Julia Best of Band 292 - Trish Wylie - E-Book

Julia Best of Band 292 E-Book

TRISH WYLIE

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Beschreibung

DREI ROMANE von TRISH WYLIE

VERLIEBEN VERBOTEN!

Auch wenn er in seiner New Yorker Polizeiuniform heiß aussieht und sein freches Lächeln hinreißend ist: Mit Daniel will Jorja nichts zu tun haben! Er ist ihr Feind, solange sie denken kann. Aber Gegensätze ziehen sich nun mal an …

INSEL DER ZÄRTLICHEN TRÄUME

Wie in einem Paradies für Liebende fühlt sich Kunstexpertin Keelin auf Valentia. Denn auf der „Smaragdinsel“ vor der Küste Südirlands trifft sie den faszinierenden Garrett Kincaid. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch sie muss zurück nach Dublin. Wird es ein Abschied für immer?

KÜSS MICH IN MANHATTAN

Die Skyline von New York wird kleiner, die Wolkenkratzer verschwinden im Nebel – und Mirandas Sehnsucht wächst mit jedem Meter, den die Fähre zurücklegt. Was an ihrem Bodyguard liegt. Eigentlich soll Tyler sie beschützen. Stattdessen bringt er ihr Herz in Gefahr …

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Seitenzahl: 557

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Trish Wylie

JULIA BEST OF BAND 292

IMPRESSUM

JULIA BEST OF erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/82 651-370 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage 2025 in der Reihe JULIA BEST OF, Band 292

© 2012 by Trish Wylie Originaltitel: „New Yorkʾs Finest Rebel“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Dorothea Ghasemi Deutsche Erstausgabe 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 358

© 2007 by Trish Wylie Originaltitel: „Bride of the Emerald Island“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: SAS Deutsche Erstausgabe 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 1723

© 2012 by Trish Wylie Originaltitel: „Her Man in Manhattan“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Jeanette Bauroth Deutsche Erstausgabe 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe ROMANA EXTRA, Band 21

Abbildungen: Harlequin Books S.A., f11photo / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2025 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751533652

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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Trish Wylie

Verlieben verboten!

1. KAPITEL

Jede junge Frau weiß, dass es Tage für hohe und solche für flache Absätze gibt. Eigentlich könnte das fürs ganze Leben gelten. Und heute ist einer für hohe.

Knallrot und gefährlich hoch, diese High Heels waren die verführerischsten, die er je gesehen hatte. Während er im Stillen fluchte, weil es so lange dauerte, die Aufzugtüren zu schließen, beobachtete Daniel Brannigan, wie sie die Treppe hinauf verschwanden.

Er wollte die Frau in diesen Schuhen unbedingt kennenlernen.

Nachdem er auf den Knopf gedrückt hatte, setzte der alte Lift sich langsam in Bewegung. Nun, da er zum dritten Mal damit fuhr, wusste Daniel, dass er in Zukunft zu Fuß gehen würde. Bis er all seine Habseligkeiten von dem Transporter in den fünften Stock gebracht hatte, hatte er allerdings keine andere Wahl.

Aus den Augenwinkeln sah er etwas Rotes.

Er drehte sich um und nahm alle Einzelheiten in sich auf, sobald die wohlgeformten Beine in den Riemchenpumps in Sicht kamen. Falls die Frau auch in diesem Haus wohnte, würde es vermutlich nur Probleme mit sich bringen. Aber der Reaktion seines Körpers nach zu urteilen, war es wohl das Risiko wert. Nicht umsonst nannten ihn seine Freunde Danger Danny.

Als der Aufzug unerwartet hielt, stand eine ältere Frau mit einem kleinen Hund auf dem Arm davor. „Fahren Sie nach unten?“

„Nach oben.“ Mit dem Ellbogen drückte Daniel auf den Knopf.

Bitte hau nicht ab, Baby.

Im nächsten Moment kam die unbekannte Schöne wieder in Sicht. Sie trug einen leichten Minirock, der ihre Hüften umspielte und ihre schmale Taille betonte. Er ließ den Blick zu der feingliedrigen Hand schweifen, in der sie ihre Einkäufe hielt, und lächelte, als er feststellte, dass sie keinen Ring trug.

Im vierten Stock wandte sie sich um und sprach mit jemandem, sodass er nur ihr welliges, langes dunkles Haar erkennen und ihr glockenhelles Lachen hören konnte.

Sobald der Lift im fünften Stock hielt, schob Daniel einen Karton vor die Tür, um diese zu blockieren. Im nächsten Moment hörte er Schritte auf der Treppe. Ein Schauer rieselte ihm über den Rücken, als er sich umdrehte und dann in große dunkle Augen blickte. Augen, die zusammengekniffen wurden, während sein Lächeln verschwand.

„Jorja“, sagte er trocken.

„Daniel.“ Sie legte den Kopf zur Seite und zog eine Braue hoch. „Blockierst du heute den Aufzug?“

„Treppensteigen hält fit.“

„Also ja.“

„Hilfst du mir beim Einziehen? Das ist nett von dir.“ Kurzerhand drückte er ihr den Umzugskarton, den er gerade hochgehoben hatte, in den Arm.

Als sie ihn fallen ließ, hörte man ein lautes Klirren. „Oh je!“ Sie blinzelte.

