John Maynard Keynes - Gerhard Willke - E-Book

John Maynard Keynes E-Book

Gerhard Willke

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Beschreibung

Keynes ist einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum seines Denkens steht die Frage nach der Domestizierung des Kapitalismus, nach der Rolle des Staates und den Möglichkeiten der Nachfragesteigerung. Mit diesem Ansatz steht er seit der Finanzkrise von 2008 erneut im Mittelpunkt vieler Analysen der aktuellen Lage. Denn schon vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 beschäftigte sich Keynes mit der Frage, wie Depression und Arbeitslosigkeit erklärt und bekämpft werden könnten. Gerhard Willke hat seine 2003 erschienene Einführung entsprechend aktualisiert und um ein Kapitel zur Keynes-Renaissance in der gegenwärtigen Krise erweitert. Damit steht die Relevanz des keynesianischen Denkens für die heutige Zeit im Mittelpunkt der Neuausgabe.

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Gerhard Willke

John Maynard Keynes

Eine Einführung

Über das Buch

Keynes ist einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum seines Denkens steht die Frage nach der Domestizierung des Kapitalismus, nach der Rolle des Staates und den Möglichkeiten der Nachfragesteigerung. Mit diesem Ansatz steht er seit der Finanzkrise von 2008 erneut im Mittelpunkt vieler Analysen der aktuellen Lage. Denn schon vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 beschäftigte sich Keynes mit der Frage, wie Depression und Arbeitslosigkeit erklärt und bekämpft werden könnten.

Über den Autor

Gerhard Willke, geb. 1945, war Professor für Wirtschaftspolitik an der Hochschule Nürtingen.

1 Einleitung

»Die Grundgedanken der

Allgemeinen Theorie […] wurden

als schockierend empfunden.«

(Joan Robinson 1973, S. 134)

Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 und der Massenarbeitslosigkeit der dreißiger Jahre wurde Keynes von der Frage umgetrieben, wie Depression und Unterbeschäftigung erklärt und bekämpft werden könnten. Die Ökonomik seiner Zeit hatte ihm auf diese Frage nur Unsinn anzubieten: von »Löhne runter!« über »Abwarten, wird schon wieder« bis zum Prinzip des ausgeglichenen Staatshaushalts. Die Situation verlangte nach einer neuen, besseren Theorie. Diese sollte vor allem eines bieten: die Grundlage für eine wirkungsvolle Politik zur Steuerung der Wirtschaft und zur Sicherung einer hohen Beschäftigung. Denn anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und Unterauslastung der Produktionskapazitäten waren für Keynes zuallererst ein »unerträglicher öffentlicher Skandal der Ressourcenvergeudung« (GT, S. 381).

Insofern ist Keynes’ Theorie einerseits: seine Zeit in Gedanken gefasst, also Theorie der Depressionszeit. Sie ist andererseits aber auch eine allgemeine Interpretation des Kapitalismus und seiner Funktionsprobleme. In der Depression der dreißiger Jahre zerbrach die Vorstellung von der »besten aller möglichen Welten« – und mit ihr die (klassische) Theorie einer Wirtschaft im Gleichgewicht. Die neue Theorie interpretierte die Welt anders und schuf damit die Basis für eine andere Welt.

Im Vorwort zu seinem Hauptwerk sagt Keynes, dieses Buch dokumentiere auch sein Ringen um die Überwindung eingefahrener Denkformen (GT, S. viii). Tatsächlich riss sein revolutionärer Theorieansatz die damals herrschende Wirtschaftstheorie aus ihrem dogmatischen Schlummer. Keynes entzauberte die »Mystik« ihrer Gleichgewichtsverheißung und zeigte, dass die alte Theorie sich »irreführend und verhängnisvoll« (GT, S. 3) auswirken musste, wenn sie auf eine reale Situation wie die Weltwirtschaftskrise angewendet wurde.

Sein Ziel war es, die Ursachen aufzudecken, die den Wirtschaftsmotor immer wieder blockieren.1Theorie hatte für ihn den Zweck, Ansatzpunkte für wirtschaftspolitisches Handeln zu liefern. Die »klassische«2Theorie war dazu nicht in der Lage, ja sie hatte davon abgelenkt und sich als »Hindernis gegen eine realistische Analyse« erwiesen (Sweezy 1946, S. 77). Keynes’ leitendes Interesse bestand hingegen darin, Probleme der wirklichen Welt zu lösen und dafür den theoretischen Unterbau auszuarbeiten. Ihm ging es um »praktische Ratschläge« (Schumpeter 1946, S. 54).

Durch sein Studium geprägt, war Keynes zunächst überzeugter Anhänger der klassischen Theorie; immerhin hatte er bei ihren führenden Köpfen – Marshall und Pigou – studiert. Angesichts der sich verschlimmernden Millionen-Arbeitslosigkeit nach 1929 reifte in ihm jedoch die Einsicht, dass die klassischen Rezepte die Fehlentwicklungen nicht korrigieren konnten, im Gegenteil: Das Patentrezept der Klassiker – Lohnsenkungen – führte zu sinkenden Einkommen und schwächte die Konsumnachfrage; bei rückläufiger Nachfrage sind die Unternehmen aber gezwungen, die Produktion weiter zu drosseln und noch mehr Arbeitskräfte zu entlassen. Das konnte wohl nicht die Lösung sein.

