Juli.Mord. - Bodo Manstein - E-Book
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Juli.Mord. E-Book

Bodo Manstein

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Bodo Mansteins Debüt "Juli.Mord." ist ein fesselnder Ermittler-Roman der Extraklasse, raffiniert gestrickt, dramatisch und überraschend bis zur letzten Seite. Mitten in der Hochsaison sorgt eine Leiche am Sylter Weststrand für Aufregung auf Deutschlands größter Nordseeinsel. Der freie Journalist Robert Benning soll über den Fall berichten. Gemeinsam mit seinem Freund Michael Hinrichs, dem Leiter der Westerländer Kripo, stößt er schon bald auf weitere ungeklärte Mordfälle. Sind sie etwa einem Serienmörder auf die Spur gekommen? Schneller als gedacht steht Benning plötzlich selbst inmitten einer tödlichen Geschichte, über die er eigentlich nur berichten wollte … "Juli.Mord." ist der Auftakt einer vielschichtigen und atmosphärisch dichten Krimi-Reihe um Journalist Robert Benning und Kriminalhauptkommissar Michael Hinrichs. Für die Leser von Klaus-Peter Wolf, Eva Almstädt, Sven Koch und Gisa Pauly.

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Seitenzahl: 356

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Bodo Manstein

Juli.Mord.

Sylt-Krimi

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Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. KapitelEpilogDanksagung
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Für Klaus

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Prolog

List, 19. Juli 1984

Die Schatten der Dünen wurden von Minute zu Minute länger und kündigten das Ende eines schönen Sommertages an. Henning Paulsen setzte den Blinker und fuhr seinen roten Golf langsam auf den Parkplatz am Lister Weststrand. Dabei warf er Sandra, die neben ihm saß, einen kurzen Seitenblick zu, bevor er nach einer Parklücke Ausschau hielt.

Nur wenige Touristen hielten sich um diese Zeit noch am Strand auf, so dass Henning nicht lange suchen musste. Vor drei Stunden wäre es ihm wohl noch wie dem Fahrer in Herbert Grönemeyers Lied Mambo gegangen, der auf der Suche nach einem Parkplatz endlose Runden dreht.

Henning entschied sich für einen Platz direkt am Aufgang zur Strandhalle und ließ den Wagen langsam ausrollen. Schon legten sich Sandras Arme um seinen Hals und zogen ihn so unvermittelt zu ihr hinüber, dass sein Fuß von der Kupplung rutschte. Der Golf machte einen kurzen Satz nach vorne, die Räder blockierten, und der Motor erstarb.

»Langsam«, brummte Henning leicht verstimmt und war froh, dass ihn niemand beobachtet hatte. Doch schon spürte er Sandras weiche Lippen auf seinen. Sie küsste ihn zärtlich und schmiegte sich immer enger an seinen Körper. Entschuldigung angenommen, dachte Henning mit einem milden Lächeln.

Ein dezenter Duft von Rosenblättern und Orangenschalen stieg von ihrer warmen Haut auf und ließ ihn die Augen schließen. Sie liebte Chanel No. 5, und er liebte Chanel No. 5 an ihr. Nach einer wunderschönen gefühlten Ewigkeit erinnerte er sich jedoch an sein Vorhaben, löste sich von ihr und sah sie für einen Moment schweigend an.

»Ich liebe dich«, hauchte Sandra in die Stille. Ihre Augen glänzten, und ihr Blick tastete sein gesamtes Gesicht ab. Henning lächelte und strich ihr sanft eine blonde Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Was sollte er ihr darauf antworten? Ein unehrliches Ich liebe dich auch? Aber das wollte nicht so einfach über seine Lippen kommen. Nicht heute, nicht morgen, nie mehr.

 

»Wer zuerst am Strand ist«, unterbrach Sandra jäh seine Gedanken und löste – zumindest für den Moment – seinen inneren Konflikt. Blitzschnell öffnete sie die Tür, griff ihre Tasche und rannte, kaum war sie aus dem Auto heraus, auch schon los.

Obwohl Henning ihre Spontanität kannte – bei ihr musste man wirklich stets auf alles gefasst sein –, schaffte sie es doch jedes Mal, ihn aufs Neue zu überrumpeln, und es dauerte auch jetzt wieder ein paar Sekunden, bis seine Überraschung nachließ.

Sandras Vorsprung war bereits beachtlich gewachsen. Rasch beugte er sich zur Beifahrerseite und zog die Tür zu. Er drückte den Verriegelungsknopf herunter und schwang sich selbst aus dem Wagen.

»Hey, warte, das ist unfair!«, rief er Sandra hinterher, während er eilig das Auto verschloss.

»Los, du lahme Ente!« Sandra war auf halber Strecke stehen geblieben und winkte ihm herausfordernd zu.

»Na warte«, knurrte Henning. »Ich krieg dich schon!«

Sandra quiekte lachend, als sie ihn losrennen sah, und setzte ihren Spurt hinauf zur Strandhalle fort. Oben angekommen, blickte sie kurz über ihre Schulter zurück. Henning hatte schon kräftig aufgeholt. Zum Glück ging die Strecke nun hinunter zum Strand, direkt ans Meer. Doch sie hatte nicht den tiefen Sand bedacht, der mit jedem Schritt nachgab und ihr das Gefühl vermittelte, auf der Stelle zu laufen. Ihre sündhaft teuren Sandalen hätten sie schon nach wenigen Metern fast stürzen lassen.

Auch Henning war inzwischen oben auf der Düne angekommen und hielt einen Moment inne. Mit Genugtuung sah er, wie Sandra mühsam versuchte, sich ihrer Schuhe zu entledigen. Er grinste siegesgewiss, denn mit seinen Leder-Mokassins war er hier eindeutig im Vorteil.

»Na warte«, sagte er leise zu sich selbst, bevor er wieder losstürmte. »Gleich habe ich dich.« Warum konnte das Leben nicht immer so unbeschwert sein wie in diesem Moment?

Sandra hatte sich zwischenzeitlich auch von ihrer zweiten Sandale befreien können, als sie bemerkte, dass Henning sich bereits unmittelbar hinter ihr befand. Dass er so schnell war, damit hatte sie wirklich nicht gerechnet. Sie ließ sich in den weichen Sand fallen und blieb lachend mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken liegen. Henning warf sich übermütig auf sie, seine Hände drückten ihre Handgelenke sanft in den Sand. Schwer atmend sah er auf sie herab.

»Ich ergebe mich«, japste Sandra und lächelte. »Ich gehöre nun dir.«

Henning rollte von ihr herunter und blieb ebenfalls auf dem Rücken liegen. Sein Blick verlor sich in der Weite des Abendhimmels, der sich in einem verheißungsvollen Farbenspektrum präsentierte. Eine Möwe segelte, aufmerksam nach Beute Ausschau haltend, vorbei.