Dass sie ihren Kleidungsstil geändert hatte, während er im Ausland gewesen war, machte sie nicht weniger nervig, als sie es in jenen fünfeinhalb Jahren gewesen war. „Kein Transparent mit der Aufschrift ‚Willkommen zu Hause‘?“

„Würde das nicht bedeuten, dass ich mich über deine Anwesenheit freue?“

„Wenn du ein Problem damit hast, hättest du ja Einwände erheben können, als ich mich bei der Hausgemeinschaft beworben habe.“

„Und woher weißt du, dass ich es nicht getan habe?“

„Mein Antrag wurde einstimmig angenommen.“ Daniel zuckte die Schultern. „Normalerweise fühlen die Leute sich sicher, wenn ein Cop im Haus wohnt.“

Jorja lächelte zuckersüß. „Die alte Dame, die du gerade hast abblitzen lassen, ist Vorsitzende der Hausgemeinschaft. Ich schätze, in spätestens einer Woche reicht sie den Antrag ein, dich zwangsräumen zu lassen.“

Er atmete tief durch. „Weißt du, was dein größtes Problem ist, Baby?“

„Nenn mich gefälligst nicht so.“

„Ich kann sehr liebenswert sein, wenn ich will. Ich bringe die Lady mit dem Pudel innerhalb von achtundvierzig Stunden dazu, Kekse für mich zu backen.“

„Es ist kein Pudel, sondern ein Bichon Frisé.“

„Hat er auch einen Namen?“

„Gershwin.“ Sie verdrehte die Augen. „Und damit ist meine Hilfsbereitschaft für heute erschöpft.“

Daniel hob den Karton hoch und schüttelte ihn leicht. „Du schuldest mir sechs Weingläser.“

„Verklag mich doch“, erwiderte sie, während sie sich abwandte.

Den Blick auf ihre Hüften gerichtet, folgte er ihr den Flur entlang. Dann rief er sich jedoch ins Gedächtnis, wen er da betrachtete.

Er hatte in seinem Leben schon viele Fehler gemacht, aber ein Auge auf Jorja Dawson zu werfen grenzte an Idiotie. Es gab eine ganze Liste von Gründen, warum er sich nicht mit ihr einlassen durfte.

Unterdessen warf sie das lange Haar zurück, bevor sie vor ihrer Wohnungstür stehen blieb und in ihre Handtasche langte. „Du spielst sicher nicht mit dem Gedanken, am Sonntag zum Mittagessen aufzutauchen? Deine Mutter würde sich darüber freuen.“

Nummer sechs auf seiner Liste: Familienangelegenheiten.

Er sah ihr in die Augen. „Kommst du auch?“

„Ich gehe immer hin.“

„Dann sag ihnen, dass wir uns begrüßt haben.“

„Heißt das, du fährst meinetwegen nicht hin?“

„Bilde dir bloß nichts ein.“ Daniel nahm seinen Schlüssel aus der Hosentasche.

„Hätte ich mein Leben deinetwegen neu geordnet, wäre ich sicher nicht in die Wohnung gegenüber von deiner gezogen. Aber nur damit du es weißt …“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Du wirst vor mir ausziehen.“

„Du bist noch nie länger als sechs Monate an einem Ort geblieben“, stellte Jorja fest. „Und das auch nur, weil die Army dich an den Ort geschickt hat.“

„Die Navy“, verbesserte Daniel sie. „Und die Marines sind dafür bekannt, dass sie sich niemals zurückziehen.“

„Ich lebe schon über vier Jahre hier. Ich werde nirgendwohin gehen.“

„Dann werden wir uns wohl öfter sehen.“

Und darauf hätte Daniel gut verzichten können. Schließlich war sie der eigentliche Grund dafür, dass er überlegt hatte, ob er die Wohnung nehmen sollte.

Denn sie war eine Spionin, die dem Brannigan-Clan Bericht erstatten konnte. Aber wenn seine Verwandten wissen wollten, was er machte, konnten sie ihn auch fragen. Dann würde er ihnen dieselbe Antwort geben wie in den vergangenen acht Jahren und nur einige Kleinigkeiten hinzufügen.

Ja, es ging ihm gut. Natürlich war es schön, wieder zu Hause zu sein. Nein, es war ihm nicht schwergefallen, sich wieder an seine Einheit zu gewöhnen. Ja, wenn man ihm wieder einen Einsatz anbot, würde er zusagen.

Mehr brauchten sie nicht zu erfahren.

„Weißt du, was dein Problem ist, Daniel?“ Wieder legte Jorja den Kopf zur Seite. „Du glaubst, deine Anwesenheit würde mich nerven. Aber mir ist völlig egal, wo du bist, was du machst und mit wem du es machst. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die sofort dahinschmelzen, wenn du sie anlächelst.“

„Pass auf, Jo. Ich könnte das als Herausforderung betrachten.“

Erneut lachte sie, und Daniel fragte sich, warum er ihr Lachen nicht schon vorher erkannt hatte. Vielleicht weil sie in seiner Gegenwart keinen Grund dazu gehabt hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass du Humor hast“, meinte sie.

Bevor er reagieren konnte, schloss sie die Tür auf und betrat ihre Wohnung. Dann drehte sie sich noch einmal um, musterte ihn demonstrativ von Kopf bis Fuß und schloss lachend die Tür.

Daniel schüttelte den Kopf. Verdammt, sie nervte ihn!

Verdammt, er nervte sie!

An die Tür gelehnt, atmete Jo tief durch, weil ihr Herz plötzlich schneller klopfte. Vielleicht aus Frust darüber, dass sie sich nicht normal mit Daniel unterhalten konnte. Aber ihm schien es genauso zu gehen. Zu sagen, dass sie beide beim anderen das Schlechteste hervorbrachten, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.

