Blast nun zum Rückzug - Simon Raven - E-Book

Blast nun zum Rückzug E-Book

Simon Raven

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Beschreibung

Der Krieg ist aus, und den jungen Engländern liegt, so scheint es, die Welt zu Füßen. Peter Morrison, Sohn eines reichen Landbesitzers, hat sich aus hehren Motiven für eine Offiziersaus­bildung im fernen Bangalore entschieden. In der Indischen Armee will er seinem Land und seinem König für einige Jahre dienen — und etwas von der Welt sehen. Auf dem Truppenschiff "Georgic" trifft er auf zukünftige Kameraden, die es ebenfalls in die legendäre exotische Kolonie zieht. Doch finden sie dort nicht mehr die alten Hierarchien, das lässige Luxusleben und das unbeschwerte Abenteuer vor. Vielmehr kündigt sich überall das Ende der britischen Herrschaft und die Übergabe Indiens an die einheimische muslimische und hinduistische Bevölkerung an. Und so steht Peter und seinen Freunden an der Offiziersschule völlig überraschend ein Inder als Ausbilder gegenüber: der exzentrische und in jeder Hinsicht ungewöhnliche Hauptmann Gilzai Khan. Diesem gelingt es jedoch, die skeptischen Offiziersanwärter für sich zu gewinnen, so dass sie ihm selbst dann noch die Treue halten, als er bei der britischen Regierung in Delhi in Ungnade fällt und die Armee verlassen muss. Als eines Tages die Bahnstation von aufständischen Indern belagert wird und diese Aktion Gilzai Khans Handschrift trägt, steht Peter Morrison vor der schwierigsten Entscheidung seines Lebens. Simon Raven wirft in "Blast nun zum Rückzug" ein eigenwilliges Schlaglicht auf die Kolonial­geschichte und nimmt dabei genüsslich die absurden und unrühmlichen Seiten des Armee­lebens und der britischen Oberschicht in den Blick.

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Inhalt
Titelseite
Impressum
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
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Simon Raven

Blast nun zum Rückzug

Roman

Aus dem Englischen übersetzt

von Sabine Franke

Elfenbein

Die Originalausgabe erschien 1971unter dem Titel

»Sound the Retreat« bei Anthony Blond, London.

Band 2 des Romanzyklus »Almosen fürs Vergessen«

Copyright ©Simon Raven, 1998

First published as part of »Alms for Oblivion«:

Volume II by Vintage, an imprint of Vintage.

Vintage is part of the Penguin Random House

group of companies.

Die Übersetzung dieses Bandes

wurde mit freundlicher Unterstützung der

Brougier-Seisser-Cleve-Werhahn-Stiftung

ermöglicht.

© 2021 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96160-046-5 (E-Book)

ISBN 978-3-96160-016-8 (Druckausgabe)

Teil I

Die Anwärter

Gegen Ende November1945, als die Georgic, ein Truppenschiff Seiner Majestät, sich Port Said näherte, sagte der Truppenkommandeur zum Kapitän:

»Kein Landgang für die Offiziersanwärter, würde ich sagen. Die ziehen sonst nur los und holen sich den Tripper.«

»Oder Schlimmeres«, sagte der Kapitän.

»Genau. Aber ich denke, wir sollten ihnen stattdessen irgendetwas Nettes spendieren. Als Entschädigung.«

»Ich weiß was«, sagte der Kapitän. »Wir lassen einen Zauberkünstler auftreten.«

»Aber einen Zauberkünstler haben wir in Port Said doch immer an Bord.«

»Das brauchen die Offiziersschüler ja aber nicht zu erfahren. Die werden denken, dass es, wie Sie sagten, eine nette Überraschung ist.«

Und so wurde in Port Said der übliche ägyptische Gaukler engagiert, an Bord zu kommen, um den dreihundert Fahnenjunkern die Zeit zu vertreiben. Er tat dies im Gesellschaftsraum der Ersten Klasse, der an dem betreffenden Tag nicht benötigt wurde, da die Offiziere, und somit praktisch alle mit Ausnahme der Anwärter, auf Landgang waren, ungeachtet des Ri­­sikos, dass man sich dabei den Tripper einfangen konnte. Das Ganze sorgte bei den Nachwuchsoffizieren dafür, dass sie, wie der Truppenkommandeur schon vorhergesehen hatte, sich übergangen fühlten undeine Wut im Bauch hatten, so dass sie anfangs keineswegs gewillt waren, einem streng riechenden alten Vagabunden mit seinen infantilen Zaubertricks ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Überall sah man missmutige Gesichter und skeptische Blicke, dauernd putzte jemand sich schnaubend die Nase oder scharrte mit den Füßen.

Der Ägypter, der missmutiges Publikum auf Truppentransportern mit Kurs gen Osten bereits gewohnt war, ließ sich nicht im Geringsten davon beirren, dass seine erste Darbietung – ein Strom farbenprächtiger Stofftücher, den er aus seinen weiten Ärmeln fließen ließ – allenfalls mit Spott quittiert wurde. Er machte einfach weiter mit Punkt zwei seines Programms (einer altbewährten Nummer, bei der er Eier in einen Fez schlug, um dann lebende Küken daraus hervorzuholen), wohl wissend, dass auch dies nur auf Verachtung stoßen würde, was zu jenem Zeitpunkt auch genau das war, was er wollte. Ebenso bei seinem dritten Trick, seinem vierten und seinem fünften – wobei ihm bei Letzterem hemmungsloses Buhen entgegenschlug, was Musik in den Ohren des Magiers war; denn von nun an wusste er, dass er seine Zuschauer genau in die Verfassung versetzt hatte (aufmüpfig und kritisch), die sich für die Illusion, die er ihnen gleich vorgaukeln wollte, als am zuträglichsten erwiesen hatte: ein Kunststück, das die Offiziersanwärter im Gegensatz zum Vorhergegangenen so verblüffen und entzücken würde, dass diese sich mit lächelnden Gesichtern voller Bewunderung und mit einer großzügigen Menge Münzen in den Händen um ihn scharen würden, bevor sie ihn ruhmvoll verabschieden und seiner Wege ziehen lassen würden.

Der Trick, den zu zeigen er sich anschickte, bildete das Glanz­stück seines Repertoires, war aber im Grunde ganz simpel: Er würde einen Mann aus dem Publikum hypnotisieren, ihn dann anweisen, sich in einen Sarg zu legen, welcher daraufhin, mit viel Gewese, vom Zauberer und seinen drei Lehrlingsgehilfen verschlossen, zugenagelt, beschwert und über Bord geworfen werden würde. Nach dem Abwurf des Sarges, seinem Versinken und viel Wehklagen vonseiten der Ägypter würde man das Schiff durchsuchen und nach einiger Zeit feststellen, dass das Opfer aus der Tiefe »wiederauferweckt« worden war, und das üblicherweise in einer halbwegs lächerlichen Pose, zum Beispiel auf einer Kloschüssel hockend. (Was den Sarg anbetraf, so wurde dieser anschließend ohne großen Aufwand von Tauchern wieder zutage gefördert.) Über die Jahre hatte der Zauberer herausgefunden, dass diese Mischung aus derber Komik und dem Makaberen bei britischem Publikum besonders gut ankam, und da der Ablauf bisher immer wie am Schnürchen geklappt hatte, begann er nun ohne das leiseste Zögern mit der Anbahnung seines kunstvollen Tricks.