In einer über viele Jahre andauernden grandiosen Leistung hat Keynes die theoretischen Grundlagen für eine seiner Überzeugung nach bessere Wirtschaftspolitik geschaffen. Bei Depression und Massenarbeitslosigkeit sollte der Staat nicht (nach Art des laissez-faire, siehe Glossar) die Hände in den Schoß legen oder die Situation durch Einschränkung der öffentlichen Ausgaben noch verschlimmern, sondern er sollte steuernd eingreifen und die Gesamtnachfrage stützen. Wie? Durch zusätzliche Staatsausgaben! Und die Finanzierung? Durch Kreditaufnahme: »mit geborgtem Geld« (GT, S. 98). Das war damals verpönt – und ist es heute wieder. Gibt es gleichwohl eine Rechtfertigung dafür?

Stationen auf dem Weg zum Ruhm

Keynes wurde 1883 in Cambridge geboren, besuchte die Privatschule Eton und studierte anschließend am King’s College in Cambridge. Dort erwarb er eine fundierte philosophische und mathematische Ausbildung (sein Vater war Dozent und Kanzler der Universität Cambridge). Keynes studierte zunächst Mathematik und anschließend Ökonomik. Er war auch künstlerisch und literarisch sehr interessiert und verkehrte in der Künstlergruppe Bloomsbury Circle. Sein Ehrgeiz, im Kreise seiner Künstler-Freunde mitzuhalten, schlug sich in manchen seiner Schriften nieder, deren sprachliche Brillanz – für einen Ökonomen – beeindruckend ist.

Keynes’ Denken war von der Überzeugung getragen, dass Reden und Handeln nicht von gesellschaftlichen Normen, sondern vom eigenen Empfinden und Denkvermögen geleitet sein sollten (Scherf 1989, S. 278). In seiner praktischen Orientierung wurde er von seiner Mutter stark beeinflusst, die eine der ersten Studentinnen in Cambridge war und später sogar Bürgermeisterin dieser Stadt. Die mütterliche Prägung übertrug sich bei Keynes in den Bereich des politischen Handelns: »Seine brillanten Fähigkeiten konzentrierte er ganz auf Fragen der Wirtschaftspolitik« (Schumpeter 1946, S. 52). Gleichzeitig war er unpolitisch genug, lange an dem Glauben festzuhalten, es gehe in der Wirtschafts- und Währungspolitik um die rationale Lösung praktischer Probleme,3Diese Dissonanz mag zu Keynes’ heart condition beigetragen haben, an der er 62-jährig nach einer Phase heilloser Überarbeitung starb.

Wie viele begabte junge Männer in Cambridge war auch Keynes in seiner sexuellen Orientierung – sagen wir: offen. Man absolviert Eton und King’s College nicht folgenlos. Ob dieser – um mit Proust zu sprechen – »autre goût« nun wirklich »zentral zum Verständnis des Theoretikers« Keynes ist, wie Zank behauptet,4mag man bezweifeln. »Kritische Distanz gegenüber den Konventionen« kommt auch anderweitig vor. Dessen ungeachtet hat Keynes im Alter von 42 Jahren eine Künstlerin geheiratet, die russische Primaballerina Lydia Lopokova. Und manche hielten das für eine seiner besten Entscheidungen.

Keynes war erst wenige Jahre Dozent in Cambridge, als er 1911 Herausgeber des Economic Journal wurde, damals eine der führenden wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften. Weitere Positionen seiner Laufbahn: Mitglied in Royal Commissions, Berater des Schatzministeriums, Delegierter bei den Versailler Friedensverhandlungen, Geschäftsmann, (Währungs-)Spekulant, Journalist, Direktor der Bank of England, Kunstliebhaber, Theatermäzen, Sammler wertvoller Bücher usw. Eine Professur in Cambridge schlug er aus; das könne er sich einkommensmäßig nicht leisten (das heißt: so wenig zu verdienen und darüber seine einträglicheren Nebengeschäfte vernachlässigen zu müssen). Während des Zweiten Weltkrieges war er leitend an den Verhandlungen mit den USA über die Kriegsdarlehen beteiligt und agierte als treibende Kraft bei der Errichtung einer neuen Weltwährungsordnung auf den Konferenzen von Bretton Woods 1943 und 1944 (siehe Glossar).

Im Kern war Keynes immer ein Geldtheoretiker und ein Praktiker der Währungspolitik. Direkt nach seinem Studium befasste er sich mit Währungsfragen (Indian Currency 1913), und am Ende seines Lebens konzipierte er ein Weltwährungssystem mit Weltbank und Weltwährung. Dieses Interesse färbte auch auf sein Hauptwerk ab: Es ist, wie Keynes selbst sagt, die Theorie einer »monetären Wirtschaft« (GT, S. 239). Seine monetaristischen Schriften begründeten die große Bedeutung des Geldes sowohl für die General Theory als auch für seinen wirtschaftspolitischen Ansatz.

