Judasjunge - Simon Raven - E-Book

Judasjunge E-Book

Simon Raven

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Beschreibung

Der Romanautor Fielding Gray wird 1962 von der BBC beauftragt, in der Sendereihe "Heute ist Geschichte" ein ungeschöntes Bild der Unabhängigwerdung Zyperns zu zeigen. Einst als Berufssoldat dort stationiert, ist Gray seit einem Bombenanschlag fürs Leben gezeichnet, der seiner Offizierskarriere damals ein jähes Ende gesetzt hat. Kaum hat Gray mit der Recherche begonnen, ereignen sich mysteriöse Unfälle, die ihn offenbar von seiner Mission abbringen sollen. Und kurz bevor er in Athen einen legendären Guerillaführer interviewen kann, wirft ihn die Begegnung mit einem jungen Mann aus der Bahn, die ihn noch auf andere Weise in die Vergangenheit entführt — in die schuldhaften Verstrickungen einer fatalen Liebesgeschichte in seiner Jugend. Vom Leben versehrt, stürzt Gray sich in den Ruinen der Antike in ein unverhofftes Glück, in dem für kurze Zeit das Gestern einem hoffnungsfrohen Heute weicht und die Rollen zwischen Opfer und Täter noch nicht verteilt scheinen. Im sechsten Band seiner Romanreihe "Almosen fürs Vergessen" verfolgt Simon Raven (1927–2001) die Geschichte eines Glücksuchenden zwischen vertuschten Verbrechen, skrupellosen Agenten und kulturpolitischen Machtinteressen — und führt ein weiteres Mal vor, dass man mit dem Lachen der Furien nicht nur in der Antike zu rechnen hat.

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Inhalt
Titelseite
Impressum
Anmerkung
Teil 1
Teil 2
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Simon Raven

Judasjunge

Roman

Aus dem Englischen übersetzt

von Sabine Franke

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1968unter dem Titel

»The Judas Boy« bei Anthony Blond, London.

Band 6 des Romanzyklus »Almosen fürs Vergessen«

Copyright ©Simon Raven, 1998

First published as part of »Alms for Oblivion«:

Volume 2 by Vintage, an imprint of Vintage.

Vintage is part of the Penguin Random House

group of companies.

© 2022 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96160-044-1 (E-Book)

ISBN 978-3-96160-014-4 (Druckausgabe)

ANMERKUNG DES AUTORS

In diesem Roman heißt es über bestimmte Figuren, sie seien bei der British Broadcasting Corporation angestellt. Weder diese Figuren noch ihre erwähnten beruflichen Tätigkeiten haben irgendetwas mit tatsächlich existierenden Personen oder Tätigkeiten bei der BBC zu tun; das gilt für die BBC in ihrer heutigen Form wie auch dafür, wie sie in der Vergangenheit organisiert war. Meines Wissens gibt es bei der echten BBC einen Head of Features Group (Programmchef), einen Head of Science and Features (Programmleiter Wissenschaft und Dokumentationen) und einen Head of Arts Features (Programmleiter Kunst und Kultur), aber keiner davon hat auch nur im Entferntesten etwas mit meinem »Programmdirektor« (»Director of Features«) gemein, dessen Figur, Berufsbezeichnung und Aufgabengebiet ich frei erfunden habe. Ebenso ist »Miss Enid Jackson« aus der »Verwaltung« eine reine Erfindung.

S. R. (1968)

Teil I

DIE INSEL DER LIEBE

In der Falle, dachte er: Aus dem Waggon gibt es kein Entkommen, und hier drin lauert der sichere Tod. Denk nach! Dir bleiben dreißig Sekunden (mit etwas Glück), in denen muss dir was einfallen.

Aber wie konnte er sich einem Feind widersetzen, der unsicht­bar war, nicht greifbar? Eine Schachfigur kann keine Gegenwehr leisten, weil sie in einer Situation gefangen ist, die von einer mentalen Instanz auf einer übergeordneten Ebene erdacht wurde. Nichts außer dieser Instanz kann etwas an der Lage ändern; und so war es auch jetzt, in dieser Situation, in der er gefangen war. Sie war von mathematischer Klarheit, konnte als klassischer Syllogismus dargestellt werden: Hierzubleiben heißt zu sterben; aber es ist nicht möglich, nicht hierzubleiben; daher ist es nicht möglich, nicht zu sterben.

Keine Zeit vergeuden, Mann! Denk nach! Anders als eine Figur auf einem Schachbrett bist du zumindest imstande, in einem gewissen Rahmen zu handeln. Zumindest kannst du dich auf dem Feld, auf dem du in der Falle sitzt, eigenmächtig bewegen. Dein Feld ist dieser Eisenbahnzug, oder vielmehr dieser Waggon. Beweg dich, weiche dem Feind aus. Aber wohin? Den Gang entlang. Da lauert der Feind ebenfalls. Dann geh wieder zurück. Was auch immer du tust: Nicht stillstehen! Denn das ist es, was der Feind, die übergeordnete Instanz, von dir will – dass du verharrst, es hinnimmst, die Konstellation wie beim Schachspiel akzeptierst. Die Konstellation … die Regeln. Die bedrohliche Lage existiert nur innerhalb dieses Rahmens, du sitzt nur dann in der Falle, wenn du die Regeln für unantastbar hältst. Halt dich nicht an die Regeln, und du bist frei.

Denn sieh doch, der Feind hat eines vergessen, und obwohl er überall ist, hat er auf die besonderen Umstände hier keinen Einfluss, jetzt jedenfalls nicht. Das hier ist nicht einfach nur irgendein Zugwaggon, es ist ein Schlafwagen. Kapiert?

Das wird nie funktionieren!