»Gali, gali, gali«, flötete er, »könnte bitte einer von Ihnen galanten Offizieren hier als Freiwilliger nach vorne kommen?«

Die Laune der Fahnenjunker ließ sich dadurch, dass er vorgab, sie für Offiziere zu halten, nicht heben. Niemand machte Anstalten aufzustehen.

»Gali, gali«, bettelte der alte Scharlatan, nun ziemlich erbarmungswürdig. »Nur ein Gentleman, bitte … bitte!«

Daraufhin erhob sich schließlich Peter Morrison, ein großgewachsener Fahnenjunker mit leicht schlurfendem Gang und einem riesigen runden, begeisterten Gesicht. Tatsächlich langweilte die Vorführung Morrison mehr als die meisten anderen, da er sie nicht nur generell für unpassend hielt, sondern zudem für etwas, das nur geistigen Leichtgewichten gefallen konnte; doch wissend, dass es nun mal dies war, was seine Vorgesetzten ihm zugedacht hatten, fühlte er sich verpflichtet, ein wenig Interesse zu zeigen und seinen Teil dazu beizutragen, dass die Show weiter über die Bühne gehen konnte. Ihm tat außerdem der Zauberkünstler leid, der hier offensichtlich schwer zu kämpfen hatte. Aus all diesen Gründen stand Morrison auf und ging zum Zauberer nach vorne, der ihn mit offenen Armen und einem leisen Salam! empfing – und auf der Stelle damit anfing, ihn zu hypnotisieren.

Da es sich bei Peter Morrison um einen jungen Mann handelte, der mit Intelligenz und eiserner Willensstärke ausgestattet war, wäre Selbiges möglicherweise mit Schwierigkeiten verbunden gewesen. Aber weil er eifrig bemüht war zu helfen und dazu recht neugierig, was nun passieren würde, ließ Morrison es scheinbar mit sich geschehen, in einen tranceartigen Zustand versenkt zu werden (blieb in Wahrheit jedoch im Voll­besitz seiner Fähigkeiten), und es fiel ihm umso leichter mitzuspielen, weil er während des Kriegs einmal in einem Varietétheater in Norwich einem Hypnotiseur dabei zugesehen hatte, wie dieser bei einem seiner Opfer zu Werke gegangen war. Als ihm befohlen wurde, sich in den Sarg zu legen, leistete er dem traurig und würdevoll Folge; und selbst dann noch, als der Deckel über ihm verschlossen wurde (eine Erfahrung, die selbst die heitersten Gemüter verstörend fänden), blieb er weiterhin wie aufgebahrt liegen, wie es seine Rolle erforderte.

Nun folgte zwei volle Minuten lang das Einhämmern von Nägeln, begleitet von Schreckensäußerungen der Neulinge im Publikum, alldieweil der Boden des Sargs nach unten wegklappte, um Morrison mit einem dumpfen, im anhaltenden Getöse zu überhörenden Plumps in dem mit Kissen ausgepolsterten Untergestell abzuladen. Der Sargboden schwang sodann zurück nach oben und rastete mit einem Klicken wieder ein, wie auch die falsche, samtgepolsterte obere Abdeckung der Aufbahrungsvorrichtung, die mit einem ähnlichen Mechanismus versehen war. Zu diesem Zeitpunkt war Morrison ziemlich klar, wie das Ganze ablaufen würde, und er war weiterhin entschlossen, der Sache ihren albernen, aber harmlosen Lauf zu lassen.

Und so wäre zweifellos alles seinen Gang gegangen, hätte es nicht bei einer einzigen Sache eine Abweichung gegeben. Alles lief glatt – der Begräbniszug hinunter zu Deck C, das Versenken des beschwerten Sargs und das Hinausschmuggeln von Peter Morrison aus dem verlassenen Gesellschaftsraum –, bis die entsprechend instruierten Gehilfen Peter Morrison für seine »Auferstehung« zurechtmachen sollten. Weil ihr Meister angeordnet hatte, dass dieses Mal das Opfer in Rückenlage und nackt bis auf die Unterhosen auf einem Speisesaaltisch aufgefunden werden sollte, und sie zudem allen Grund zu der Annahme hatten, dass Morrison sich weiterhin in Trance befand, begannen sie, ihn von Kopf bis Fuß auszuziehen. Auch dagegen hätte Morrison nicht aufbegehrt, denn sie taten dies mit dem gebotenen Respekt, und er war ein gutmütiger Kerl, der mit einem Scherz auf seine Kosten umgehen konnte – hätte er nicht just an jenem Tag aufgrund einer Unachtsamkeit der Bordwäscherei keine Unterhosen getragen. Als die Ägypter also anfingen, ihm die Uniformhosen abzustreifen, protestierte er deutlich hörbar und händefuchtelnd, woraufhin die Lehrlinge, erschreckt von solch plötzlichem Eigenleben bei jemandem, den sie für nicht mehr als eine atmende Leiche gehalten hatten, schreiend und schnatternd Reißaus nahmen auf Deck C, um den zuständigen Hexenmeister zu finden.

Dieser genoss derweil nun doch die Gunst des Publikums. Wie immer hatte der Kontrast zwischen der Schäbigkeit seiner zuerst gezeigten Tricks und dem beeindruckenden Ausmaß dieses letzten seine Zuschauer beträchtlich in Schwung gebracht. Eine geschickt eingesetzte Bauchrednertechnik hatte aus dem sinkenden Sarg einen Schrei entweichen lassen, und es gab sogar einige, die hofften, Peter Morrison wäre tatsächlich, sei es durch die Bösartigkeit oder die Unfähigkeit des Magiers, auf den Grund des Meeres befördert worden. Das war etwas, worüber man in den Briefen nach Hause würde berichten können. Alle waren demnach höchst gespannt, wie es nun weitergehen würde – als die Gehilfen stammelnd auf dem Deck ankamen und sich ihrem Meister zu Füßen warfen.

Als jener begriff, was passiert war, war er verstört. Dass Morrison (nach Auffassung des Magiers) aus der Trance erwacht war, bevor diejenige Person, die ihn in diesen Zustand versetzt hatte, ihn daraus zurückgeholt hatte, war so noch nie vorgekommen und möglicherweise gefährlich. Die Besorgnis und das Unbehagen, die sich auf dem Gesicht des Gauklers zeigten und eindeutig echt waren, teilten sich umgehend auch den Offiziersanwärtern mit … die daraus, ganz richtig, schlossen, dass irgendetwas schiefgelaufen war, und, ganz unrichtig, dass dies nur bedeuten konnte, Morrison sei zu Schaden gekommen – und sie verlangten daraufhin in ganz unterschiedlicher Manier, entsetzt, entrüstet, ängstlich, mitfühlend, mit rassistischem Hass in der Stimme oder genüsslich das Schlimmste erwartend, eine Erklärung. Da er sich unter diesen Umständen mit einer solchen gar kein Gehör hätte verschaffen können, war der Zauberer einigermaßen erleichtert, als Peter selbst nun erschien und ihm mit seinem Auftauchen die Aufgabe abnahm. Doch erwies sich die Erklärung in der dargebotenen Form als nicht geglückt. Denn Peter, voller Bedauern, dass er die Gehilfen bei ihrem Tun gestört hatte, und bestrebt, das Kunststück nicht ohne einen entsprechenden Höhepunkt enden zu lassen, hatte sich mit Meerwasser übergossen, um den Eindruck zu vermitteln, er sei wirklich de profundis zurückgekehrt. Was schön und gut gewesen wäre, wenn die nun im Publikum vorherrschende Stimmung nicht nach etwas anderem verlangt hätte. Denn nachdem die Offiziersschüler gesehen hatten, wie der Zauberer immer nervöser geworden war, waren sie inzwischen davon überzeugt, dass hier irgendetwas ganz gewaltig falsch lief, auch war ihnen noch der grauenvolle Schrei, der aus dem Sarg ertönt war, in Erinnerung, und so gingen sie automatisch davon aus, dass der tropfnasse Peter tatsächlich darin untergegangen war und sich nur durch eigenes Vermögen und eigene Anstrengung gerettet hatte. Dieser lächerliche Gedanke hätte sich natürlich nie länger als ein paar Sekunden halten können; aber bevor diese Sekunden um waren, hatte bereits eine Horde Fahnenjunker, angeführt von Peters Freund Alister Mortleman, den glücklosen Zaubermeister brutal zur Gangway geprügelt und ihn von dort kopfüber in ein herumdümpelndes Bumboot geworfen, das durch den Aufprall wie ein Taschenmesser über ihm zusammenklappte und zehn Sekunden später unterging.

