Jul - Geschichte einer Suche - Reinhard Strüven - E-Book

Jul - Geschichte einer Suche E-Book

Reinhard Strüven

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Beschreibung

Wenn Kinder verschwinden. Innensicht eines Familiendramas. Ein Vater sucht seine von der Mutter nach Polen gebrachte Tochter. Er versucht, sie auf gerichtlichem Weg zurückzubekommen und scheitert. Dennoch ist sein Kampf nicht vergeblich: Die Familie und die beiden Kinder, die jetzt getrennt in zwei Ländern leben, nähern sich vorsichtig wieder an. "Strüven zeigt uns mit seiner behutsamen, melancholischen Beobachtungsgabe eine in hundert Farbtönen schimmernde, in Deutschland und Polen spielende Familiengeschichte." Till Müller-Edenborn, Regisseur

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Reinhard Strüven

Jul – die Geschichte einer Suche

Roman

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Danksagung

Impressum

1

Er hatte sie nicht gefunden. Jetzt saß er in seinem Hotelzimmer in Gloucester und überlegte, wie es weitergehen sollte. Draußen am Himmel zogen Möwen ihre Kreise – die großen Möwen, die es in Deutschland nur an der See gibt. Hier war die See auch nicht weit. Er fragte sich, ob sie einmal dort gewesen waren, Monika und Jul, in der Woche, die sie hier verbrachten.

So sagte es ihm die junge Mutter, mit der er am Abend zuvor sprach, auf der Wellesley Street, an der angegebenen Adresse, die er durch Zufall herausgefunden hatte: Eine Woche seien sie hier gewesen, Ende Februar schon, dann seien sie weg, sie wisse nicht wohin, Monika habe nichts verraten. Das sei ihre Privatsache, habe sie trotzig gesagt. Er musste lächeln: Ja, so sprach sie, das passte. Die Frau, eine Schulfreundin Monikas, sagte, sie habe sie aufgefordert, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, statt jeden Tag mit der Mutter in Polen zu telefonieren. Die beiden hätten deswegen sogar Streit gehabt. Immerhin: Jul habe sich wohlgefühlt. Die Frau hatte auch ein Kind, mit dem hätte Jul gespielt.

Aber das war kurz nach dem Verschwinden. Da wird Jul alles noch für einen Urlaub, ein großes Abenteuer gehalten haben. Das Einzige, was ihn beruhigte: Monika hatte sich offenbar gut um sie gekümmert. Einmal, erzählte die Frau, sei Jul krank geworden, nichts Schlimmes, doch Monika habe mit ihr unbedingt zum Arzt gewollt, und sie sei mitgekommen, um zu dolmetschen.

In den letzten Monaten zuhause hatte Jul sich weiterentwickelt, sie war gewachsen und strahlte viel Selbstbewusstsein aus. In ihrer Kita wurde sie Gruppensprecherin. Das war der Moment, da sah er sie plötzlich mit anderen Augen: nicht mehr nur als Kleinkind, das man beschützen muss, vielmehr als jemanden, der beginnt, sich die Welt zu erobern.

Zur gleichen Zeit wurde Donald Trump Präsident der USA. Wenn das kein Zufall war … Vielleicht hätten sie tauschen sollen: Trump Gruppensprecher in der Kita und sie Präsidentin der Vereinigten Staaten? Wenn er sich diesen Trump so ansah, erschien ihm der Gedanke gar nicht mal abwegig.

Oder war das nur eine brüchige Fassade? Sie malte viele Bilder in dieser Zeit, Prinzessinnen kamen darin vor, schnelle Pferde und wehrhafte Burgen. Eine beschützte Prinzessin wollte sie sein. Wie gerne sie sich verkleidet hat! Als Elsa. Mit Pferden und Einhörnern war sie per du. Ihren letzten Geburtstag, den sie gemeinsam verbrachten, feierten sie auf einem Ponyhof. Es kamen nur wenige Gäste, weil er und Monika es dank ihrer Streitereien nicht hinbekamen, die Feier rechtzeitig zu organisieren, aber Jul war glücklich, dass sie reiten durfte. Sie saß auf dem Pony und strahlte über das ganze Gesicht.

