Jetzt tu ich erstmal nichts - und dann warte ich ab - Malte Leyhausen - E-Book

Jetzt tu ich erstmal nichts - und dann warte ich ab E-Book

Malte Leyhausen

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Beschreibung

Wie viele Schreibtische wurden wohl schon aufgeräumt, wie viele Zimmerpflanzen gegossen, damit eine dringende Aufgabe aufgeschoben werde konnte? Der Autor preist uns die Vorteile von Zeitdieben an, singt ein Loblied auf die Unordnung und warnt vor den Gefahren des Prioritäten-Setzens. Mit Vergnügen können Sie sich hier vor Augen führen, mit welchen Strategien und Vorwänden es möglich ist, die wichtigsten Arbeiten vor sich her zu schieben und über die selbst ausgelegten Schlingen und Fallen zu stolpern.

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Malte Leyhausen

Jetzt tu ich erstmal nichts –und dann warte ich ab

Wie es sich mit Aufschieberitis gut leben lässt

KREUZ

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung und Konzeption:

Agentur R.M.E, Eschlbeck/Hanel/Gober

Umschlagmotiv: © plainpicture/Robert Burton

Autorenfoto: © Teddy Billewicz

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-7831-8172-2

ISBN (Buch) 978-3-7831-3439-1

Das mache ich später …

Als Gott die Welt erschuf, war er am sechsten Tag kaputt.

Und als Krone der Erschöpfung schuf er den Menschen aus dem Schutt.

Da sprach der Herr, es fehlt noch was, die Vernunft hab ich vergessen!

Doch die Vernunft erschaff ich später, ich muss jetzt erst was Essen.

Das mache ich später …

Auf dem letzten Klassentreffen zeigte jeder, was er hat:

Mein Haus. Mein Boot. Mein Auto. Mein Pferd. Mein Riesenrad.

Was macht deine Karriere?, fragten sie mich dann im Chor.

Ach, Karriere, gutes Stichwort, die hab ich auch noch vor.

Das mache ich später …

Meine Frau und ich wollen Kinder, aber nicht sofort.

Babys sind uns viel zu jung und reden noch kein Wort.

Mit 80 werd ich Vater auf meine alten Tage,

das passt dann auch viel besser, weil ich dann selber Windeln trage.

Das mache ich später …

Man soll sein Lebensziel noch möglichst vor dem Tode finden,

doch ich kam noch nicht dazu, meine Ziele zu ergründen.

Und will der Tod mich holen mit seiner kalten Hand, dann sag ich:

Du dein Projekt, das klingt echt wirklich interessant.

Doch das mache ich später …

Teil IZum Aufwärmen

Wer eine Sache liebt, der schiebt: Einleitung

Ohne Aufschieberitis hätte ich gar keine Zeit,

ein Buch wie dieses zu lesen.

Ich wollte dieses Buch erst nennen: »Acht Wege, seine Arbeit aufzuschieben.« Ich weiß, was Sie beim Anblick des Titels gedacht hätten: Was, nur acht Wege? Ich kenne Hunderte … Oder Sie gehören zu der Fraktion: »Vielleicht habe ich gar kein Talent zum Aufschieben, denn meistens schaffe ich meine Aufgaben irgendwie …«

Auch dann sind Sie hier richtig. Denn Aufschieben kann man lernen. Im ersten Teil verrate ich Ihnen die acht besten Methoden, mit denen Sie Ihre wichtigen Projekte erfolgreich auf Eis legen können. Haben Sie erst einmal den Nutzen der kreativen Arbeitsvermeidung erkannt, werden Sie bald in die Oberliga aufsteigen. Sie werden sehen, wie mit ein wenig Ausdauer Höchstleistungen im Aufschieben möglich sind. Lassen Sie sich von gelegentlichen Rückschlägen, wie versehentlich pünktlich abgelieferten Arbeiten, nicht entmutigen. Schnell beherrschen Sie die einfachen Grundregeln, um Ihren eigenen Stil im Schieben zu entwickeln.