Keynes wird meist mit seinem Hauptwerk identifiziert. Doch vor und nach der General Theory hat er überaus wichtige Bücher, Streitschriften und Aufsätze geschrieben: Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfasste er noch als Berater der Zentralbank den Traktat The Economic Consequences of the Peace (1919). Darin behandelte er die Frage der deutschen Reparationszahlungen und erregte weltweit Aufsehen damit, dass er sich (überwiegend aus ökonomischen Gründen) gegen die harten Bedingungen aussprach, insbesondere gegen die absurd hohen Reparationsforderungen des Versailler Friedensvertrages. Die beabsichtigte wirtschaftliche Verwüstung Deutschlands nannte er »abscheulich und verachtenswert« (JMK, Bd. IX, S. 3): Er sah voraus, dass Europa nicht prosperieren könne, wenn Deutschland wirtschaftlich zerrüttet würde. Doch das ökonomische Argument prallte an politisch-militärischen Betonköpfen ab.

In der Schrift The End of Laissez-Faire untersuchte er bereits 1926 die Frage, welche Rolle der Staat bei der Stabilisierung der Wirtschaft und bei der Sicherung der Vollbeschäftigung spielen sollte. Hier deutete sich früh die Abkehr von der klassisch-liberalen Zuversicht in die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktes an. Keynes denunzierte die Vorstellung von der »besten aller möglichen Welten« als Wunschdenken: Wir hätten vielleicht gerne, dass die Wirtschaft so funktioniert; aber anzunehmen, sie funktioniere tatsächlich so, hieße doch »unsere Schwierigkeiten wegzudefinieren« (GT, S. 34).

Vor dem Hintergrund vielfältiger Störungen des Wirtschaftsprozesses einerseits und fundamentaler Kritik am Kapitalismus andererseits suchte Keynes nach einer neuen, besseren Balance im Zusammenspiel zwischen Unternehmen, Markt und Staat. Er sah deutlich, dass die Bedingungen für ein laissez-faire – also für den Selbstlauf des Marktes ohne staatliche Interventionen – nicht länger gegeben waren, und er zog daraus die Konsequenz: »Ich bringe den Staat ins Spiel; die laissez-faire-Doktringebe ich auf« (JMK, Bd. IXX, S. 228). Dieser Staat war nun allerdings kein »Nachtwächterstaat« mehr wie bei den Klassikern, sondern der Hüter der Gesamtnachfrage, der die Investitionen in Regie nimmt.

Charakteristisch für Keynes ist die enge Verbindung zwischen Theorie und Praxis, zwischen akademischer Lehre und Forschung einerseits und Beratertätigkeit für Regierung und Zentralbank andererseits. Bei ihm sollte man, wie Schumpeter (1946, S. 58) rät, zunächst darauf achten, was er erreichen wollte, um dann zu verstehen, wie er theoretisch argumentiert.

Zwei Leistungen sind es, die Keynes zu einem der größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts machen: Zum einen überwand er die steril gewordene klassische Theorie, zum anderen – wichtiger noch – revolutionierte er das wirtschaftspolitische Denken und führte die Politik zurück auf die Kommandohöhen der Gesellschaft. Keynes verstand seine Wirtschaftstheorie als veritable »politische Ökonomie« und als »moral science« (GT, S. vii) mit dem Anspruch, politisches Handeln anzuleiten, um ökonomische Übel wie Depression und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.

Die Keynes’sche Ökonomik deckt sich im Wesentlichen mit den Inhalten der General Theory und Keynes’ eigenen Ergänzungen dazu. Diese Keynes’sche Ökonomik ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Keynesianismus, der sich aus der Keynes-Interpretation heraus entwickelt hat und nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industrieländern zur herrschenden Lehre in Wirtschaftswissenschaft und -politik geworden ist. Zum Keynesianismus haben viele Ökonomen und auch eine bedeutende Ökonomin, Joan Robinson, durch Kritik und Ergänzungen beigetragen.

Es könnte sich heute wieder als spannende Aufgabe erweisen, aus den eingefahrenen Denkmustern der herrschenden Neoklassik auszubrechen und mit einem Schuss keynesianisch inspirierter »politischer Ökonomie« den dogmatischen Schlummer zu stören, in den die Mainstream-Ökonomik erneut verfallen ist. Immerhin hat die aktuelle globale Krise für frischen Wind in der wirtschaftspolitischen Debatte gesorgt (vgl. Kapitel 4). Wieder einmal wird eine neue Balance zwischen Markt, Staat und Gesellschaft gesucht.

Der Schock der Weltwirtschaftskrise

Im Frühjahr 1930 wurde für Keynes erkennbar, dass die Depression sich zu einer schweren Weltwirtschaftskrise auszuweiten drohte und dass in dieser Lage das übliche Abwarten plus eine Dosis Zinssenkung nicht ausreichen würden, sondern »eine sehr aktive und entschlossene Politik« gefordert sei (The Nation vom 10.5.1930).

