstverständliche Prinzipien nicht stimmten. Seine Überlegungen stützten sich auf die Theorie der Elektrizität – so kam der Artikel zu seinem Titel. Die Schwierigkeit seiner Relativitätstheorie liegt nicht in höherer Mathematik – in dem Artikel kommt nur elementare Algebra vor –, sondern darin, dass seine Leser, die führenden Wissenschaftler der ganzen Welt, falsche Vorstellungen von Raum und Zeit hatten.

Versuchen wir einmal, uns Raum und Zeit so vorzustellen, wie Kinder es tun. Können wir uns noch daran erinnern, dass wir früher gedacht haben, Zeit habe nicht immer das gleiche Tempo? Für mich verging die Zeit in den Sommerferien und immer dann, wenn etwas Spaß machte, schneller. Langsamer lief sie ab, wenn ich beim Zahnarzt war (der nichts von Betäubungsmitteln hielt) oder auf meine Mama wartete, die sich im Kaufhaus gerade Schuhe aussuchte. Die New York Times berichtete 1929, Einstein selbst habe gesagt: »Wenn du zwei Stunden mit einem netten Mädchen zusammensitzt, denkst du, es sei nur eine Minute, aber wenn du nur eine Minute auf einer heißen Herdplatte sitzt, denkst du, es seien zwei Stunden.«

Zehn Jahre nach seinen bahnbrechenden Artikeln über die Relativität veröffentlichte Einstein eine Weiterentwicklung, eine Erklärung der Gravitation, die er als allgemeine Relativitätstheorie bezeichnete. Zu jener Zeit hatte Einstein bereits entschieden, dass seine frühere Theorie, in der die Gravitation nicht vorkam, den neuen Namen spezielle Relativitätstheorie tragen sollte. Es war ein unglücklicher, verwirrender Namenswechsel. Mehr Klarheit hätte Einstein geschaffen, wenn er seine ursprüngliche Arbeit einfach nur »Relativitätstheorie« und die späteren Überlegungen als »Erweiterte Relativitätstheorie« bezeichnet hätte. Er hegte Hoffnungen, die Relativitätstheorie noch weiter voranzutreiben, die grundlegenden Theorien von Elektrizität und Magnetismus neu zu formulieren und alles in eine vereinheitlichte Theorie einfließen zu lassen, aber das gelang ihm nie.

Woher kommt das Wort Relativität? Um das zu verstehen, wollen wir einen Augenblick innehalten und folgende Frage beantworten: Wie groß ist Ihre derzeitige Geschwindigkeit?

Lesen Sie nicht weiter, bevor Sie auf diese Frage eine Antwort gegeben haben. Machen Sie sich nicht die Mühe, Vermutungen über meine Absichten anzustellen – sie sind harmlos. Beantworten Sie einfach die Frage. Wie groß ist Ihre derzeitige Geschwindigkeit?

Haben Sie »null« gesagt, weil Sie gerade stillsitzen? Sie könnten auch dann »null« sagen, wenn Sie in einem Flugzeug sitzen, das in 13000 Metern Höhe fliegt. Das Anschnallzeichen leuchtet, und Sie haben die Anweisung erhalten, nicht hin und her zu laufen. Da Sie nicht hin und her laufen, muss Ihre Geschwindigkeit null sein.

Oder haben Sie »800 Stundenkilometer« gesagt, weil das die Geschwindigkeit des Flugzeuges ist? Oder vielleicht lesen Sie dieses Buch auch auf einem langsamen Schiff in der Amazonasmündung, und Sie sagen »1666 Stundenkilometer«, weil das die Rotationsgeschwindigkeit der Erde am Äquator ist (40000 Kilometer in 24 Stunden). Vielleicht wissen Sie auch so viel über Astronomie, dass Sie die Umlaufgeschwindigkeit der Erde um die Sonne einbeziehen und »30 Kilometer pro Sekunde« sagen. Und wenn Sie stattdessen an die Umlaufgeschwindigkeit der Sonne in der Milchstraße und an die Geschwindigkeit der Milchstraße im Universum denken (die durch die kosmische Mikrowellenstrahlung definiert wird), antworten sie vielleicht »eineinhalb Millionen Stundenkilometer«.

Welche Antwort ist die richtige? Natürlich sind alle richtig. Unsere Geschwindigkeit hängt davon ab, welche Plattform wir als Ausgangspunkt wählen – Physiker sprechen von einem Bezugssystem. Das Bezugssystem könnte der Erdboden sein, ein Flugzeug, der Erdkern, die Sonne oder der Kosmos. Oder irgendetwas dazwischen.