Es ist deine einzige Chance, Mann. Deine dreißig Sekunden zum Nachdenken sind um. Noch mal dreißig Sekunden, und du bist erledigt. Deine letzte Chance. LOS!

1

ENTSENDUNG

»Ich habe nur ein Auge«, sagte Fielding Gray, »und ein Gesicht wie ein gegrillter Hummer. Wenn ich in deiner Fernsehsendung auftrete, kriegen überall im Land die alten Frauen und Kinder Zustände.«

»Niemand hat gesagt, dass du darin erscheinen sollst«, sagte Tom Llewyllyn. »Weißt du denn überhaupt, worum meine Sendereihe sich drehen soll?«

»Nein. Ums Fernsehen kümmere ich mich nicht. In But­tock’s Hotel gibt es Gott sei Dank keinen Fernsehapparat.«

»Mich überrascht, dass du immer noch dort wohnst. Wo sich die Dinge für dich inzwischen doch langsam ganz gut machen.«

»Tessie Buttock war von Anfang an sehr nett zu mir«, sagte Fielding Gray, »und ich hasse Veränderungen. Im Buttock’s ändert sich nie was. Selbst der Dreckpegel bleibt immer gleich: Wird nicht mehr, wird nicht weniger.«

Tom Llewyllyn strich sich mit einer Hand durch das lange, lockige Haar. Es war, wie Fielding bemerkte, entsetzlich schuppig. Warum achtete seine Frau Patricia nicht mehr auf sein Äußeres? Seine Schuhe waren verdreckt, der Hemdkragen bog sich nach oben wie eine alte Scheibe Melba-Toast, und seine Fingernägel sahen einfach grässlich aus.

»Aber auch wenn’s dir im Buttock’s so gut gefällt«, sagte Tom, »hättest du vielleicht trotzdem Lust auf eine nette kleine Reise? Einen vorübergehenden Tapetenwechsel?«

Eines der drei Telefone auf seinem Schreibtisch klingelte schrill.

»Llewyllyn«, sagte Tom in den Hörer, »›Heute ist Geschichte‹?«

Während Tom sich geduldig das monologische Gequassel am anderen Ende anhörte, stand Fielding von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster hinüber, von dem aus er das White-City-Stadion aus der Vogelperspektive sah. Wie passend, dachte er bei sich, dass die Rennbahn für die Windhundrennen fast direkt neben dem Television Centre, dem Sendegebäude der BBC, lag. Beide Einrichtungen gehörten eindeutig derselben Welt an – einer Welt, mit der er, das sagte er sich jetzt, nichts zu schaffen haben wollte. Er war Schriftsteller und schrieb ernstzunehmende Romane, wohingegen das Fernsehen – wie hieß es doch gleich so schauderhaft? – ein populäres Medium war. Eher ungenau über die Funktion seines Freundes bei der BBC informiert (Tom war kaum länger als eine Woche dort), war Fielding, als es hieß, er solle einmal vorbeischauen, davon ausgegangen, dass das Gespräch sich wohl um eine mögliche Verfilmung eines seiner Romane drehen würde. Doch nun sah es so aus, als wäre Toms neue Stelle in dieser Hochburg der Albträume die eines Produzenten von etwas namens »Heute ist Geschichte«, und was auch immer sich dahinter verbergen mochte, mit Prosaliteratur würde es wohl kaum etwas zu tun haben. Wenn Tom also seine Hilfe bei der Ausstrahlung von Halbwahrheiten für die Halbgebildeten haben wollte, tja, dann musste er sich anderswo umsehen.

»Ich habe ihn gerade hier«, sagte Tom jetzt ins Telefon. »Ich werd’s ihm sagen.« Er legte den Hörer auf. »Das«, sagte er zu Fielding, »war der Programmdirektor. Er hält hohe Stücke auf dich und er hofft, wie ich, dass du etwas zu ›Heute ist Geschichte‹ beisteuern kannst.«

»Wie das Umschreiben aller hässlichen Komponenten, damit eure minderbemittelten Hörer nicht verstört werden?«

»Zuschauer heißen die bei uns. Warum bist du so bissig, Fielding?«

»Dieses Gebäude, dieses Büro, diese Telefone. Das ist nicht mein Stil, Tom, und ich hätte nicht gedacht, dass es deiner wäre.«

»Jetzt pass mal auf. Die haben mir hier carte blanche gegeben für das Ausarbeiten von sechs Sendungen, alle eine Stunde lang, über jedweden Aspekt der jüngsten Geschichte, den ich mir aussuche, unzensiert und ohne dass mir jemand reinredet. Sag nicht, das wäre nicht attraktiv!«

»Du bist Buchautor, weit mehr, du bist ein Gelehrter. Keiner dieser kulturellen Wunderwuzzis.«

»Wir leben im Jahr 1962, Fielding. All das hier, das geht nicht mehr weg. Es ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen.«

»Komm mir doch nicht mit solchen Floskeln, Tom! Die kannst du dir für deine Sendung aufheben.«

Tom klappte die Kinnlade ein wenig herunter, und er musste kurz blinzeln. Warum ist Fielding so garstig zu mir?, dachte er. Ist ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen? Aber so erfolgreich ist er ja gar nicht. Macht ihm vielleicht sein Gesicht gerade zu schaffen, sein armes, ruiniertes Gesicht?

