Jo, Janne und der Winddrachen - Gudrun Güth - E-Book

Jo, Janne und der Winddrachen E-Book

Gudrun Güth

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Beschreibung

Ein bunter Mix von kurzen und längeren Geschichten über Kinder und Tiere. Beim Vorlesen und/oder Selbstlesen kannst du erfahren ... wie sich Kinder für eine bessere Umwelt einsetzen. ... wie Wladi und Cassius auf Mörderjagd gehen. ... wie Frau Schuhschnabel beim Taxifahren immer dünner wird. ... wie der Mittwoch gar nicht mehr langweilig ist. ... wie der Eisvogel versteht, warum er Eisvogel heißt. ... wie Mia eine Schwester und doch keine Schwester bekommt. ... wie man trödelt, sich verbrennt, Angst hat, Stolpersteine entdeckt und schwimmen lernt. ... wie Zwiebel abhaut, wie der kleine Chihuahua Brutus ein Held wird ... und noch vieles mehr. Für Kinder im Grundschulalter.

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Jo, Janne und der Winddrachen

Und andere Geschichten über Kinder und Tiere

Gudrun Güth

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.de

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2023.

Coverillustrationen Sabine Wedemeyer-Schwiersch

Lektorat: CAT creativ - www.cat-creativ.at

ISBN: 978-3-96074-598-3 - Taschenbuch farbig (illustriert)

ISBN: 978-3-96074-602-7 - Taschenbuch schwarz-weiß (illustriert)

978-3-96074-599-0 - E-Book

*

Inhalt

Die Detektive Wladi Holmes und Cassius Watson auf Mörderjagd

Geht doch ... Oder: Endlich ein Held

Vom Eisvogel, der wissen wollte, warum er Eisvogel hieß

Henriette Hase und Robby, der Mähroboter

Storchtaxi Schuhschnabel

Kai, Kim und die Steinwüsten

Wie sich die Brandgans einmal verbrannte

Sophie Weckernase

Vitor lernt schwimmen und noch einiges mehr

Am Kiepenkerl

Zwiebel haut ab

Jo, Janne und der Winddrachen

Herumgetrödel

Meine Schwester Mia

Der Nachtalb

Die Autorin

*

Die Detektive Wladi Holmes und Cassius Watson auf Mörderjagd

Ausgerechnet an einem Sonntag wurde das Leben für Wladi schlagartig anders. Bis dahin hatte er es richtig gut gehabt. Vor allen Dingen sonntags. Er streifte im Wald umher und lag oft im Gras in der Sonne, alle viere von sich gestreckt.

Doch jetzt wurde Wladi plötzlich gejagt. Es tauchten Menschen mit Flinten auf. Diese Menschen trugen grüne Mützen und zielten auf Wladi. Zum Glück kannte Wladi den Wald genau, er kannte alle Schleichwege, alle Schlupfwinkel. Aber die Menschen kamen in Gruppen und versuchten, ihn zu umzingeln. Das ging eine ganze Zeit so, ohne dass Wladi verstand, warum die Menschen auf einmal so böse auf ihn waren. Er hatte doch nichts getan. Im Wald herumzustreifen oder im Gras in der Sonne zu liegen, war nicht verboten. Was hatten sie also gegen ihn?

Am Donnerstag wäre er zwei Jägern fast vor die Flinte gerannt. In seinem Versteck im Gebüsch atmete er kaum, damit niemand ihn hörte. Was Wladi hörte, machte ihn wütend. Da glaubten die beiden Männer tatsächlich, dass er zwei Schafe gerissen hatte.

Wladi mochte Schafe. Er saß manchmal vor dem Zaun, der die Schafherde auf der Heide zusammenhalten und beschützen sollte. Inzwischen hatte er auch die Bekanntschaft mit Cassius, dem Hirtenhund, gemacht. Cassius war so schön weiß wie die Schafe selbst. Zuerst hatte Wladi den Hund nicht von den Schafen unterscheiden können, aber dann bellte Cassius und Wladi schreckte zurück.

„Ich gucke mir nur die Schafe an“, sagte Wladi.

„Das kannst du jedem erzählen. Als ob ich nicht wüsste, dass Wölfe auf Schafe losgehen.“

„Ich doch nicht“, sagte Wladi beleidigt. „Ich mag Schafe.“

„Du hältst mich wohl für blöd“, sagte Cassius und bleckte die Zähne. Wladi zuckte zusammen.