Angenommen, wir sitzen im Flugzeug: Sind wir dann, was unsere Geschwindigkeit angeht, anderer Ansicht als jemand am Erdboden? Nein, solche Meinungsverschiedenheiten wären töricht. Wir wissen beide, dass wir in Bezug auf das Flugzeug ruhen und uns in Bezug auf den Erdboden mit 800 Stundenkilometern bewegen. Beide Antworten sind richtig.

Die Relativität hat einen verblüffenden neuen Aspekt: Nicht nur die Geschwindigkeit, sondern auch die Zeit selbst ist vom Bezugssystem abhängig. Die allgemeingültige Zeit, die wir durch unsere Eltern und Lehrer kennengelernt haben, gibt es nicht. Wir erhalten nicht nur unterschiedliche Zeiten je nach dem Bezugssystem, das wir uns aussuchen – Erdboden, Flugzeug, Erde, Sonne oder Kosmos –, sondern die Zeit läuft auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Mit anderen Worten: Der Zeitraum zwischen zwei Ereignissen, zwischen zwei Tickgeräuschen unserer Uhr, ist nicht immer gleich, sondern hängt davon ab, welches Bezugssystem wir wählen.

Manch einer hat in anderen populärwissenschaftlichen Büchern über die Relativitätstheorie vermutlich schon gelesen, dass verschiedene Beobachter, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen, »uneinig sind«. Das ist Unsinn. Auch wenn sogar einige der größten Physiker der Welt eine solche Formulierung gebrauchen, wissen sie, dass sie nicht stimmt. (Um ehrlich zu sein: Auch ich bin in einem meiner ersten Aufsätze über die Relativitätstheorie in diese Falle getappt. Ich hielt es für einen nützlichen Weg, um das Thema zu erklären. Damit hatte ich unrecht.)

Aussagen über Beobachter, die sich nicht einig sind, haben mehr Verwirrung gestiftet und mehr Menschen bei der Untersuchung der Relativität ins Schleudern gebracht als jede andere mathematische Schwierigkeit. In der Relativitätstheorie sind sich Beobachter nur in dem Maße uneinig, wie sie sich auch über die Geschwindigkeit einer Person in einem Flugzeug uneinig wären. Alle wissen, dass Geschwindigkeit relativ ist und dass die Zahl vom Bezugssystem abhängt; wenn Sie sich mit der Relativitätstheorie beschäftigt haben, wissen Sie auch, dass für die Zeit das Gleiche gilt. Das Schöne an der Relativitätstheorie ist, dass alle sich überall einig sind.

Als ich nach Ihrer Geschwindigkeit gefragt habe, haben Sie vielleicht angenommen, es sei eine Fangfrage, und deshalb die Antwort verweigert. Sie haben für sich gedacht: in Bezug auf was? Auch das ist in Ordnung. Sie haben richtig vermutet, in welche Richtung ich ziele.

Ruhesysteme

Wie Einstein entdeckte, bleiben die Gleichungen einfach, wenn man sich auf Bezugssysteme beschränkt, die sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegen. Diese Gleichungen nenne ich im Anhang 1. Natürlich bewegen Menschen sich in der Regel nicht mit konstanter Geschwindigkeit. Unser Ruhesystem definieren wir als dasjenige, dessen Geschwindigkeit sich mit unserer eigenen verändert. Am wichtigsten ist an diesem Bezugssystem, dass es über unser Alter bestimmt, das heißt über den Zeitraum, der uns zum Leben und Denken zur Verfügung steht.

Wenn wir uns zuerst auf der Erde befinden, dann eine Flugreise unternehmen und schließlich wieder zurückkehren, beschleunigt unser Ruhesystem sich ständig. Welche Zeit wir erleben – unser Alter –, gibt unsere Uhr an. Das ist eigentlich nicht selbstverständlich, aber alle Physiker gehen von dieser Annahme aus. In der Fachsprache spricht man von der chronometrischen Hypothese. Wenn man wissen will, wie stark man während einer langen, komplizierten Reise altert, in der es häufig zu Beschleunigungen kommt, verfolgt man einfach den Gamma-Faktor, die Formel, durch die wir erfahren, wie stark sich unsere Uhr bei jeder Geschwindigkeit, mit der wir uns bewegen, verlangsamt.