Vielleicht zählen Sie aber schon zu den alten Hasen, die sich bestens mit der langen Bank auskennen. Dann sind Sie soziologisch in guter Gesellschaft. Nach einschlägigen Studien geben ca. 25 % der Bevölkerung an, regelmäßig lästige Dinge auf später zu vertagen. Gegen ihren Willen, wohlgemerkt. Und das gilt für die Bewohner auf allen Erdteilen. Bei den Studierenden sind es sogar rund 70 %.

Was für eine Kaufkraft! Unsere Ersatzhandlungen sind für die Weltwirtschaft von unermesslicher Bedeutung. Was machen wir denn, statt die Steuererklärung auszufüllen? Wir fangen freiwillig an, Fenster zu putzen, im Internet zu surfen und kaufen bei einem einschlägigen Kaffeeröster einen elektrischen Pfefferstreuer (mit Licht!). Wie würde der Konjunkturmotor erst stottern, wenn die Ausgaben unserer Ablenkungsmanöver verloren gingen? Ohne uns würden die Putzmittelproduzenten Pleite gehen, die Internetanbieter Konkurs anmelden und der einschlägige Kaffeeröster könnte nur noch Kaffee verkaufen …

Wäre »Aufschieber« ein Sternzeichen (Aszendent Zeitfuchs), käme ungefähr folgende Charakterisierung heraus: Liebenswerte Menschen, denen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit grundsätzlich wichtig ist. Eine dubiose Eigenschaft verleitet sie jedoch dazu, bestimmte Tätigkeiten, die ihnen unangenehm sind, bis zur Schmerzgrenze aufzuschieben. Verspätete oder unvollständige Leistungen verkaufen sie ihrem Auftraggeber mit viel Charme und rhetorischem Geschick. Viele von ihnen sind Studenten, Selbstständige, Führungskräfte und Vertreter kreativer Berufe.

Tatsächlich können gerade die Kreativen ein Lied von der produktiven Aufschieberei singen. Hier ein paar prominente Beispiele aus dem Dunstkreis der Weltliteratur.

Der Schriftsteller Wolfgang Köppen (Tauben im Gras) schrieb nur, wenn er es unbedingt musste. Ungeachtet aller Fristen, gelang es niemandem, ihm ein Manuskript zu entreißen, das er noch als unfertig betrachtete (Reich-Ranicki 2000).

Ottfried Preußler kam am Anfang mit seinem Krabat nicht mehr weiter. Aus Verdruss schrieb er den Räuber Hotzenplotz. Erst anschließend konnte er den Krabat vollenden.

Thomas Mann, dem man wirklich keine Arbeitsstörung nachsagen kann, ließ die erste Hälfte seines Hochstapler-RomansFelix Krull fast vier Jahrzehnte liegen, bevor er die zweite Hälfte (des ersten Teils!) hinzufügte. Zum geplanten zweiten Teil kam es nicht mehr. Mit 79 Jahren zeigte der Nobelpreisträger Mut zur Lücke: »Wie, wenn der Roman weit offen stehen bliebe? Es wäre kein Unglück meiner Meinung nach.«

Mancher Dichter machte aus der Not eine Tugend und schrieb über die Unfähigkeit zu schreiben. So zieht sich das Motiv der Arbeitsblockade wie ein roter Faden durch das Werk von Thomas Bernhard. Aus dem Nachlass erschien als erstes Meine Preise, ein Strauß von Aufschiebe-Geschichten, die sich um seine Preisverleihungen ranken.

Eine gute Stunde vor der Übergabe des Grillparzer-Preises sucht er einen ihm »von mehreren Sockenkäufen bestens bekannten« Herrenausstatter auf, um sich für den Anlass einen Anzug zu kaufen. Im Wettlauf gegen die Zeit wird die penible Auswahl des feinen Tuchs zur köstlichen Groteske.