Eine Woche später, als Wladi wieder bei der Schafherde auftauchte, nachdem er lange genug im Wald herumgestreift war und lange genug in der Sonne gelegen hatte, schrie Cassius ihm schon von Weitem zu: „Komm uns ja nicht zu nahe, du Schafmörder. Nicht einen Schritt näher.“

Wladi verstand die Welt nicht mehr. Ausgerechnet er sollte ein Schafmörder sein? Bedrückt schlich er in den Wald zurück. Er hockte sich in den Farn und dachte nach. Er war sich ganz sicher, dass er kein Schafmörder war und dass er Schafe und Hirtenhunde mochte.

Es gab nur einen einzigen Ausweg aus dieser verflixten Situation. Er musste beweisen, dass er unschuldig war. Das hieß, dass er den wahren Schafmörder finden musste. Aber wie fand man den?

Wladi schlich in die Stadtbücherei und lieh sich heimlich zehn Bücher aus. Er würde sie später zurückbringen. Auch wieder heimlich. In den Büchern würde er schon lesen können, wie man Verbrecher und Schafmörder finden könnte.

Die zehn Bücher waren Kriminalgeschichten, in denen sich Detektive auf Mördersuche machten. So ein Detektiv arbeitete bei der Polizei oder für sich allein. Dann war er ein Privatdetektiv, hatte ein Büro mit einem Telefon und einem Computer. Ein Privatdetektiv trug immer eine Detektivmütze und hatte eine Taschenlampe und ein Smartphone dabei. Wahrscheinlich auch eine Lupe. Wladi besaß nichts von alledem. Wie sollte er bloß den Schafmörder finden ohne Büro, ohne Telefon, ohne Taschenlampe, Smartphone und Lupe?

Und dann fand Wladi eine grüne Mütze unter der großen Rotbuche. Die musste ein Jäger verloren haben. Wladi probierte sie auf. Das war eine Super-Privatdetektivmütze, auch wenn sie nicht kariert war. Jetzt brauchte er nur noch ein Smartphone, eine Taschenlampe und eine Lupe. Dass er jemals ein Büro mit einem Telefon und einem Computer haben würde, glaubte er selbst nicht.

Den ganzen lieben Tag suchte er den Wald nach einem Smartphone, einer Taschenlampe und einer Lupe ab. Er schaute unter jeden Baum, ins hohe Gras und in jeden Schlupfwinkel. Er fand nichts. Aus der Traum vom Privatdetektiv und dem Beweis seiner Unschuld. Wölfen glaubten die Menschen nichts. Noch nicht einmal Cassius hatte ihm geglaubt.

Völlig entmutigt setzte sich Wladi auf einen Baumstamm. Er suchte in den zehn Büchern nach Lösungen. Die Geschichten über den Privatdetektiv Sherlock Holmes mit der karierten Mütze halfen ihm schließlich weiter. Sherlock Holmes hatte einen Kompagnon. Watson. So einen brauchte Wladi auch.

Aber Wladi kannte ja keinen. Er streifte ganz allein im Wald umher und lag ganz allein im Gras in der Sonne. Sein Wolfsrudel war längst weitergewandert und hatte ihn, bloß weil er nicht schnell genug war, einfach zurückgelassen. Dabei waren seine Wolfskumpanen den weiten Weg von Wladiwostock bis hierher zusammen gegangen.

Vielleicht sollte er das Eichhörnchen fragen, das auf der Rotbuche wohnte. Das Eichhörnchen winkte ab. „Keine Zeit. Ich muss Nüsse und Bucheckern sammeln.“

„Möchtest du mein Watson sein?“, fragte Wladi den Eichelhäher.

„Dein was? Nee, mit dir will ich nichts zu tun haben. Such dir gefälligst einen anderen.“

„Watson“, rief Wladi in den Wald hinein. Man könnte es ja mal versuchen. In der Ferne bellte der Hirtenhund.

„Cassius Watson“, dachte Wladi. „Das klingt irgendwie gut.“

Am nächsten Morgen machte Wladi sich auf den Weg zur Heide. Vorsichtshalber nahm er die Sherlock Holmes Geschichten mit. Die würden Cassius schon überzeugen.