Für ein beschleunigtes Bezugssystem (beispielsweise unser Ruhesystem) sind die allgemeinen Formeln dafür, wann ein Ereignis stattfindet, viel komplizierter als für Bezugssysteme mit konstanter Geschwindigkeit. Um diese Komplikationen zu vermeiden, bediente sich Einstein eines sehr einfachen Kunstgriffs. Unser Ruhesystem fällt in jedem einzelnen Augenblick mit einem Bezugssystem mit konstanter Geschwindigkeit zusammen; von Augenblick zu Augenblick sind also die Berechnungen für beide Bezugssysteme jeweils identisch. Mit anderen Worten: Wenn wir beschleunigt werden, stellen wir uns zur Behandlung der Gleichungen vor, unser Ruhesystem würde während der Beschleunigung eigentlich ständig von einem Bezugssystem in ein anderes springen, das sich geringfügig schneller bewegt. Später stellte Einstein mit diesem Verfahren auch seine Berechnungen über die Gravitation an, die, so seine Annahme, einem beschleunigten Bezugssystem äquivalent ist. Deshalb bezeichnete er diese Annahme als Äquivalenzprinzip.

Wenn ich in diesem Buch von einem »Bezugssystem« spreche, meine ich damit ein System, das sich nicht beschleunigt – Physiker bezeichnen es in der Regel als »Lorentz-System«; der Name erinnert an Hendrik Lorentz, einen Zeitgenossen Einsteins, der das Konzept als Erster verwendete. Ein Ruhesystem dagegen bewegt sich mit uns, wenn wir uns bewegen und stehen bleiben, laufen und gehen, die Richtung wechseln oder in Autos steigen und mit ihnen fahren.

Zeitreise in die Zukunft

Die Zeitdilatation liefert ein einfaches Mittel für Zeitreisen in die Zukunft. Man braucht sich nur ausreichend schnell zu bewegen, dann verlangsamt sich das eigene Ruhesystem, und in einer Minute unserer Zeit können wir uns 100 Jahre in die Zukunft begeben. Es ist nicht notwendig, den Körper einzufrieren und darauf zu hoffen, dass die Wissenschaft in Zukunft einen Weg finden wird, um ihn wieder aufzutauen; wir brauchen nur die Geschwindigkeit zu steigern. Natürlich sind das praktische Details. Wir müssen gewährleisten, dass wir während unserer Reisen nicht mit irgendetwas zusammenstoßen, denn das hätte bei der hohen Geschwindigkeit katastrophale Folgen. Wir müssen gewährleisten, dass wir an den richtigen Ort zurückkehren, dass die Erde sich noch an der Stelle befindet, an der wir sie erwarten. Und die Sache hat noch einen Haken. Einmal in der Zukunft angelangt, verfügen wir über keinen ähnlichen Mechanismus, mit dem wir wieder zurückkehren könnten.

Die rückwärts gerichtete Zeitreise könnte möglich sein. Manchen Vermutungen zufolge gelingt sie durch Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit oder indem wir durch ein sogenanntes Wurmloch gleiten. Ich werde beide Ansätze noch genauer erörtern, aber beide werfen ernsthafte Probleme auf, und ich werde die Ansicht vertreten, dass letztlich keiner von beiden zum Erfolg führt.

Als Einstein seine Gleichungen ableitete, ging er von der Annahme aus, dass die relative Geschwindigkeit von Bezugssystemen niedriger ist als die Lichtgeschwindigkeit. Würden sie sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, wird Gamma unendlich groß, und die Gleichungen sind ungültig. Können wir die Formeln für Geschwindigkeiten verwenden, die größer sind als die des Lichts? Offiziell nicht, aber natürlich probiert jeder es aus und will wissen, was sich daraus ergibt. Am Ende gelangt man damit zu imaginärer Masse. Das ist nicht zwangsläufig unphysikalisch. Wir werden genauer auf das Thema zurückkommen, wenn wir uns mit den Tachyonen beschäftigen, hypothetischen Teilchen, die schneller sind als das Licht.

Kapitel 3Das springende Jetzt

Wechselnde Bezugssysteme vollziehen abgegrenzte Sprünge in der Zeit weit entfernter Ereignisse.

 

This day and age we’re living in

Gives cause for apprehension

With speed and new invention

And things like fourth dimension.

Yet we get a trifle weary

With Mr Einstein’s theory …

You must remember this

A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh.

The fundamental things apply

As time goes by.

 

Auszug aus dem Lied »As Time Goes By« einschließlich einiger Passagen, die in dem Film Casablanca ausgelassen wurden.

 

 

Selbst wenn man sich mit der Zeitdilatation abgefunden hat, machen Einsteins Entdeckungen im Zusammenhang mit dem Wann und Jetzt unter Umständen Kummer. Den Begriff Quantensprung wandte man ursprünglich auf Vorgänge in der Quantenphysik an. Aber Quantum bedeutet »abgegrenzt, plötzlich, abrupt«. Nach der Relativitätstheorie findet eine solche abrupte Veränderung bei einem weit entfernten Ereignis statt, wenn man abrupt die Entscheidung für ein Bezugssystem ändert. Der Zeitsprung kann dabei sehr groß sein.