Sehr beherrscht sagte er: »In meiner Sendung wird es keine Floskeln geben. Ich habe ein großes Budget und ich kann mir die besten Autoren leisten. Autoren wie dich.« Lob, dachte er. Schriftsteller – zumindest manche – werden vielleicht bei Geld nicht schwach, aber selbst die Unkompromittierbarsten unter ihnen werden ihre Seele verkaufen, wenn man sie lobt. »Mit deinem letzten Roman«, fuhr Tom fort, »hast du dir einen ganz neuen Rang erworben. Die ersten beiden waren passabel, mehr nicht, aber ›Vom Unernst der Liebe‹ … als Studie über Verrat … ist wirklich beeindruckend.«

»Das will ich aber auch hoffen. Es ist alles wirklich passiert, und ich war der Verräter.«

»Ja, ja, das weiß ich ja«, sagte Tom beschwichtigend. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass der Roman, einfach nur für sich genommen, ein sehr gutes Buch ist.«

»Mir ist allerdings nicht begreiflich, wie du aus meinem Roman darauf schließt, dass ich etwas zu deiner Sendereihe beitragen könnte.«

»Er beweist endgültig und bar jeden Zweifels, dass du schrei­ben kannst«, sagte Tom. »Und mir schwebt eine andere wahre Geschichte vor, bei der du ebenfalls über besondere Einblicke verfügst.«

»Und was soll das sein?«

»Zypern. Du warst dort stationiert, als du noch bei der Armee warst.«

»Ist es das, was du mit einem Tapetenwechsel gemeint hast? Diesen Drecksort will ich nie wieder sehen, Tom! Die Zyprer, zumindest die Griechen unter ihnen – die sind der Abschaum der Erde.«

»Na, wenn das mal keine Floskeln sind?«

»Die haben mir das hier angetan«, stieß Fielding hervor und zeigte auf seinen verzerrten Mund und das mit transplantierter, hellrot leuchtender Haut bedeckte Gesicht. »Die haben mir eines meiner Augen genommen und von dem anderen nur ein winziges rotes Ding übriggelassen, wie ein Schweine-auge!«

Eines der drei Telefone klingelte. Tom nahm den falschen Hörer auf, stutzte, packte willkürlich den eines anderen – und hatte Glück.

»Was ich vollkommen vergessen habe, lieber Herr Kollege«, sagte der Programmdirektor (dieses Mal windelweich und entwaffnend, nicht in seinem üblichen aggressiven Gequake), »weshalb ich eigentlich vorhin angerufen hatte. Ist bloß eine Sache am Rande, zum prinzipiellen Vorgehen. Sie sollten besser gleich darüber Bescheid wissen, solange Sie noch in der Planungsphase sind.«

»Ich dachte, man wollte mich mit all so was in Ruhe lassen«, sagte Tom, während Fielding sich erneut ans Fenster verdrückte.

»Lässt man Sie ja auch, lieber Kollege. Wir schätzen Sie sehr für Ihre intellektuelle Unbestechlichkeit. Allerdings wären wir dennoch äußerst dankbar … wenn Sie einfach nur im Hinterkopf behalten könnten … dass Sie, falls Sie eine Sendung machen über … ähm … Leute, die nicht weiß sind … noch junge, aufstrebende Nationen und derlei Dinge … dass es dann schön wäre, wenn Sie es vermeiden könnten, irgendwas Hässliches zu sagen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Für junge, aufstrebende Nationen und derlei Dinge habe ich große Sympathien«, sagte Tom.

»Zweifellos haben Sie das«, die windelweiche Stimme nahm wieder den üblichen quäkigen Ton an, »aber im Lichte der Tatsachen lassen sie sich nicht immer so wohlwollend betrachten.«

»In solchen Fällen«, sagte Tom energisch, »muss man seine Sympathien eben einschränken.«

»Oder«, hoffnungsvoll, »die Tatsachen?«

»Sie können Tatsachen nicht einschränken. Sie können sie lediglich nachweisen. Oder feststellen.«

»Man kann sie auch den jeweiligen Umständen entsprechend beurteilen«, quakte der Direktor. »Ihre intellektuelle Unbestechlichkeit verpflichtet Sie sogar dazu.«

»Wenn Sie noch ein Mal ›intellektuelle Unbestechlichkeit‹ sagen«, sagte Tom, »dann verlasse ich auf der Stelle das Gebäude, und Sie sehen mich nie wieder!«

Und darüber wäre ich noch nicht mal unglücklich, dachte er, als er den Hörer auflegte und zum Fenster, auf Fieldings verdrießlich hochgezogene Schultern schaute. Was Fielding angeht, befand er, warum soll ich mich mit ihm noch aufhalten? Habe ich nicht auch so schon genug Sorgen? Ich habe mir diese Sendereihe zur Aufgabe gemacht, weil ich nun doch das Gefühl habe, dass ich versuchen sollte, der breiten Öffentlichkeit etwas zu vermitteln, was jeden Einzelnen von uns entscheidend betrifft – die Art und Weise, wie in jeder Minute Geschichte geschrieben wird, direkt vor unserer Nase. Ich möchte den Leuten von diesem lebendigen Prozess erzählen und ihnen dann eindrückliche wahre Beispiele vorstellen, wie der Prozess abläuft; vor allem auch, um zu zeigen, wie ungeheuer wenig menschliche Bestrebungen und Konzepte letztlich ausrichten, und wie viel mehr dagegen von nichts anderem als der Zeit und dem Zufall abhängt, unter deren Einfluss wir alle stehen. Das wird als Botschaft schwierig zu übermitteln sein, und man wird das nicht gerne hören, weil es allen Vorstellungen einer Gesellschaft zuwiderläuft, die es für selbstverständlich hält, dass in dieser Welt der Mensch König ist. Obwohl ich überzeugter Sozialist bin und mich dem Fortschritt und der Verbesserung der Menschheit (soweit das möglich ist) verschrieben habe, werde ich doch eine pessimistische Weltsicht vermitteln, die im besten Fall unwillig aufgenommen werden wird und als deren einzige Rechtfertigung gelten muss, dass sie wahr ist. Die Wahrheit zu vermitteln ist schwer, selbst wenn einem carte blanche erteilt wurde; und es gibt ja schon erste Anzeichen, dass diese Zusicherung nicht gänzlich ernst gemeint war … denn wann immer die Leute anfangen, sich über jemandes »intellektuelle Unbestechlichkeit« zu äußern, muss man den Lügendetektor anwerfen. Angesichts all dessen und noch der ein oder anderen weiteren Sorge, dachte Tom, wäre ich tatsächlich nicht unglücklich, diesen Turm zu Babel hinter mir zu lassen und ohne Umschweife wieder zum Bücherschreiben zurückzukehren. Da ich mich nun aber, zumindest zeitweilig, darauf eingelassen habe, hier auszuharren und mein Bestes zu geben, ist eines, was ich tun kann, um mir das Leben nicht noch schwerer zu machen, nicht einen so anstrengenden und reaktionären Schwarzmaler wie Fielding Gray mit einem Auftrag zu versehen. Es gibt schließlich jede Menge andere, die sich nur zu gerne einbinden lassen würden.