»Also nun«, sagte der Truppenkommandeur. »Mir wurde aufgetragen, eine Untersuchung des gestrigen kleinen Vorkommnisses vorzunehmen. Rühren Sie sich, meine Herren, bitte.«

Der Truppenkommandeur hob den Blick und schaute vorwurfsvoll die zehn eng gedrängt dastehenden Offiziersanwärter an, die sich in seiner Tageskajüte eingefunden hatten, setzte dann sein Monokel ein und begann das vor ihm liegende Papier vorzulesen:

»Vor dem britischen Konsul in Port Said wurde durch Mustapha Duqaq, professioneller Zaubermeister, zu Protokoll gegeben, dass am 25. Tag im November des Jahres 1945, als er sich auf offi­zielle Einladung hin an Bord der Georgic, eines Truppenschiffs Seiner Majestät, im Hafen von Port Said aufhielt, er, Mustapha Duqaq, von einer Gruppe Offiziersanwärter vom Deck des oben genannten Schiffes in ein kleines, sich in seinem eigenen Besitz befindliches Boot hinabgeworfen wurde, das für seine Abfahrt be­reit­stand; dass er selbst dabei körperliche Verletzungen erlitten habe, deren Kosten sich auf 73 Pfund Sterling und 14 Schilling belaufen …«

»Sir«, tönte Alister Mortleman da wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts, »wie will er das denn jetzt schon so genau wissen?«

»Unterbrechen Sie mich nicht!«, sagte der Truppenkommandeur und blinzelte hinter seinem Monokel. »… dass sein Boot, mit einem Gegenwert von 270Pfund Sterling, demoliert wurde und gesunken ist, dass dabei Gegenstände des für seine Berufsausübung erforderlichen Equipments im Wert von 185 Pfund Sterling verloren gingen oder unwiederbringlich beschädigt wurden …«

»Aber Sir, sein ganzes Equipment war im Gesellschaftsraum in der Ersten Klasse …«

»Würden Sie mich bitte nicht unterbrechen, Sir … und dass zwei seiner Helfer, die sich im Boot befanden, ertrunken seien; geschätzter Pro-Kopf-Wert ein Pfund und zehn Schilling. Sie sind angehalten, diese Anschuldigungen unverzüglich zu untersuchen und die für den Angriff Verantwortlichen unter Arrest zu stellen. Anschließend wird umgehend ein Bericht an die Zivil- und die Militärbehörde in Port Said erfolgen, und letztere wird Sie darüber in Kenntnis setzen, wie die Übergabe der Beklagten an die zuständige ägyptische Behörde abzulaufen hat. Ich verbleibe, Sir … da-di, da-da … J. Kershaw, Brigadegeneral, B. M. C., Port Said. Sehen Sie«, sagte der Truppenkommandeur verdrießlich, »wo Ihre kleine Posse hingeführt hat?«

»Aber Sir, das wollten wir nicht, wir …«

»Herrgott noch mal, Mann, Ruhe jetzt! Jedes Mal, wenn Sie den Mund aufmachen, machen Sie alles nur schlimmer. – Schon besser!«, sagte der Truppenkommandeur, als eine beklommene Stille eingetreten war. »Nun, meine Herren, wir werden den Hauptzeugen der Geschehnisse anhören, Feldwebel W. T. Pulcher von der Militärpolizei. Hören Sie ihm gut zu – und unterbrechen Sie ihn nicht!«

»Können wir ihn im Anschluss ins Kreuzverhör nehmen, Sir?«

»Wenn Sie das möchten …«, er lachte unvermittelt in sich hinein. »Stabsfeldwebel, bringen Sie Feldwebel W. T. Pulcher rein.«

»… liiinks, rechts, liiinks, rechts, stillgestanden!«

»Machen Sie Ihre Aussage, Feldwebel Pulcher.«

»Sir ! Am fünfundzwanzigsten November hatte ich zusammen mit dem diensthabenden Wachoffizier die Aufsicht über die Landungsbrücke. Ungefähr um 15.15 Uhr, da gab’s auf einmal lautes Geschrei und mächtigen Rabatz, und eine Gruppe Offiziersanwärter rennt mit etwas daher, das aussieht wie ’n Ballen schmutzige Wäsche, und das haben die direkt an meiner Ohrmuschel vorbei ins Hafenbecken geworfen. Sir !«

»Doch der Wäscheballen war in Wirklichkeit ein Ägypter?«

»Sir.«

»Haben Sie ihn denn nicht erkannt?«

»Nein, Sir. Wohl bloß ein langfingriger Strolch – dachte ich da.«

»Aber Feldwebel! Der Magier kommt jedes Mal an Bord, wenn wir in Port Said vor Anker gehen, und Sie sind seit über einem Jahr auf diesem Schiff. Sie müssten ihn doch inzwischen kennen.«

»Verzeihen Sie, Sir, aber die Kanaken seh’n für mich alle gleich aus.«

»Und was war mit dem Wachoffizier? Hat der ihn nicht er­kannt?«

»Der Wachoffizier, Sir, war grade weg, mal die Schlange ausschütteln.«

»Na dann … Konnten Sie irgendeinen der beteiligten Fahnenjunker erkennen? Zum Beispiel jemanden von denen hier?«

Feldwebel Pulcher musterte die Offiziersanwärter mit höflicher Verachtung, wie ein Kronprinz im Bordell. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte er schließlich, »aber Fahnenjunker seh’n für mich alle gleich aus.«

»Sie können mir also nicht weiterhelfen?«

»Nein, Sir.«

»Und möchte einer der Herren hier noch ein Kreuzverhör vornehmen? Nein? Wegtreten, bitte, Feldwebel Pulcher …«

»Also«, sagte der Truppenkommandeur einige Minuten später, »keiner hat genau gesehen, was passiert ist, und keiner hat das Opfer oder einen der Angreifer erkennen können. Dabei stehen doch die Angreifer, mit vielleicht einer oder zwei Ausnahmen, hier vor mir in der Kajüte. Es muss also doch, wie Sie daraus ableiten können, irgendjemand die Beteiligten erkannt haben. Rätselhaft – denken Sie einmal darüber nach, meine Herren. Einer aus Ihren eigenen Reihen, der Sie verpfiffen hat? Gott bewahre! Ich selbst? Ich war an Land. Einer meiner nächsten Untergebenen? Die waren auch alle an Land – außer natürlich Feldwebel Pulcher. Der eine Frau und fünf Kinder in Wolverhampton hat, meine Herren, und sich vielleicht über ein kleines Zeichen der Anerkennung freut, mit dem Sie zum Ausdruck bringen, wie sehr Sie die Reise genossen haben – wenn wir dann in zwei Wochen in Bombay ankommen.«

Der Truppenkommandeur machte eine Pause, damit das Gesagte seine Wirkung entfalten konnte.