Als er sich der Schafherde näherte, hörte Wladi ein Geheul. Es klang wie ein Wolfsgeheul. War das Rudel etwa zurückgekommen?

Dann sah er Cassius am Zaun sitzen. Er sah wie ein Häuflein Elend aus, gar nicht mehr so groß. Auch nicht mehr so schön weiß. Im Zaun war ein Loch.

„Was hast du denn?“, fragte Wladi.

„Da ist wieder ein Schaf gerissen worden und ich konnte nichts tun. Ich habe den Schafmörder nur noch von hinten gesehen. Er war riesengroß und schwarz.“

„Größer als ich?“

„Viel, viel größer.“

„Dann kann ich es nicht gewesen sein“, sagte Wladi schnell.

„Da hast du eigentlich recht.“ Cassius nickte. „Jetzt will mich der Schäfer zum Züchter zurückbringen, weil ich als Hütehund angeblich nichts tauge. Ich will aber nicht zum Züchter zurück. Ich will bei den Schafen bleiben und bei meinem Freund Jens.“

„Willst du mein Watson sein?“

„Dein was?“

Wladi las Cassius eine Sherlock Holmes Geschichte vor. Cassius vergaß zu heulen und hörte aufmerksam zu.

„Willst du mein Watson sein?“, fragte Wladi noch einmal.

„Warum kann ich nicht Sherlock sein?“

„Weil ich die Mütze habe, die Privatdetektivmütze.“

„Und was soll ich als Watson tun?“

„Ist doch klar, den Schafmörder finden.“

„Da hast du eigentlich recht“, sagte Cassius und wurde sofort etwas größer.

„Ein Hirtenhund kann schon ziemlich eindrucksvoll sein“, dachte Wladi.

„Okay, wir machen das Detektivbüro Cassius Watson und Wladi Holmes auf“, sagte Wladi erleichtert. Er fand sich sehr geschickt, Cassius zuerst zu nennen, auch wenn er selbst natürlich der Hauptdetektiv sein würde.

„Woher kriegen wir denn ein Büro?“, wollte Cassius wissen.

„Wir haben eben ein Freiluftbüro.“

„Brauchen wir nicht ein Telefon und einen Computer?“

„Du und ich haben doch gute Ohren und scharfe Augen. Ich bin schließlich ein waschechter Wolf und du stammst von den Wölfen ab.“

„Quatsch“, sagte Cassius. „Ich stamme von meinen Eltern ab. Die waren waschechte Hirtenhunde.“

„Von mir aus“, sagte Wladi. „Aber gute Ohren und scharfe Augen haben wir beide.“

„Da hast du eigentlich recht. Brauchen wir keine Polizeimarken?“

„Wir sind nicht bei der Polizei. Wir sind Privatdetektive.“

„Dann brauchen wir Privatdetektivausweise.“

„Und woher sollen wir die kriegen?“

„Keine Ahnung. Moment mal. Ich habe eine Idee“, sagte Cassius. „Ich frage meinen Freund Jens. Der ist sieben und kann schon schreiben.“

„Mach das“, sagte Wladi.

„Ich brauche noch eine Privatdetektivmütze, damit ich wirklich wie Watson aussehe.“

„Watson trägt gar keine Mütze. Nur Haare und die hast du genug.“

„Sollen wir uns morgen früh wieder treffen? Dann hat Jens bestimmt die Ausweise fertig und wir können auf Mörderjagd gehen.“

„Machen wir“, sagte Wladi. „Bis morgen früh.“

Auf dem Weg zurück in den Wald warf Wladi dreimal seine Mütze in die Luft. Hurra, jetzt konnte er seine Unschuld endlich beweisen. Er erzählte dem Eichhörnchen und dem Eichelhäher, dass er seinen Watson gefunden hatte. Das Eichhörnchen hörte nicht wirklich zu, da es zu sehr damit beschäftigt war, Nüsse und Bucheckern zu sammeln. Der Eichelhäher tippte sich an die Stirn und flog davon. Wieder einmal so eine Schnapsidee vom Wolf.

Jens hatte tatsächlich die Ausweise fertig. Cassius Watson stand auf dem einen, Wladi Holmes auf dem anderen. Unter beide Namen hatte Jens eine Lupe gemalt. Auf beiden Ausweisen stand PRIWATDEDEKTIF. Wie gut, dass Jens schon zur Schule ging und schreiben konnte. Jetzt konnte die Mörderjagd losgehen.