Manche ihrer zuletzt gemalten Bilder, die er in einer Mappe verwahrte, waren abstrakt, waren farben- und formenstark. Eines erinnerte ihn an die »Kämpfenden Formen« von Franz Marc: Auch in ihren Bildern war Kampf, rot und schwarz und alle möglichen anderen Farben, nichts ruhte, alles bewegte sich, war aufgewühlt.

Er ging zur Polizei und gab die Vermisstenanzeige auf, die er vorbereitet hatte. Der Fall erhielt eine Incident number. Eine korpulente Polizistin stellte ihm viele Fragen, die er geduldig beantwortete; er hatte das Gefühl, dass sie sein Anliegen ernst nahm. Seine und die Daten der beiden Gesuchten gab er weiter, Personenbeschreibungen, Monikas Handynummer, die nicht mehr funktionierte, die Adresse in der Wellesley Street – darauf hoffend, dass Monikas Schulfreundin nun keinen Ärger bekam.

Dann hatte er frei, früher als geplant. Er ging in die Stadt, besichtigte die Kathedrale und den Hafen, kaufte ein noch fehlendes Ticket für seine Rückfahrt und versuchte, einen Netzadapter zu finden, um Handy und Laptop aufzuladen, deren Stecker hier nicht passten.

Er ließ die Eindrücke seiner ersten Englandreise auf sich wirken, die der Landschaft, die ihn ein wenig an Schleswig-­Holstein erinnerte, der Stadt Gloucester, die er gar nicht so uninteressant fand, wie sein Reiseführer sie beschrieb, die der vielen Polen hier – eine Community, in der sich Monika auch ohne Englischkenntnisse zurechtfinden konnte.

Seine Schwiegermutter hatte ihm Vorwürfe gemacht, warum er es so weit habe kommen lassen, sie gab ihm die alleinige Schuld am Auseinanderbrechen der Familie. Das wunderte ihn nicht: Hatte Monika sich doch in unzähligen Anrufen nach Hause immer als Opfer dargestellt. Und Monikas Mutter wurde zur Kronzeugin der Anklage. Dazu der Bruder, der in Russland arbeitete und eine Schwester, die in den USA lebte, von überall her kam Kritik: Deutschland, Polen, USA, Russland, die ganze Welt schien gegen ihn zu sein.

Seine Schwiegermutter las ihm die Leviten, und sein Schwager dolmetschte. Sie sagten, sie wüssten nicht, wo Monika und Jul seien. Das glaubte er ihnen zwar nicht, doch er schwieg. Sie würden ihm das Versteck ohnehin nicht verraten. Außerdem wurde das Gespräch langsam besser, man erinnerte sich der guten Zeiten, erinnerte sich des gemeinsam Erlebten, und schließlich luden ihn beide noch zum Essen in ein Restaurant in die Altstadt ein.

Er fragte sich, welche der Wege, die er jetzt ging, Monika und Jul vor einem Monat ebenfalls schon gegangen waren. Waren sie in der Innenstadt gewesen, hatten sie sich die Kathedrale angeschaut? Sein Reiseführer belehrte ihn, dass dort zwei englische Könige des Mittelalters begraben lägen, die beide nicht sonderlich erfolgreich regiert hätten. Das passt, dachte er: Die konnten ihr Land nicht regieren und er nicht seine Familie. Und er überlegte, sich in die Gruft dazuzulegen, und nur deren geringe Abmessungen und die Vorstellung, auf ewig mit angewinkelten Beinen dort ausharren zu müssen, hielten ihn zurück.