»Und obwohl die Beweislage so unzulänglich ist, meine Her­ren, kann ich Ihnen versichern: Die Sache wäre damit nicht erledigt, wenn wir nicht längst« – er linste durch ein Bullauge – »draußen auf dem Roten Meer wären. Sie wundern sich vielleicht, warum unser Schiff nicht in Port Said oder Sues festgehalten wurde. Die Antwort kann nur sein, dass jemand … irgendwer … da etwas verschleppt hat. Mit dem Ergebnis, dass wir statt einer vollumfänglichen polizeilichen Untersuchung unter persönlicher Mitwirkung des Zauberers lediglich diese Funknachricht auf dem Tisch haben.« Er wedelte mit dem Blatt Papier, aus dem er zuvor vorgelesen hatte. »Kurz gesagt liegt es jetzt an mir.«

Der Truppenkommandeur zündete sich eine Zigarre an und ließ durch sein Monokel ein Funkeln in den Augen erkennen.

»Und da ich nichts herausfinden kann, kann man nichts machen. Keiner kann nach Ägypten zurückgeschickt werden, nicht mal, wenn wir dazu Mittel und Wege hätten. Obwohl ernsthafter Schaden angerichtet wurde, obwohl zwei Ägypter ertrunken sind – und alles nur wegen eines kindischen Ausbruchs von Panik, der für Offiziersanwärter skandalös und ent­würdigend ist – trotz alledem wird man nichts unternehmen. Wissen Sie, warum, meine Herren?«

»Weil«, fing Alister Mortleman an, »es keine Zeugen gibt für …«

»Lieber Himmel, machen Sie doch keinen größeren Narren aus sich, als der liebe Gott Ihnen zugedacht hat!«

Der Truppenkommandeur sog sich die Lunge mit Rauch voll und schickte ihn dann in einem dünnen, fauchenden Strom zu den Offiziersanwärtern.

»Es gibt genau zwei Gründe, meine Herren, warum keinem von Ihnen etwas passieren wird. Der eine ist, dass wir – die Briten – noch immer das Sagen haben. Das wird vielleicht nicht mehr lange so gehen, ganz sicher wird es nicht ewig so bleiben, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist es uns weiterhin möglich, die Angelegenheiten in Häfen wie Port Said und Sues und in Ländern wie Ägypten so zu regeln, wie es uns gefällt.

Und der zweite Grund, warum Sie Schutz genießen, ist, dass Sie, solange Sie sich auf diesem Schiff befinden, meine Männer sind. Dass Sie außerdem auch zukünftige Offiziere sind, macht keinen Unterschied – für einfache Soldaten würde ich genau dasselbe tun. Sie sind meine Männer, meine Aufgabe ist es, Sie sicher nach Bombay zu bringen, und ich werde keinesfalls irgendeinen von Ihnen in Ägypten oder sonst wo zurücklassen. Es ist, könnte man sagen, eine Frage der Ehre – denn die erste und letzte Pflicht, der ein Offizier seinen Untergebenen gegenüber unterliegt, ist, diese niemals, unter gar keinen Umständen, im Stich zu lassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Nachmittag, meine Herren. Mr. Morrison, Sie sind bitte so gut und bleiben noch einen Moment …«

Als die anderen gegangen waren, durfte Peter sich setzen.

»Also nun«, sagte der Truppenkommandeur. »Sie haben bei all dem nicht wirklich etwas falsch gemacht, aber ich möchte Sie dennoch warnen.«

»Ja, Sir?«, sagte Peter, mit sich selbst zufrieden, aber auch ein wenig unwirsch.

»Ja, Sir. Sehen Sie, nachdem Sie einmal einen bestimmten Kurs eingeschlagen hatten – in diesem Fall, dem Zauberkünstler zu helfen, indem Sie so tun, als wären Sie tatsächlich hypnotisiert –, hätten Sie dabei bleiben sollen. Es sei denn, es wäre etwas Schwerwiegendes dazwischengekommen.«

»Es ist etwas dazwischengekommen, Sir. Das habe ich Ihnen ja erzählt. Diese Ägypter wollten mich untenrum entblößen.«

»Aber vollkommen ohne Arg und Tücke.«

»Aber jeder hätte es sehen können.«

»Jetzt benehmen Sie sich nicht wie ein Erstklässler!«, sagte der Truppenkommandeur. »An so was stören sich nur Leute aus einfachen Verhältnissen. Und noch was. Nachdem Sie diese Ägypter verschreckt hatten, meinten Sie sich mit Wasser begießen zu müssen. Warum?«

»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, Sir! Obwohl ich nicht wollte, dass man mich so der Lächerlichkeit preisgibt, war es mir doch wichtig, dass der Trick am Ende aufgeht.«

»Sehr lobenswert. Was Sie dann aber getan haben, Morrison, war Folgendes: Sie haben in eine Situation, über die Sie überhaupt nichts wussten, eine zusätzliche Komponente eingebracht. So etwas ist äußerst gefährlich.«

»Ich wusste eigentlich sogar recht genau, was passieren sollte.«

»Sie wussten aber nicht, was tatsächlich vor sich ging. Sie wussten nicht, dass sich der Zauberer auf dem Deck in einer misslichen Lage befand. Und auch nicht, warum. Und so haben Sie das Eine getan, was die Lage noch verschlimmern musste: Sie haben einen dramatischen Auftritt hingelegt, mit dem Sie die wildesten Spekulationen der Jungs da draußen bestätigt und sie in einen Mob verwandelt haben.«

»Ich hatte nicht im Entferntesten die Absicht …«

»Mein lieber Freund, natürlich hatten Sie das nicht. Es ist nie so gemeint, bei niemandem. Aber all der Ärger hätte sich vermeiden lassen, wenn Sie sich einfach bloß an die alte Regel gehalten hätten: Sich nie einmischen! Darin besteht Ihr Vergehen, Morrison: Sie haben sich eingemischt. Sie haben das Falsche getan, das Katastrophalste überhaupt, aus dem, wie Sie dachten, richtigen Grund. Seien Sie also gewarnt. So was passiert jeden Tag«, sagte der Truppenkommandeur, »und jeden Tag bringt das eine vielversprechende Militärlaufbahn zu einem vorzeitigen Ende.«

»Dieser Truppenkommandeur«, sagte Alister Mortleman, »tritt äußerst gewandt auf.«

»Was man eben einen Mann von Welt nennt«, sagte Barry Strange.

»Verschlagen«, sagte Peter Morrison.

Die drei lehnten über der Reling und betrachteten die fliegenden Fische. Nach einer halben Minute erwies sich dies als eher triste Ablenkung, und nachdem sich Ernüchterung breitgemacht hatte, war diese bald allgemeinem Missmut gewi­chen.

»Er hat einfach seine Position ausgenutzt«, fuhr Peter fort, »um die ganze Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.«

»Soll mir eigentlich nur recht sein«, sagte Mortleman, der groß und stämmig in seinen dschungelgrünen kurzen Hosen dastand.

»Mir auch«, sagte Barry, der wie ein beseelter Vierzehnjähriger am Sporttag wirkte, mit seinem goldblonden Haar und den golden gebräunten Schenkeln.