Cassius Watson hatte von Jens ein Diktafon geliehen bekommen. So konnten die Privatdetektive ihre Suchergebnisse notieren, ohne sie aufschreiben zu müssen. Jens wäre gern selbst ein Privatdetektiv gewesen, aber er hatte wegen der Schule ja keine Zeit. Außerdem durfte es in dem Freiluftbüro nur zwei Privatdetektive geben, Holmes und Watson. Wladi hatte die ganze Nacht darüber gegrübelt, wie er neben Taschenlampe und Smartphone an eine Geige kommen könnte. Sherlock Holmes spielte nämlich Geige, wenn er nachdachte und auf Mördersuche war. Statt Geige zu spielen, könnte Wladi auf einem Grashalm blasen. Grashalme waren auch prima Instrumente. Oder er könnte mit Cassius im Duett heulen. Das wäre vielleicht doch nicht so gut. Dann würde man die beiden Privatdetektive überall hören – und der Schafmörder wäre gewarnt. Leises Heranpirschen gehörte zum Handwerk eines Privatdetektivs dazu. Eine Lupe hatten sie immerhin schon, wenn auch nur auf den Ausweispapieren. Ein Diktafon würde ein Smartphone ersetzen, also eigentlich alles da, um loszulegen.

Um sechs Uhr morgens lagen beide Privatdetektive auf der Lauer. Sie würden den Schafmörder schon schnappen. Die Schafe ruhten still im Morgennebel. Nur ab und zu blökte ein Schaf. Cassius Watson sprach in sein Diktafon: „Alles ruhig bis jetzt, aber das kann sich jeden Moment ändern. Der Nebel ist ziemlich dicht. Wir müssen gut aufpassen, wenn sich der Schafmörder anschleicht.“

Es wurde zehn Uhr, elf Uhr, zwölf, zwei Uhr und niemand schlich sich an. Cassius Watson wusste nicht, was er noch in sein Diktafon sprechen sollte. Allmählich wurde es den beiden langweilig. Die Schafe grasten ruhig vor sich hin. Nichts geschah.

„Ich glaube, so ein Schafmörder kommt nur in der Nacht“, sagte Wladi Holmes. „Lass uns jetzt etwas schlafen, damit wir heute Nacht auf Zack sind.“

Gesagt, getan. Cassius Watson kringelte sich mitten unter den Schafen zusammen und begann nach ein paar Minuten, zu schnarchen. Wladi Holmes lag vor dem Zaun, denn selbst als Privatdetektiv hatte er keinen Zugang zur Herde.

Als beide aufwachten, wurde es langsam dunkel. Genau die richtige Zeit, um Verbrecher zu fangen. Wladi Holmes setzte sich hinter den Eichenbaum. Von da aus konnte er jeden Schafmörder, der aus dem Wald kam, beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Cassius Watson grub sich zur Verstärkung des Beobachtungspostens durch den Zaun.

Er zückte das Diktafon. Bevor er hineinsprach, sah er seinen Kompagnon bestürzt an. „Wir haben gar keine Handschellen. Wie sollen wir so den Schafmörder festnehmen?“

Wladi kratzte sich. Wenn er sich kratzte, fiel ihm das Nachdenken leichter. „Da hinten wachsen Binsen. Die sind schön fest und reißen nicht.“

„Kannst du denn einen Knoten binden?“

„Wird schon irgendwie gehen. Erst müssen wir den Schafmörder haben.“

„Erst muss er mal kommen“, sagte Cassius.

„Sei still. Hörst du das?“

Cassius spitzte die Ohren. Es raschelte in den hohen Wacholderbüschen. „Schuhu, Schuhu“, hallte es über die Heide.

Beiden Privatdetektiven stellten sich die Nackenhaare hoch. Beide bekamen eine Gänsehaut unter dem Fell. Cassius fiel eine Gedichtzeile ein, die er einmal gehört hatte: „Gar schaurig ist’s, übers Moor zu gehen.“

Und da schon wieder! Schuhu, Schuhu.

Cassius gruselte sich. Er fürchtete sich vor Gespenstern. Er warf einen Blick auf Wladi Holmes. Ob der sich auch fürchtete? Schließlich war er der Meisterprivatdetektiv.

Vielleicht doch nicht so einfach, auf Schafmörderjagd zu gehen.