Waren sie die Fußgängerzone entlanggeschlendert, hatten sie das Spielwarengeschäft betreten, in das er nun eintrat? Er kaufte eine Kleinigkeit für Nik, hätte auch Jul gerne etwas gekauft, aber er wusste nicht, wann sie sich wiedersehen würden und er es ihr geben könnte, und vielleicht spielte sie schon gar nicht mehr mit Sachen für kleine Mädchen, wenn sie sich wiedersahen.

Waren sie im Gloucester Park gewesen? Der lag nicht weit von der Wellesley Street entfernt. Viele Spiel- und Turngeräte standen dort auf dem Spielplatz, und er hielt Ausschau, ob er Jul inmitten der Kinderschar entdeckte, obwohl das nicht sein konnte, und natürlich fand er sie nicht.

In polnischen Geschäften fragte er die Angestellten nach Monika und Jul, zeigte Fotos, aber niemand erinnerte sich an sie.

Wo waren sie jetzt? In einer anderen Stadt in England? In Deutschland? In Polen? Er wusste nicht, wo er suchen sollte. Was er fand, waren die Schatten der beiden, Echos, längst verwehte Spuren. Wenn Monika fürchtete, er könnte ihr Versteck finden und plötzlich vor der Tür stehen, warum meldete sie sich nicht? Es war die Sprachlosigkeit, die er nicht ertrug, waren die kleinen Gesten, die ihm fehlten, das Alltägliche, das Abholen Juls vom Kindergarten, das Essenmachen für Jul und Nik, der Gang zum Spielplatz, das gemeinsame Einkaufen, das Vorlesen einer Gutenachtgeschichte, das Umarmen vor dem Einschlafen.

Gern hätte er beiden von seiner Rückreise erzählt, ihnen berichtet, dass er sich nun im Eurotunnel befand, viele Meter unter dem Meer, und dass es ein seltsames Gefühl war: beschützt und ausgeliefert zugleich. Bewunderung überkam ihn für Ingenieure, die so etwas bauten, Bewunderung, dass es möglich war, in neun Stunden von Mittelengland nach Westdeutschland zu reisen, vier Länder an einem Tag, und den Abend, den hatten Nik und er noch für sich. Ihm immerhin konnte er Gute Nacht sagen, aber es war nur die halbe Botschaft, die andere Hälfte ging … ja, wohin eigentlich?

Und Facebook schlug ihm vor, seine Erinnerungen von vor einem Jahr zu teilen, die vom Nordseeurlaub zu viert, von Nik und Jul am Strand, von Ausflügen mit geliehenen Rädern, vom Wikingerfest und einem Lagerfeuer, bei dem ihm unvermittelt sentimental zumute wurde und er Monika nach langer Zeit wieder einen Kuss gab. Sie reagierte nicht. Vielleicht dachte sie, er wolle sie auf den Arm nehmen, aber dem war nicht so.

In Brüssel stieg er in den ICE, der noch Aufenthalt hatte. Angestellte in dunkelblauen Anzügen und roten Krawatten bereiteten alles für die Abreise vor. Er wartete, dass das Bordbistro öffnete und bestellte Chili con Carne und ein Bier. Aus der ersten Klasse holte er kostenlose Zeitungen, Frankfurter Allgemeine und Süddeutsche, doch ein Schaffner mit Ohrringen von beeindruckender Größe, dem er kein Erste-Klasse-Ticket zeigen konnte, wies ihn zurecht. Er musste sie zurückbringen – durch ein Spalier aus Erste-Klasse-Menschen, die ihn ansahen wie einen Verurteilten.