Erst eine halbe Stunde vor der Verleihung des Bremer Literaturpreises setzt sich Bernhard auf sein Bett und notiert den ersten Satz für die Dankesrede: »Mit der Kälte nimmt die Klarheit zu.« Ihm bleiben noch 12 Minuten, bis er zum Festakt im voll besetzten Rathaus abgeholt wird. Ihm gelingt es, noch eine halbe Seite zu Papier zu bringen. Es werden die kürzesten Dankesworte in der Geschichte der Bremer Auszeichnung: »Gerade, als sich die Zuhörer auf meine Rede einzustellen begannen, war sie auch schon vorbei gewesen.«

Auch für das Entgegennehmen des Österreichischen Staatspreises legt sich Bernhard nur ein paar Zeilen zurecht. Gerne würde er sie zur Begutachtung noch seiner Tante vorlesen, aber das Taxi wartet schon vor der Tür …

In Bernhards Roman Beton kreist die Geschichte um die betoniert scheinende Blockade der Hauptfigur Rudolf, eine »wissenschaftlich einwandfreie Arbeit« über den Komponisten Mendelssohn-Bartholdy zu verfassen. Seit zehn Jahren verpasst er jeden Tag den ersehnten »besten Moment«, um den ersten Satz aufzuschreiben. Es kommt immer was dazwischen. Zuvor trug Rudolf »alle nur möglichen und unmöglichen Schriften von und über Mendelssohn-Bartholdy« zusammen. Erst kann Rudolf nicht schreiben, weil seine verhasste Schwester zu Besuch kommt. Kaum ist sie abgereist, kann er nicht schreiben, weil er Angst hat, dass die Schwester wiederkommt.

Selbst die Flucht aus dem engen Bergidyll Österreichs an die weitläufigen Strände Mallorcas erstickt die Motivation im Keim. Kurz nach der Ankunft erinnert sich Rudolf an ein Unglück, das sich dort vor anderthalb Jahren ereignet hat. Seine Spurensuche macht auch nur den geringsten Gedanken daran, den ersten Satz des geplanten Textes zu beginnen, undenkbar.

Rudolf ist ein Paradebeispiel für den Zusammenhang von Aufschieben und Perfektionismus. Schließlich strebt er eine »einwandfreie« Arbeit an. Sein Verhalten entwickelt eine typische Dynamik. Bevor eine Sache nicht absolut perfekt wird, fangen wir Aufschieber sie gar nicht erst an: Ein Termin steht fest, an dem etwas fertig sein soll. Wir haben noch alle Zeit der Welt, um die Aufgabe perfekt zu machen. Dann rückt der Termin immer näher und näher – und am Ende machen wir es in der letzten Minute, dass wir froh sind, es überhaupt geschafft zu haben. Aber hinterher können wir sagen: »Dafür, dass ich es in so kurzer Zeit geschafft habe, ist es ganz schön perfekt geworden!« Und den Nervenkitzel gibt es frei Haus.

Ein weiteres Merkmal outet Rudolf als Perfektionisten unter den Aufschiebern. Statt sein Vorhaben einfach zu beginnen, stürzt er sich in filigrane Vorarbeiten. Kein Schriftstück, das je über Mendelssohn-Bartholdy verfasst wurde, darf seiner zeitraubenden Recherche entgehen. Ein bewährtes Mittel: So lange ein noch so nebensächliches Detail fehlt, ist es dem Aufschieber unmöglich, anzufangen.

Die vielfältigen Aktivitäten zur Vorbereitung räumen aber mit einem weit verbreiteten Vorurteil auf: Wir Aufschieber seien faul. Ich möchte den Unterschied zwischen einem Aufschieber und einem Faulenzer gerne anhand einer Eselsbrücke klarstellen: Ein Faulenzer tut richtig nichts. Aber ein Aufschieber tut nichts richtig.

Die Technik ist simpel. Wir schließen einfach keinen Arbeitsschritt richtig ab. Vielmehr verstehen wir uns auf die Kunst, mehrgleisig zu fahren. Zur Not vermengen wir die Planung und Durchführung einer Aufgabe in einem einzigen gewaltigen Arbeitsschritt. In einer Zeit, die von uns verlangt, multi-tasking fähig zu sein, nehmen wir tapfer alle Aufgaben gleichzeitig an. Dann lassen wir ganz demokratisch alle Aufgaben gleichsam liegen. Manchmal haben wir mit dieser Strategie sogar Glück. Die Zeit arbeitet für uns und die Dinge erledigen sich durch Aussitzen von selbst. In den meisten Fällen arbeitet die Zeit aber nicht für uns, sondern wir arbeiten für die Zeit.