1930 erschien auch sein Buch A Treatise on Money, in dem er seine Geldtheorie systematisierte und die monetären Grundlagen seiner späteren »allgemeinen« Theorie legte. In dieser Abhandlung entwickelte er die These, dass Sparen nicht immer nützlich und tugendhaft sei, sondern in einer Phase der Depression und des Nachfragemangels die Lage eher noch verschlimmere. Dieser Treatise war auch Gegenstand des berühmten Cambridge Circus, einer Gruppe hochkarätiger Ökonomen wie James Meade, Richard Kahn, Piero Sraffa, Austin Robinson, Lorie Tarshis und auch Joan Robinson, die sich bei Keynes zu wöchentlichen Diskussionsrunden trafen. Ab 1934 debattierte Keynes in diesem Zirkel die ersten Entwürfe seiner General Theory.

Im Gegensatz zur mikroökonomisch (einzelwirtschaftlich) ausgerichteten Theorie seiner akademischen Lehrer Marshall und Pigou betonte Keynes makroökonomische (gesamtwirtschaftliche) Aspekte und wirtschaftspolitische Fragestellungen. Bereits Ende der 1920er Jahre trat er für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ein und bekämpfte die konservative Auffassung, wonach der Staat Ausgaben nur in Höhe seiner Einnahmen tätigen dürfe (Grundsatz des ausgeglichenen Staatshaushalts). Für Keynes ging es darum, den Teufelskreis der Depression zu durchbrechen. Der Abschwung durfte nicht noch verstärkt werden durch staatliche Ausgabenkürzungen, sondern sollte im Gegenteil durch zusätzliche Staatsausgaben aufgefangen werden.

Keynes wandte sich mit Verve gegen die klassische Verheißung des Marktgleichgewichts; der Normalfall seien vielmehr Ungleichgewichte auf den Geld-, Güter- und Arbeitsmärkten. Dass es auf lange Sicht so etwas wie ein Gleichgewicht geben könnte, sei ja denkbar, so Keynes, aber »auf lange Sicht sind wir alle tot«. Ökonomen würden es sich zu leicht machen, wenn sie im Sturm nur zu sagen wüssten, der Ozean würde sich auf lange Sicht schon wieder beruhigen.5

Keynes war sich wohl bewusst, dass das Hauptproblem seiner new economics nicht die Darlegung des Neuen, sondern die Überwindung des Alten sein würde. Er begründete eine neue politische Ökonomie, in welcher der Staat Verantwortung für die Stabilisierung der Gesamtnachfrage und der Beschäftigung übernehmen sollte; damit wies er einen Weg aus der Depression. Aber die herrschenden Kreise in Großbritannien wollten (noch) keine politische Ökonomie, sondern an den althergebrachten Grundsätzen staatlicher Abstinenz festhalten. Die herrschenden Kreise in den USA betrieben zwar ansatzweise eine Politik der Nachfragestimulierung (New Deal, siehe Glossar), aber nur halbherzig und mit schlechtem Gewissen ob der daraus folgenden Haushaltsdefizite (was, wie wir heute wissen, nicht ganz unbegründet war und ist). Die herrschenden Kreise in Deutschland praktizierten das Programm des deficit spending (siehe Glossar) eifrig und systematisch – nur leider in übler Absicht und mit katastrophalen Folgen.

Die Grundgedanken seiner Theorie, so Keynes, seien »extrem einfach« (GT, S. viii), auch wenn er zugibt, dass diese einfachen Gedanken manchmal etwas umständlich ausgedrückt sind. Was ist das Ziel und worin bestehen die zentralen Ideen seiner Theorie?

Das eigentliche Ziel seiner Untersuchung sei es, »herauszufinden, wodurch das Beschäftigungsvolumen bestimmt wird« (GT, S. 89). Keynes untersucht das Zusammenspiel von gesamtwirtschaftlichem Angebot und gesamtwirtschaftlicher Nachfrage als Bestimmungsfaktor von Produktion und Beschäftigung. Er verwirft das Saysche Theorem (siehe Glossar) der klassischen Theorie, das einfach unterstellt, Angebot und Nachfrage stimmten immer überein. Keynes hält das makroökonomische Ungleichgewicht für den Normalfall. Bei der Konstellation Gesamtnachfrage < Gesamtangebot liegt eine deflationäre Situation vor, die mit Krise und Arbeitslosigkeit verbunden ist. Bei Gesamtnachfrage > Gesamtangebot boomt die Wirtschaft, es kommt zu Inflation und Geldentwertung. Beide Situationen sind unerwünscht und müssen korrigiert werden. Wenn man nicht darauf vertrauen kann, dass die Gesamtnachfrage durch eine invisible hand (siehe Glossar) auf dem Niveau des potentiellen Angebots gehalten wird, dann benötigt man dafür eine sichtbare Hand, also den Staat. Mit dem Instrument der Staatsausgaben soll die öffentliche Hand Nachfragesteuerung betreiben (siehe Glossar) und so die Konjunkturschwankungen minimieren. Dies würde es erlauben, über ein hohes Nachfrageniveau auch einen hohen Beschäftigungsstand zu sichern.

Die bestechende Einfachheit dieser Konstruktion ist ein wichtiger Grund für die Attraktivität der darauf basierenden wirtschaftspolitischen Empfehlungen: Hier kann man einfache Antworten auf komplizierte Fragen finden – Konzepte, die sogar für Politiker verständlich und jedenfalls dort attraktiv sind, wo es um expansive Finanzpolitik geht (bei der restriktiven Variante hapert es bereits).