Das sagte sich Tom Llewyllyn insgeheim und reckte dem eigensinnigen Rücken am Fenster dann energisch sein Kinn entgegen. Aber noch im selben Augenblick wusste er schon, dass er an Fielding festhalten würde, und zwar aus zweierlei Gründen: Zum einen war Fielding einer der wenigen fähigen jungen Autoren in England, die der alles andere als populären These, die Tom übermitteln wollte, Verständnis und Sympathie entgegenbringen würden. Und zum anderen war Fielding ein alter Freund, der ganz bestimmt das Geld gebrauchen konnte. Mit dem Verkauf seiner Romane konnte er kaum, das wusste Tom, viel verdienen, obwohl diese bei der Kritik ein Erfolg waren, und auch wenn er zusätzlich Buchbesprechungen schrieb, bekam er dafür doch nur Kleckerbeträge. Es stand nicht zu befürchten, dass Fielding nicht genug zu essen haben oder schlimm in Bedrängnis kommen könnte, aber er war jetzt seit drei Jahren in London und hatte nie länger als ein paar Tage am Stück wegfahren können, und um gesund zu bleiben und weiterhin gut zu schreiben, benötigte er frischen Wind.

Und demnach:

»Finanziell ist es sehr attraktiv«, sagte Tom zu dem Rücken am Fenster.

»Nichts kann für mich noch ›sehr attraktiv‹ sein, nach dem, was mir auf Zypern zugestoßen ist«, sagte Fielding, ohne sich umzudrehen.

»Es könnte sogar sein«, sagte Tom matt, »dass du dich vielleicht ein wenig revanchieren kannst.«

»Wie das? Indem ich mit Bomben um mich werfe, wie die damals?«

»Das ist jetzt vorbei. Es herrscht Frieden. Waffenruhe zumindest.«

»Genau wie damals, als sie mir das angetan haben. Ein von beiden Seiten anerkannter Waffenstillstand für zwei Stunden, damit die Toten eingesammelt werden konnten. Und mittendrin … Ich sage dir, diese Leute dort sind Abschaum.«

»Dann zeig’s ihnen, indem du es beweist. Deshalb möchte ich, dass du dorthin fährst. Fürs Erste sind die Unruhen beigelegt, aber es wird nicht dabei bleiben, weil Kräfte am Werk sind, die noch nicht so recht unter Kontrolle gebracht wurden. Es handelt sich nur um eine vorübergehende Ruhepause, weil die griechischen Zyprioten weiterhin etwas im Schilde führen – etwas sehr Unangenehmes, wie es aussieht. Wenn du der Welt beweisen kannst – und ich meine beweisen, Fielding –, dass sie nicht die aufrechten Freiheitsliebenden sind, wie es die liberale Legende gerne will, sondern bloß ein Pack grausamer und verräterischer Dreckshunde, dann wirst du dich zumindest ein bisschen revanchiert haben.«

»Wahrscheinlich ist aber eher, dass man mir dort auch noch das andere Auge wegbombt«, sagte Fielding, noch immer ohne sich umzudrehen.

Es klopfte an der Tür, die dann auch gleich geöffnet wurde, noch bevor die Aufforderung zum Eintreten hätte ausgesprochen werden können, und zwar von einer hageren jungen Frau in einer schlabbrigen Strickjacke, die ein gequältes Gesicht aufgesetzt hatte.

»Miss Enid Jackson«, sagte sie, »aus der Verwaltung.«

»Ja, Miss Jackson?«

»Sie wissen, warum ich hier bin.«

»Ich fürchte nein.«

»Doch, Sie wissen es! Sozialversicherungsausweis. Ich habe Sie schon mehrmals angerufen. Jetzt, wo Sie hier arbeiten, brauchen wir Ihre Sozialversicherungskarte.«

»Ach ja, ich weiß«, sagte Tom. »Ich kleb’ die Marken selbst auf das Ding, bei mir daheim.«

»Sie scheinen nur sehr ungenaue und rudimentäre Vorstellungen vom Sozialversicherungswesen zu haben, Mr. Llewyllyn. Es ist Ihr Arbeitgeber, der dafür verantwortlich ist, die Mark…«

»Und ich habe Ihnen eben schon gesagt, dass ich das selbst übernehme.«

»Das können Sie gar nicht«, sagte Miss Jackson zimperlich und nicht ohne Häme. »Ich muss schon sagen, wenn alle so wenig Ahnung hätten, wie das mit den Sozialleistungen gehandhabt wird, wie das offenbar bei Ihnen der Fall ist, dann …«