Genau so hatten sie dreingeschaut, wenn er mit Niklas früh morgens in den Regionalexpress nach Düsseldorf einstieg, wenn sie zwei freie Plätze in der ersten Klasse suchten, weil Nik nur dort an einem der kleinen Tische Hausaufgaben machen konnte. Er machte seine Aufgaben zwischen verschlafen dreinblickenden Männern im Anzug, Frauen im Businesskostüm, manche die Augen geschlossen, andere den Blick auf das Smartphone, den Laptop oder, selten noch, in die Tageszeitung oder ein Buch gerichtet. Manche lächelten, wenn Nik ihn laut um Rat bei seinen Aufgaben fragte, andere blickten genervt. Bald wusste er, wo die Genervten ihre Stammplätze hatten und setzte sich mit ihm lieber woanders hin.

All jenes, was Pädagogen ihm sagten – das Pendeln gehe nicht, sei mit dem Kindeswohl nicht vereinbar –, stimmte nicht: Für Nik war es eine spannende Zeit, er mochte Züge und Bahnhöfe, und genug Schlaf bekam er auch. Die Hausaufgaben waren fertig, wenn er in der Schule ankam. Nein, er war es, der keine Lust mehr dazu hatte, denn er fuhr die Strecke jetzt, seit sie zuhause ausgezogen waren, jeden Tag viermal; er war genervt und wollte eine Änderung.

Er spürte Vorfreude beim Gedanken an das Wiedersehen mit seinem Sohn. Ihm fiel auf, dass er noch keine Geschenke für Beate und Bernhard hatte, bei denen Nik die letzten Tage verbracht hatte. Bestimmt würde es ein großes Essen geben, und er kam mit leeren Händen.

Zwei Wochen zuvor waren sie – Nik, er, Beate, Bernhard und deren Kinder Henriette und Anton – zusammen auf dem Spielplatz gewesen, als sie ein Unwetter überraschte. Seine Wohnung lag am nächsten, und sie flüchteten dorthin. Henriette, Antons kleine Schwester, war zum ersten Mal bei ihnen; sie entdeckte Juls Zimmer und begann sogleich, mit deren Sachen zu spielen, als seien es ihre eigenen. Sie schob Juls Puppenwagen vor sich her und wollte ihn nicht mehr loslassen. Also gaben sie ihn ihr mit, als Dauerleihgabe bis zu Juls Rückkehr.

Überall in der Wohnung Juls Sachen; es wäre ihm wie Verrat erschienen, sie wegzuräumen, wegzugeben, wegzuwerfen. Schließlich könnte sie jeden Tag zurückkommen. Monika könnte genug von ihrer Flucht haben. Sie könnte feststellen, dass auch in England oder Polen oder wo auch immer nicht jeden Tag Milch und Honig flossen. Oder – die in seinen Augen wahrscheinlichste Möglichkeit – ihre Sehnsucht nach Niklas könnte übermächtig geworden sein. Wie hielt sie das aus, so ganz ohne ihn? Vermutlich ebenso schlecht wie er, so ganz ohne Jul.

Er klingelte, wartete, bis der Türöffner summte. Mit dem Koffer in der Hand, schwer atmend, stieg er die fünf Etagen hinauf. Nik stand in der Tür, und er schaute, ob nach ihm, seinem Vater, noch jemand die Treppe hinaufkäme. Enttäuschung lag in seinem Gesicht, als er erkannte, dass dem nicht so war. Es vergingen einige Augenblicke, bis er zu ihm kam und ihn umarmte.

Henriette und Anton liefen herbei. Für beide hatte er am Kiosk Überraschungseier gekauft und für Beate und Bernhard Pralinen. Der Kiosk hatte nur preiswerte Pralinen, die nicht besonders schmeckten, ein Verlegenheitsgeschenk, das sie sicher nicht zum ersten Mal bekamen. Er stellte sich ihre Abstellkammer als eine Ansammlung von Putzmitteln inmitten vieler ungeöffneter Pralinenschachteln vor.

Die Rache der Gastgeber bestand in einem veganen Essen, dessen Zutaten und Geschmack er nicht definieren konnte, und einem grünen Getränk, das sie gemahlenen Frosch nannten.