Als sie durch den offenen Wohnbereich zum Schlafzimmer ging, widerstand sie dem Drang, einen Pyjama und Hausschuhe anzuziehen. Wenn er sie gleich bei seinem Einzug dazu brachte, würde sie die nächsten drei Monate nicht überleben.

Als ihr Handy eine Stunde später klingelte, warf sie erst einen Blick auf das Display, bevor sie den Anruf entgegennahm.

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass du mir das angetan hast.“

„Was?“, erwiderte Olivia amüsiert. „Dass ich ausgezogen bin, dich in ein Brautjungfernkleid stecke oder Danny von der Wohnung nebenan erzählt habe?“

„Das weißt du genau“, konterte Jo sarkastisch. „Ich brauche eine neue beste Freundin. Mein Traummann hätte nebenan einziehen können.“

„Seit wann bist du auf der Suche nach einem Traummann? Außerdem bleibt er ja nicht lange. Er hat einen befristeten Mietvertrag.“

„Wenn er ihn verlängert, bastele ich eine Voodoo-Puppe und steche tausend Nadeln rein.“ Jo wandte sich vom Spiegel ab, vor dem sie gerade eine Modenschau veranstaltet hatte, und ging in die Küche. „Aber ich soll zuerst ausziehen.“

Angesichts der Wohnsituation in Manhattan musste sie ihrer Freundin nicht erklären, wie anmaßend Daniels Annahme war, sie würde hier weggehen. Das Apartment, das sie mit Olivia geteilt hatte – und manchmal immer noch mit Jess teilte –, war groß und gehörte ihr.

Sie hatte nicht so lange so hart gearbeitet, um wieder an einem Ort zu landen, den sie für immer hinter sich gelassen hatte.

„Hast du ihn schon gesehen? Und, ist Blut geflossen?“

„Noch nicht.“ Jo nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine und seufzte, als laute Musik von der anderen Seite des Flurs erklang. „Hörst du das?“ Sie hielt das Telefon auf Armeslänge von sich.

„Mein Bruder und Rockmusik passen zusammen wie …“

„Der Teufel und ewige Verdammnis?“, warf Jo ein.

„Dies ist wahrscheinlich nicht der günstigste Zeitpunkt, um dir zu eröffnen, dass er auch zur Hochzeit kommt, oder?“

„Ich dachte, er wolle sich nicht verkleiden. Wie habt ihr ihn dazu überredet?“

„Genauso wie wir ihn letzten Monat zur Geburtstagsfeier seiner Nichte bekommen haben. Aber diesmal hat Blake uns geholfen …“

Offenbar hatte Livs neuer Verlobter also zusammen mit Danny beim Pokern mit dessen Brüdern verloren. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als Jo Kaffeepulver in den Filter füllte.

„Und, wie sah er aus?“

„So wie immer. Warum?“, fragte Jo argwöhnisch.

„Anscheinend hast du heute noch keine Nachrichten gesehen.“

„Nein.“ Jo ging ins Wohnzimmer, um den Fernseher einzuschalten. „Was habe ich verpasst?“

„Wart’s ab …“

Wenige Sekunden später kam der Bericht auf dem Nachrichtensender. Da sie die Lautstärke nicht so weit aufdrehen wollte, las Jo den Text unten am Rand. Ein Officer aus dem Rettungsdienst hatte einen Mann auf der Williamsburg Bridge gerettet und dabei vermutlich seinen Sicherungsgurt geöffnet. Die Kamera zeigte eine Gestalt zwischen den Tragseilen, die mit dem Arm wedelte, während eine andere sich auf sie zu bewegte.

Einen Schreckensmoment lang schien es, als würden beide abstürzen, bis sie in letzter Sekunde von anderen Mitarbeitern des Rettungsdiensts in Sicherheit gebracht wurden.

Während die Schaulustigen im Fernseher applaudierten, schüttelte Jo den Kopf. „Das kann doch nicht wahr sein!“

„Ich weiß.“ Olivia seufzte. „Mom ist außer sich, weil sie ihn telefonisch nicht erreichen kann. Es war schon schlimm genug für sie, als er im Ausland war …“

Wütend blickte Jo zur Tür. „Ich rufe dich gleich zurück.“

Im Treppenhaus musste sie erst einige Male mit der Faust an die Tür hämmern, bis die Musik leise gedreht und geöffnet wurde.

„Ruf sofort deine Mutter an.“ Sie hielt Daniel das Handy entgegen.

„Was ist los?“

Schwang da etwa Besorgnis in seiner Stimme mit? Jo drehte das Telefon um, drückte auf die Kurzwahltaste und hielt es sich ans Ohr.

„Du bist ein rücksichtsloser Mistkerl“, sagte sie leise.

Als seine Mutter sich meldete, reichte Jo ihm das Handy wieder.

„Nein, ich bin es. Mir geht es gut.“ Dann wich er einen Schritt zurück und machte ihr die Tür vor der Nase zu.

Zurück in ihrer Wohnung, fluchte sie leise, weil er ihr Handy behalten hatte. Nach kurzem Überlegen kehrte sie in die Küche zurück, wo sie das Festnetztelefon holte und einen Blick auf einen der unzähligen Notizzettel auf dem Kühlschrank warf, bevor sie die neue Telefonnummer seiner Schwester wählte.

„Er spricht gerade mit deiner Mutter. Und ich habe ihm gesagt, was ich von ihm halte.“

„Wirklich?“

Jo schaltete die Kaffeemaschine ein. „Ich hatte noch nie ein Problem damit, ihm meine Meinung zu sagen.“

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür.