Tatsächlich aber ist die General Theory kein einfaches Buch und die Argumentation alles andere als schlicht. Keynes hat es nicht als Lehrbuch geschrieben, sondern für seine »fellow economists«. Er wollte die Zunft der Ökonomen davon überzeugen, dass die traditionelle Wirtschaftstheorie auf falschen Annahmen beruht und deswegen nicht in der Lage sei, das zentrale Problem der dreißiger Jahre – anhaltende Massenarbeitslosigkeit – zu erklären, geschweige denn zu lösen. Er warf der Klassik vor, ihre Annahmen seien zu speziell (nämlich gültig nur im Sonderfall der Vollbeschäftigung), während eine ›allgemeine‹ Theorie in der Lage sein müsse, auch den Fall der Unterbeschäftigung wie überhaupt zyklische Schwankungen des Wirtschaftsprozesses zu erklären. Und genau dies war Keynes’ Ziel: eine ›General Theory‹ zu entwickeln.

Die wichtigste Wirkung der General Theory kann man darin sehen, dass sie die Wahrnehmung des Wirtschaftsgeschehens nachhaltig verändert hat. Keynes räumte mit der Vorstellung auf, der Markt führe automatisch zu Gleichgewicht und Vollbeschäftigung. Die bittere Erfahrung der Weltwirtschaftskrise verlieh seiner Position Nachdruck. Die General Theory lieferte die Erklärung, warum der Markt versagen konnte und warum eine irregeleitete Politik die Depression noch verschärfte. Gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge und die Bestimmungsgrößen von Produktion, Wachstum und Beschäftigung ließen sich nun in den Begriffen der Kreislaufanalyse verstehen. Der Wirtschaftsprozess wurde nicht länger als naturwüchsig und unbeeinflussbar angesehen, sondern als ein Geschehen, das sich wirtschaftspolitisch steuern ließ.

Weil er Staatsinterventionen und eine aktivere Rolle des Staates forderte, ist Keynes von verschiedenen Seiten als Linker und gar als Sozialist gescholten worden. Im Kern war Keynes jedoch ein Liberaler6, der vor allem an der Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit interessiert war (nicht zuletzt deswegen, weil er darin eine Gefahr für den Bestand der freiheitlichen Gesellschaft sah). Aus seinen Überlegungen leitete er die Notwendigkeit ab, dem Staat mehr Verantwortung für die Wirtschaft zu übertragen – nicht aus Begeisterung für den Staat als Akteur, sondern faute de mieux. Keynes war ein Liberaler, der dazugelernt hatte; im Falle von Depression und Massenarbeitslosigkeit wollte er sich nicht damit begnügen, die Hände in den Schoß zu legen und mit Thomas Jefferson zu sagen: »Die beste Regierung ist jene, die am wenigsten regiert.«

Der Keynes’sche Grundgedanke, dass Beschäftigung und Konjunktur auf das Zusammenspiel von Produktionspotential und Gesamtnachfrage zurückzuführen sind, ist heute allgemein akzeptiert. Worüber die Zunft der Ökonomen und Wirtschaftspolitiker streitet ist hingegen, wie ein annäherndes Gleichgewicht am besten erreicht werden kann. Neoliberale vertrauen hierbei (wieder) auf die Selbststeuerungsfähigkeit des Marktes und schreiben verbleibende Mängel dem Politikversagen zu, Keynesianer halten den Markt (immer noch) für instabil, diagnostizieren Marktversagen und setzen auf wirtschaftspolitische Stabilisierung.

Für die Klassiker ist das Gleichgewicht der Normalfall eines prinzipiell effizient funktionierenden Marktmechanismus; Abweichungen vom Gleichgewicht in der Form von Arbeitslosigkeit und Inflation sind in dieser Sichtweise bedingt durch Fehlverhalten von Staat und Tarifvertragsparteien sowie durch Mängel der staatlichen Regulierung. Für Keynesianer besteht dagegen der Normalfall in Abweichungen vom Gleichgewicht und in der marktbedingten Selbstverstärkung von Fehlentwicklungen; aus ihrer Sicht ist der Marktmechanismus prinzipiell mangelhaft.7Daraus leiten sie die Notwendigkeit konjunkturpolitischer Interventionen zur Stabilisierung des Wirtschaftssystems ab.

Die Auseinandersetzung über Gleichgewicht versus Instabilität, über laissez-faire versus Intervention ist für Keynes immer auch eine Debatte über den Kapitalismus selbst. Wie ist dieses System zu bewerten und was ist von ihm zu erwarten? Sowohl vor als auch nach der Weltwirtschaftskrise hielt Keynes den Kapitalismus für das effizienteste Wirtschaftssystem – sofern »wisely managed« (Laissez-faire, S. 294). Er forderte zwar eine »Sozialisierung« der Investitionen, das heißt die staatliche Gewährleistung eines ausreichend hohen Investitionsniveaus; von einer Sozialisierung der Produktionsmittel hielt er jedoch nichts. In einer Rede im House of Lords vom 18 12. 1945. sagte er: Was wir aus praktischen Erfahrungen und aus der modernen Wirtschaftstheorie gelernt haben, sollten wir nutzen, »nicht um Adam Smiths Einsichten zu bekämpfen, sondern um sie umzusetzen«. Daraus lässt sich schwerlich ein verkappter Sozialist schnitzen.