Nach dem Essen berichtete er von seiner Reise. Er tauchte ein in die Wärme, die in diesen Räumen herrschte, die Harmonie, die von den vieren ausging. Die bekamen es hin; warum hatten Monika und er es nicht hinbekommen? Warum meldete sie sich nicht? Wenn es eine Lektion sein sollte, war sie gelungen: Er würde jede Forderung akzeptieren, damit sie mit Jul zurückkehrte.

* * *

»Papa, willst du diese Gitarre haben?«, fragte sie bei jeder neuen Seite, die er in seiner Gitarrenzeitschrift aufschlug. Nein, er wollte sie nicht alle haben, er interessierte sich für die dicken, die Archtops, die Blues-, Jazz- und Rock’n’Roll-Gitarren. Erklärte er ihr das in einfachen Worten? Er wusste es nicht mehr. Vermutlich nicht. Sie aber hatte Gefallen an der Frage gefunden: »Papa, willst du diese Gitarre haben?«, und sie stellte sie immer wieder.

Der Bus schlängelte sich durch den kurvenreichen Weg zum Terminal des Düsseldorfer Flughafens. Er fragte sich, warum der Weg nicht gerade verlief. Wollte man damit Anschläge verhindern? Gab es zu der Zeit, als das alles gebaut worden war, schon Anschläge?

Sie hielten. Er nahm Jul bei der Hand, ihr Bruder ging alleine. Immer wollte sie gleich loslaufen, das konnte im Düsseldorfer Straßenverkehr übel ausgehen. Einmal wäre sie fast überfahren worden.

Im Flughafen stürmten sie los, hin zu McDonald’s, zu den Tablets, an denen sie spielten. Er kaufte drei Kindermenüs, für jeden von ihnen eines. Um seine Geschenkbeilage, die beide von ihnen haben wollten, entbrannte ein kurzer Streit, also sagte er, er behalte sie selbst.

Schnell waren sie wieder in ihr Spiel vertieft; Jul malte Figuren aus, Nik spielte Angry Birds.

Michael sagte, dass er ein bisschen durch die Geschäfte bummeln werde, aber in der Nähe bleibe, sie müssten sich keine Sorgen machen. Nik solle solange auf Jul aufpassen.

»Ich passe selber auf«, protestierte Jul.

Er ging zum Bankautomaten, hob Geld ab, zog einen Kontoauszug, ging in den Zeitschriftenladen, blätterte in ein paar Heften, setzte sich dann in ein Café, von wo aus er die beiden im Blick hatte.

Er beobachtete das Kommen und Gehen, Menschen mit bunten Willkommensluftballons, Namensschilder hochhaltende Chauffeure, Stewardessen und Piloten in schicken Uniformen, ja, auch all die Unscheinbaren und Gescheiterten, die hier ihre Nische gefunden hatten, sie gehörten ebenfalls zum Flughafen.

Und er dachte: Falls ich scheitere, könnte ich hier sein, mich meinen Erinnerungen hingeben und im Übrigen davon träumen, in den nächsten Flieger zu steigen in eine bessere Welt. Und wenn das Geld nicht reicht, kann ich es in Gedanken tun – der Schnaps bei Rewe hier ist auch nicht teurer als anderswo.

Nach dem Schnellimbiss fuhren sie mit dem Skytrain, dieser kleinen Schwebebahn zwischen Flughafen und Fernbahnhof, und zählten die Kaninchen am Boden. Wer die meisten entdeckte, hatte gewonnen. Nik entdeckte ein totes Kaninchen. Was tun? Sie einigten sich auf einen halben Punkt. Nik gewann. Ein halber Punkt Vorsprung war ebenso gut wie ein ganzer.