»Warum können meine Eltern nicht noch eine Woche bleiben?«, fragte Sandra enttäuscht und wandte sich ihm zu. »Dann könnten wir wenigstens noch meinen Geburtstag zusammen feiern.«

»Weil sie wieder arbeiten müssen«, erwiderte Henning, ohne seinen Blick von der kreisenden Möwe zu nehmen.

»Die eine Woche hin oder her …«, sagte Sandra.

»Mit der Einstellung wären sie sicher nicht zu einem Haus in Kampen gekommen, oder?« Unversehens stieß die Möwe wie ein Adler herab, packte sich einen kleinen Krebs, den das ablaufende Wasser zurückgelassen hatte, und flog kurz darauf mit ihrer Beute davon. Henning sah blinzelnd zu Sandra hinüber.

»Das ist es ja gerade«, schimpfte sie. »Sie haben hier ein Haus. Ich verstehe nicht, warum wir nicht öfter auf die Insel fahren und länger Urlaub machen. Wenn ich wenigstens alleine bleiben dürfte …« Sie wechselte in den Schneidersitz und sah mit vorgeschobener Unterlippe auf ihn herab. »Du musst dich auf dein Abitur vorbereiten«, äffte sie ihren Vater nach. »Überleg doch mal: Ich werde nächste Woche zwanzig. Ich hätte nicht übel Lust …«

»Du hättest ja keine Ehrenrunde drehen müssen«, unterbrach sie Henning und drehte sich auf die Seite. Er stützte sich auf seinen Ellbogen und malte kleine Wellen in den feinen Sand. »Deine Eltern werden schon ihre Gründe haben, dich nicht zurücklassen zu wollen. Du könntest dir ja einen Seemann anlachen, und das wäre überhaupt nicht standesgemäß.« Mit verschmitzter Miene schielte er zu ihr hinüber. Sandra warf sich lachend auf ihn und gab ihm einen Kuss.

»Wenn die wüssten, dass ich den schon habe.«

»Ja«, sagte Henning und schob sie sanft, aber bestimmt zur Seite. Er setzte sich auf und umklammerte mit den Armen seine angewinkelten Beine. Dann stützte er sein Kinn auf die Knie und blickte seufzend aufs Meer hinaus. »Darüber wollte ich mit dir sprechen.«

»Was ist los?«, fragte Sandra verwundert und rutschte näher an ihn heran.

Woher kam auf einmal sein Stimmungsumschwung? Hatte sie irgendetwas falsch gemacht, oder lag es einfach nur daran, dass heute ihr letzter gemeinsamer Abend war, bevor es für sie wieder zurück nach Hamburg ging?

 

Henning beobachtete, wie die Sonne soeben den Horizont zum allabendlichen Schauspiel zu berühren schien. Ohne den Blick von der See zu nehmen, sagte er: »Es tut mir so leid, Sandra. Ich habe lange darüber nachgedacht. Aber es hat keinen Sinn mehr mit uns.«

Selbst über die direkte und kalte Art seiner Worte erschrocken, erwartete er ihre Reaktion.

»Wie, du machst Schluss?«, stammelte Sandra ungläubig. Das konnte doch nicht sein, nicht nach den vergangenen zwei Wochen und den romantischen Stunden am Strand? Henning war ihr doch genauso glücklich wie immer vorgekommen, oder irrte sie sich? Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich wollte er sie nur necken. Gewissermaßen als Rache für ihren Ausreißer von vorhin. Mit seinem erfrischenden und manchmal auch hintergründigen Humor nahm er sie gerne mal auf den Arm.

»Lass den Scheiß!«, sagte sie und lachte unsicher.

Henning atmete tief ein. Er hatte geahnt, dass es nicht leicht werden würde. Und jetzt, wo die Worte einmal heraus waren, durfte er auf keinen Fall einknicken, so schwer es ihm auch fiel. Diesen Sommer würde es keine zweite Gelegenheit für ein Treffen geben, und es per Brief oder Telefon zu beenden war nicht seine Art.

»Es tut mir leid, aber ich meine es ernst«, sagte er mit belegter Stimme und räusperte sich schwach. Er drehte sich zu ihr um und sah sie eindringlich an. »Blick den Tatsachen doch ins Auge. Wir haben uns vor einem Jahr das letzte Mal getroffen, und jetzt gehst du wieder nach Hamburg. Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen?«

Sandra hatte nun beide Hände auf seinen Arm gelegt.

»Das Jahr ist doch wie im Flug vergangen. Und das nächste wird genauso schnell vergehen. Ich komme doch in den Herbstferien wieder, und ich kann auch mit meinen Eltern reden! Wenn ich mich in der Schule anstrenge, lassen sie mich sicher auch alleine fahren. Dann hätten wir unser Haus in Kampen nur für uns.«

»Nun sei doch vernünftig«, sagte Henning, wurde aber sofort wieder von ihr unterbrochen.

»Nächstes Jahr baue ich mein Abi. Dann könnte ich mir hier auf der Insel einen Job suchen.«

Henning schüttelte den Kopf und sah den Strand hinunter. Sie waren nun fast alleine hier. Nur noch ein paar Gäste stapften durch den feinen warmen Sand zu ihren Autos jenseits der Strandübergänge. Er stand auf, machte einen Schritt in Richtung Meer und drehte sich dann wieder schwerfällig zu Sandra um.

»Sandra, das wäre natürlich schön, aber vergiss bitte nicht, dass ich bald meine Lehrgänge zum Maat hinter mir habe und wahrscheinlich in absehbarer Zeit auf See bin.«

»Ja und? Dann werde ich halt wirklich die Braut eines Seemanns!« Sandra war ebenfalls aufgestanden und hatte sich trotzig vor ihm aufgebaut. Ohne Zweifel war ihr der Ernst seiner Worte nicht bewusst. Verliebt wie eh und je sah sie ihn mit ihren stahlblauen Augen an und sprühte nur so vor Zuversicht. Sanft griff sie nach seiner Hand und sagte: »Wir schaffen das. Du wirst sehen. Wenn du auf See sein solltest, werde ich auf dich warten.«

Henning wurde es jetzt mulmig. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Er mochte Sandra wirklich. Hätte er sonst sein Doppelleben so lange aufrechterhalten?

 

Nur zu gut konnte er sich an den Tag erinnern, an dem sie sich kennengelernt hatten. Wie jeden Mittwoch war er mit einigen Kameraden aus der nahe gelegenen Marinekaserne zum Feiern in die Inseldisco gekommen. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem sie bis elf Uhr Ausgang hatten. In der kleinen Disco des nördlichsten Dorfes Deutschlands fanden sie die Zerstreuung, die sich ihnen sonst nur im fünfzehn Kilometer entfernten Westerland bot. Die meisten hatten damals noch kein Auto oder scheuten die teuren Übersetzkosten und hatten ihre Wagen unter der Woche auf dem Festland geparkt.