Was Keynes allerdings Bauchschmerzen bereitete, war die fragwürdige normative Basis des marktkapitalistischen Systems, insbesondere Egoismus und Habgier als Triebfedern der Wirtschaftssubjekte. Welche tiefe Befriedigung hat es nicht so manchem Autor verschafft, die »money-making passion« (GT, S. 374) oder die »money-loving instincts« (Laissez-faire, S. 293), die »auri sacra fames«8(Marx) oder den »Mammonismus« (Max Weber 1968, S. 371) empört zu missbilligen. Solch feinsinniges Naserümpfen war damals – und ist heute – obligat in Kreisen sowohl des asketischen Protestantismus als auch der intellektuellen Bourgeoisie. Was Keynes allerdings nicht davon abhielt, durch Börsenspekulationen sein persönliches Vermögen – aber auch das seines Colleges in Cambridge und das mancher seiner Freunde – zu vervielfachen (nachdem er zwischendurch zweimal fast bankrott gegangen wäre).

Etwas schematisch formuliert sah Keynes ein Dilemma zwischen der kapitalistischen Kombination aus degoutanten Motiven bei hoher Effizienz und der sozialistischen Kombination aus schönen Motiven bei kläglicher Ineffizienz. Dieses Dilemma löste er aus pragmatischen Erwägungen zugunsten eines »klug gesteuerten Kapitalismus« auf.

Keynes war humanistisch gebildet, hatte Marx gelesen und pflegte Umgang mit Künstlerinnen und Künstlern. Dafür bezahlt man einen Preis. Leute mit diesem Hintergrund tendieren dazu, das Ökonomische und seine Motive im Grunde ihres Herzens für ethisch anstößig zu halten: »Sie rümpfen die Nase über das Profitmotiv« (Schumpeter 1946, S. 67). Bei Keynes kam hinzu (Scherf 1989, S. 287), dass er im versnobten Bloomsbury-Kreis unter Rechtfertigungsdruck stand als einer, der im »moralisch minderwertigen politisch-ökonomischen Konkurrenzkampf« Erfolge aufzuweisen hatte.

Anderthalb Jahrhunderte vor Keynes hatte der Moralphilosoph Adam Smith eine andere, möglicherweise aufgeklärtere Position vertreten: Smith akzeptierte Eigeninteresse und Gewinnstreben als Motivationen wirtschaftlichen Verhaltens aus der Überlegung heraus, dass individuelle Nutzenmaximierung – durch das Wirken des Marktmechanismus als invisible hand – häufig auch den Wohlstand der ganzen Nation fördere. Ja, Smith misstraute offen den guten Absichten: »Viel Brauchbares habe ich nicht gesehen von denen, die vorgaben, im öffentlichen Interesse zu handeln« (Wealth IV.2.9.). Mit Kant wäre zu ergänzen: Die »Reinigkeit der Absicht« entbehrt noch des moralischen Werts.

Keynes war bürgerlich-liberal in dem Sinne, dass er großen Wert auf die individuelle Freiheit legte: In einem eventuellen Klassenkampf, so schrieb er 1925, stehe er auf der Seite des »gebildeten Bürgertums« (Liberal, S. 349). Idealist aber war er insoweit, als er den richtigen Motiven wirtschaftlichen Handelns eine hohe Bedeutung beimaß. Dem Gemeinsinn als Antrieb menschlichen Tuns brachte er größte Wertschätzung entgegen und bewunderte den Altruismus – im Unterschied zum ethisch anstößigen Egoismus markt- und profitorientierten Handelns.

Dass jedoch Gemeinsinn nicht schnurstracks zum Gemeinwohl führt, sondern umgekehrt meist im ökonomischen Stumpfsinn des nur gut Gemeinten endet, zeigt der (zugegeben grobe) Vergleich zwischen der Apotheose des Gemeinsinns: der sozialistischen Staatswirtschaft, und dem Hort der Egozentrik: der kapitalistischen Marktwirtschaft. Sozialisten mögen hehre Ziele verfolgen; die Wirkung ist Misswirtschaft, Stagnation und Ruin. Kapitalisten mögen niedrige Ziele verfolgen; die Wirkung ist Akkumulation, Wachstum, Modernisierung (und im Übrigen auch ein Wohlstandsniveau, das Raum für gute Werke lässt).9Diese Einsicht zu akzeptieren setzt allerdings mehr Nüchternheit und Distanz gegenüber dem menschlichen Zusammenleben voraus als Keynes aufzubringen bereit war10. In gewissem Sinne liebte er die Menschen und wollte das Gute; daran gemessen war ihm das kapitalistische System »in vielerlei Hinsicht extrem fragwürdig« (Laissez-Faire, S. 294).