„Da hinten“, flüsterte Wladi. „Siehst du die zwei Lichter?“

„Das müssen zwei Schafmörder sein, mit zwei Taschenlampen“, raunte Cassius. „Wie sollen wir bloß gegen zwei ankommen?“

Wladi kratzte sich wieder, aber ihm fiel nichts Brauchbares ein. Damit hatte niemand gerechnet. Ein Schafmörder ging, aber zwei?

Schuhu, Schuhu, ein Rascheln, ein gelbes Lichterfunkeln, ein kräftiger Flügelschlag und ein Uhu flog über die beiden Privatdetektive hinweg. Von wegen zwei Taschenlampen. Sie hatten nur die Uhuaugen in der Dunkelheit leuchten sehen.

„Falscher Alarm“, sagte Cassius Watson in das Diktafon. „Aber eine enorm heikle Situation.“

Den Rest der Nacht passierte nichts, was den beiden Privatdetektiven durchaus recht war. Morgen war auch noch ein Tag oder eine Nacht, um besser gerüstet auf Schafmörderjagd zu gehen.

In der Frühe schlüpfte Cassius zurück zu seiner Schafherde. Wladi trottete in den Wald und startete seine Futtersuche. Ihm stellte schließlich niemand einen vollen Futternapf hin, obwohl er sich den durch seine nächtliche Aufpassarbeit wirklich verdient hätte.

„Die Welt ist ungerecht“, dachte er, vergaß diesen Gedanken aber schnell wieder, als er die herrlichsten Brombeeren fand. Heute war vegetarisches Fressen angesagt. Manchmal brauchte Wladi allerdings Fleisch, aber an den Schafen würde er sich nie vergreifen. Ehrenwolfswort!

Auch in den nächsten drei Nächten blieb alles ruhig.

„Alles ruhig, alles still“, war das Einzige, das Cassius in sein Diktafon sprach. Noch nicht einmal ein Uhu raschelte und flog auf. So aufregend fand Cassius die ganze Privatdetektiverei allmählich nicht mehr. Tagsüber war er müde, durfte sich aber nicht vom Schäfer bei seinen Nickerchen überraschen lassen, sonst würde der ihn sofort zum Züchter zurückbringen.

„Als Privatdetektiv muss man Geduld haben“, sagte Wladi. „Sherlock Holmes sitzt auch oft nur so da und denkt nach.“

„Worüber soll ich denn nachdenken?“ Cassius fiel nichts Wichtiges ein.

„Du musst dich in die Seele des Schafmörders hineindenken“, sagte Wladi.

„Haben Schafmörder denn eine Seele? Und wo sitzt die genau? Im Kopf oder im Bauch?“

„Ich glaube, im Bauch“, sagte Wladi. „Da, wo der Hunger sitzt.“

„Ich habe auch Hunger“, seufzte Cassius. „Diese Aufpasserei macht eben Appetit.“

„Denk jetzt nicht ans Fressen. Denke lieber an Schafmörderseelen.“

Damit hatte Cassius seine Probleme, aber er versuchte sein Bestes, obwohl er nicht verstand, wieso jemand Schafe nicht leiden konnte. Schafe waren friedliche Tiere. Sie taten niemandem etwas. Sie mähten das zu lang gewordene Gras, sodass die Menschen viel weniger Arbeit hatten. Sie schauten einen mit warmen Augen an. Ihr Blöken klang immer freundlich, ihr Fell lieferte schöne Wolle. In der Seele eines Schafmörders musste irgendwo ein Wackelkontakt sein. Oder ein Seelentotalausfall.

„Wenn er diese Nacht auch nicht kommt, stellen wir unsere Arbeit ein. Dann lösen wir die Privatdetektei wieder auf.“

Der Beschluss stand fest. Wladi und Cassius waren sich einig.

Um acht Uhr erschien Cassius mit einer Basketballkappe. Die hatte er sich von Jens geborgt. Vielleicht würde die Kappe bei der Detektivarbeit helfen. Eine einzige Detektivmütze war vielleicht doch nicht genug gewesen.

Wladi murmelte etwas in seinen Bart, fand sich dann aber damit ab. Wenn Cassius das wirklich so wichtig war. Wladi hatte eine Pfotevoll Blaubeeren mitgebracht. Die würden die Wartezeit versüßen. Der rote oder blaue Saft verschmierte ihre Mäuler. Das sah besonders schön auf dem weißen Fell aus.