Erfreulich ist, dass sich mittlerweile ganze Berufsgruppen als Aufschieber zu erkennen geben. Der ISL (Interessenverband Schiebender Lehrer) hat vor kurzem auf einer Pressekonferenz zugegeben, dass unsere Methode längst Schule gemacht hat:

»Okay, wir Lehrer sind auch Aufschieber. Es gibt im Grunde nur noch drei Formen der Didaktik: Die Autodidaktik, die Türklinkendidaktik und die Hammerdidaktik. Bei der Autodidaktik überlegt sich der Lehrer morgens im Auto, was er heute im Unterricht machen will. Bei der Türklinkendidaktik überlegt sich der Lehrer genau in dem Moment, in dem er die Türklinke zum Klassenraum herunter drückt, was er heute im Unterricht wohl machen will. Und bei der Hammerdidaktik stellt sich der Lehrer einfach vor die Klasse und fragt: »Was HAMMER denn die letzte Stunde gemacht?«

Doch nicht nur im Berufsleben machen Sie als Aufschieber Karriere, sondern auch im Privatbereich können Sie wahre Meisterschaft entwickeln. In einer Zeitungsnotiz war jüngst zu lesen: »Zwei Hundertjährige haben sich nach 79 Jahren Ehe scheiden lassen. Als der Richter fragte, warum sie sich denn nach so langer Zeit noch trennen möchten, antworteten sie: Wir wollten warten, bis die Kinder tot sind …«

Doch es geht nicht immer so fröhlich zu. Viele beschleicht beim Thema Aufschieben eine drückende Scham. Man darf doch nicht laut sagen, dass man nachts oft aufwacht, weil einem der Termindruck den Schlaf raubt. Dass man, trotz aller guten Vorsätze, jedes Mal wieder mit dem Rücken zur Wand arbeitet. Dass es Situationen gibt, in denen man nicht mehr weiter weiß …

Sie sind auf jeden Fall mit diesem Phänomen nicht allein. Gäbe es eine Aufschieber-Partei, könnte sie bei der nächsten Bundestagswahl mit jeder Volkspartei mithalten. Jedoch gibt es sehr unterschiedliche Wege, mit seinem Aufschiebe-Talent umzugehen. Ich kenne einen Investment Banker, der das Wort aufschieben gar nicht mehr in den Mund nimmt. Er spricht mit einem amerikanischen Akzent lieber ganz cool von procrastination.

Der Begriff Prokrastination ist seit 1588 im Englischen verbrieft. Er bedeutet, seiner lateinischen Wurzel entsprechend: nach pro morgen crastinus (verschieben).

Marcel Proust verwendet diesen Ausdruck in seinem Epos Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, um dem »ewigen Wiederaufschieben« des Ich-Erzählers, einem schreibgehemmten Schriftsteller, ein alternatives Etikett zu geben.

Unter dem Ehrentitel Prokrastination ist die Aufschieberitis auch zum Gegenstand der Forschung geworden. In den USA beschäftigen sich Wissenschaftler bereits seit rund 30 Jahren mit der procrastination.

Doch zurück auf unsere Spielwiese. Für mich sind Aufschieber die Pokerspieler des Zeitmanagements. Ich möchte mit diesem Buch Ihr Repertoire an Zeit-Pokertricks erweitern, damit das Spiel möglichst oft zu Ihren Gunsten ausgeht. Aufschieben ist dennoch ein Genussmittel. Wie bei anderen Genussmitteln gilt auch hier: In der Dosis liegt das Gift. Ich möchte niemandem den Spaß am Aufschieben verderben. Sollten Ihnen aber im Laufe der Zeit die Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Aufschieberitis zu heikel geworden sein, würde ich Sie gerne im zweiten Teil mit einer heilsamen Anschieberitis infizieren …

Test: Habe ich Talent zum Aufschieben?

Bitte kreuzen Sie spontan an, was auf Sie am ehesten zutrifft:

Frage

häufig

manchmal

selten

Ich trenne nicht konsequent zwischen Arbeit und Freizeit.