Schon in den zwanziger Jahren klang bei Keynes eine untergründig skeptische Einschätzung der längerfristigen Perspektiven des Kapitalismus durch. Keynes sah in der antagonistischen Beziehung zwischen den Klassen – Kapitalisten und Arbeiter – ein destabilisierendes Element; dem Streben der Kapitalisten nach maximaler Akkumulation misstraute er gründlich. Das System beruhe auf einem »Bluff«, nämlich darauf, eine ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung notwendig erscheinen zu lassen zur Sicherung der Kapitalakkumulation (Consequences, S. 22 f.).

Wohl gesteht Keynes zu, dass es in der Vergangenheit nie zu der außergewöhnlichen Sachkapitalbildung gekommen wäre ohne das Zwangssparen der arbeitenden Klasse und ohne das asketische Akkumulationssparen der besitzenden Klasse. Aber er mutmaßt, dass der »Bluff« nicht mehr lange funktionieren und dass deswegen die Akkumulation an ihr Ende kommen werde.

Es hat etwas Frappierendes, wenn große Ökonomen die Kapitalakkumulation verächtlich machen und über eine Bourgeoisie herziehen, »die unablässig Kuchen gebacken hat, um sie nicht zu essen« (Schumpeter 1946, S. 55). »Akkumuliert, akkumuliert!«, so konnte sich schon Marx ereifern, »das ist Moses und die Propheten!«11(MEW 23, S. 621) Und ähnlich auch Keynes: »die Vergrößerung des Kuchens« sei jetzt zum »Ziel der wahren Religion« avanciert (Consequences, S. 20). Ökonomen könnten aber wissen, dass die Massen dem Elend nur entkommen, wenn Kapital angehäuft wird; gleichwohl bemäkeln sie die Akkumulation, weil davon nicht nur die Armen, sondern auch die Reichen profitieren – und das meist überproportional. Wäre es aber so viel tugendhafter, möchte man fragen, nicht zu akkumulieren? War das Einkommensniveau der Werktätigen zu Zeiten von Marx oder Keynes so üppig, dass man auf Akkumulation großzügiger Weise hätte verzichten sollen? Wohl kaum. Die einzige Rechtfertigung für die Kapitalistenklasse besteht genau darin, dass sie akkumuliert, Reichtum also zu verwerten weiß. Nehmt ihnen die Akkumulation, und sie werden ablassen vom »Backen der Kuchen, die sie nicht essen«.

Welchen Nutzen bringt es, sich heute – in Zeiten der Globalisierung und eines allenthalben vorherrschenden Neoliberalismus12– mit Keynes’schen Fragen der Regulierung des Kapitalismus und der staatlichen Verantwortung für das Wirtschaftsgeschehen zu befassen? Hat Keynes uns im 21. Jahrhundert, unter ganz veränderten ökonomischen, politischen und weltwirtschaftlichen Bedingungen, noch etwas zu sagen?

Der Nutzen der Keynes-Lektüre liegt darin, dass man bei ihm lernen kann, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und in den Kategorien der »politischen Ökonomie« zu denken. Keynes formuliert für die Ökonomik einen Anspruch auf gesellschaftliche und politische Relevanz. Nach einer Periode des Selbstlaufs und fortschreitender Depolitisierung des Wirtschaftlichen scheint es geboten, für die Politik den Anspruch auf die Kommandohöhen erneut geltend zu machen – auch und gerade in Zeiten der Globalisierung und der wirtschaftlichen Krisen.

Für diese zweite Auflage ist in Kapitel 4 eine knappe Darstellung der ›Keynes-Renaissance‹ in den aktuellen Finanzmarkt-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen eingefügt. Die scharf geführte Debatte zwischen den (eher keynesianischen) Anhängern erhöhter Staatsausgaben zur Stützung von Konjunktur und Wachstum und den (eher marktliberalen) Anhängern eines strikten Konsolidierungskurses für die öffentlichen Haushalte zeigt einerseits die ungebrochene Aktualität von Keynes, verweist aber andererseits auch darauf, dass der Konflikt zwischen diesen konträren Ansätzen nicht ökonomisch geklärt werden kann, sondern politisch entschieden werden muss.

In einer hinreißenden Analyse der General Theory hat Schumpeter (1946) darauf hingewiesen, dass die Emotionalität, die Keynes häufig entgegen gebracht wird (große Begeisterung einerseits und vehemente Ablehnung andererseits), auf die politische »Botschaft« seines Ansatzes zurückzuführen sei. Dies lasse sich bei Autoren beobachten, so Schumpeter, bei denen nicht nur der »kalte Stahl der Analyse« zu spüren ist, sondern auch noch die Glut erahnt werden kann, in der dieser Stahl geformt wurde. Die bei Keynes zeitlebens spürbare Glut wurde wohl letztlich genährt von seinem tief verwurzelten Wunschtraum, dass eine zivilisierte Form des Wirtschaftens möglich sein müsse – zumindest doch eine Wirtschaftsweise, in der Massenarbeitslosigkeit und Depression überwunden wären.13Ein Abglanz dieser Glut wärmt noch heute viele, die sich mit Keynes befassen. Denn darin besteht das Unbehagen, das (uns) Ökonomen und Ökonominnen alleweil zu schaffen macht: »Unsere Sympathie und unser fachliches Urteil tendieren oft in unterschiedliche Richtungen« (Laissez-faire, S. 294).