„Warte.“ Als sie öffnete und Daniel in die blauen Augen sah, nahm sie ihm das Handy weg und reichte ihm dafür das andere Telefon. „Deine Schwester.“

„Hallo, Schwesterherz, was gibt’s?“, fragte er, während er hereinkam.

Nachdem sie sich von dem ersten Schreck erholt hatte, schloss sie die Tür und kehrte in die Küche zurück. Falls er glaubte, er könne sie von nun an regelmäßig besuchen, konnte er es vergessen.

Nun musterte er sie von oben bis unten, wobei sein Blick länger als nötig auf ihren Füßen ruhte.

Jo widerstand dem Drang, diesem zu folgen. An ihrem Outfit war nichts auszusetzen. Die enge schwarze Hose mit dem hohen Bund ließ ihre Beine noch länger wirken, ein Eindruck, der durch die dunkelvioletten Designerpumps mit den hohen Absätzen noch verstärkt wurde. Obwohl sie mit ihren eins achtundsiebzig nicht gerade klein war, bevorzugte sie solche Schuhe, weil sie bei der Arbeit oft von großen Models umgeben war.

Aber warum sollte Daniels Meinung sie interessieren? Seine Jeans war der beste Beweis dafür, dass er keine Ahnung von Mode hatte.

Die Knie waren genauso fadenscheinig wie die Taschen auf seinem …

Schnell wandte sie den Blick ab. Auf keinen Fall durfte Daniel sie dabei ertappen, wie sie seinen Po betrachtete.

„Das ist mein Job“, sagte er mit einem ungeduldigen Unterton, während er durch die Küche ging. „Das Seil war zu kurz … Die Zeit lief mir davon. So, ich muss Schluss machen. Deine Freundin will bestimmt noch telefonieren …“

Jo nahm ihren Lieblingsbecher und stellte ihn auf den Tresen. Hoffentlich machte Liv ihm die Hölle heiß! Welcher Idiot turnte ungesichert in so einer Höhe herum?

Während der Kaffee durchlief, lehnte sie sich mit verschränkten Armen an den Tresen und betrachtete Daniel. Sein T-Shirt war genauso fadenscheinig wie seine Jeans.

Er wirkte … erschöpft? Nein, eher müde, als hätte er in letzter Zeit wenig geschlafen. Zwar interessierte es sie auch nicht, aber da Liv gefragt hatte, wie er aussah, betrachtete sie ihn nun eingehender.

Hätte man ihr ein Wahrheitsserum injiziert, hätte sie zugegeben, dass sie nachvollziehen konnte, warum die Frauen bei ihm schwach wurden. Seine lebhaft funkelnden blauen Augen, dass kurze dunkelblonde Haar, der Dreitagebart …

„Ihr braucht euch jedenfalls keine Sorgen um mich zu machen. Müsst ihr nicht die Hochzeit planen?“ Er ließ den Blick zu Jo schweifen. „Sie ruft dich zurück.“

Bevor er das Gespräch beendete, war sie zur Wohnungstür geeilt und hatte diese lächelnd geöffnet. Er schloss sie jedoch wieder.

„Offenbar müssen wir miteinander reden“, meinte er ausdruckslos.

Während sie entnervt erwog, ihm mit ihren Stilettos auf den Fuß zu treten, fügte er hinzu: „Ich habe es nicht gern, wenn andere ihre Nase in meine Angelegenheiten stecken.“

„Das hätte ich auch nicht getan, wenn du ans Telefon gegangen wärst. Ist es so schwer zu begreifen, dass deine Familie glauben könnte, du seist lebensmüde?“

„Ich bin nicht lebensmüde. Los, stell dich auf den Stuhl.“

„Was?“

„Du hast ganz richtig gehört.“

Da sie nicht reagierte, umfasste Daniel ihr Handgelenk und führte sie ins Wohnzimmer. Bisher hatte er sie noch nie berührt.

„Was soll das?“, fragte Jo.

„Ich möchte dir etwas zeigen.“

Dann ließ er ihren Arm los, umfasste ihre Taille und hob sie auf einen Stuhl. „Was fällt dir ein? Komm sofort von meinem Sofa runter!“

Die Beine leicht gespreizt, stand er auf ihrem Sofa und testete die Federung. „Los, spring.“

„Was?“

„Spring!“

Jetzt reichte es ihr. Wie alt war er eigentlich? Fünf?

Als sie jedoch vom Stuhl klettern wollte, legte er ihr unvermittelt den Arm um die Taille und hob sie hoch. Ehe sie sich’s versah, prallte sie gegen ihn und stieß einen erschrockenen Laut aus. Benommen hob sie das Kinn und blickte ihm in die Augen.

„Siehst du?“, meinte er verführerisch sanft. „Es ist eine Frage der Balance.“

Noch beunruhigender als der Ausdruck in seinen Augen war die intime Nähe. Wie konnte sie sich so stark zu ihm hingezogen fühlen, wenn sie Daniel so verabscheute?

Als er sie dann langsam hinunterließ, blieb Jo nichts anderes übrig, als seine Schultern zu umfassen. Einen Moment lang fühlte sie sich wie in Trance.

„Ich wusste, was ich tue.“ Nachdem er vom Sofa gestiegen war, hob er sie hinunter.

Sofort wich sie einen Schritt zurück und senkte den Blick. Eigentlich hätte sie außer sich sein müssen, weil er sie angefasst hatte und, was noch schlimmer war, ihr Körper darauf reagiert hatte.