Sandra hatte nur zwei Plätze von ihm entfernt am Tresen gesessen und gelangweilt in ihren Campari-O gestiert, den sie fest mit beiden Händen umklammert hielt. Ihr hübsches junges Gesicht mit den funkelnden blauen Augen, die unter einem fransigen, hellblonden Pony ab und zu hervorlugten, hatte ihn wie magisch angezogen. Irgendwann hatte er sich schließlich ein Herz gefasst und sie zum Tanz aufgefordert.

Von da an hatten sie sich noch einige Male getroffen. Aus Smalltalk waren immer längere Gespräche geworden, die sie dann auch bald nach draußen und an romantischere Orte verlegt hatten. Dem ersten Abschiedskuss waren weitere Küsse gefolgt, und dabei hatte er gespürt, wie viele kleine Schmetterlinge in seinem Bauch kitzelten. Ein Gefühl, das in seiner Ehe, auch wenn er Anja über alles liebte, über die Jahre abhandengekommen war. Sandras Spontanität und ihr Temperament waren so erfrischend, und es schmeichelte ihm, dass sie in ihm ihren Seemann sah, der sie eines Tages aus der Enge ihrer langweiligen Welt von Hamburg nach Sylt entführen sollte. Oft hatte sie ihm versichert, auf ihn zu warten. Egal wie weit er auch weg wäre oder wie lange es dauern würde. Und während Sandra zu ihm als Mann aufblickte, war seine Beziehung zu Anja eine ganz andere. Gemeinsam managte man den Familienalltag und begegnete sich auf Augenhöhe. Sehr oft spielte er in seinen Gedanken das Szenario durch, Sandra früher kennengelernt zu haben. Doch wäre er mit ihr immer glücklich gewesen?

Zunächst hatte er gehofft, Sandra würde – genau wie er selbst – ihre Begegnung als einmaligen Urlaubsflirt abtun und sich nicht mehr bei ihm melden. Doch schon bald war ihr erster Brief angekommen, in dem sie ihm versicherte, wie sehr sie ihn vermisste. Henning war in seinem Dilemma froh gewesen, dass er Sandra nur seine Dienstanschrift gegeben hatte, als sie ihn vor ihrer Abreise um seine Adresse gebeten hatte. So hatte Anja von ihrem Briefwechsel nichts mitbekommen. Sich von seiner Familie zu trennen kam für ihn nicht in Frage. Anja kannte er schon aus dem Sandkasten. Letztes Jahr hatten sie geheiratet, und im Februar hatte ihre Familie Zuwachs bekommen. Die kleine Gunda wäre schon für sich alleine Grund genug gewesen, den Ausrutscher mit Sandra längst beendet zu haben.

Warum hatte er überhaupt auf Sandras Briefe geantwortet und dem Ganzen nicht gleich ein Ende gesetzt? Diese Frage stellte er sich immer wieder, und ein ums andre Mal blieb er sich selbst eine Antwort schuldig. Es kam einfach nicht für ihn in Frage, eine Beziehung mit einem Brief oder durch ein Telefonat zu beenden, auch wenn das der einfachste Weg war. Natürlich hatte er Sandra in seinen Briefen keine Liebesschwüre geschickt, sondern versucht, sie mehr freundschaftlich abzufassen. Doch mit ihrer Hartnäckigkeit hatte er nicht gerechnet.

Und so stand sie vor zwei Wochen auf einmal wieder vor ihm, unangekündigt und mit leuchtenden Augen und vor Aufregung geröteten Wangen. »Ich wollte dich überraschen!«, hatte sie ihm zugerufen und war ihm stürmisch um den Hals gefallen. Und als sie ihn geküsst hatte, noch bevor er reagieren konnte, war es wieder um ihn geschehen. Hin- und hergerissen zwischen Herz und Kopf schob er den schweren, aber unausweichlichen Schritt wieder vor sich her. Bis heute.

Ja, heute musste er sie konfrontieren, das war er nicht nur Sandra schuldig, der er nicht länger falsche Hoffnungen machen wollte, vor allem war er es Anja und seiner Gunda schuldig. Und, wenn er ehrlich zu sich selbst war, war dieser Schritt auch für ihn selbst mehr als überfällig. Er war kein Falschspieler. Nein, er durfte nicht länger mit verdeckten Karten spielen.

Die Wahrheit jedoch – dass er eigentlich verheiratet war und Familie hatte – konnte er ihr auf keinen Fall sagen. Was wäre, wenn Sandra seine Frau kontaktierte?

Nein, das dürfte er nicht riskieren. Es ging nur über eine Lüge, nämlich die von seiner bevorstehenden Zeit auf See.

 

In Sandras Blick erkannte Henning, dass er ihr nun weh tun musste, wenn er sich endgültig von ihr lossagen wollte. Doch es gab keinen anderen Weg. Also nahm er all seinen Mut zusammen und sprach endlich das aus, was er schon längst in dieser Deutlichkeit hätte sagen sollen: »Es ist aus. Es fällt mir auch nicht leicht, aber ich habe es mir gut und lange überlegt. Bitte akzeptiere meine Entscheidung.«

Erschrocken rückte Sandra von ihm ab. Sie schien nach den passenden Worten zu suchen. Erst nach einer Weile fand sie diese, und dann sprach Wut aus ihr:

»Die letzten zwei Wochen waren dann aber doch noch ganz toll, oder?!«, rief sie und sah ihn gereizt an.

»Ja, es war schön«, antwortete Henning mit betretener Stimme. »Vielleicht zu schön, um eine erneute Trennung zu verkraften.«

Er fasste nach ihrer Hand, doch mit einer schnellen Drehung entzog sie sich seinem Griff und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du brauchst gar nicht so zu tun«, stieß sie nun richtig wütend hervor. »Ich habe schon verstanden. Der Herr macht sich noch flott ein paar schöne Wochen und dann …« Sie machte eine Handbewegung, als ob sie etwas über die Schulter werfen würde.

»Nein, Sandra, bitte«, protestierte Henning. »Das stimmt so nicht.«

»Es stimmt nicht? Du sagtest doch, ich sollte den Tatsachen ins Auge blicken. Und was ich sehe, ist, dass ich für zwei Wochen gut genug bin, für mehr aber nicht.« Er bemerkte, wie ihr die zunehmende Wut Tränen in die Augen trieb. »Suchst du dir jetzt die Nächste?« Sie fuhr herum und blickte ihn wutentbrannt an, während die ersten Tränen ihre Wangen herabronnen. Ihre Hände hatte sie so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Nun hör aber auf!«, rief Henning in seiner Hilflosigkeit. Nun war genau das passiert, wovor er sich die ganze Zeit so gefürchtet hatte. Sandra war zutiefst verletzt, und das alles war alleine seine Schuld.