Dafür hatte Jul bei den Süßigkeiten am Fernbahnhof Glück: Es musste jemand fünf Euro in den Automaten geworfen haben und dann in Eile gegangen sein, denn sie fand vier Euro fünfzig im Geldfach. Jul überlegte laut, was sie sich dafür kaufen könne, und Nik wurde eifersüchtig. Sie entschied sich für eine Kinderzeitschrift mit einem Schminkset als Beilage. Zuhause dann unternahm sie erste Schminkversuche. Sie sah aus, als wäre sie in einen Farbtopf gefallen.

Vom Fernbahnhof aus beobachteten sie die Flugzeuge und das, im Gegensatz zur Aussichtsplattform, umsonst. Planespotter mit Kameras mit langen Objektiven behielten die Start- und Landebahnen im Blick. Alle zwei Minuten starteten und landeten die Maschinen. Abends, im Dunkeln mit ihren leuchtenden Scheinwerfern, wirkten sie wie Perlen an einer Schnur.

Sie hofften auf die Ankunft des A 380, des größten Flugzeugs, das Düsseldorf anflog. Seine Größe vermittelte den Eindruck, dass es Mühe hatte, in die Luft zu kommen und langsam flog, was vermutlich täuschte. Es führte eine ganze Schar an Stewardessen mit sich, die khakifarbene Uniformen mit angedeuteten Schleiern an ihren roten Kappen trugen, ein Märchen aus Tausend und einer Nacht, und damit niemand das Märchen störte, patrouillierten Polizisten mit Maschinenpistolen, deren Läufe nach unten zeigten, durch den Flughafen. Nik machte große Augen und fragte, ob die Pistolen echt seien. Michael bejahte.

Sie nahmen einen Flyer für das nächste Airport-Kinderfest mit. Sie waren oft am Flughafen, während Monika zu Hause ihre Sprachkurse vorbereitete. Nur geflogen sind sie von dort nie.

* * *

Nik fragte ihn, warum sie nicht blieben, vielleicht in einem anderen Stadtteil, doch aber in Düsseldorf. Michael sagte, es gehe nicht, wegen seiner Arbeit in Krefeld und weil er ihn jetzt gerne näher bei sich hätte. Er müsse da sein, falls etwas passiere.

»Was soll denn passieren?«

»Wenn du dich auf dem Schulhof verletzt und ich dich abholen muss, dann will ich nicht erst eine Stunde anreisen müssen, um da zu sein.«

Er verschwieg, dass er fürchtete, Nik könne nach Polen verbracht werden wie Jul. Und dass Nik hier wie auf dem Präsentierteller saß. Dass er lieber mit ihm untertauchen wollte, eine neue Wohnung beziehen, deren Adresse nur sie kannten.

»Und wenn du in Düsseldorf arbeitest?«

Gute Frage, dachte er. Ja, warum suchte er sich eigentlich keinen neuen Job in Düsseldorf? Vielleicht hatte Nik recht, vielleicht sah er die Dinge klarer als er. Es gab freie Stellen, chancenlos war er nicht. Und eine neue Wohnung würden sie hier auch finden. Doch er traute sich nicht. Er fürchtete, in seiner Verfassung die Probezeit nicht zu überstehen. An manchen Tagen fühlte er sich gar nicht arbeitsfähig, und nur, weil er seinen Job schon so lange machte und alles kannte, fiel es niemandem auf. Er bekam Urlaub, wenn er nach Polen wollte, um Jul zu suchen, man hielt ihm den Rücken frei, doch er fragte sich, wie lange noch – hörte er aus den Antworten auf seine Fragen doch schon eine gewisse Unzufriedenheit, einen leichten Widerwillen heraus.

Von einer Fortbildung zu einem neuen Doku-System bekam er so gut wie nichts mit und konnte anschließend nicht damit umgehen. Konnte nicht eintragen, wie er die Senioren im Heim beschäftigt, was er unternommen, was er beobachtet hatte.

Er ließ die Menschen erzählen, hörte ihnen zu, Menschen, die ebenfalls Verluste erlebt, Angehörige und Heimat durch Krieg und Vertreibung verloren hatten. Das relativierte das, was er jetzt erlebte, ein wenig, nahm ihm von seiner Schärfe, ordnete es in einen größeren Zusammenhang ein.