Energisch verschränkte sie die Arme vor der Brust und hob das Kinn. „Wegen der Gläser sind wir jetzt quitt. Du hast riesige Fußabdrücke auf meinem Sofa hinterlassen.“

„Wenn du nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen weißt, als mit meiner Familie über mich zu reden, versuch’s mal mit einem Hobby.“

Jo stieß einen ungläubigen Laut aus. „Ich bin gut ausgelastet.“

„Aber nicht mit Verabredungen.“

„Was soll das heißen?“

Nun verschränkte Daniel ebenfalls die Arme. „Jetzt fällt mir wieder ein, warum du schon so lange allein bist. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du vielleicht mehr Sex hättest, wenn du ab und zu nett wärst?“

„Seit wann geht mein Liebesleben dich überhaupt etwas an?“

„Ich schätze in etwa, seit du dich für mein Verhältnis zu meiner Familie interessierst.“

Jo versuchte, sich auf ihre innere Stärke zu besinnen, und lächelte zuckersüß. „Pass auf, dass du die Tür auf dem Weg nach draußen nicht an den Hintern bekommst.“

„Etwas Besseres fällt dir nicht ein? Du bist offenbar aus der Übung.“ Er nickte entschlossen. „Keine Angst, wir haben dich bald wieder kampfbereit.“

Sie seufzte schwer und ging zur Tür. Kurz bevor er ihre Wohnung verließ, hörte sie sich aus irgendeinem unerfindlichen Grund fragen: „Nervt dich das nicht allmählich?“

Unvermittelt blieb er stehen und betrachtete sie forschend. Plötzlich war die Atmosphäre äußerst spannungsgeladen. „Möchtest du über einen Waffenstillstand verhandeln?“

Jo musste an sich halten, um nicht laut zu lachen. „Habe ich dir etwa den Eindruck vermittelt, dass ich die weiße Fahne schwenke? Ich rede von dir, nicht von mir. Du siehst müde aus, Daniel. Kostet es dich zu viel Energie, den netten Kerl zu spielen?“

Seine Augen schienen dunkler zu werden. „Stellst du etwa mein Durchhaltevermögen infrage, Baby?“

Dass er sie ständig so nannte, ging ihr wirklich auf die Nerven.

Dann kam er näher und beugte sich so dicht zu ihr herunter, dass sein warmer Atem ihre Wange streifte.

„Das ist keine gute Idee“, warnte Daniel sie.

Ihr Puls raste, doch Jo tat, als sei sie die Ruhe selbst, und richtete sich gerade auf.

Seit ihrer Kindheit hatte sie ein Motto, das sie streng befolgte, selbst den wenigen Menschen gegenüber, die einen Platz in ihrem Herzen hatten. Wenn man auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zeigte, war es der Anfang vom Ende. Nur so hatte sie die Phase in ihrem Leben durchgestanden, als sie praktisch unsichtbar war. So schaffte sie es jetzt auch, gelassen zu wirken. „Willst du mich damit einschüchtern?“

Daniel lächelte gefährlich. „Wenn du mich weiter herausforderst, wird es erst richtig interessant.“

Sie tätschelte ihm die Brust. „Nun sei ein braver Junge und geh ins Bett. Schließlich brauchst du deinen Schönheitsschlaf.“ Um die Tür öffnen zu können, schob sie ihn zurück. „Wir wollen uns bei der Partnersuche ja nicht auf unsere Persönlichkeit verlassen, oder?“

„Sag du es mir.“

Nun umfasste sie seinen Arm und versuchte, ihn zur Tür zu ziehen, doch er blieb ungerührt stehen und lächelte unmerklich. Argwöhnisch betrachtete sie ihn.

„Gib’s zu, Jo. Das hier hat dir gefehlt.“

Demonstrativ verdrehte sie die Augen und atmete tief durch. „Das kann ich nicht behaupten.“

„Ich bin der Einzige, der dir den Kopf zurechtrückt, wenn du es brauchst.“

„Du kennst mich überhaupt nicht, Daniel. Du hast sogar Angst davor, mich kennenzulernen.“

„Ach wirklich?“

„Ja. Denn dann müsstest du vielleicht zugeben, dass du dich in mir getäuscht hast. Und wir wissen beide, dass du nicht gern Fehler eingestehst.“

Nachdem sie einen Blick in den Flur geworfen hatte, fügte sie etwas leiser hinzu: „Vielleicht würdest du sogar feststellen, dass du mich magst.“

„Ich glaube, die Gefahr besteht nicht“, erwiderte Daniel genauso leise.

Während sie ihm in die blauen Augen sah, fragte sie sich, ob er sich überhaupt noch daran erinnerte, wie der Kleinkrieg zwischen ihnen begonnen hatte. Sie tat es jedenfalls nicht.

Woran lag es nur, dass sie sich mit ihm bei Weitem nicht so gut verstand wie mit den anderen Mitgliedern seiner Familie? Da er der einzige Mensch war, dem gegenüber sie sich unreif verhalten hatte, hätte sie gern den Grund dafür gewusst. Anscheinend brauchte nicht nur er seinen Schlaf.

„Tu uns beiden den Gefallen und steck deine Nase nicht in meine Angelegenheiten“, fuhr Daniel fort. „Sonst könnte ich dasselbe mit dir machen.“

„Ich habe nichts zu verbergen“, schwindelte Jo. „Du etwa?“

„Treib’s nicht zu weit, Baby.“

Sie spürte, dass mehr dahintersteckte. Es waren nicht nur sein kühler Blick, seine angespannte Haltung oder der warnende Unterton. Aber was war es?

Nun runzelte Daniel die Stirn und wandte sich ab. Aber selbst wenn sie das Recht gehabt hätte, ihn zu fragen, was los sei, verließ er ihre Wohnung, bevor sie reagieren konnte.