 

»Ich denke gar nicht dran!«, keifte Sandra. Was bildete er sich eigentlich ein? Sie war doch kein Spielzeug, das man einfach so wegschmeißen konnte, wenn man seiner überdrüssig geworden war. Wie hatte sie sich nur so in ihm täuschen können? Lass die Finger von Marinesoldaten, hatte Melanie ihr geraten. Doch die Warnung ihrer besten Freundin hatte sie seinerzeit mit einer Handbewegung abgetan, so sicher war sie sich gewesen, dass ihr Henning anders war. Sie dachte an ihre ersten Treffen am Lister Hafen, die scheinbar endlosen Strandspaziergänge und die lebhaften Gespräche, die dort ihren Anfang nahmen. Wieder spürte sie, wie eine neue Welle aufsteigender Wut sie durchströmte. Nein, so würde er nicht davonkommen.

»Wenn du meinst, dass du mich einfach so abservieren und morgen mit der Nächsten ins Bett steigen kannst, dann hast du dich mächtig geschnitten«, drohte sie und wischte sich mit den Handrücken die Tränen aus den Augen.

»Es gibt keine andere«, beteuerte Henning. Und da er dies ausschließlich auf eine Geliebte und nicht auf seine Frau bezog, klang er auch ausgesprochen überzeugend.

»Aber warum können wir dann nicht zusammenbleiben?«

»Versteh doch. Diese langen Trennungen hält keiner auf Dauer aus.«

»Dann liebst du mich auch nicht wirklich«, erwiderte Sandra. Auf eine Reaktion Hennings wartend, wanderte ihr Blick hinaus aufs Meer. Hinaus zu dem Punkt, an dem die Sonne den Himmel in ein flammendes Farbenmeer verwandelt hatte.

»Gerade weil ich dich …«

Er zögerte. Das Wort liebe war ihm erneut im Hals stecken geblieben.

»Gerade deswegen«, stammelte er schnell die Verbesserung hinterher. Behutsam trat er hinter sie und hob die Hände. Doch kurz bevor er Sandras Schultern berührte, hielt er inne und ließ sie wieder sinken.

»Sag, dass du mich liebst«, forderte sie leise, aber mit fester Stimme, ohne den Blick vom Horizont zu nehmen.

»Das ändert doch auch nichts«, erwiderte er. »Mein Entschluss steht fest. Wir können einfach nicht so weitermachen. Das macht uns beide unglücklich. Komm, lass uns fahren. Ich bring dich nach Hause.« Er drehte sich um und machte Anstalten, den Rückweg anzutreten.

»Nein. Das kann es nicht gewesen sein«, sagte Sandra mit bebender Stimme. Henning blieb stehen, ohne sich umzuwenden.

»Wenn du jetzt gehst, wirst du es bereuen.«

Er zögerte. Wie verzweifelt musste Sandra sein, wenn sie ihm jetzt auch noch drohte? Doch nein, er durfte nun auf keinen Fall nachgeben. Weitere Diskussionen würden sie nicht weiterbringen. Er warf noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter und fragte mit einem unüberhörbar mahnenden Unterton in der Stimme: »Kommst du nun mit? Sonst fahre ich ohne dich.«

Sandra blickte regungslos hinaus aufs Meer und presste die Lippen zusammen.

Henning sah abwartend zu ihr hinüber. Doch Sandra machte keine Anstalten, mit ihm zu kommen.

»Ich gehe dann schon einmal langsam vor«, sagte er leise und wandte sich zum Gehen. Vielleicht brauchte sie ja noch einen Moment für sich, dachte er, bevor er gemächlich den Strand hinaufstapfte. Den notwendigen Freiraum wollte er ihr in jedem Fall geben.

 

Sandra dachte gar nicht daran, ihm zu folgen. Niemals würde er es wagen, ohne sie zurückzufahren, da war sie sich sicher. Angestrengt lauschte sie, ob er noch in ihrer Nähe war und auf sie wartete. Doch das sanfte Plätschern der Wellen, die sich auch immer weiter vom Strand zurückzogen und sich der Anziehungskraft des Mondes beugten, übertönte jedes andere Geräusch. Sie überlegte. Sollte sie einen vorsichtigen Blick wagen? Konnte sie es überhaupt, ohne sich die Blöße zu geben? Auf der anderen Seite, welche Alternative hatte sie? Vorsichtig wagte sie also einen verstohlenen Blick über die Schulter und bemerkte, dass sich Henning nicht mehr in ihrer Nähe befand. Schritt für Schritt stapfte er den Strand hinauf und hatte schon fast die Strandhalle erreicht. Rasch drehte sie sich wieder um. Wenn er oben angekommen war, würde er nach ihr rufen. Kein Zweifel. Und sie? Sie würde ihn natürlich noch etwas zappeln lassen. Nein, niemals würde er sie hier zurücklassen.

 

Doch die Minuten vergingen, ohne dass sie ein Rufen vernehmen konnte. Vielleicht hatte es das Rauschen des Meeres übertönt? Angestrengt lauschte Sandra weiter. Und allmählich wuchsen ihre Zweifel.

Langsam begann sie, herunterzuzählen: »Zehn, neun, acht …« Sollte sie bei null noch nichts von Henning gehört haben, so würde sie ihm folgen. Und wenn er wirklich gefahren sein sollte, dann würde er sein blaues Wunder erleben. Sandra spürte, wie der Zorn wieder in ihr anstieg. »… zwei, eins, null.« Sie drehte sich um und schaute zu der Dünenkette hinauf. Der Strand war inzwischen menschenleer. Niemand war zu sehen, der sie im Falle eines Falles mitnehmen konnte.

Nach einigen weiteren Minuten griff Sandra nach ihren Sandalen und ihrer Tasche und eilte den Strand hinauf. Oben angekommen, duckte sie sich hinter einen kleinen Syltrosenbusch, der etwas abseits des Weges stand. Von hier aus konnte sie den Parkplatz gut überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.

Hab ich’s doch gewusst, dachte sie triumphierend, als sie Henning erblickte. Er lehnte an der Motorhaube seines Wagens und hatte sich eine Zigarette angezündet. Hast du es dir also doch anders überlegt. Sandra überlegte. Und plötzlich kam ihr eine Idee, wie sie ihn für immer an sich binden konnte.