Ich arbeite eine Sache nicht am Stück zu Ende, sondern fange zwischendurch etwas Neues an oder arbeite an etwas anderem weiter.

Ich beginne eine Arbeit recht kurz vor dem Termin, an dem sie fertig sein muss.

Ich arbeite unter hohem Zeitdruck.

Mir fehlt die Zeit, die Qualität meiner Arbeit in Ruhe zu überprüfen und zu optimieren.

Meine Arbeit wird später fertig als ich es anderen zugesagt habe.

Meine Zeit ist nicht bis ins Detail im Voraus geplant. Ich entscheide eher spontan, was zu tun ist.

Ich habe für mein Aufschiebeverhalten schon große Nachteile in Kauf nehmen müssen.

Auswertung:

Wenn Sie mindestens 3-mal »häufig« angekreuzt haben, dann bringen Sie bereits ein großes Talent zum Aufschieben mit.

Andere könnten das nicht:Die Kompetenzen der Aufschieber

Keiner fängt mit dem Aufschieben

so schnell an wie wir.

Als Poker-Champions des Zeitmanagements bringen Aufschieber eine Vielzahl von Kompetenzen mit, bei denen das Fußvolk der vorsichtigen Termin-Planer nur neidisch mit den Ohren schlackert. Hat man zu Ihnen auch schon bewundernd gesagt: »Also, ich könnte das nicht …«

Am besten wird die unglaubliche Leistungsfähigkeit unserer Spezies deutlich, wenn ein paar gewiefte Zeit-Zocker beisammen sitzen und ihre schönsten Heldengeschichten zum Besten geben. Typischerweise beginnen die Abenteuer mit der Wendung: »Also, das ist ja noch gar nichts …«

Also, das ist ja noch gar nichts. In der Lehrerausbildung habe ich noch halb in Heidelberg gewohnt und in Bonn gearbeitet. Einmal fuhr ich montags um 5.00 Uhr los, weil ich um 8.00 Uhr eine Lehrprobe hatte. Mit der Vorbereitung war ich natürlich noch nicht fertig, aber ich hatte ja noch gut zwei Stunden im Auto Zeit. Kurz vor Bonn war mein Tank fast leer. Keine Tankstelle weit und breit. Zum Glück fuhr ich damals so ein Öko-Auto, das man im Notfall auch mit Pflanzenöl betreiben kann. Ich fuhr bei der nächsten Ausfahrt raus und fand zufällig einen Supermarkt, der schon um 7.00 Uhr öffnete. Die Leute auf dem Parkplatz staunten nicht schlecht, als ich nach dem Einkauf ein paar Flaschen »Salatglück« in den Lupo kippte.

Dann mit Vollgas in die Schule. Um 7.45 Uhr stürmte ich an den PC im Lehrerzimmer. Auf der Fahrt war mir ein ganz knackiger Stundenverlauf eingefallen, den man auf die Schnelle schreiben und ausdrucken konnte. Kaum sitze ich am Bildschirm, tippt mir mein Ausbilder auf die Schulter: »Ich hoffe, dieses Mal ist alles in Ordnung.«

Mit perfektem Pokerface sagte ich: »Keine Sorge, muss nur noch schnell eine Sicherheitskopie ausdrucken.«

In Wirklichkeit war das Dokument noch gar nicht geschrieben … Aber das Beste war dann die Lehrprobe: Vor versammelter Mannschaft kroch mir ganz langsam eine Socke aus dem linken Hosenbein. Die musste wohl am Abend vorher beim Ausziehen dort stecken geblieben sein …

Also, das ist ja noch gar nichts, unterbricht ihn der Zweite, wegen mir wurde schon einmal eine Boeing 707 auf dem Rollfeld gestoppt. Das war zu einer Zeit, als es auf Deutschlands Flughäfen etwas unbürokratischer zuging. Dabei war ich schon, kurz nachdem der Check-In-Schalter geschlossen hatte, auf dem Flughafen-Gelände. Allerdings im falschen Terminal. Ich sage nur: Frankfurt. Ich nahm die Beine in die Hand und hechtete in die Schwebebahn. Genau der richtige Zeitpunkt, um einen Blick auf meinen Reisepass zu werfen. Abgelaufen. Von der Schwebebahn direkt zum Zoll. Ich schnappte mir den Beamten: »Waren Sie bei den Pfadfindern? Mein Flieger hebt gleich ab. Tun Sie mir einen Gefallen und verrichten Sie Ihre gute Tat heute für einen fleißigen Geschäftsmann, dem die deutsche Wirtschaft schon viel zu verdanken hat …«