Tag eins war wirklich großartig gewesen.

Sie konnte Tag zwei gar nicht erwarten.

2. KAPITEL

Liegt es nur an mir, oder schmeckt der Cappuccino besser, wenn sie diese kleinen Herzen in den Milchschaum machen? Komisch, dass solche Kleinigkeiten manchmal so viel bewirken.

Jorja Dawson hatte Brüste. Und was für welche! Das konnte ihm damals nicht entgangen sein. Zum Glück hatte sie sie noch nie an ihn gepresst.

Und offenbar beruhte das erotische Knistern zwischen ihnen auf Gegenseitigkeit, denn ihre Brustwarzen hatten sich unter dem engen Top abgezeichnet, bevor sie die Arme verschränkt hatte.

Wenn sie seine Gefühle je erriet, hätte sie eine neue Waffe, die sie gegen ihn einsetzen konnte. Und falls sie es tat, würde er schwere Geschütze auffahren müssen, bis sie bedingungslos kapitulierte.

Nummer zwei auf seiner Liste: beste Freundin seiner Schwester.

Daniel, der inzwischen fast fünf Meilen gejoggt war, beschleunigte das Tempo. Jo hatte einen wunden Punkt bei ihm getroffen, aber sie konnte auf keinen Fall wissen, dass er schlecht schlief. Oder dass er es satthatte, nachts schweißgebadet und heiser vom Schreien aufzuwachen.

Das musste aufhören, bevor ihm bei der Arbeit wieder ein Fehler unterlief oder er gezwungen war, sich nach einer anderen Wohnung umzusehen.

Nachdem er ein Stück gegangen war, betrat er einen belebten Coffeeshop und nahm dabei die Kapuze seines Sweatshirts ab.

Nachdem er bestellt hatte, schaute er sich um und entdeckte dabei eine Frau, die allein am Fenster saß.

Das war genau das, was er brauchte: eine andere Frau.

Er fing mit den Schuhen an. Die Frau trug hochhackige schwarze Pumps und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ihr enger Rock betonte ihre Kurven. Nicht schlecht. Auch die weiße Bluse regte seine Fantasie an.

Er ließ den Blick zu ihrem dunklen Haar schweifen, das sie im Nacken zu einem eleganten Knoten hochgesteckt hatte. Sie trug sogar eine strenge Lesebrille, was seine Fantasie noch mehr beflügelte.

Als die Frau sich zu ihm umwandte, schüttelte Daniel den Kopf. Früher hatte er ein besseres Gespür dafür gehabt, wenn der Feind in der Nähe war.

Sie blickte zu ihm auf, als er sich eine Papierserviette von dem Tresen neben ihr nahm. „Soll das ein Witz sein?“

„Darf ich jetzt nicht mal mehr einen Kaffee trinken gehen?“

„Das kannst du auch woanders.“

„Das hier ist der nächste Coffeeshop.“

„Du kannst den zwei Straßen weiter nehmen. Das hier ist meiner.“ Jo blickte wieder auf ihren Laptop. „Montags, mittwochs und freitags vormittags ist das hier mein Arbeitsplatz.“

Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber und quittierte ihre finstere Miene mit einem freundlichen „Guten Morgen.“

Nachdem sie vergeblich versucht hatte, wieder zu arbeiten, während er aus dem Fenster sah, seufzte sie. „Du wirst also an den Tagen hier sein und mich mürbemachen, bis ich ausziehe? Das ist wirklich …“

„Wirkungsvoll?“

„Kindisch, wollte ich sagen. Es ist beruhigend, zu wissen, dass das Wohl der Bürger in den Händen eines so reifen Vertreters des New York Police Department liegt.“

Als sie wieder zu tippen begann, wurde Daniel bewusst, dass er keine Ahnung hatte, womit Jo ihr Geld verdiente.

„Was machst du eigentlich beruflich?“, erkundigte er sich deshalb.

„Es ist das erste Mal, dass du dich zu der Frage genötigt fühlst“, meinte sie, ohne aufzusehen.

„Es hat irgendetwas mit dem Internet zu tun, oder? Du gehörst zu den Leuten, die alle fünf Minuten berichten, was sie gemacht haben.“

„Genau, das ist das Einzige, wozu die Leute das Internet benutzen.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. „Auf deiner Neandertalerskala, wo nur der Stärkere überlebt, rangieren alle, die nicht körperlich arbeiten, ganz unten.“

„Vielleicht solltest du nicht so viel Koffein zu dir nehmen.“

Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, machte sie weiter. „Ich schreibe einen Blog.“

„Und damit kann man seinen Lebensunterhalt verdienen?“

„Unter anderem“, erwiderte sie. „Musst du nicht zum Dienst?“

„Nein.“

„Na gut. Ich kann das Kennenlernspiel weiterspielen, bist du genug hast. Das kann ja nicht lange dauern.“ Jo nahm ihren Becher wieder in die Hand, lehnte sich zurück und sah ihm in die Augen.