»Er gibt ein schändliches Beispiel ab«, sagte Peter, dessen Shorts ihm unförmig bis unters Knie hingen. »Wie kann man von Offiziersanwärtern erwarten, dass sie die Inder anständig behandeln, wenn sie sehen, dass ein Vorgesetzter, ein Offizier sich so gegenüber den Ägyptern verhält?«

»Sich wie verhält?«

»Ignoriert, dass sie Wiedergutmachung fordern.«

»Wahrscheinlich dachte er, dass es ohnehin nicht drauf ankommt«, sagte Barry freimütig, »weil die Ägypter so verdorben und widerwärtig sind. Aber Inder sind so viel anständiger, wisst ihr, loyal und sauber – da wollen wir dann von selbst nett zu ihnen sein.«

»Wollen wir das?«, sagte Alister. »›Die Kanaken seh’n für mich alle gleich aus‹«, zitierte er.

»Dieses Wort solltest du nicht benutzen«, sagte Peter gewissenhaft. »Es drückt aus, dass du sie für minderwertig hältst, wie Feldwebel Pulcher oder der Truppenkommandeur es tun.«

»Ich halte sie auch für minderwertig. Und jetzt hör verdammt noch mal auf, den Truppenkommandeur zu bekritteln. Wenn er nicht wäre, würden ich und Barry und die anderen jetzt vielleicht in einem Verlies in Port Said verfaulen.

»Ich sehe das doch richtig«, sagte Barry, »dass die Sache wirk­lich vom Tisch ist? Ich meine, da werden nicht am Ende noch Leute in Bombay auf uns warten, um uns festzunehmen?«

»Du hast doch gehört, was der Gentleman gesagt hat. Sie wüssten gar nicht, wen sie verhaften sollten.«

»Und da bist du dir sicher, Alister?«

»Ich bin mir da ganz sicher, mein kleiner Barry.«

»Wie siehst du das, Peter?«

»Ich finde«, sagte Peter, »dass ihr beide großes Glück gehabt habt …«

»Wir haben es für dich getan, Himmelherrgott!«

»… und dass es jetzt an euch liegt, euch zu bewähren, jetzt, wo ihr eine zweite Chance bekommen habt.«

»Du meine Güte!«, sagte Alister. »Mir wird klar, warum du auf deiner Schule Hauskapitän warst. So was von ernst!«

»Standfest«, sagte Barry und schaute scheu zu Peter rüber.

»Herrisch. So war das an meiner Schule auch. Hast dir alle Jungs angeschaut und die zehn längsten Gesichter rausgesucht, mit so störrisch rausguckenden Zähnen, schon hattest du die zehn Hauskapitäne.«

»Peter hat keine vorstehenden Zähne. Und ein rundes Gesicht.«

»Von Zeit zu Zeit wird es ein bisschen eiförmig. Ihn machen sie ganz bestimmt zum J. U. O. wenn wir Bangalore erreichen.«

»J. U. O.?«

»Junior-Unteroffizier. Ist dem Zugführer gegenüber für das Betragen und die Anwesenheit aller Soldaten im Zug verantwortlich.«

»Wenn das so ist«, sagte Peter, »werde ich wegen meiner Hosen was unternehmen müssen.«

Er fing an, die Säume nach innen einzuschlagen.

»Meint ihr, ich könnte das so machen und sie dann annähen?«

»Mach dir darum keine Gedanken«, sagte Alister. »Wir bekom­men im Durchgangslager in der Nähe von Bombay eine neue Garnitur, und dann noch mal, wenn wir in Bangalore ankommen.«

»Woher weißt du das?«

»Feldwebel Pulcher hat es mir erzählt. Niemand kommt in den Fernen Osten, ohne wenigstens dreimal mit verschiedener Tropenausrüstung ausgestattet worden zu sein. Dhobi-Mann-Gelumpe hat er es genannt.«

»Dhobi-Mann?«

»Indisch für Waschmann.«

»Aber es wird doch sicher«, sagte Barry, der ein aufmerksamer Geist war, »nicht nötig sein, uns im Durchgangslager neu einzukleiden, wenn in Bangalore dann gleich wieder alles ausgewechselt werden soll.«

»Es kann sein, dass wir monatelang im Durchgangslager bleiben«, sagte Alister.

»Unsinn!«, sagte Peter. »Wir sollen am neunten Dezember in Bombay ankommen und sind in Bangalore spätestens für den sechzehnten angekündigt.«

»Nach offizieller Verlautbarung, Peterchen. Aber in Durchgangslagern gehen Leute verschütt. Man vergisst sie dort. Jeden Tag«, sagte Alister, »gehen sie zum Lagerbüro, um sich nach ihrem Verlegungsbefehl zu erkundigen, und der Stabsfeldwebel sagt ihnen, dass noch keiner eingegangen ist, und dann kommt ein neuer Stabsfeldwebel, der sie nicht kennt, und der sagt, dass er sie auf keiner einzigen Liste finden kann, dass sie noch nicht mal bei der Versorgungsstärke mit eingerechnet seien, und folglich könnten sie auch kein Essen und keinen Sold erhalten, und dann taumeln sie einfach so durchs Lager wie Geister, bis sie sich nicht mehr an ihren eigenen Namen erinnern können und entweder sterben oder sich unter die Einheimischen mischen.«

»O nein!«, sagte Barry entsetzt.

»Denen können ja wohl nicht dreihundert Offiziersanwärter abhandenkommen«, sagte Peter beschwichtigend.

»Warum nicht? Der Krieg ist vorbei, und niemand hat wirklich Verwendung für uns. Es würde mich sehr überraschen«, sagte Alister, »wenn wir es überhaupt je bis zum Offizier bringen.«

»Du bist schon zu lang auf diesem Schiff«, sagte Peter. »Du musst mal wieder ordentlich rangenommen werden.«

»Das kannst du laut sagen. Ich war seit einer Woche nicht auf dem Scheißhaus. Herrgott, diese fliegenden Fische sind stink­langweilig«, sagte Alister. »Was Kipling an denen bloß ge­funden hat.«

»Brahmahnen«, verkündete ein dürrer, blasser Major in der Uniform der Madras Rifles, »sind Priester und Gelehrte. Die Farbe der Kaste: Weiß. Kschatrijas sind Herrscher, Adelige und Krieger. Die Farbe der Kaste: Rot.«

Die dreihundert Offiziersanwärter waren im großen Vorlesungssaal des Durchgangslagers in Kalyan, ungefähr vierzig Meilen von Bombay, versammelt. Sie waren bereits zehn Tage dort und hatten zweimal neue Tropenausrüstung ausgehändigt bekommen, doch nun waren beide Zuteilungen wieder eingezogen worden, so dass sie gezwungen waren, die dicken Hemden und Hosen des Feldanzugs zu tragen, in dem sie sechs Wochen zuvor England verlassen hatten. Es wurde ihnen jedoch versichert, dass sie jetzt jeden Tag mit einer neuen Tropenausstattung rechnen durften – dann nämlich, wenn ein Zug bereitgestellt worden sei, um sie Richtung Süden nach Bangalore zu bringen. Hier aber lag das Problem. Der Eisenbahntransportoffizier war nicht befugt, einen Zug anzufordern, bevor nicht der oberste Quartiermeister in Kalyan die Offiziersanwärter mit dem korrekten Drillich �Khaki �von OA während der Verbringung zum Standort zu tragen ausgestattet hatte; und der oberste Quartiermeister war wiederum nicht befugt, Bekleidung an die Offiziersanwärter auszugeben, bevor kein endgültiges Datum für die Zugfahrt feststand. Mit etwas gutem Willen hätten die beiden betreffenden Offiziere diese Schwierigkeit ausräumen können, aber guter Wille war in Kalyan Mangelware, und die Angelegenheit hatte inzwischen den Punkt erreicht, an dem Dauerschach geboten war. Derweil gaben sich die Offiziersanwärter tagelang verschwitzt dem Müßiggang hin und sollten sich nur dann und wann zusammenfinden, um improvisierte Schulungen über das Reich anzuhören, das demnächst in ihre Hände übergehen sollte.