Wir geben einem Ereignis einen Namen (»meine Silvesterparty«) und können sie durch Ort und Zeit beschreiben. Meine Silvesterparty fand am 31. Dezember 2015 (oder wann auch sonst) um Mitternacht statt, und der Ort war meine Wohnung, die durch drei Dimensionen – Länge, Breite und Höhe – definiert ist. Der Zeitpunkt ist das Wann. Wenn für zwei Ereignisse das gleiche Wann gilt, bezeichnen wir sie als gleichzeitig. Meine Silvesterparty und die meines Freundes haben gleichzeitig stattgefunden. (Erinnern wir uns noch einmal an das Einstein-Zitat zu Beginn des vorangegangenen Kapitels über den Uhrzeiger und die Ankunft des Zuges.) Das ist einfach. Aber angenommen, zwei Ereignisse finden in einem Bezugssystem – beispielsweise dem meines Hauses – gleichzeitig statt: Heißt das, dass sie zwangsläufig auch in einem anderen Bezugssystem wie dem eines fliegenden Flugzeuges gleichzeitig sind? Die naheliegende Antwort lautet ja. Die richtige Antwort lautet nein.

Würden wir jemals auf die Idee kommen, dass die Antwort nein lauten könnte, wenn wir uns nicht mit Einsteins Arbeit beschäftigt haben? Seine eigentliche Genialität lag in der Fähigkeit, eine solche Frage zu stellen. Ohne das Konzept der allgemeingültigen Gleichzeitigkeit aufzugeben, hätte Einstein das Problem der Relativität nicht lösen können.

Wie Einstein mit seiner Theorie nachweisen konnte, finden zwei Ereignisse, die sich an unterschiedlichen Orten gleichzeitig – beispielsweise genau jetzt – abspielen, in einem anderen Bezugssystem nicht mehr gleichzeitig statt. Vielmehr geht dann ein Ereignis dem anderen voraus. Aber welches kommt zuerst? Das hängt von dem Bezugssystem ab. Beide Reihenfolgen sind möglich. Das meine ich mit meiner Aussage, dass die Zeit sich in der Relativitätstheorie umkehren kann.

Angenommen, wir reisen zu einem weit entfernten Stern. Was geschieht währenddessen zu Hause auf der Erde? In dieser Frage steckt unausgesprochen das Wort Jetzt: Was geschieht jetzt auf der Erde? Sobald wir bei dem Stern angekommen sind und anhalten, wechselt unser Ruhesystem, das sich vorher bewegt hat: Es ist jetzt an diesem Stern stationär, und damit ändert sich die Bedeutung des universellen Jetzt in diesem Bezugssystem, weil unser Ruhesystem nach dem Anhalten mit einem anderen Bezugssystem übereinstimmt. Wenn unser Ruhesystem in ein anderes Bezugssystem springt, geschieht das Gleiche auch mit dem Zeitpunkt eines weit entfernten Ereignisses. Die Formel für diesen Zeitsprung erweist sich als bemerkenswert einfach: γDv/c2; dabei ist γ der Gamma-Faktor, D die Entfernung zu dem Ereignis, v die Geschwindigkeitsänderung und c die Lichtgeschwindigkeit. Ableiten werde ich diese Formel in Anhang 1.

Betrachten wir einmal ein Beispiel. Angenommen, Ihre Silvesterparty findet in Ihrem Haus statt und meine auf dem Mond. Im Ruhesystem meines Hauses sind es gleichzeitige Ereignisse. Aber betrachten wir die gleichen beiden Ereignisse einmal im Ruhesystem des Pions aus meinem Labor. Die Entfernung D/c beträgt 1,3 Lichtsekunden, die Geschwindigkeit v/c des Pions aus meinem Labor ist nahezu 1, und Gamma hat den Wert 637, den ich zuvor bereits berechnet habe. Der Zeitsprung ist also einfach das Produkt aus 1,3 und 637, das heißt 828 Sekunden. Damit liegen 14 Minuten zwischen den »gleichzeitigen« Silvesterpartys! Welche davon als erste stattfindet, hängt davon ab, ob das Bezugssystem des Pions sich in Richtung des Mondes oder von ihm weg bewegt.