„Ich arbeite für ein Modemagazin, und ein Teil meines Aufgabengebiets besteht darin, täglich in diesem Blog über die neuesten Trends und die Dinge zu berichten, die junge Frauen interessieren.“

„Du bist ganz schön oberflächlich, stimmt’s?“

„Es geht eben nicht immer um den Sinn des Lebens, sondern manchmal einfach nur um die schönen Dinge im Leben.“

„Wie zum Beispiel Geld für unnütze Sachen auszugeben und sich dabei zu verschulden?“

„Wie zum Beispiel Sachen zu tragen, in denen man sich gut fühlt.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich schätze, so fühlt sich jemand wie du, wenn er die Uniform seiner Wahl trägt.“

„Aber nur, weil ich stolz auf meinen Job bin.“

„Und vermittelt dir das kein gutes Gefühl?“

Sie war wirklich clever, aber das hatte er gewusst. „So einfach ist das nicht.“ Daniel lehnte sich ebenfalls zurück. Da sie das Thema angeschnitten hatte, fügte er hinzu: „Offenbar ist der Bibliothekarinnen-Look gerade in.“

„Auf jeden Fall eher als dein Straßenräuberoutfit.“

Er neigte den Kopf und strich über das ausgeblichene U.S.M.C.-Logo auf seiner Brust. „Dieses Sweatshirt habe ich schon seit meiner Grundausbildung. Es hat für mich ideellen Wert.“

„Könnte das bedeuten, dass du ein Herz hast?“

„Ohne lebt es sich jedenfalls schlecht.“

„Genauso schlecht wie ohne Schlaf?“

Starr blickte er sie an.

„Die Wände sind eben dünn.“ Ihr mitfühlender Unterton gefiel ihm nicht. „Versuch doch mal, nicht vor dem Fernseher einzunicken – vor allem nicht bei einem Film, in dem ständig geschrien wird. War das der Horrorstreifen der Woche?“

„Machst du dir schon wieder Sorgen um mich? Wie süß von dir!“

Ihm war übel, denn sie hätte ihn fast durchschaut. In einem Anflug von Panik stand Daniel auf. „Da du anscheinend jeden Abend das Ohr an die Wand presst, werde ich versuchen, heute eine Doku mit Walgesang zu finden.“

Als er ihre Finger um sein Handgelenk spürte, blickte er auf sie hinunter. „Was ist?“

Jo ließ ihn los und schüttelte den Kopf, wobei sie seinen Blick mied. „Nichts.“

„Los, raus mit der Sprache.“ Demonstrativ sah er auf seine Armbanduhr. „In einer Stunde habe ich einen Termin bei meinem Chef.“

Nun blickte sie ihn wieder an. „Wegen des Vorfalls gestern?“

„Es wäre nicht das erste Mal, dass er mich zusammenfaltet, weil ich gegen die Vorschriften verstoßen habe.“

„Du hast einem Mann das Leben gerettet.“

Wollte sie ihm etwa Mut machen?

„Natürlich wäre es nicht unverdient“, fuhr sie fort. „Schließlich hättest du deine Kollegen in Gefahr bringen können.“

Das passte schon eher zu ihr. „Wir tun, was getan werden muss, wenn die Umstände es verlangen.“ Leise fügte Daniel hinzu: „Das solltest du eigentlich am besten wissen.“

Aus den Augenwinkeln blickte sie ihn an. „Aha, du glaubst schon wieder, mich zu kennen.“

„Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du es deinen Mitmenschen in der Hinsicht nicht leicht machst?“

„Du bist die größte Nervensäge, der ich je begegnet bin.“

„Du bist immer noch eingerostet.“ Er schüttelte den Kopf. „Also üb fleißig weiter.“

„Und, wie läuft es mit deiner Aufgabe?“

„Wie?“ Jo blinzelte, bevor sie ihre ehemalige Mitbewohnerin anblickte. Da sie schon die zweite Nacht schlecht geschlafen hatte, fühlte sie sich wie gerädert.

Offenbar hatte Daniel sein Bett nach ihrem Gespräch von der Wand weggerückt, denn seine Schreie waren nicht mehr so laut gewesen. Trotzdem hatte sie es kaum ertragen.

„Die Aufgabe, die die Redaktion dir gestellt hat“, erklärte Jess. „Du sollst doch die Outfits von den Modestrecken tragen, um herauszufinden, ob die Leute dich darin anders sehen. Wahrscheinlich erinnerst du mich heute deswegen an eine französische Marktfrau. Aber die Baskenmütze steht dir.“

Jo senkte den Kopf, während sie mit den Krümeln auf ihrem Teller spielte. Seine Reaktion hatte ihr bewiesen, dass Daniel ihr den Grund für seine Albträume nicht verraten würde, wenn sie ihn danach fragte.

Seltsamerweise hatte sie nicht das Bedürfnis verspürt, mit seiner Schwester darüber zu sprechen. Er war seiner Familie sehr wichtig, und wenn er irgendwelche Probleme hatte, würde diese ihm auf jede erdenkliche Weise helfen wollen. Allerdings würde er es ihr nicht einfach machen.

Leider konnte sie nicht vergessen, wie ihm bei ihren Anspielungen die Farbe aus dem Gesicht gewichen war.

Es schien ihr, als wäre er nicht mehr der Mann, den sie damals gekannt und so stark abgelehnt hatte, sondern jemand, mit dem sie mitfühlen konnte und den sie besser kennenlernen wollte.

„Erde an Jo …“

„Es läuft wirklich gut“, erwiderte sie, bevor sie noch ein Stück Kuchen aß. „Mh, lecker …“

Als sie einen flüchtigen Blick in Livs Richtung riskierte, stellte sie erleichtert fest, dass deren Augen amüsiert funkelten. Sie war der einzige Mensch, der sie sofort durchschaute.

„Die anderen beiden Stücke fandest du auch lecker.“

Jo neigte den Kopf zur Seite. „Sag noch mal, warum wir das hier mit dir machen und nicht Blake?“

„Weil er sich mehr für die Flitterwochen als für die Hochzeitstorte interessiert.“

Das konnte sie gut nachvollziehen. Jo probierte ein weiteres Stück von der Schokoladentorte. „Nein, die hier ist die beste.“

„Wusstet ihr, dass Schokolade ein Ersatz für Sex ist?“, meinte Jess.