„Wie immer alles ruhig, alles still“, sagte Cassius in das Diktafon. Der Wind raschelte zwar ein bisschen in den Baumblättern. Hin und wieder schnaufte ein Schaf im Schlaf oder blökte im Traum. Den beiden Privatdetektiven fielen langsam die Augen zu. Wieder so eine ereignisarme Nacht.

Und dann plötzlich schreckten sie auf. Ein Geräusch! Nur zehn Meter weiter leuchteten gelbe Augen im Gebüsch.

„Bloß wieder der Uhu“, flüsterte Cassius und wartete auf den Flügelschlag.

Weder ein Flügelschlag noch ein Schuhu ließ sich hören. Dafür ein leises Knistern und Rascheln. Und ein merkwürdiges Knacken. Da zertrat jemand die auf dem Boden liegenden Eicheln.

„Feind im Anmarsch“, diktierte Cassius. Er rückte seine Kappe zurecht.

Als die Wolken den Mond freigaben, sahen Wladi und Cassius einen riesigen Schatten aus dem Gebüsch kommen. Der Schatten bewegte sich langsam auf den Zaun zu, wurde größer und größer.

Wie in der allerersten Nacht stellten sich bei Wladi und Cassius die Nackenhaare hoch. Beide Privatdetektive zitterten. Vor Angst, vor Aufregung oder in Vorbereitung auf den Sprung zur Festnahme. Die Binsenhandschellen lagen bereit.

Die gelben Lichter wurden heller und tellergroß. Die Schafe bewegten sich unruhig im Schlaf. Als ob sie den Feind geahnt hätten.

„Alarm!“ Das letzte Wort auf dem Diktafon, bevor es zu Boden fiel, weil Cassius zum Sprung ansetzte. Jetzt würde er endlich beweisen können, was für ein super Hirtenhund, was für ein super Watson er war. Die Basketballkappe flog ihm vom Kopf. Auch Wladis Privatdetektivmütze war nicht mehr zu halten.

Zwei Privatdetektive stürzten sich auf das heranschleichende Monster. Der Monsterschatten blieb einen kurzen Augenblick stehen, drehte um und rannte Richtung Wald. Wladi Holmes und Cassius Watson hinterher. Endlich eine waschechte Schafmörderjagd. Alle drei rannten im Zickzack, sprangen über herumliegende Baumstämme, liefen schmalste Pfade entlang und durchbrachen Büsche. Alle drei waren schneller als schnell, drei Schatten im Wald, die manchmal im Mondschein deutlich zu sehen waren.

Kurz bevor allen dreien die Puste ausging, sprang Wladi dem Schafmörder von hinten auf den Rücken. Überrascht von dem plötzlichen Gewicht fiel der Schafmörder hin. Diese Gelegenheit ließ Cassius sich nicht zweimal sagen und umklammerte im Würgegriff dessen Kopf. Das Monster biss zu, zappelte und strampelte und schlug um sich. Cassius bekam eine Bisswunde im Ohr ab, Wladi eine blutige Schramme unter dem linken Auge. Das Leben eines Privatdetektivs war eben gefährlich. Es gelang trotz des heftigen Gerangels, den Schafmörder zu fesseln. Wladi Holmes verknotete die Binsen.

„Wir haben den Schafmörder gestellt und verhaftet“, sprach Cassius in das Diktafon, das gar nicht da war, sondern am Baum auf der Erde lag.

„Und was machen wir jetzt?“

„Jetzt rufen wir die Polizei und den Schäfer“, sagte Wladi, der sich in seinen zehn ausgeliehenen Detektivbüchern kundig gemacht hatte.

„Wie denn ohne Festnetz und Smartphone?“

„Tja“, sagte Wladi Holmes und kratzte sich. Es kam kein einziger guter Gedanke. Er kratzte noch etwas mehr. Immer noch kein guter Gedanke. Hoffentlich hielten die Binsenhandschellen lange genug.

„Was passiert denn in deinen Büchern, wenn sie die Verbrecher gefangen haben?“

„Die werden in einem Polizeiwagen abtransportiert und kommen in den Knast.“

„Aber wir haben keinen Polizeiwagen. Und zur Polizeiwache tragen können wir den Schafmörder auch nicht. Der ist viel zu schwer.“

Die beiden Privatdetektive waren ratlos. Sie hatten gute Arbeit geleistet und das ohne Festnetztelefon, ohne Computer und Taschenlampe.