 

Ohne den Blick von ihm zu nehmen, griff sie nach ihrer Handtasche und förderte ein ausgedientes Brillenetui hervor. Rasch sah sie sich um und prüfte noch einmal ihr Versteck. Ja, für das, was sie vorhatte, war der Platz ideal. Von hier aus konnte sie jeden sehen, der den Strandübergang überquerte, sie selbst war jedoch so gut wie unsichtbar. Mit einem erneuten Blick auf den Parkplatz vergewisserte sie sich, dass Henning noch da war. Und richtig: Er hatte soeben seine Zigarette vor sich auf den Boden geschnippt und sich von der Motorhaube abgestoßen. Sorgfältig trat er den glimmenden Stummel mit der Fußspitze aus und blickte unvermutet in ihre Richtung. Instinktiv duckte sie sich, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Ihr Versteck war wirklich perfekt, er konnte sie nicht sehen.

Sie beobachtete, wie er sich langsam wieder Richtung Strand in Bewegung setzte. Mit zittrigen Fingern öffnete Sandra das Brillenetui. Zum Vorschein kam ein kleines Küchenmesser, das sie fast immer bei sich hatte, um Kerngehäuse aus Äpfeln zu entfernen. Sosehr sie die herb-säuerliche Frische eines Boskops liebte, so sehr hasste sie das harte Innere.

Zögernd hob sie das Messer prüfend hoch. Dann war sie sich sicher, dass es nur diesen einen Weg gab. Nach dieser Vorstellung könnte Henning gar nicht mehr anders, schließlich müsste er als ihr Lebensretter eine ewige Verpflichtung eingehen.

 

Nach ein paar Schritten blieb Henning auf dem Parkplatz stehen. Sandra war immer noch nirgends zu sehen. Auf seinem Weg vom Strand zum Parkplatz hatte er aus den Augenwinkeln heraus mitbekommen, wie sie sich einmal kurz zu ihm umgedreht hatte. Mit Sicherheit hatte sie nur noch kurz gewartet, bis er hinter der Düne verschwunden war, und war ihm dann gefolgt.

Irgendwo da oben versteckst du dich, dachte er und versuchte, ihre blonden Haare zwischen Strandhafer und Syltrosen zu entdecken, doch vergeblich. Er hielt sich die Hände wie zu einem Trichter geformt an den Mund und rief laut: »Saaaandra!« Dann lauschte er in die nachfolgende Stille.

Keine Antwort.

»Saaaaannndra! Ich fahre jetzt wirklich!«

 

Sandra zuckte zusammen. Sie hatte es tatsächlich getan. Tief hatte die Klinge in ihr Fleisch geschnitten. Drei Versuche waren letztlich nötig gewesen, doch jetzt blickte sie, teils über ihre eigene Courage überrascht, teils über die stark blutende Wunde erschrocken, auf ihren Unterarm. In der Ferne hörte sie Hennings Rufe. Sie sah hinüber zum Strandübergang. Auf gar keinen Fall durfte sie verpassen, wenn er gleich dort auftauchen und nach ihr suchen würde. Vor ihrem geistigen Auge sah sie bereits, wie er, nachdem sie ihn mit leidender Stimme auf sich aufmerksam gemacht hatte, auf sie zustürmen würde. Dann sein besorgtes Gesicht, während er neben ihr knien und hektisch versuchen würde, die Blutung zu stillen.

Wo blieb er nur? Sandra spürte, wie es ihr nach und nach trotz der milden Abendtemperatur kälter wurde. Ihr linker Arm lag schlaff neben ihr, und im Rhythmus ihres Herzschlages floss ihr Blut in den weißen Sylter Sand, wo es langsam versickerte.

 

Henning lauschte. Immer noch keine Antwort. Jetzt reicht es, ich habe lange genug auf sie gewartet, dachte er ärgerlich. Er machte auf dem Absatz kehrt, ging entschlossen zu seinem Wagen zurück, stieg ein und startete den Motor. Und während er ein letztes Mal zur Düne hinaufblickte, ließ er noch einmal mahnend den Motor des Golfs aufheulen. Doch von Sandra war immer noch nichts zu sehen.

Vielleicht bringt dich etwas frische Luft ja wieder zur Vernunft, dachte er.

Die Straße in Richtung List war wie leer gefegt, als er losfuhr. Im Rückspiegel sah er, wie die dunkle Dünenkette, die sich vor dem flammenden Abendhimmel erhob, von Minute zu Minute kleiner wurde.

»Mach’s gut, Kleine!«, sagte er leise zu sich selbst und fuhr davon.

 

Nur mit Mühe konnte Sandra sich noch wach halten. Sie fühlte sich auf einmal so müde. Ihr Blick wanderte von dem Punkt, den sie schon die ganze Zeit unaufhörlich fixiert hatte, nach links. Auch sich zu konzentrieren fiel ihr zusehends schwerer. Zwischen zwei Rosen hindurch sah sie hinaus aufs Meer.

Wie schnell es auf einmal dunkel geworden ist, wunderte sie sich. Kaum noch in der Lage, ihre Augen offen zu halten, dachte sie an Henning. Wo er nur blieb? Waren das nicht seine Schritte auf dem Holzsteg? Wie durch einen Schleier blickte sie noch einmal in Richtung des Strandübergangs.

»Henning!«, rief sie mit schwacher Stimme. »Henning, hier bin ich …«

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1.

Kampen, 19. Juli 2009

Robert Benning liebte Sonnenaufgänge über dem Watt. Er liebte die Farben, die sich fast minütlich änderten und ständig neue Stimmungen erzeugten. Er liebte das Meer, das gerade versuchte, dem schönen Antlitz des Himmels ein würdiger Spiegel zu sein. Und er liebte die Herausforderung, dieses Bild auf eine Leinwand zu bannen. Eigentlich ein schier unmögliches Unterfangen, wie er fand, aber die Ergebnisse sprachen jedes Mal aufs Neue für sich.

Was er jedoch hasste, waren nervige Handys, die ihm beim Malen störten, und noch viel mehr hasste er es, wenn er selbst vergaß, das eigene auszuschalten. Für einen Moment dachte er daran, das Klingeln einfach zu ignorieren. Doch die Ruhe, die Stimmung, alles war dahin. Zerplatzt wie eine Seifenblase.

Benning fischte das iPhone aus seinem Rucksack, der am Dreibein seiner Staffelei lehnte, und blickte genervt auf das Display.

»Ja?«, grummelte er unwirsch in sein Telefon.

»Robert?«

»Dir auch einen schönen Morgen, Silke«, antwortete er mit aufgesetzter Freundlichkeit.