Finden Sie dieses Beispiel noch beunruhigender als die längere Lebenszeit? So geht es den meisten Menschen, und doch ist es vollkommen realistisch. Da es so schwerfällt, sich mit dem Zeitsprung abzufinden, gehen die verwirrendsten Paradoxa der Relativitätstheorie auf sein Konto; im nächsten Kapitel wird genauer davon die Rede sein. Aus ihm ergeben sich auch wichtige Folgerungen für unsere Bestrebungen, das Jetzt zu verstehen.

Auch hier gilt es, vorsichtig zu sein: Man darf sich den Zeitsprung nicht als »Meinungsverschiedenheit zwischen Beobachtern« vorstellen, von der umgangssprachlich in vielen populärwissenschaftlichen Erklärungen der Relativitätstheorie die Rede ist. Beobachter mit unterschiedlichen Ruhesystemen haben keine »unterschiedlichen Vorstellungen« von der Realität, wie manche Autoren uns glauben machen wollen. Eine solche Schlussfolgerung stützt sich auf die unausgesprochene (und falsche) Annahme, dass jeder Beobachter sich darauf beschränken muss, die Realität aus der Sicht eines einzigen Bezugssystems zu beschreiben, nämlich seines eigenen Ruhesystems. Wäre es im normalen Leben so, dürfte ich nicht erzählen, dass ich nach Paris gefahren bin, sondern ich müsste sagen, dass Paris zu mir gekommen ist. Im Alltagsleben sind wir nicht auf unser Ruhesystem beschränkt, und es besteht auch kein Anlass, uns darauf zu beschränken, wenn wir über Relativität reden.

Zusammengepresster Raum und Crêpe-Protonen

Einstein veränderte sowohl unser Verständnis der Zeit, als auch unsere Auffassung vom Raum. In seinem Artikel über die Relativitätstheorie gelangte er zu dem Schluss, dass nicht nur die Zeit zwischen zwei Ereignissen, sondern auch die Länge von Objekten vom Bezugssystem (Erdboden, Flugzeug, Satellit) abhängt.

Wenn wir über Länge sprechen, müssen wir noch einmal in die Kindheit zurückkehren. Um festzustellen, wie lang ein Bus ist, messen wir die Position des einen und des anderen Endes, und dann ermitteln wir den Unterschied. Aber nehmen wir einmal an, der Bus würde fahren. Wir messen den Ort seines vorderen Endes, das sich in unserer Nähe befindet; einen Augenblick später ist das Hinterende des Busses in unserer Nähe, und deshalb gelangen wir fälschlich zu dem Schluss, der Bus habe die Länge 0. Nun, damit haben wir offensichtlich einen Fehler gemacht. Wir müssen die Position von Vorder- und Hinterende gleichzeitig messen.

Gleichzeitig? Aha, da liegt der Haken. Der Begriff ist relativ. Was in einem Bezugssystem gleichzeitig ist, ist in einem anderen nicht gleichzeitig. Daraus ergibt sich die unmittelbare Folgerung, dass die Länge in verschiedenen Bezugssystemen unterschiedlich sein wird. Hat ein Objekt in seinem Ruhesystem (das sich mit ihm bewegt) die Länge L, ist seine Länge in einem Bezugssystem, das sich (wie zum Beispiel der Erdboden) relativ zu ihm mit der Geschwindigkeit v bewegt, nach Einstein um den Faktor Gamma geringer. Für diejenigen, die sich dafür interessieren, leite ich die Gleichung im Anhang 1 ab.

Diese Verkürzung hat mehrere Namen: Sie wird als FitzGerald-Kontraktion, Lorentz-Kontraktion oder Längenkontraktion bezeichnet. Schon die vielen Namen zeigen, dass sie bereits vor Einstein postuliert wurde. George FitzGerald ging Ende des 19. Jahrhunderts wie alle Physiker seiner Zeit davon aus, dass der gesamte Raum mit einer unsichtbaren Flüssigkeit gefüllt ist, dem Äther. (Als ich jung war, habe ich dies mit der chemischen Substanz Äther verwechselt.) Äther war das, was vibriert, wenn Licht- und Radiowellen schwingen. Er war, was wir heute als Vakuum oder leeren Raum bezeichnen. FitzGerald stellte die Hypothese auf, dass ein Objekt, das sich durch den Äther bewegt, durch den Widerstand dieser Flüssigkeit – er sprach vom Ätherwind – zusammengedrückt wird. Seine neue Länge wäre dann die alte Länge (die im Ruhesystem gilt), dividiert durch Gamma.

Auch im Zusammenhang mit der Längenkontraktion herrscht durch die schlechte Wortwahl mancher Autoren Verwirrung. Sie behaupten, ein bewegter Stab »scheine kürzer zu sein«. Das stimmt, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Der Meterstab ist