Was soll ich euch sagen? Nach kurzem Hin und Her war das mit dem Pass geritzt. Jetzt musste ich nur noch die Mädels von der Airline bezirzen. Ich behauptete einfach, mein Koffer sei schon in der Maschine. Es hätte länger gedauert, das Gepäck wieder auszuladen, als auf der Rollbahn für mich auf die Bremse zu treten …

Kaum im Vogel angekommen, lernte ich einen total interessanten Mann kennen, bei dem ich später ein Entschleunigungs-Seminar gebucht habe. Und was soll ich euch sagen? Auch da war ich der Schnellste …

Also, das ist ja noch gar nichts, überschlägt sich der Dritte, ich ging fast vollkommen unvorbereitet in die mündliche Abiturprüfung »Religion«. In letzter Sekunde lernte ich über Gott und die Welt eine Handvoll Bibelzitate auswendig. Am Ende der Prüfung sagte der Pfarrer bewundernd: »Der Sören kennt die Bibel wirklich aus dem Effeff …«

Vielleicht denken Sie jetzt, ich könnte das nicht. Aber es kann ja noch werden. Aufschieber sind mit der Gabe gesegnet, sich unbedarft in Situationen zu begeben, in die sich andere nur nach gründlicher Vorbereitung trauen. Manche vertragen besonders viel Stress und lieben den Nervenkitzel, der sich schon beim Verschieben der Vorarbeiten einstellt. Das Spiel mit dem Feuer gibt den Kick. Das Risiko wird als schaurigschön empfunden wie eine Achterbahnfahrt. Meistens kommen sie damit auch irgendwie durch. Und wenn nicht: Für den Spaß haben sich die paar Schrammen allemal gelohnt.

Der Aufschiebe-Experte Hans-Werner Rückert trennt zwischen Kick- und Angst-Aufschiebern. Ich möchte diesen beiden Kategorien noch die Mischform hinzufügen. Den Kick- und Angst-Aufschieber. Beim Prokrastinieren erleben manche sowohl Horror als auch Faszination.

Sollte es wirklich brenzlig werden, beherrscht der Aufschieber die hohe Kunst der Umdeutung. Aus Niederlagen werden Siege. Und aus Stress eine kühn kalkulierte Quelle der Inspiration.

Als ein Pfarrer von einem Radiosender gefragt wurde, mit welcher Strategie er in der arbeitsreichen Weihnachtszeit seine acht Predigten schreiben würde, erklärte der Kirchenmann:

»In dem Begriff Heilige Nacht steckt das Wort Nacht. Ich kann mich nachts am besten konzentrieren. Dann fällt die Hektik des Tages von mir ab. Gerade weil die Predigten erst so zeitnah fertig werden, sind sie besonders aktuell. Wie könnte ich die momentane Stimmung kurz vor dem Gottesdienst sonst so authentisch wiedergeben?«

Woher nimmt der Aufschieber die Nerven? Wie schafft er es bloß, nach außen sein Pokergesicht zu wahren? Das Geheimnis ist ein genialer Taschenspielertrick. Sobald sich die Erledigung der lästigen Pflicht am Horizont abzeichnet, macht sich Unbehagen breit. Im Kopf wird die Parole ausgegeben: Ich habe keine Lust.

Das einzige, was den Aufschieber jetzt noch zum Handeln bewegen könnte, wäre ein Blick auf die drängende Zeit. Aber so weit lässt er es nicht kommen. Um Zeit zu gewinnen, bedient er sich der mentalen Magie. In der Schiebe-Trance sieht er die Aufgabe vor seinem geistigen Auge durch ein Verkleinerungsglas. Der nötige Aufwand erscheint ihm plötzlich ganz winzig. »Das schaffe ich an einem Wochenende«, oder: »Das ziehe ich zur Not in einer Nachtschicht durch …«, sind typische Einschätzungen.