Eine alte Frau erzählte ihm von ihren vier Söhnen, die alle an der Ostfront geblieben waren. So etwas wie »Saving Private Ryan«, wo der letzte überlebende Sohn vom Schlachtfeld geholt wird, damit die Familie nicht ausstirbt, gab es bei den Deutschen offenbar nicht. Da wurden alle verheizt. Nicht zum ersten Mal stellte er fest, wie böse die Nazis wirklich gewesen waren. Das hatte er auch früher schon gedacht, wenn er auf Fortbildungen war, auf Tagungen in ehemaligen Burgen, Klöstern, Landsitzen und er dann irgendwo, halb öffentlich, halb versteckt, Gedenktafeln entdeckte, die an die NS-Zeit erinnerten, als dort Euthanasie und andere Verbrechen verübt worden waren – die Nazis hatten sich für ihre Taten mitunter die schönsten Kulissen ausgesucht.

Und er fragte sich, wie die alte Frau mit einem solchen Schicksal weiterleben konnte und wunderte sich, weil sie so normal wirkte, gar nicht verbittert, verhärmt oder gebrochen. Wie konnte das sein? Und was davon sollte er in den Biografiebogen im PC eintragen – wenn er denn endlich verstand, wie das ging?

* * *

Die beste aller deutsch-polnischen Familien. Mit ihrem Sprachengemisch und ihren Grammatikfehlern, die sie trotzig beibehielten. Ihre eigene Sprache mit Redewendungen, die nur sie verstanden. Ihre eigenen Speisen, die nicht gelangen, Maultaschen, die auseinanderfielen, Würstchen, die platzten, Salate, die nicht schmeckten, Kaffee, der zu stark und Tee, der zu schwach war.

Er ging langsam durch die Räume, in denen die Möbel auf ihren Abtransport warteten.

Auf dem Schlafzimmerteppich noch ein Abdruck, wo die Kommode gestanden hatte, die Wickelkommode, auf der sie die Kinder wuschen, eincremten, wickelten, wenn alles von den falschen Windeln wund war oder von den teuren, die an warmen Tagen ebenso scheuerten.

Und dort im Bett schliefen beide neben Monika, als sie noch klein waren. Dort legte sie sie an, und in ihrer Muttermilch war alles, was sie zum Größerwerden brauchten. Ein Baby, zufrieden an der Brust seiner Mutter, wie könnte jemand, der dieses Bild einmal gesehen hat, es jemals vergessen?

All die Schränke und Regale in der Wohnung, die er sicherte, weil er gelesen hatte, dass kippende Möbel für Kinder gefährlich sind –, und wie er manche der kleinen Möbel übersah, weil er nicht dachte, dass von ihnen eine Gefahr ausgehen könnte.

Das Badezimmer, viel zu eng für sie, eine Qual, es zu putzen, doch mit Badewanne, und Jul und Nik spielten darin Kapitän, und alles Mögliche an Spielzeug musste mit hinein, und manchmal stand das Bad am Ende unter Wasser, aber das machte nichts, dann wischte er einmal durch und der Boden glänzte wie neu.

Die Küche mit dem großen, schweren Tisch, den er geschenkt bekommen hatte, abends saßen Monika und er dort, tranken Tee oder Wein, die Kinder schliefen schon, er hielt die Gitarre auf dem Schoß, spielte leise, im Fernseher lief irgendwas …

Der Flur, die Rennstrecke für ihr Bobby Car, zum Schrecken der Nachbarn, denn es war laut, dieses Bobby Car, selbst mit Flüsterrädern, und als sie zu groß dafür waren, schenkten sie es Niks Kindergarten, schrieben »Eine Spende von Jul und Nik« darauf –, ob es noch dort war und den Kindern Freude bereitete, er hätte gerne nachgesehen.