»Natürlich. Morgen, Robert«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Tut mir leid. Habe ich dich geweckt?«

»Nein. Ich wollte eigentlich nur mal wieder etwas für meinen Lebensunterhalt tun«, entgegnete Benning wichtig. »Was gibt es denn so früh am Morgen zu besprechen?«

Silke Ingwersen war sein vorwurfsvoller Unterton nicht entgangen, und sie schämte sich etwas dafür, ihn an einem Sonntagmorgen um kurz nach sechs Uhr gestört zu haben.

»Du malst also?«, fragte sie vorsichtig, scheinbar im Bemühen, die Wogen ein wenig zu glätten, indem sie ihn auf seine Leidenschaft ansprach.

»Jetzt nicht mehr.«

Nicht nur, dass Silke ihn um diese Uhrzeit angerufen hatte, jetzt folgte offenbar noch der Versuch eines überflüssigen Smalltalks. Benning seufzte und blickte über den Rand der Leinwand. Die Sonne kletterte unaufhaltsam über dem Festland in die Höhe. Von Minute zu Minute änderte sich damit auch sein Motiv. Auf lange Gespräche konnte er deshalb sehr gut verzichten.

»Tut mir total leid, wenn …«

»Silke, bitte!«, unterbrach er sie mahnend. »Komm zur Sache!«

»Hinrichs hat mich gerade aus dem Bett geholt …« Benning horchte auf. So schnell, wie sein Ärger gekommen war, war er auch schon wieder verflogen. Wenn sein Freund Michael Hinrichs von der Westerländer Kripo an einem Sonntagmorgen die Chefredakteurin der Sylter Zeitung anrief, musste schon etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein. Vielleicht ein Einbruch in einer Kampener Promi-Villa? Oder gar ein Raubüberfall auf einen VIP?

 

»Es gibt eine Tote am Weststrand.«

Benning war für einen Augenblick verdutzt. Ein nächtlicher Badeunfall? Vielleicht war ja ein Klatschpresse-Sternchen aus Liebeskummer ins Wasser gegangen? Benning überlegte, welcher Promi gerade mit seiner Gespielin auf der Insel weilte. Er legte Pinsel und Palette zur Seite, nun hatte ihn doch die Neugier gepackt.

»Was ist passiert?«

»Ich weiß leider auch nichts Genaues. Könntest du vielleicht hinfahren? Möglicherweise kriegen wir ja noch eine Schlagzeile für morgen. Ich würde in der Zeit schon einmal in der Redaktion überlegen, welchen Artikel wir stattdessen herausnehmen können.«

Ja, man kannte sich auf Sylt, und das Verhältnis zwischen Polizei und Lokalpresse war ausgesprochen gut. Dies lag sicher auch an dem freundschaftlichen Verhältnis, das Michael Hinrichs und Robert Benning verband. So war Benning auch letztlich auf die Idee gekommen, neben der Malerei als freier Journalist für die Sylter Zeitung zu schreiben. Silke Ingwersen war mit ihrer Redaktion ein Garant für seriöse Berichterstattung, und da sich Benning nur vorstellen konnte, für ein ordentliches Blatt zu schreiben, half man sich gerne gegenseitig. Schließlich gab es schon genug Paparazzi und Klatschreporter, die regelmäßig auf die Insel der Reichen und Schönen strömten und für Unruhe sorgten.

»Wo muss ich hin?« Auch wenn sich Benning seinen Sonntagvormittag deutlich anders vorgestellt hatte, durfte er sich diese Story nicht entgehen lassen. Etwas Bedauern lag allerdings doch in seinem Blick, als er noch einmal sein Werk betrachtete, das er nun nicht vollenden konnte und das deshalb ein Fall für die Mülltonne geworden war, da jeder Sonnenaufgang für sich einzigartig war. Dann halt das nächste Mal, tröstete er sich selbst. Und dann ganz sicher ohne Handy.

 

»Wir sehen uns heute Nachmittag in der Redaktion. Sagen wir so gegen drei Uhr? Und den Artikel schicke ich dir wie immer vorab.«

Damit verabschiedete sich Benning von Silke Ingwersen und blickte noch einmal hinaus aufs Watt. Hinaus auf das Schauspiel, dessen Finale er nun verpassen würde. Seufzend schob er sein Smartphone in die Hosentasche.

Benning verstaute Staffelei und Leinwand zusammen mit den restlichen Malutensilien im Kofferraum seines Mazda MX-5. Nach Silkes Angaben lag der Strandabschnitt, an dem man die Tote gefunden hatte, nur ein paar Minuten von seiner Wohnung in Westerland entfernt. Er klappte das Verdeck zurück und ließ sich auf den Sitz sinken. Hätte er gewusst, wie sehr das, was ihn gleich erwarten würde, von nun an sein Leben verändern würde, er hätte seine Staffelei wohl sofort wieder ausgepackt.

 

Der Parkplatz neben der Nordseeklinik war um diese Zeit, trotz seiner Nähe zum Strand, noch weitgehend leer. Genau genommen befanden sich nur drei Autos dort: ein kleiner Opel Corsa mit nordfriesischem Kennzeichen, der, wie Benning vermutete, einer Krankenschwester gehörte. Ein so kleiner Wagen, so dicht an der Klinik geparkt, ließ keinen anderen Schluss zu, außerdem war es für Krankenbesuche noch zu früh. Benning liebte es, anhand von Kennzeichen, Modell und Aussehen der Fahrzeuge Rückschlüsse auf ihre Fahrer zu ziehen. Und für dieses Rätselspiel gab es hier auf der Insel mehr als genug Gelegenheiten. Früher, als Gunda noch ein Kind gewesen war, hatte er mit ihr regelrecht Wettbewerbe veranstaltet, wenn sie über die Strandparkplätze gegangen waren oder an der Autoverladung gestanden hatten. Der alte VW-Bulli am hinteren Ende des Parkplatzes zum Beispiel: Ohne jeden Zweifel gehörte der einem der vielen Surffreaks, die immer und überall auf der Suche nach der perfekten Welle waren. Eine Batterie von Surfbrettern ruhte in u-förmig gebogenen Halterungen, die seitlich an dem weißen Hochdach angebracht waren. Der Rest des Wagens war in einem Gelb lackiert, das ihn zweifellos als ausgemusterten Paketwagen auswies. Offenbar hatte dieser einen zweiten Frühling als Wohnmobil erfahren und bereiste nun von Hannover aus die Welt, wovon zahlreiche Aufkleber erzählten.

Auf der anderen Seite des Platzes stand das genaue Gegenteil: Ein nagelneuer silberfarbener Mercedes C 280. Ein älterer Herr beugte sich über den geöffneten Kofferraum und verstaute sorgfältig Mantel und Spazierstock, während sich eine korpulente Dame mühsam auf den Beifahrersitz wuchtete. Die beiden hatten vermutlich gerade ihren Sonntagmorgenspaziergang beendet, und Benning schätzte, dass sie ihr nächster Weg in die Kirche führen würde.