Die verbleibenden Tage und Stunden sieht der Schiebende hingegen durch ein Vergrößerungsglas. Simsalabim, und die Illusion ist perfekt. Der Termindruck verwandelt sich in alle Zeit der Welt und das aufwändige Vorhaben in eine lächerliche Routine.

Hoch pokern die Illusionisten ebenfalls, wenn sie auf den richtigen Moment warten, um eine Aufgabe zu beginnen. »Morgen fange ich an. Ich bin jetzt nicht in der richtigen Stimmung. Ich muss vorher noch so viele andere Dinge erledigen …«, beginnt das ungeschriebene Glaubensbekenntnis der Schiebenden.

Aber der Aufschieber fängt morgen nicht an. Vielmehr beherrscht er den Kunstgriff, dafür zu sorgen, dass aus dem Morgen kein Heute wird. Denn morgen gibt es auch ein Morgen. Und so weiter.

Der passende Zeitpunkt, um anzufangen, wird vom Termin-Pokerer wie das beste Blatt im Kartenstapel erwartet. Ob dieses Blatt bereits ausgespielt ist oder noch kommt, ist ungewiss. Für den Fall, dass man mit dieser Hoffnung keine Stiche macht, erwischt man eben nicht den besten Moment, sondern den letzten. Und beim nächsten Mal? Neues Spiel, neues Glück.

Außerdem: Wozu braucht ein Illusionist schon Zeit? Mit dem Rücken zur Wand hat man in der Vergangenheit fast immer etwas aus dem Hut gezaubert.

Aber wie lange wirkt die Illusion? Wie rettet sich der Aufschieber, wenn er die Leistung nicht zum vereinbarten Termin liefern kann? Hier verfügt der Aufschiebe-Profi über faszinierende rhetorische Fähigkeiten, um die Leistungslücken verbal aufzufüllen.

Der Auftraggeber wird bereits bei der Terminabsprache virtuos mit Wortgirlanden umwickelt. Statt »Montag« gibt es nur vage den »Anfang nächster Woche«. Statt dem »15.07.« gibt es die dehnbare »Mitte Juni /Julei«. Und statt »bis September« macht man es pünktlich »bis Herbst.«

Auch bei der Präsentation der Ergebnisse darf man sich auf sprachliche Delikatessen freuen. Der übernächtigte Lieferant arbeitet »just in time« und liefert statt fertiger Ergebnisse überraschende »Diskussionsgrundlagen«. Er trumpft »absichtlich mit Platzhaltern« auf, um möglichst flexibel auf Anregungen und Wünsche reagieren zu können.

Der sprachliche Geheimcode der Aufschieber dient gleichzeitig den Gleichgesinnten als Erkennungszeichen. Die Schieber haben sehr feine Antennen dafür, wer zur Community gehört und wer nicht. Wenn sich herausstellt, dass der Auftraggeber aus dem »gleichen Verein« ist, darf er das nächste Mal noch länger warten …

Kommen wir nun zur Königsdisziplin der Aufschieber. Der Chaos-Produktion. Sie beherrschen das Chaos nicht nur meisterhaft, sondern sie stellen es sogar noch selber her. Wo hat denn das Chaos heute noch so eine Qualität? Mit so viel Liebe zum Detail? Mit so einer Haltbarkeit? Man könnte glatt sagen, das Premium-Chaos der Schiebe-Profis hat Regierungs-Niveau.

Aber was ist das Erfolgsrezept? Ein gutes Chaos will von langer Hand geplant sein. Man muss schon darauf achten, jede Form von ernst zu nehmender Selbstorganisation zu vermeiden. Das fängt mit dem zuverlässigen Zuspätkommen an, geht über die gut eingeführte Unordnung und hört mit der schlechten Vorbereitung für Meetings auf.

Der Aufschieber kontert seinen Ruf als Chaot und unsicherem Patron, indem er seinen Lebensstil zum Gesamtkunstwerk erhebt. Das reduziert zwar nicht die Reibungspunkte mit Freunden, Verwandten und Kollegen. Es erlaubt ihm aber, von seiner Wolke aus mit dem Finger auf die Schwächen anderer zu zeigen.