»Die Waischja«, sagte der dürre Major (der sich in Erwartung eines Prozesses vor dem Militärgericht im Arrest befand und somit, all seiner sonstigen Pflichten enthoben, Zeit für diese hatte), »sind die einfachen Leute, Händler und Bauern. Die Farbe der Kaste: Gelb. Die Schudra sind Diener, Sklaven, alles in der Art. Farbe der Kaste: Schwarz.

Außerhalb dieser Gliederung der Hindu-Gesellschaft stehen noch diejenigen, die einem Hindu nicht nahekommen können, ohne diesen zu beschmutzen – die Unberührbaren, Parias oder Ausgestoßenen. Einige von ihnen haben einen so niedrigen Stand, dass sie nicht nur Unberührbare sind, sondern sogar Unsichtbare und nur nach Einbruch der Dunkelheit in Erscheinung treten dürfen.«

Eine lange Pause entstand, in welcher der Major, der befand, das Thema sei nun erschöpfend behandelt, sich eine treffende Wendung auszudenken versuchte, mit der er enden konnte. Bevor ihm dies allerdings gelang, zeigte sein Bewacher, ein rund­licher Hauptmann des Indischen Feldzeugkorps, vorwurfs­voll auf die Uhr im Vorlesungssaal und murmelte etwas von dreißig Minuten, die noch übrig seien. Der Major tat einen tiefen Seufzer, wühlte in seinen schwer strapazierten Gehirnwindungen nach etwas, das er sonst noch sagen konnte, und fuhr dann schnarrend fort:

»Zwischen den Kasten oder Varna gab und gibt es sehr strenge Regeln, ihren Umgang miteinander betreffend. Ein Brah­mane kann einen Schudra um den Preis einer Katze töten. Jedenfalls hat man das mir so beigebracht, als ich selbst noch in der Offiziersausbildung war, es kann aber sein, dass das inzwischen nicht mehr gilt. Wenn umgekehrt ein Schudra einen Brahmanen tötet, wird er auf der Stelle strengstens bestraft – wie genau, weiß ich nicht –, und dazu gilt er dann als jemand, der sich bis in alle Ewigkeit in Verdammnis gebracht hat. All das sorgt auf alle Fälle dafür, dass jedermann weiß, wo er hingehört.«

Der Major ließ ein verzweifeltes Schnauben hören. Er schau­te zum Hauptmann hinüber, der freundlich, aber bestimmt den Kopf schüttelte.

»Wacker weiter, alter Knabe!«, sagte der Hauptmann.

»Entscheidend ist aber«, quälte sich der Major weiter, »dass diese Wallahs hier in Indien das alles so hinnehmen. Die glauben wirklich daran. Für die Leute hier besteht das, was wir ›unser Seelenheil finden‹ nennen, schlicht darin, schön an seinem Platz zu bleiben. Man muss nichts tun, man muss einfach bloß am richtigen Ort ausharren und sich so verhalten, wie es eben so üblich ist. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Händler. Was Sie also machen, ist ein Schildchen aufhängen und C. Hasri, Händler draufschreiben – und sich einfach druntersetzen. Sich so verhalten, wie es eben so üblich ist, verstehen Sie? Den Leuten ist es egal, ob Sie wirklich etwas verkaufen oder nicht. Sitzen Sie einfach schön brav unter Ihrem Schildchen, und Sie werden tonnenweise Punkte für Ihr Seelenheil sammeln, und wenn Sie dann wiedergeboren werden, dann sind Sie auf der Leiter ein Stück weiter oben. Dann sind Sie vielleicht ein Kschatrija, ein Kämpfer. Fairerweise muss man übrigens sagen, dass die Kämpfer die Einzigen sind, die tatsächlich auch tun, was ihre Aufgabe ist. Sie sind sehr gut im Kämpfen, das werden Sie bald sehen.«

Für einen Augenblick schien es, als hätte dieser Gedanke den Major innerlich erbaut, doch dann wurde er finsterer als zuvor.

»Das einzige Problem ist, dass es sie nicht groß kümmert, gegen wen sie kämpfen, denn sie bekommen die Punkte für ihr Seelenheil einfach bloß fürs Kämpfen, verstehen Sie, und es ist ihnen vollkommen gleich, ob sie Japsen mit dem Bajo­nett aufspießen oder die Ehefrau ihres europäischen Sahib skal­pieren. Vorausgesetzt natürlich, es ist das, was ihr Vorgesetzter ihnen vorher befohlen hat, denn Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten bedeutet, dass man den zugewiesenen Platz ausfüllt, und es ist ja nicht dein Bier, drüber nachzudenken, welche Gurgel du da aufschlitzt, wenn man es dir erst mal aufgetragen hat. Und deswegen müssen wir auch so schrecklich aufpassen, welchen Indern wir erlauben, Offiziere zu werden. Es hat natürlich immer schon Offiziere des Vizekönigs gegeben, und gerade fangen wir an, auch Königlich-Indische Offiziere zu benennen, aber die Sache ist furchtbar heikel, weil man bei den Gesellen nie weiß, wo sie am Ende stehen, es sei denn, man behält die Knute selbst in der Hand. Es ist also nicht vorstellbar, dass einer von denen jemals mehr Befehlsgewalt erhalten wird als höchstens auf ganz subalternen Rängen …«

»Stimmt das denn – was der Major da gesagt hat?«, wollte Barry Strange am Abend wissen.

»Es klang vernünftig«, sagte Alister Mortleman, »abgesehen davon, dass er manchmal geklungen hat, als würde er denken, dass noch immer Krieg ist.«

»Ich fand, dass er ziemlich derangiert wirkte«, sagte Peter Morrison. »Er muss demnächst vors Militärgericht, wisst ihr. Hat Gelder abgezweigt, die eigentlich fürs Offizierskasino bestimmt waren.«

Sie spazierten über das zum Ausbildungslager gehörende Rummelplatzgelände. Der Sturzkampfbomber hing ungenutzt und verlassen quer über ihnen am Himmel. Einige einfache junge Soldaten, meist solche, die zur festen Belegschaft gehörten, schlenderten von Bude zu Bude.

»Selbstverständlich«, sagte Peter, »hat er nur über die Hindus gesprochen. Mohammedaner sind ganz anders, wie ich gehört habe.«

Da sie alle bisher weder mit einem Vertreter der einen noch der anderen Bekanntschaft gemacht hatten, verhallte diese Bemerkung unkommentiert.

»Wand des Todes«, Alister zeigt mit dem Finger darauf. »Lasst uns da reingehen!«

Aber der Mischling am Eingang sagte nein, das gehe nicht. Mit dem Motorrad stimme etwas nicht – ob sie in der nächsten Woche wiederkommen könnten? Was immer auch an dem Motorrad kaputt sein mochte, niemand schien große Eile zu haben, es zu reparieren, denn es stand ein paar Meter entfernt da, das Hinterrad in einer Halterung aufgebockt, die Vorderseite Richtung Wand. Auf dem Sitzpolster hatte sich, falsch herum, ein rotgesichtiger, ungepflegter Engländer um die vierzig breitgemacht, der eine dünne, schwarze Zigarre rauchte.