Er parkte den MX-5 neben dem Mercedes und stieg aus, woraufhin ihm der ältere Herr einen ärgerlichen Blick zuwarf. Demonstrativ umständlich zwängte er sich danach in sein hochglänzendes Prachtstück. Hoch hinter seinem Lenkrad aufgerichtet und tunlichst darauf bedacht, das niedrige Cabrio ja nicht zu berühren, setzte er langsam zurück. Dabei ignorierte er pikiert Bennings Anstalten, ihn herauszuwinken. Dann hatte er es endlich geschafft. Im Zeitlupentempo schob sich der Wagen an Benning vorbei, und erneut traf ihn eine Breitseite giftiger Blicke, doch diesmal vom Beifahrersitz.

»Ihnen auch einen schönen guten Morgen«, winkte Benning ihnen hinterher und klappte das Verdeck des Cabrios zu. Seit eine Möwe mit einer ordentlichen Ladung ihrer ätzenden Verdauungsrückstände einmal fast seine Ledersitze ruiniert hatte, schloss er grundsätzlich das Dach, sobald er den Wagen irgendwo abstellte.

Nach einigen Metern überquerte Benning den Strandübergang. Dabei genoss er den Blick über die weite See. Der unter ihm liegende Strand schien noch einmal Luft zu holen, bevor ihn in wenigen Stunden die nächste Armada sonnenhungriger Urlauber bevölkern würde. An einer Stelle herrschte allerdings schon jetzt auffälliges Treiben. Um einen Strandkorb hasteten einige Männer hin und her, und dazwischen veranstaltete ein Fotograf ein wahres Blitzlichtgewitter. Mittendrin stand, einem Dirigenten gleich, ein mittelgroßer, leicht untersetzter Mann in einer abgegriffenen Horst-Schimanski-Jacke. Wild gestikulierend gab Hauptkommissar Hinrichs seine Anweisungen. Auf den ersten Blick hätte es sich bei der Szene um ein Fotoshooting für irgendeine Modezeitschrift handeln können – nichts Ungewöhnliches für Sylt –, wären da nicht die vielen uniformierten Polizisten und das rot-weiß gestreifte Flatterband gewesen. Das wiederum war ungewöhnlich – auch für Sylt.

Langsam trottete Benning den Strand hinab, ohne die Szene aus den Augen zu lassen. Einige Morgenspaziergänger reckten bereits neugierig tuschelnd an der Absperrung ihre Hälse, während zwei junge Saisonbeamte sich eifrig bemühten, sie auf Abstand zu halten.

»Schon gut!«, rief Hinrichs und nickte einem der beiden Beamten zu, der gerade im Begriff gewesen war, auch Benning den Zutritt zu verwehren.

»Moin, Robbie!«

Hauptkommissar Hinrichs konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. »Hat dich die Ingwersen geschickt? Ach komm, Robbie, schau nicht so. Auch ich hatte für heute andere Pläne. Vor allem mal wieder richtig ausschlafen wäre schön gewesen …«

»Da sagst du was«, antwortete Benning. »Was ist denn passiert?«

Hinrichs legte freundschaftlich seine Hand auf Bennings Schulter und dirigierte ihn zum Tatort.

»Ich habe Silke Ingwersen angerufen, weil ich eure Hilfe brauche. Schafft ihr es, morgen noch einen Artikel in die Zeitung zu kriegen? Mit einem Zeugenaufruf? … Du weißt ja, der nächste Gästewechsel steht an, und bevor mir womöglich noch wichtige Hinweise flöten gehen, weil mögliche Zeugen die Insel verlassen …«

»Das kriegen wir hin«, nickte Benning zuversichtlich. »Die Ingwersen ist schon auf dem Weg in die Redaktion. Sie will unbedingt noch einen Artikel bringen.«

Hinrichs blickte erleichtert zu ihm auf.

»Das sind ja schon mal gute Aussichten«, sagte er und wies in den zurückgeklappten Strandkorb. »Im Gegensatz hierzu. Ein Jogger hat sie vor einer knappen Stunde entdeckt.«

Benning beugte sich über den Rand des Korbes und sah nun auch das, was der Fotograf vorhin so eifrig auf die Speicherkarte seiner Kamera gebannt hatte: eine junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren, die mit ihren geschlossenen Augen aussah, als ob sie schlafen würde. Benning schätzte sie auf Anfang bis Mitte zwanzig. Damit war sie nicht nur ungefähr im gleichen Alter wie seine Gunda, sondern hatte auch eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit.

»Geh nicht zu dicht ran«, ermahnte Hinrichs ihn. »Die SpuSi ist noch nicht durch.«

Benning nickte. Nur schwer konnte er sich vorstellen, dass er sich möglicherweise am Tatort eines Kapitalverbrechens befand.

»Wie ist sie gestorben?«, fragte er leise. Fast hätte er sogar geflüstert, um das fremde Mädchen nicht zu wecken, so irritierend friedvoll wirkte die Szene. »Selbstmord?«

Hinrichs schüttelte ernst den Kopf. Er wies auf den Hals des Mädchens.

»Siehst du die Male? Wahrscheinlich wurde sie erdrosselt.«

Tatsächlich. Bisher hatte sich Benning ausschließlich auf das Gesamtbild der jungen Frau konzentriert. Doch bei näherer Betrachtung erkannte auch er die schwachen Abdrücke dunkler Streifen an ihrem Hals, die teilweise durch den Kragen ihres sonnengelben T-Shirts verdeckt wurden. Ein wenig wurmte es ihn, dass ihm die Male nicht selbst aufgefallen waren. Er beschloss, den leblosen Körper genauer zu betrachten. Im Rahmen seiner Sanitätsausbildung bei der Marine und später als Medizintechniker hatte er schon den einen oder anderen Toten gesehen. Einmal hatte er sogar einer Sektion beigesessen. Allerdings hatte es sich damals nicht um eine aus dem Leben gerissene junge Frau gehandelt.

Die Tote war mit einer geblümten Sommerbluse, die sie offen über dem gelben T-Shirt trug, und einer hautengen weißen Jeans bekleidet. An ihren Füßen trug sie blau-weiß gestreifte Segeltuchschuhe über marineblauen Söckchen. Ihre Arme lagen locker ausgestreckt neben dem Körper.

Benning richtete sich langsam wieder auf.

»Und die Rosa rugosa?«, fragte er und wies auf den Brustkorb der Toten.