»Hören Sie mir mal zu, Zuckerschnute«, sagte Tom, hinter seinem Tisch hervorkommend und sich vor Enid Jackson aufbauend. »Ich bin mein ganzes Leben schon ein überzeugter Sozialist und brauche von Ihnen keine Nachhilfe zum Thema Sozialleistungen. Aber ich habe bisher immer als Selbständiger gearbeitet, und wenn ich jemals eine dieser albernen Karten besessen haben sollte, ist sie ganz sicher verloren gegangen. Seien Sie also so gut, meine Liebe, und treiben Sie mir flugs eine neue auf.«

»Tja, so einfach geht das leider nicht. Entweder Sie legen mir eine Karte vor, die vollständig alle Marken bis zweiundzwanzigsten März enthält, also bis zu dem Tag, an dem Sie hier im Haus angefangen haben, oder aber Sie müssen mir eine ausführliche Erklärung abliefern, warum ebendiese nicht verfügbar ist.«

»Sollen Sie bekommen, meine Liebe, entweder das eine oder das andere. Versprochen. Aber nicht jetzt … wenn ich bitten darf.«

»Wie Sie wollen. Ich sollte aber wohl erwähnen, dass Ihr hiesiges Arbeitsverhältnis offiziell keinen Bestand hat, solange die regulären Anforderungen nicht ausreichend erfüllt sind. Ich wünsche noch eine guten Morgen … Mr. Llewyllyn.«

Tom ging zu seinem Schreibtisch zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Große Schuppenfetzen regneten herab, wie die Asche eines Lagerfeuers.

»Hilf mir, Fielding«, sagte Tom mit jämmerlicher Stimme. »Das ist alles so seltsam hier. Ich wollte nie hierher, und ich finde, hier ist es schrecklich. Hilf mir. Versag mir nicht deinen Beistand, jetzt, wo ich dich darum gebeten habe.«

Nun endlich wandte Fielding sich vom Fenster ab und lächelte sein groteskes Lächeln.

»Wenn du mich so fragst, mein Freund«, sagte er, »nach Miss Enid Jackson kann ich eigentlich gar nicht mehr nein sagen.«

»Und wann soll’s losgehen, mein Bester?«, fragte Tessie Buttock am selben Abend in Buttock’s Hotel.

»In zwei oder drei Tagen«, sagte Fielding. »Tom hat’s sehr eilig damit. Ich verstehe nur nicht, was ich dort für ihn ent­decken soll. Die Unruhen auf Zypern sind vorüber. Die haben ihre Unabhängigkeit, und so sollte es mit allem dort nun ein Ende haben.«

»Wir haben doch aber noch Soldaten dort?«

»Nur an speziell ausgehandelten Militärstützpunkten an der Südküste – für die wir ihnen enorme Pachtbeträge bezahlen. Die können sie kaum zum Anlass für neuen Ärger nehmen.«

»Vertrau dem liederlichen alten Tom. Er hat einen guten Riecher dafür, wenn irgendwo was faul ist.« Sie packte Albert Edward, den Hotelhund, der eben dabei war, frustriert das Sofa zu bepinkeln, und bugsierte ihn auf ihren Schoß. »Duutzi-butzi«, schnarrte sie ihn an, »Butzilein, weißt du noch, der liederliche alte Tom? Mit dem Geld hat er’s nicht so genau genommen«, sagte sie zu Fielding, »aber wenn er was gemacht hat, dann immer, weil es ’nen sehr guten Grund dafür gab. Er muss einen Grund haben, dich da hinzuschicken, und den hat er dir doch auch sicher verraten.«

»Ja«, sagte Fielding und dachte an das, was Tom ihm gesagt hatte, nachdem Enid Jackson abgerauscht war. »Aber der überzeugt mich nicht.«

»Trotzdem, erzähl doch mal, Herzchen. Albert Edward braucht Ablenkung, damit er nicht die ganze Zeit an seine olle Blase denken muss.«

»Na ja, erst hat er ein wenig in die Vergangenheit zurückgeblickt. Er sagte, Oberst Grivas hätte damals deshalb die terroristischen Aktionen geplant – Bomben auf Zivilisten und so was –, weil er in einer offenen Konfrontation keine Chancen sah. Er hatte einfach nicht die Waffen und die Leute dafür. Dennoch sei Grivas ein tapferer Mann, meinte Tom, der sich im Krieg Verdienste erworben hätte und dem es widerstrebt haben muss, zu so schmutzigen Methoden zu greifen. Seinem Wesen und Werdegang nach sei er Soldat und kein Attentäter.«

»Auf den Fotos in den Zeitungen sah der immer wie ein elender Giftzwerg aus.«

»Und war trotzdem ein Kämpfer – wie die Deutschen in den vierziger Jahren feststellen mussten. Toms Theorie ist daher, dass er eigentlich gar nicht auf terroristische Methoden setzen wollte – oder jedenfalls nicht gegen unbewaffnete Zivilisten –, sondern am Ende dazu überredet wurde.«

»Ich will gegen Tom ja nichts sagen«, sagte Tessie, »aber wenn du mich fragst, muss man diesem Grivas bloß mal ins Gesicht schauen auf den Fotos, und dann hat man die Erklärung. Den würden wir nicht hier im Hotel wohnen lassen, oder, Wutzelbutzel?«

»Ich bin ganz deiner Meinung, Tessie. Aber wenn Tom recht haben sollte – und er hat bei solchen Dingen schon öfter recht behalten –, dann stellt uns das vor eine interessante Frage.«