»Tut mir leid, Kumpels!«, sagte er.

»Ist das das Motorrad?«

»Ja. Wir warten drauf, dass der Rummelplatzbetreiber das Geld für ’nen neuen Hinterreifen lockermacht.«

»Und Sie sind der Fahrer?«

»Ja. Wenn es was zu fahren gibt.«

»Na«, sagte Barry freundlich, »wenn Sie den neuen Hinterreifen haben, dann kommen doch bestimmt viele Leute und wollen das sehen.«

Der Höllenreiter fasste den Stumpen zwischen Daumen und Finger und nahm ihn sich aus dem Mund.

»Denkt das bloß nicht«, sagte er, das brennende Ende mit den Nägeln abklemmend. »Die alten Soldaten – die, die auf dem Heimweg sind – haben zu viel gesehen, als dass sie sich um mich noch scheren. Und was die Jungs angeht, die auf dem Weg zu den Außenstationen hier durchkommen – die kriegen vom Rummelplatz Heimweh und bleiben lieber fort.«

»Wer kommt denn dann überhaupt her?«

»Manchmal einer von den Bürohengsten drüben aus dem Lager. Die hoffen, hier ’n Mädchen aufzugabeln.« Er steckte sich den Zigarrenstummel in seine Brusttasche und senkte die Stimme. »Gibt ’n paar Halb-und-halbe hier, Mischware, für ’ne Nummer. Zehn Chips pro Schuss, und für den Preis sind die gar nicht schlecht. Wenn ihr wollt, Jungs, kann ich euch mit’nander bekanntmachen.«

»Nein danke.«

Sie wandten sich um und gingen weiter.

»Viel Glück mit dem Motorrad!«, rief Barry ihm noch zu.

»Ein widerlicher Kerl!«, sagte Peter.

»Hat ja nicht viel zu lachen, auf so ’nem jämmerlichen Rum­mel, und dann noch mit ’nem kaputten Reifen … Was meinte der denn mit ›zehn Chips‹?«

»Sagt man so, für ›Rupien‹.«

»Mann«, sagte Alister, »wenn wir hier noch lange festsitzen, gönne ich mir am Ende noch die zehn Chips.«

»Zehn Chips, für die du dir vor allem Krankheiten holst«, sagte Peter. »In ein oder zwei Tagen sind wir hier weg, keine Sorge.«

»Aber wenn nicht«, sagte Barry, »dann müssen wir nächste Woche noch mal herkommen und uns die Wand des Todes anschauen. Mir tut der arme Kerl leid.«

»Unser kleiner Barry möchte gern die Mischware für ’ne Nummer kennenlernen«, frotzelte Alister.

»Ich finde das ekelhaft von ihm«, sagte Barry, wobei er Peter ansah, »aber er tut mir trotzdem leid.«

»Wir werden längst weg sein, bevor der Reifen wieder ganz ist«, versicherte ihm Peter.

Aber trotz seiner Beteuerung hing Schwermut über der kleinen Gruppe, schroff und hässlich wie der Sturzkampfbomber.

»Kommt schon!«, sagte Peter, der sich verpflichtet fühlte, etwas zur Hebung der Moral zu unternehmen. »Ich spendiere uns dreien eine Karte für das tätowierte Rhinozeros!«

Das tätowierte Rhinozeros war ausgestopft.

Vier Tage später waren sie noch immer in Kalyan, es sah folglich so aus, als könnte Barry die Wand des Todes doch noch zu sehen bekommen; und tatsächlich hatte Alister versprochen, am nächsten Tag – Heiligabend – mit ihm dort hinzugehen. Derweil machte sich ein beträchtlicher Aufruhr breit, weil ein Offizier eigens aus Delhi eingeflogen war, um zu ihnen zu sprechen. Sein Name war Oberstleutnant Glastonbury, er sah aus wie ein größerer und schlafferer Bruder von Douglas Fairbanks junior, und er war (wie Peter allen mitteilte) jemand ganz Wichtiges im Stab von Lord Wavell. Die Offiziersanwärter gingen davon aus, dass er gekommen war, um ihnen zu erklären, warum sich die Verlegung nach Bangalore schon so lange verzögerte – doch nicht nur äußerte er sich nicht dazu, er schien überhaupt nicht zu wissen, dass es eine Verzögerung gab. Er war angereist, um ihnen, wie er sagte, etwas über ihre weiteren beruflichen Aussichten in der Armee zu erzählen.

»Über hundert von Ihnen«, begann er schleppend, »sind als Offiziersanwärter für die Infanterie der Indischen Armee hierhergekommen. Ich muss Ihnen jedoch mitteilen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass mehr als nur eine Handvoll von Ihnen jemals Offiziere der Indischen Armee sein werden.«

»Was hab ich dir gesagt?«, flüsterte Alister Peter erbost zu. »Die wollen uns alle nicht. Steht ihm ins Gesicht geschrieben.«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach«, fuhr Oberstleutnant Glastonbury langatmig fort, »werden mindestens siebenundneunzig Prozent von Ihnen einen Offiziersbrief eines britischen Linien­regiments der Infanterie erhalten, und Sie werden Einheiten dieser Regimenter im Fernen Osten zugeteilt, sobald Sie Bangalore verlassen.«

Er wiederholte das noch mal auf vielfältige Weise die folgenden zwanzig Minuten hindurch und fragte dann, ob es Fragen gebe.

»Sir, können Sie uns sagen«, fragte Peter, »warum so wenige von uns in die Indische Armee aufgenommen werden?«

»Weil die neue Vorgehensweise ist, Einheimische, also Inder, zu Offizieren zu ernennen.«

»Warum hat man uns dann als Anwärter für die Indische Armee angenommen?«

»Weil niemand die neue Vorgehensweise vorhergesehen hat.«

»Sind wir weiterhin Offiziersanwärter der Indischen Armee?«, bohrte Peter weiter nach.

»So weit erst einmal ja. Es führt zu nichts, hier bei mir dar­über in Eifer zu geraten, mein Freund. Ich bin nur der Über­bringer der Nachricht aus Delhi. Ohnedies, ich selbst ge­höre der Kavallerie an« – matt und bequemlich hörte sich das an – »und ich weiß ohnehin nie so recht, was die Fritzen von der Infanterie vorhaben. Mit Ihnen, aber auch mit allen anderen. Nur eins weiß ich genau, und das sollten Sie besser auch gleich begreifen.«

Es schaute auf die versammelten Fahnenjunker herunter wie ein mildtätiger Jeremias.

»Das alles hier drüben geht zu Ende, verstehen Sie? In der Indischen Armee haben Sie keine Zukunft, selbst wenn Sie tatsächlich noch dort aufgenommen werden sollten. Weil die Vorstellung aus ist, Freunde. Es dauert vielleicht noch ein Jahr oder zwei, alles abzuwickeln, aber die Audienz, der Durbar, ist zu Ende. Wenn Sie also noch lang genug hier sind, dürfen Sie helfen, die Fensterläden zu schließen und die Fahne einzuholen. Und mehr schaut für Sie dabei nicht heraus.«

Bevor Oberstleutnant Glastonbury Kalyan verließ, ging er auf Ersuchen der Offiziersanwärter zum Kommandanten des Durchgangslagers und erkundigte sich, wann diese damit rechnen konnten, nach Bangalore verlegt zu werden. Die kurzangebundene Antwort lautete, dass der Kommandant es nicht wisse und es ihm überdies egal sei, und das sagte er Glastonbury auch so und ließ ihn obendrein wissen, dass er sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle.