Schärfen wir also die Kompetenzen der liebenswerten Zeit-Gauner zu einem Profil.

Aufschieber sind:

Intelligente Strategen

, die das Unmögliche in origineller Form möglich machen.

Multi-tasking-fähig

: Sie können mehrere Aufträge gleichzeitig annehmen, denn Zeit spielt für sie auf den ersten Blick keine Rolle.

Stress resistent

: Während bei anderen die Nerven schon blank liegen würden, ist der Zeitdruck für den Aufschieber die Chili-Schote in der Suppe.

Kreative Genies

: Sie schütteln mit leichter Hand Ideen aus dem Ärmel, wenn es darum geht, etwas anderes zu tun als ihr Projekt zu beginnen.

Offen für alles

: Kein Impuls aus der Umwelt ist zu schwach, um die eigentliche Aufgabe zu unterbrechen und sich ausgiebig abzulenken.

Spontan

: Der Aufschieber lässt sich nicht in das enge Korsett einer Zeitplanung zwängen. Ihm gelingt es, sich seine Spontaneität zu bewahren.

Charmant

: Keiner umwickelt seine wartenden oder enttäuschten Auftraggeber so galant mit Wortgirlanden.

Leidensfähig

: Der Aufschieber ist sich nicht zu schade, ohne Rücksicht auf seine körperliche und geistige Belastbarkeit, Nächte durchzuarbeiten. Da die Resultate in der Regel unter seinen Möglichkeiten bleiben müssen, wird er von seinen Mitmenschen chronisch unterschätzt. Mehr noch: Er muss häufig empfindliche Nachteile für die Aufschieberitis in Kauf nehmen. Hier stellt der Schiebende seine enorme Leidensfähigkeit unter Beweis.

Meister der Umdeutung

: Um das Gesicht zu wahren, beherrschen es Aufschieber meisterlich, die Ursachen ihrer Situation umzudeuten und nach außen zu schieben: Es liegt nicht am Selbstmanagement, sondern am ungerechten Management der Welt. Nicht der Arbeitsstil ist suboptimal, sondern die Aufgabe. Nicht der Aufschieber ist seines Glückes Schmied, sondern die andern.

Das wird knapp, doch das schaff ich schon …

Ich hab noch 30 Minuten,

bis mein Flugzeug geht.

Ich muss mich etwas sputen,

ich hab vergessen, wo mein Auto steht.

Gerade noch zu meiner Mutter,

die wohnt eigentlich nicht weit.

Der muss ich Schlüssel bringen

für die Urlaubszeit.

Warum auch nicht, schließlich bin ich ihr Sohn,

das wird knapp, doch das schaff ich schon …

Ich hab noch 20 Minuten,

schnell den Koffer kaufen,

dann muss ich noch packen

und mein Pass ist abgelaufen.

Gerade noch aufs Rathaus,

die machen eh gleich dicht.

Und in den Fotoautomaten,

der will mein Kleingeld nicht.

Von langer Hand geplant, und das ist der Lohn.

Das wird knapp, doch das schaff ich schon …

Ich hab noch 10 Minuten,

schnell zu Neckermann

und die Tickets holen.

Warum springt mein Auto nicht an?

Der Verkehr wird umgeleitet,

weil ein Tanklaster brennt,

und wir nehmen einen Schleichweg,

den nur der Taxifahrer kennt.

Und am Horizont hebt mein Flugzeug ab …

Ich hab’s geschafft. Also beinah … Ganz knapp …

Schlange stehen am Baum der Erkenntnis:Die Ursachen des Aufschiebens

Die häufigste Krankheit ist die Diagnose.

Karl Kraus

Was war zuerst da? Die Aufgaben oder die Aufschieberitis? Ich glaube, das Aufschieben hat schon bei Adam und Eva angefangen. Als Adam im Paradies Eva fragte: »Warum schiebst du es auf, Äpfel zu kaufen?«, antwortete Eva: »Am Baum ist immer so eine lange Schlange.«