»Du meinst, wer den miesen Scheißkerl überredet hat?«

»Genau. Und von wem wurde der geschickt, damit er ihn überredet?«

»Russland!«, sagte Tessie, für die alles Böse einzig und allein einen Ursprung hatte: »Die verfluchten Roten, die uns aus unserem Empire raushaben wollen.«

»Die Roten sind nicht die Einzigen, die uns aus unserem Empire raushaben wollen, Tessie. Aber das mal nur am Rande. Wer auch immer Grivas (nach Toms Theorie) überredet hat, könnte weiterhin dort sein und sich gerade anschicken, noch ein paar andere Leute zu etwas zu überreden. Es gibt eine Menge junger Zyprioten, die bei der Sache letzthin Blut geleckt haben, und wenn junge Männer einmal Blut geleckt haben, haben sie keine Lust mehr, wieder zu ihrem früheren Dasein als Bauern zurückzukehren – oder als Zuhälter, was auf Zypern die einzige Alternative ist. Die haben also nicht viel anderes zu tun, als die Messer wieder zu wetzen und eifrig jedem hinterherzurennen, der für Unruhe sorgen will.

»Wie die Russen«, sagte Tessie unbeirrt.

»Was die Russen angeht«, sagte Fielding, »müssen wir mal sehen. Ich glaube jedenfalls immer noch, dass das alles bloß ein Hirngespinst von Tom ist.«

»Das ist dann also das letzte Mal«, sagte die pummelige, gutherzige Maisie in ihrer Wohnung am Shepherd Market, »bevor du auf deine Reise gehst?«

»Fürchte ja, Maisie«, sagte Fielding. »Lass es uns schön langsam machen, zum dran Erinnern.«

»Du bist doch der, der’s immer so eilig hat, mein Hase. Kannst es ja mal mit der Neunzehner-Reihe versuchen. Das soll angeblich helfen, es zurückzuhalten.«

»Neunzehn … achtunddreißig … siebenundfünfzig … Tut mir leid, Maisie, das bringt nichts …«

»Nicht schlimm, Schätzchen. Das eine Mal bekommst du aufs Haus. Komm erst mal wieder zu Atem, und dann schaust du dir diese Bilder hier an, und wir können es noch mal machen, wenn du so weit bist.«

»Kommt denn nicht gleich jemand anderer?«

»Erst in einer Stunde oder so. Und ich will dir eigentlich noch was sagen, mein Herz. Du kommst jetzt ja schon … wie lange … her?«

»Drei Jahre.«

»Also sind wir doch alte Freunde, und jetzt, wo du für ein Weilchen weggehst, möchte ich dir was mit auf den Weg geben.«

Maisie watschelte ungeniert zu ihrem Schrank hinüber und kam mit einer Piccoloflasche Sekt und zwei Gläsern zurück.

»Der geht auch aufs Haus«, sagte sie, »ausnahmsweise. Also, erzähl mal, Fielding Gray: Diese Sache auf Zypern – ist das gefährlich?«

Immer wenn Maisie ihn »Fielding« oder »Fielding Gray« statt etwa »Schätzchen« oder »mein Herz« nannte, wusste er, dass gleich etwas Ungewöhnliches kam. Er legte also die Fotos beiseite und wandte seine gesamte Aufmerksamkeit Maisie zu.

»Gefährlich?«, sagte er. »Warum fragst du denn so was? Ich dachte, du wolltest mir was sagen.«

Maisie kratzte sich an ihrem nackten Po und ließ sich dann mit selbigem voran neben Fielding aufs Bett plumpsen.

»Gefährlich oder nicht«, sagte sie »du gehst nach Zypern, um dort herumzuschnüffeln. Was heißt, dass du’s mit einem bestimmten Typ Mensch zu tun bekommst. Sind doch immer dieselben, wenn’s drum geht, etwas unter den Teppich zu kehren oder wieder aufzuwirbeln, und ich kenne solche Leute, weil vor ein paar Jahren viele von denen hier ein und aus gegangen sind, als meine Wohnung als Poststelle für die Gaunereien von Salvadori gedient hat. Und was ich dabei gelernt habe, Fielding Gray, war Folgendes: Diese Leute sind Gift, aber sie können dir nicht viel anhaben, wenn du dich an eine einzige Regel hältst, und die werde ich dir jetzt mit auf den Weg geben.«

Sie hielt inne, nahm einen großen Schluck Sekt und spielte kurz an seinem Haar herum.

»Eine Regel, Maisie? Nur eine einzige?«

»Eine einzige. Gib ihnen kein bisschen von deinem wahren Ich preis.

»Als würde ich das jemals tun.« Bei sich dachte er: Was für ein klägliches Mäuslein der kreißende Berg da hervorgebracht hat.

»Tust du, mein Schatz, und zwar die ganze Zeit. Wir alle tun es, wenn wir uns nicht in Acht nehmen. Selbst wenn du bloß mit jemandem ins Restaurant gehst, wissen die nach einer Stunde, was du gerne isst und trinkst – etwas über dein wahres Ich. Ist vielleicht nichts Wichtiges, aber doch etwas. Ich weiß viel Wichtigeres von dir: Wie du bist, wenn du … das hier machst.« Sie vollzog sanft ein, zwei Handgriffe. »Mir kannst du vertrauen, aber Leute wie die würden es sofort ausnutzen, wenn sie Bescheid wüssten. Und es gibt ja noch viel wichtigere Dinge – die, die hier drin sind.« Sie legte ihre patschigen Hände auf das Herz in ihrer Brust. »Wenn du sie wissen lässt, was du hier drin hast, Fielding Gray, dann haben sie dich beim Wickel.«