»Rosa was?« Hinrichs sah ihn verwundert an. »Ach so, die Rose?«

Benning nickte. Jemand hatte der Ermordeten eine Kamtschatka-Rose auf den Oberkörper gelegt, die auf der Insel auch als Syltrose bekannt ist und überall wuchert.

»Die Rose lag schon da, als sie gefunden wurde«, erklärte Hinrichs. »Das hat zumindest der Jogger ausgesagt.«

»Und das Dunkle auf der Wange?«, fragte Benning.

»Möglicherweise Blut«, antwortete Hinrichs mit einem anerkennenden Nicken. »Dass dir das aufgefallen ist. Aber wir müssen abwarten, was das Labor sagt. Mit etwas Glück hat sich der Mörder ja an der Rose gestochen. Dann hätten wir zumindest schon einmal seine DNA. Meine Leute suchen bei den Büschen am Strandübergang nach weiteren Spuren. Womöglich wurde die Rose dort abgeschnitten. Aber schreib davon noch nichts in deinem Artikel! Möglicherweise …«

»Ja, schon klar«, unterbrach ihn Benning. »Wie immer, keine Infos aus laufenden Ermittlungen an die Öffentlichkeit. Auch wenn die Zeit heute drängt, du bekommst meinen Artikel wie gewohnt vorab als E-Mail.«

»Entschuldigung?«

Benning und Hinrichs drehten sich um. Vor ihnen stand Beate Folkerts, die Notärztin, und streifte sich ihre Latexhandschuhe ab. »Braucht ihr mich noch?«

Sie hatte die oberflächliche Untersuchung der Toten abgeschlossen und wies mit einer Kopfbewegung auf den Strandkorb. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Es liegt zweifellos kein natürlicher Tod vor. Alles Weitere muss die Obduktion klären.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Hinrichs knapp.

»Schwer zu sagen«, antwortete die Ärztin und reichte die Handschuhe nach hinten zu einem ihrer Rettungsassistenten, der sich gerade den Notfallrucksack geschultert hatte und sie wartend ansah.

»Ihr könnt ruhig schon los«, entließ sie ihn. »Ich komm gleich nach.« Dann wandte sie sich wieder an Hinrichs. »Aufgrund der Körperkerntemperatur und des Fortschritts der Leichenstarre würde ich sagen, so vor acht bis zehn Stunden.«

»Danke, Beate. Den Rest erledigt dann die Kieler Rechtsmedizin.« Hinrichs gab ihr die Hand und lächelte sie freundlich an. Er kannte Beate Folkerts schon seit vielen Jahren. Auf Sylt geboren, hatte sie nach dem Abitur in Berlin Medizin studiert. Dort hatte sie danach auch eine Zeitlang gelebt und gearbeitet. Doch letztlich hatte sie das Heimweh wieder zurück an die Küste gezogen. Sie hatte einige Jahre im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf gearbeitet und war erst vor kurzem auf ihre Heimatinsel zurückgekehrt, um die hauptamtliche Notarztstelle zu übernehmen.

»Hab einen schönen Sonntag!«, rief Hinrichs ihr noch rasch hinterher, als sie bereits auf dem Weg zu ihrem Mitsubishi Pajero war, den sie unten am Strand abgestellt hatte. Im Gehen wandte sie sich noch einmal um und lachte: »Dein Wort in Gottes Ohr. Es ist Hochsaison! Da war es selbst in Hamburg ruhiger … Tschüss!«

»Gegen Mitternacht also«, sagte Hinrichs grübelnd und blickte zu Benning. »Vielleicht haben wir ja Glück und jemand hat auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen irgendetwas beobachtet.«

Robert Benning nickte nachdenklich und ließ seinen Blick noch einmal über den Tatort gleiten. Ab und zu hielt er inne und notierte ein paar Stichworte zur Auffindesituation in seine in Leder eingebundene Kladde.

»Okay«, sagte er zufrieden, klappte das kleine Notizbuch zu und klemmte den Kugelschreiber an den vorderen Deckel. »Ich glaube, ich habe für den Anfang erst einmal alles. Ich melde mich nachher wie besprochen bei dir.«

»Gut«, antwortete Hinrichs. »Und schon mal vielen Dank.« Er wandte sich wieder seinen Kollegen zu und klatschte aufmunternd in die Hände. »So, Leute, wie weit sind wir denn nun?«

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2.

Mit einem routinierten Schwung bog Benning von der Norderstraße in seine Auffahrt. Hier in der Marinesiedlung im Norden Westerlands besaß er seit einigen Jahren ein kleines Haus. Er hatte damals, als die Marine sich nach und nach von der Insel zurückzog und der Bund sein Tafelsilber verschacherte, die Gunst der Stunde genutzt und zwei Haushälften erstanden. Die ehemalige Festung Sylt war nach vielen Jahrzehnten wieder eine entmilitarisierte Zone geworden, und ein Teil davon gehörte nun ihm.

Nach einer Reihe von Umbauarbeiten waren die Doppelhaushälften nach seinen Wünschen zu einem Häuschen verschmolzen. Äußerlich nahezu unverändert – lediglich das zerfranste Reetdach war neu eingedeckt worden –, präsentierte sich hinter rotem Klinker und kleinen weißen Sprossenfenstern sein Reich. Die beiden Haushälften hatte er so verbunden, dass er die eine auch als Ferienwohnung vermieten konnte. In ihr hatte einige Jahre sein Schützling Gunda gewohnt.

Das für die Umbauten erforderliche »Kleingeld« hatte er kurz zuvor geerbt. Völlig unerwartet traf ihn nicht nur der viel zu frühe Tod seines Vaters, sondern auch, dass er ihm, obwohl er nie ein Händchen für Geld gehabt hatte, einen siebenstelligen Betrag hinterlassen hatte. Bis dahin wusste Benning lediglich, dass sein alter Herr Mitte der achtziger Jahre – wie so viele andere auch – fast seine gesamten Ersparnisse in ein vielversprechendes Vorhaben namens Neue Heimat gesteckt hatte. Ein Projekt der leeren Versprechungen und der leeren Kassen, wie sich bald herausgestellt hatte. Doch damit nicht genug: Auch das danach mühsam zusammengesparte Eigenheim musste einige Jahre später mit Verlust verkauft werden, als sich Bennings Eltern scheiden ließen.

Erst durch das Testament hatte Benning erfahren, dass das Glück irgendwann eine kurze Stippvisite bei seinem Vater gemacht und ihm die richtigen Lottozahlen ins Ohr geflüstert hatte. In finanziellen Dingen vorsichtig geworden, hielt sein Vater zum Schutz vor Neidern und falschen Freunden seinen plötzlichen Reichtum geheim. Doch dann kam der Krebs und mit ihm das Ende. Viel zu früh beendete die Krankheit sein Leben.