Einmal sah er sie auf den Fensterbänken, sie balancierten darauf entlang, im zweiten Stock, er erschrak, holte sie von dort weg, und tags drauf rüstete er alle Fenster mit abschließbaren Griffen aus.

Wenn er im Trockenspeicher die Wäsche aufhängte, hörte er beide unten herumtoben, Bälle flogen gegen die Wohnungstür, dass es nur so durch den Hausflur schallte. Es war ihm peinlich, doch er sagte sich, dass dafür kein Grund bestehe; sie waren die einzigen mit Kindern in diesem Haus, wie konnte es da sein, dass sie nicht aus dem Rahmen fielen, wie sollte es möglich sein, keinen Ärger zu bekommen? Sie lebten! Es war nicht zu viel, es war genau richtig, dieses Übermaß an Energie, das Jul und Nik freizusetzen imstande waren.

Seine Mutter sagte, so könnte man nicht leben, wie sie lebten, und er fragte sich, warum sie das sagte, bezeichnete sie Jul und Nik doch als ihren Lebenssinn, warum also die Kritik an all den Kleinigkeiten, die nicht stimmten, oder vermeintlich nicht stimmten –, war sie etwa perfekt gewesen, als sie Michael erzog, und konnte man das überhaupt vergleichen: er, das Einzelkind, und jetzt die beiden? Natürlich war es ruhiger gewesen mit ihm, natürlich konnten sich seine Eltern absprechen, so dass ihm nichts anderes übrig blieb, als folgsam zu sein; zwei gegen einen, und halbherzig blieben seine Versuche, aufzubegehren.

Er war beschützt aufgewachsen, und nun wollte er die beiden beschützen, vielleicht etwas zu viel, doch er sagte sich, dass es lieber etwas zu viel als zu wenig sein dürfe, und welche Eltern machen schon alles richtig, alles nach Vorschrift, und gab es sie überhaupt, diese Vorschriften, und falls ja, wer hatte sie erfunden und was passierte, wenn man sie brach?

Wenn sie aus der Stadt heimkamen, liefen Jul und Nik noch bis zum Ende der Straße und zurück, immer wieder, bis sie dieses Zuviel an Energie, das in ihnen steckte, abgelassen hatten wie ein Flugzeug überschüssiges Kerosin; dann endlich konnte es nach oben gehen, den Hausflur hinauf, zu ihrer Wohnung. Aber auch das dauerte, weil sie das Treppengeländer immer wieder herunterrutschten, und Michael stellte sich so, dass er sie fangen könnte, wenn sie den Halt verlören.

Die vielen Kritzeleien von Jul an den Wänden, die kleinen Spielzeugteile in den Ritzen zwischen Wänden und Boden –, er überstrich, putzte und saugte, doch etwas blieb zurück, und der Gedanke, dass es gar nicht schlecht sei, wenn etwas von ihnen blieb, verdrängte den nach perfekter Sauberkeit.

Im Garten noch das Grab des Eichhörnchens, das vom Rauputz abgestürzt und gestorben war, das sie in einem der Beete begruben.

Die Großmutter, die aus Toruń kam, mit dem Bus, über Nacht, völlig übermüdet, die sich, statt den fehlenden Schlaf nachzuholen, gleich über all das Liegengebliebene in der Küche und den Zimmern hermachte. Die kleine Flasche Wodka, die sie Michael schenkte, jedes Mal eine andere Sorte, die Auswahl in Polen musste riesig sein.

Die DVDs, die beide sahen, die Kuh »Mama Muh«, die Peanuts, und aus Polen »Bolek i Lolek« – und so vieles andere, wie könnte er all das behalten, er wurde älter, manche sagten, er sei schon alt, da spielte ihm das Gedächtnis Streiche, und er vergaß vieles; nur das, was er vergessen wollte, vergaß er nicht.