»Aber wieso sollte ich jemandem etwas von mir preisgeben?«

»Weil sich immer etwas zeigt, ohne dass wir es bemerken … vor Leuten, von denen wir denken, wir könnten ihnen trauen. Und kaum dass man sich’s versieht, fliegt es einem schon um die Ohren, verfolgt einen wie ein verdammter Bumerang und säbelt einem die Birne weg. Du passt also bitte gut auf, Fielding Gray, dass das, was du hier drin hast«, sie fuhr mit ihrem Fingernagel einmal um seine linke Brustwarze, »schön da drinnen bewahrt bleibt. Versprochen?«

»Versprochen. Ich danke dir, Maisie.«

»So ist’s brav. Und jetzt runter mit dem Schampus, und dann schaust du dir die netten Bildchen an, und schwupps, schon wirst du denken, du wärst das Albert Memorial.«

Gregory Stern, der sowohl Fieldings als auch Toms Verleger war, brachte seine Frau Isobel, die jüngere Schwester von Toms Frau Patricia, mit zur Victoria Station, um Fielding dort zu verabschieden.

»Ich kann nur eines sagen«, sagte Stern, »nämlich dass das hier ein Fehler ist. Du hast dich von Tom zu diesem Quatsch breitschlagen lassen, statt, was vernünftig wäre, zu Hause zu bleiben und an deinem nächsten Roman für mich zu schreiben.«

»Jetzt sei nicht so ein langweiliger alter Jude!«, sagte Isobel. »Du bist bloß neidisch, weil Tom ihm so viel mehr bezahlt, als du ihm zahlen kannst.«

»In Zypern umherstreunen«, grummelte Stern, »und sich fühlen, als wäre man Paddy Leigh Fermor. Du bist alt genug, es besser zu wissen.«

»Es ist ja nur für kurze Zeit«, sagte Fielding, eifrig bemüht, Stern zu beruhigen, der sich in den letzten drei Jahren als großzügiger Verleger und zudem als treuer Freund erwiesen hatte.

»Nur für kurze Zeit, sagt er.« Gregory Stern verdrehte seine Augen zum Dach hoch und fuhr einmal fummelnd mit den Fingern die Knopfleiste seines Mantels hinauf und hinab, als würde er darauf einen Beschwerdebrief tippen. »Nur für kurze Zeit. Far wos forst dann mit Aisnban, mit wos du brauchst drei Teg bis Athen, anschtot mitn Aeroplan, mit wos es dauert nur drei Stund?«

Seit er Isobel geheiratet hatte, neigte Stern, bis dahin Etonia­ner bis aufs i-Tüpfelchen, mehr und mehr dazu, jiddische Einsprengsel in seine Rede einzustreuen. Er tat dies nach Fieldings Dafürhalten, um seine Frau zu ärgern, damit sie auf ihm herumhackte, denn Gregory hatte eine masochistische Ader (das sagten alle) und genoss es, wenn man ihn piesackte.

»Nur zu!«, sagte Isobel nun, Gregory ihren riesigen Busen vor die Brust schiebend und dabei von einem dürren Bein aufs andere hüpfend. »Immer schön die Nase in anderer Leute Dinge stecken. Warum sollte er nicht mit der Eisenbahn fahren, wenn er es gerne möchte?«

»Ich mag Züge eben einfach«, sagte Fielding zu Gregory. »Und wenn ihr beide mich jetzt entschuldigen wollt, ich muss, glaube ich, so langsam in den hier einsteigen.«

»Nicht so eilig, mein Lieber. Ich habe noch etwas für dich.«

Unbemerkt von Isobel, die nun damit beschäftigt war, einen Seemann zu beäugen, nahm Gregory Fielding beiseite.

»Das soll dir Glück bringen«, sagte Gregory. Er zog eine zylindrische Metallkapsel hervor, knapp drei Zentimeter lang, einen halben im Durchmesser, und pfriemelte aus einem der beiden Enden eine winzige Schriftrolle heraus. »Wir nennen das eine Mesusa«, erklärte er. »Auf der einen Seite steht ein Text, auf der anderen der Gottesname Schaddai. Solch ein Behältnis mit dem Pergament darin muss am Türpfosten des Hauses, in dem man wohnt, angebracht werden. Aber wenn man auf Reisen geht, wieso sollte man dann nicht eine Mesusa mitnehmen?«

Er steckte die Schriftrolle wieder hinein und händigte Fielding die kleine Kapsel aus.

»Vielen Dank, Gregory«, sagte Fielding gerührt. »Aber war­um meinst du, dass ich Glück brauchen werde?«

»Brauchen wir das nicht alle, mein Lieber?«

»Ja, schon. Aber bei dir klang das eben nach etwas Besonderem.«

»Du bist jemand Besonderer für mich, Fielding Gray. Ich möchte, dass du heil wiederkommst und noch mehr Romane für mich schreibst.«

»Dieser Seemann da«, sagte Isobel, »ist ein warmer Bruder. Der registriert mich überhaupt nicht.«

»Oooch, er registriert dich überhaupt nicht. Mog er nischt kejn diken Buzem und kejn moger Fiß«, sagte Gregory. Und dann zu Fielding: »Aber warum bloß nimmst du den Zug? Eisenbahnfahrten sind heutzutage doch derartig langweilig. Niemand nimmt noch den Zug, und darum gibt es auch keine Madonnen im Schlafcoupéoder ähnlich vergnüglichen Dinge mehr.«

»Ganz genau. Ich werde drei Tage vollkommen ungestört sein. Niemand, wirklich gar niemand kann zu mir vordringen oder mich anrufen oder etwas bei mir anmahnen oder Forderungen stellen. Ich werde wie in einem wandernden Mutterleib abgeschottet sein, jedweden Schuldgefühlen und jeglicher Verantwortung enthoben.«