Der Schafmörder bäumte sich auf und versuchte, sich von den Handschellen zu befreien. Die gelben Augen funkelten böse.

„Wenn ich nur meine grüne Privatdetektivmütze dabei hätte, dann würde mir schon etwas einfallen“, sagte Wladi Holmes.

Wie ein geölter Blitz verschwand Cassius. Wladi hatte allergrößte Mühe, den Schafmörder in Schach zu halten. Was für ein Idiot Cassius doch war. Ihn hier mit dem riesigen Monster einfach allein zu lassen. Von wegen Privatdetektiv Watson.

Aber da kam Cassius schon wieder zurückgerannt. Mit Mütze, Kappe und Diktafon.

„Am besten, du erstattest erst mal Bericht. Das macht man nach der Festnahme so.“

„Was soll ich denn sagen?“

„Gib mir mal das Ding.“

Wladi setzte die grüne Mütze auf. Mit Mütze ließ sich der Bericht besser formulieren.

„Tatort Waldmitte, Tatzeit circa nach Mitternacht, Täter überwältigt und festgenommen nach heftigem Kampf. Die beiden Privatdetektive verwundet, aber keine Lebensgefahr. Ob der Täter verwundet ist, lässt sich wegen der Dunkelheit nicht sagen. Brauchen dringend Verstärkung. Die Binsenhandschellen halten nicht ewig.“

So, der Bericht wäre erledigt. Was nun?

„Soll ich mal eben schnell zum Wohnwagen laufen und den Schäfer holen?“

„Und mich wieder hier allein mit dem Schafmörder lassen? Du spinnst wohl, Watson.“

„Tja, was dann?“ Auch Cassius kratzte sich, der Erfolg blieb leider aus.

Schuhu, Schuhu. Das musste der Uhu sein, vor dem die beiden Privatdetektive neulich solche Angst gehabt hatten. Mit einem kräftigen Flügelschlag setzte sich der Uhu auf den untersten Ast der Tanne. „Kann ich euch irgendwie helfen?“ Die gelben Uhuaugen leuchteten.

Wladi Holmes kratzte sich und plötzlich war der rettende Gedanke da. Na also. „Du kannst als unser Kurier zum Schäfer fliegen und ihn hierherholen.“

Der Uhu war froh, etwas zu tun zu haben.

Es dauerte gar nicht lang und der Schäfer kam mit einer Taschenlampe angestapft. Der Uhu flog neben ihm her. Neugierig war er schon.

Der Schafmörder wälzte sich auf dem Waldboden. Er fauchte und stieß seltsame Laute aus, die vom Schuhu des Uhus übertönt wurden.

Der Schäfer richtete seine Taschenlampe auf Wladi. „Da haben wir ja den Übeltäter.“

„Wieso ich?“, sagte Wladi beleidigt. „Ich bin Privatdetektiv und habe den Schafmörder schließlich gejagt und gefasst.“

„Ich auch“, sagte Cassius stolz. „Der Schafmörder liegt doch hier unten.“

Der Schäfer leuchtete auf den Boden.

„Du musst jetzt die Polizei rufen, damit der Schafmörder richtig verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert werden kann.“

„Tja“, sagte der Schäfer und kratzte sich am Bart. Wahrscheinlich kamen ihm durch das Kratzen auch die besten Gedanken. „Das wird schwierig werden. Der Schafmörder, den ihr beide gefasst habt, ist ein Luchs. Luchse sind vom Aussterben bedroht und müssen geschützt werden. Man kann Luchse nicht einfach einsperren.“

„Aber er hat doch deine drei Schafe gerissen?“

„Tja, am besten ich zäune meine Schafherde besser ein.“

„Und wie willst du das machen?“

„Strom“, sagte der Schäfer bloß.

„Aber wo willst du all das Wasser her kriegen?“

Der Schäfer lachte. „So einen Strom meine ich nicht. Ich spreche von Stromzäunen. Die halten Schafe davon ab, auszubrechen, und Schafmörder davon, sich in die Herde hineinzuschleichen. Jeder, der raus oder rein will, bekommt einen Stromschlag.

---ENDE DER LESEPROBE---