2 Keynes’ »neue Wirtschaftstheorie«

Die General Theory ist

»wahrscheinlich das meistzitierte

ökonomische Werk unseres

[des 20.] Jahrhunderts«.

(Felderer/Homburg 1991, S. 98)

2.1 Von der Klassik zur »New Economics«

Die hartnäckige Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise (ab 1929) markiert den Bankrott der klassischen Wirtschaftstheorie. Vor diesem Hintergrund entwickelt Keynes eine neue »allgemeine« Theorie mit dem Ziel, Depression und Arbeitslosigkeit zu erklären – und zu überwinden. Er schafft damit die Basis für eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik des Staates.

Als Keynes daran ging, seine »neue Wirtschaftstheorie« auszuarbeiten, hatte er eine klare Vorstellung, was dabei herauskommen sollte – nämlich die theoretisch fundierte Anleitung für eine wirkungsvolle Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Seit 1929 wütete in den USA und in Europa die Weltwirtschaftskrise: Depression und Massenarbeitslosigkeit verdüsterten das wirtschaftliche und gesellschaftliche Klima. Keynes war nicht bereit, dieses Elend und diesen Widersinn untätig hinzunehmen. Er wollte die Wirtschaftswissenschaft in ein Instrument umformen, das sich zur Überwindung der Krise einsetzen ließ.

Was war die Wirtschaftstheorie vor Keynes? Eine Schön-Wetter-Theorie, geprägt vom Dogma des allgemeinen Gleichgewichts als natürlichem Zustand der Wirtschaft. Die Grundannahmen der Klassik – Wettbewerb und flexible Preise auf allen Märkten – garantierten die »beste aller möglichen Welten« (Robinson 1973, S. 41): eine Wirtschaft im Vollbeschäftigungsgleichgewicht. Auf den Arbeitsmärkten sollten flexible Lohnsätze, auf den Kapitalmärkten flexible Zinssätze und auf den Gütermärkten flexible Güterpreise für die Abstimmung von Angebot und Nachfrage sorgen. Die Möglichkeit einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit war damit eigentlich ausgeschlossen.

Wenn sich die Wirklichkeit aber nicht an die Theorie hält, wenn trotz der Gleichgewichtsverheißung eine Weltwirtschaftskrise hereinbricht mit jahrelang anhaltender Massenarbeitslosigkeit – was dann? Dann ist die alte Orthodoxie gescheitert und hat in der Tat »nur noch Schrottwert« (Dornbusch 1999, S. 12). Dann wird eine new economics benötigt – eine Theorie der Depression und der Abweichungen vom Vollbeschäftigungsgleichgewicht.

Hier wird die Parallele zu heute erkennbar: Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 ff., die von manchen Beobachtern als »Great Recession« bezeichnet wird, ist die Entwicklung in vielen Ländern von Stagnation und hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet.

Keynes verband mit seiner neuen Wirtschaftstheorie einen wirtschaftspolitischen Anspruch: Sie sollte nutzbar sein für die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Krise. Dazu entwickelte er zwei Konzepte, nämlich die effektive gesamtwirtschaftliche Nachfrage als Bestimmungsgröße von Produktion und Beschäftigung sowie die Liquiditätspräferenz als Bestimmungsgröße des Zinses. Diese Liquiditätspräferenz prägt die Geldnachfrage, und die Geldnachfrage bestimmt zusammen mit dem Geldangebot (der von der Zentralbank bereit gestellten Geldmenge) den Zinssatz. Dessen Bedeutung liegt darin, dass er die Investitionsneigung beeinflusst. Wesentlich war für Keynes, dass die beiden genannten Konzepte an das wirtschaftspolitische Handeln angeschlossen werden können: Die Gesamtnachfrage lässt sich von der Regierung durch Haushaltspolitik steuern und das Zinsniveau von der Zentralbank durch Geldpolitik.

Die Wahl dieser Kernelemente in Keynes’ Theorie war also interessegeleitet: »Unsere eigentliche Aufgabe könnte darin bestehen, in dem Wirtschaftssystem, in dem wir tatsächlich leben, jene Variablen zu bestimmen, die durch die Zentralregierung zielgerichtet gesteuert werden können« (GT, S. 247).

Bereits vor dem Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 an der New Yorker Wall Street war es in den USA zu einem deutlichen Rückgang der Industrieproduktion gekommen. Die Aktienkurse waren bis Ende 1929 um ein Drittel und bis Mitte 1932 auf ein Sechstel ihres Ausgangsniveaus gesunken. Im Kern war die Weltwirtschaftskrise eine Bankenkrise, in deren Verlauf das Kartenhaus der Kreditbeziehungen zusammenbrach, das sich während der »Goldenen Zwanziger Jahre« zwischen Banken, Unternehmen und Staaten aufgetürmt hatte. Auch hier ist die Parallele zur jüngsten Krise auffällig: Auslöser war auch hier der Zusammenbruch eines Kartenhauses von Krediten auf dem US-Hypothekenmarkt.