»Dem flattern die Nerven«, erklärte Glastonbury gutgelaunt der Abordnung von Fahnenjunkern, die ihn zum nahegelegenen Flugfeld begleiteten. »Ein Kleinbürger, eigentlich kein schlechter Kerl, bloß ist er stocksteif vor Sorge, was wohl aus ihm werden wird, wenn das arme alte Britische Raj hier zusammenpacken kann.«

»Und dennoch hätte er sich Ihnen gegenüber etwas höflicher zeigen können, Sir«, sagte Peter.

»Ihm hat schon meine Aufmachung nicht gefallen.« Das Regiment, dem Glastonbury angehörte, ein britisches, waren die 49th Earl Hamilton’s Light Dragoons, und seine Uniform war, selbst noch in der für die Tropen tauglichen Variante, sehr auffällig. »Und Besucher aus Delhi mag er auch nicht. Sie bringen selten gute Nachrichten … Vielen Dank, dass Sie mich begleitet haben, Gentlemen! Sollte ich etwas Neues für Sie in Erfahrung bringen können, schaue ich bei Ihnen in Ban­galore vorbei.«

Was alles schön und gut war, aber nichts daran änderte, dass die Offiziersanwärter weiter in Kalyan vor sich hingammelten, so dass sie nun davon ausgehen mussten, auch noch die folgenden zwölf Tage über die Weihnachtszeit dort zu verbringen. Am nächsten Tag also – Heiligabend – zogen Alister Mortleman und Barry Strange spät am Nachmittag los, um der Wand des Todes einen Besuch abzustatten und herauszufinden, ob sie nun in Betrieb war. Peter, der urplötzlich unter der an diesem Ort verbreiteten Art Durchfall (»Kalyanische Kackerei«) litt, blieb zurück, um in der Nähe der Sanitäranlagen zu sein.

»Weißt du was?«, sagte Alister zu Barry. »Ich denke, ich werde mir eins dieser Mischlingsmädchen besorgen, von denen der Geselle uns erzählt hat.«

»Weißt du denn, was man da machen muss?«

»Natürlich! Du musst einfach bloß … na ja … du weißt schon.«

Barry, der es nicht wusste, nickte.

»Und du?«

»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Barry, der anderen immer gern gefallen wollte und daher sein Auftreten in moralischer Hinsicht der jeweiligen Begleitung anpasste. »Aber ich hab nicht genug Geld.«

»Zehn Chips? Ich hab genug für uns beide.«

Sie kamen auf dem Rummelplatz an. Der Sturzkampfbomber ragte noch immer in genau demselben Winkel in die Luft, wie sie ihn zuletzt schon gesehen hatten.

»Vielsagend«, bemerkte Alister.

»Ich möchte mir aber nichts holen.«

»Wirst du nicht – wenn du einen von denen benutzt.«

Alister gab seinem Freund ein kleines Briefchen. Sie gingen zur Wand des Todes hinüber, vor der der Fahrer auf dem Motorrad saß; wie der Sturzkampfbomber schien er sich, seit sie ihn zuletzt dort zurückgelassen hatten, nicht bewegt zu haben.

»Ich glaube«, sagte Barry, »wir müssen jetzt langsam zurück. Um sechs findet ein Weihnachtsgottesdienst in der Garnisonskirche statt.«

»Quatsch!«, sagte Alister. Und dann zum Fahrer: »Na, hallo!«

»Hallo, ihr wieder!«, sagte der Höllenreiter.

»Wir … Wir hätten gern, dass Sie uns mit zwei der Mädchen bekanntmachen, von denen Sie erzählt haben.«

»Aber gern. Nur habt ihr jetzt keine Zeit.«

»Jede Menge Zeit haben wir! Nicht mal zum Appell antreten müssen wir, erst am Tag nach Weihnachten.«

»Eure Truppe packt grade zusammen«, sagte der Motorradfahrer.

»Unsinn. Wir kommen doch eben von dort.«

»Wie ihr meint.«

»Es wäre aber schon … für Heiligabend.«

»Mir ist das gleich«, sagte der Fahrer. »Wenn ihr zwei Mädels wollt, könnt ihr die haben. Zehn Chips für jeden, plus fünf für mich.«

Barry, der seinen Blick über den im schwindenden Licht liegenden Rummelplatz schweifen ließ, an den geschlossenen Buden entlang und den Hügel hinauf, der sich dahinter wie ein dünner, ungleichmäßiger Kegel gen Himmel schraubte, kamen einige Verszeilen aus seiner Kindheit in den Sinn:

Treu Thomas lag am Huntlie-Strand,

Da thät sein Aug’ ein Wunder schau’n;

Da sah er, wie ’ne schöne Frau

Ritt nieder am Hollunderbaum.

Treu Thomas hatte den Weg »ins Zauberreich der Elfen« gewählt und Barry, das sah er nun, hatte dasselbe getan. Treu Thomas hatte das Schicksal sieben Jahre lang zur Wanderschaft verdammt – und fürwahr, wenn Barry es richtig in Erinnerung hatte, »kehrt’ nie mehr in sein Land er heim«. Barry musste in seines zurück, solange noch Zeit war. Vielleicht war es schon zu spät, und er würde sich von allen abgeschnitten im leeren Raum auf einem Eiland wiederfinden, für immer verdammt, in dieser Kirmeswelt zu bleiben. Barry erschauderte, wirbelte herum und stürzte davon.

»Kluger Junge«, sagte der Motorradfahrer zu Alister. »War­um tust du nicht dasselbe?«

Doch Alister wich nicht von der Stelle. »Hier sind fünfzehn Rupien«, sagte er.

Der Fahrer nahm das Geld, rührte sich aber nicht.

»Durch den Eingang hinein«, sagte er zu Alister, »die erste Tür links und dann hoch auf die Galerie.«

»Und dann?«

»Such dir eine aus. Da oben findest du alles, was du brauchst.«

»Besonders privat ist das dort aber nicht.«

»Was erwartest du für fünfzehn Chips?«

Alister atmete tief ein und stapfte durch die Eingangstür.

Als Barry sich wieder in der Unterkunft der Offiziersanwärter im Durchgangslager eingefunden hatte, befand sich alles in Aufruhr. Ein eiliger Verlegungsbefehl war eingetroffen (niemand wusste genau, woher, doch war das Wort »Delhi« in aller Munde), und so sollten die dreihundert Offiziersanwärter um Mitternacht den Zug besteigen. Da die meisten kaum persönliches Gepäck mitführten, stellte das Zusammenpacken sie nicht vor Probleme, aber es waren ungeheuer viele Formalitäten einzuhalten. Ärgerlich stiefelten die zuständigen Hauptfeldwebel mit ihren dicken, in dreifacher Ausführung vorhandenen Listen hin und her, während woanders leise miteinander redend Offiziere gruppenweise beieinanderstanden, die man zuvor noch nie gesehen hatte und die sich jetzt ungeduldig mit ihren Stöckchen an die Waden schlugen.

»… Morrison, P.«

»Hier, Herr Hauptfeldwebel!«

»Mortleman, A.«

»Der ist kurz spazierengegangen. Ist gleich zurück.«

»Das will ich aber auch hoffen, Junge!«

»Er konnte ja nicht wissen, was jetzt passiert.«

»Er konnte es nicht wissen