»Ich wünschte, ich könnte mitkommen«, sagte Isobel, »und eine Madonna im Schlafcoupé sein.«

Weiter unten auf dem Bahnsteig wurde versehentlich eine Tür zugeschlagen, und eine Gruppe Amerikaner verfiel kreischend in Panik. Aus ihrer Mitte stach mit einem Mal ein Gesicht heraus: ein Gesicht wie das einer Kasperlpuppe, mit einem Kinn, das so stark nach oben gebogen war, dass es fast die Spitze einer langen, gekrümmten Nase berührte, und darüber Brillengläser, die aus fast fünfzig Metern Entfernung doch direkt in Fieldings Augen zu blinken schienen. Dieses Gesicht hab ich schon mal gesehen, dachte er. Der Mann kennt mich, und ich kenne ihn. Nicht nur das: Er beobachtet mich. Wer? Warum? Wo habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehen?

»Ist alles in Ordnung, mein Lieber?«

»Ja …«

»Dann vergiss nicht, Detterling aufzusuchen, wenn du in Athen bist. Ich habe ihm telegrafiert, und er wird dich erwarten … Hörst du mir überhaupt zu, Fielding? Ich sagte eben, dass Detterling …«

»Ja, ja, ich hab’s gehört. Soll ich ihm irgendetwas ausrichten?«

Jetzt waren die Brillengläser verschwunden. Für einen Moment waren sie da gewesen, hatten ihn direkt angeblitzt. Er hatte kurz seinen Blick abgewendet, nur eine Sekunde lang, um Stern auf seine beharrlichen Fragen zu antworten, und jetzt, wo er wieder hinschaute, waren sie verschwunden. Wo ihr Besitzer gestanden hatte, befanden sich bloß noch zwei kreischende Weiber, die einander in der festen Überzeugung, gleich aufs Hinterhältigste vom Zug zurückgelassen zu werden, fast umrempelten, um noch rechtzeitig durch die Tür zu kommen.

»… und sag Detterling«, sagte Gregory nun, »er soll sich wegen der Memoiren von Kavafis keine Gedanken machen. Ich habe noch keinen Übersetzer gefunden und außerdem dieses Jahr ohnehin schon zu viele Titel von Homos im Programm.«

Mehr Türen schlugen zu, dieses Mal ernsthaft. Fielding ging rückwärts auf den Zug zu. Er bot Isobel nicht die Wange für einen Abschiedskuss, obwohl er sie inzwischen schon länger gut kannte, aber sie schoss zu ihm hin und drückte einen dicken Schmatzer auf seinen kleinen, verzerrten Mund. Gregory verfolgte dies gütigen Blickes und trat dann selbst vor, um Fielding auf die Wange zu küssen.

»Gott behüte dich, mein Lieber. Pass gut auf die Mesusa auf.«

»Aber sicher, Gregory … Was ich beinahe vergessen hätte: Wo ist Detterling denn untergebracht?«

»Im Grande Bretagne. Ich kann dir nur sagen … Der Verlag zahlt, also wohnt er natürlich im Grande Bretagne.«

»Hätte er sonst doch auch gemacht«, sagte Isobel, »du langweiliger, knickeriger alter Jidd!«

Gregory erglühte so sehr vor Vergnügen, dass sein knallrotes Gesicht wie eine Signallampe noch deutlich erkennbar auf dem Bahnsteig leuchtete, bis es in der ersten Kurve außer Sicht geriet.

2

EN ROUTE

Der Mann mit der Brille gab sich in München zu erkennen.

Fielding hatte ihn auf der Fähre von Dover nach Ostende nicht mehr zu Gesicht bekommen, auch nicht, als er später im Speisewagen zu Abend aß, oder beim Frühstück am nächsten Morgen. Doch als der Zug aus München hinausfuhr und Fielding auf dem Weg zum Mittagessen den für Athen bestimmten Waggon durchquerte, kam ihm auf dem Gang eine Person entgegen, die das aufwärtsstrebende Kinn vorgereckt hielt und deren Brillengläser wie Morselampen aufblitzten.

»Zu Ihnen wollte ich gerade«, sagte der Mann, »und Ihnen vorschlagen, mit mir zusammen einen Happen zu essen.«

Der Mann hob eine Hand, um sich das spärliche Haar über seiner hohen, bleichen Stirn glattzustreichen, eine präzise und doch leere Geste, die Fieldings Gedächtnis sofort auf die Sprünge half.

»Percival«, sagte er, »Leonard Percival. 1952 in Göttingen. Wessex Fusiliers.«

»Es schmeichelt mir«, sagte Percival, »dass Sie sich so genau an mich erinnern. Als Angehöriger eines bescheidenen Linienregiments ist man ja eigentlich schnell vergessen.«

»Sie waren aber, wie sich herausgestellt hat, gar nicht das, was Sie damals zu sein schienen.«

»Sie aber auch nicht. Wer hätte gedacht, dass aus dem verwöhnten Hauptmann der Earl Hamilton’s Light Dragoons mit dem Schmollmund einmal ein berühmter Romanautor werden würde?«

»Berühmt noch nicht«, sagte Fielding, was trotzdem selbstzufrieden klang.

»Könnte aber noch werden, wenn Sie dranbleiben. Und keine Zeit mit Dingen verschwenden, die Sie nichts angehen«, sagte Percival leichthin und doch unmissverständlich. »Kommen Sie, wir blockieren den Gang.«

Sie gingen zum Speisewagen durch, wo Percival das günstigste Menü zu fünf Mark bestellte und Fielding das teuerste zu fünfzehn, und dazu noch eine Flasche Walporzheimer Spätburgunder aus dem Jahr 1951.