Jo seufzte zufrieden, während sie ein anderes Stück kostete. „Schokolade ist besser als Sex.“

Jess schnaufte verächtlich. „Von wegen!“

„Sie ist noch jung“, sagte Liv nachsichtig. „Sie wird ihre Erfahrungen machen.“

„Wenn sie ab und zu versuchen würde, welchen zu bekommen, würde sie sie viel eher machen.“

„Sie vergrault doch alle Männer.“

Jo schwenkte ihre Gabel. „Achtung, Feind hört mit …“

Sie konnte nichts dafür, dass die Männer sich ihr nicht gewachsen fühlten. Sie hatte mehr Lebenserfahrung als andere Vierundzwanzigjährige, war unabhängig und konzentrierte sich voll und ganz auf ihren Beruf.

Dafür opferte sie auch gern ihre Freizeit. Und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hatte.

So konnten die Männer sich natürlich schwer vorstellen, dass sie sie für etwas anderes als nur fürs Bett brauchte. Die meisten hatten allerdings auch kein Problem damit.

Nachdem sie sich kurz über die Vorzüge von Vanillecreme unterhalten hatten, fragte Jess: „Und, wie ist unser neuer Nachbar?“

„Um von unserem neuen Nachbarn zu sprechen, müsstest du dann nicht mehr als nur einmal pro Woche hier auftauchen?“ Jo lächelte zuckersüß.

„Sag Bescheid, wenn du Verstärkung brauchst.“

„Du magst Daniel.“

„Alle außer dir mögen Danny.“ Jess zuckte die Schultern. „Er ist, was er ist, und steht dazu.“

„Früher hat er sich mit seiner Ehrlichkeit immer Probleme eingehandelt“, bestätigte Liv. „Aber das hat ihn gerade so verlässlich gemacht.“

Allmählich fragte sich Jo, ob die anderen Daniel wirklich so gut kannten, wie sie glaubten, doch das behielt sie lieber für sich.

„Habt ihr euch wegen der Torte schon entschieden?“, erkundigte sie sich.

„Ich schwanke noch zwischen den verschiedenen Schichten dieser drei.“ Liv zeigte mit ihrer Gabel auf den leeren Teller.

„Was steht als Nächstes auf der Liste?“

„Der Blumenschmuck.“

Sie sprachen wieder über die Hochzeitsvorbereitungen, als sie die Konditorei verließen und an der öffentlichen Bibliothek vorbei zur nächsten U-Bahn-Station gingen. Vor dem großen Säulenbau standen mehrere Männer mit Helmen und kugelsicheren Westen.

„Ist das nicht Danny?“, fragte Jess plötzlich.

Als Olivia und Jess auf ihn zugingen und sie den beiden widerstrebend folgte, musste Jo sich eingestehen, dass die Uniform wirklich sexy war.

Aber Daniel hatte schon immer überlegen auf sie gewirkt. Während er Frauen mit einem Lächeln schwachmachte, konnte er gestandene Männer mit einem einzigen Blick einschüchtern.

„Ladies“, begrüßte er sie nun und nickte ihnen zu.

Jo riss sich zusammen. „Officer Moron.“

„Officer?“, wiederholte er mit unbeweglicher Miene. „Weil ich jetzt eine Waffe trage?“

Während sie das Kinn hob, musterte er sie flüchtig und sah ihr dann wieder in die Augen. Seltsamerweise fühlte sie sich plötzlich verletzlich. Vermutlich weil er wusste, dass sie sich an Dinge erinnerte, die sie bisher geflissentlich verdrängt hatte.

Jess lachte leise. „Hallo, Danny.“

Sofort ließ er seinen Charme spielen. „Hallo, Schöne.“

Jo stöhnte insgeheim über die Reaktion ihrer Freundin. „Ich muss jetzt los.“

„Ich dachte, wir wollten noch zum Blumenhändler?“

Sie warf Liv einen vielsagenden Blick zu. „Ich rufe dich nachher an.“

„Okay.“

Jo spürte Daniels Blick im Rücken, als sie in der Menge verschwand. Was sie dabei empfand, führte ihr vor Augen, warum sie seiner Schwester nichts von ihrem Problem erzählt hatte. Nur jemand, der selbst ein dunkles Geheimnis hatte, konnte verstehen, was es bedeutete, wenn es ans Licht kam.

Den Blick auf die Gestalt gerichtet, die gerade den Park betrat, wappnete sie sich innerlich und blendete ihre Gefühle aus.

Es war die einzige Möglichkeit für sie, damit umzugehen.

Mitten in der Nacht hatte er wieder diesen Traum. Andere Gesichter – ein anderes Szenario –, aber das Ergebnis war immer dasselbe. Als er mit rasendem Puls aus dem Schlaf schreckte, fragte sich Daniel, warum ihn die neuen Elemente überraschten.

Er stand auf, zog sich seine Sweathose an und fluchte, als er auf dem Weg zur Küche mit dem Zeh gegen einen Karton stieß. Die Hand schon auf dem Lichtschalter, erstarrte er. Dann ging er zur Wohnungstür und öffnete sie.

Jo zuckte zusammen und ließ die Schlüssel fallen. „Verdammt, Daniel!“

Daniel lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ist es spät geworden, oder fängst du früh an?“

Eigentlich war es eine rhetorische Frage, denn sie trug dasselbe Outfit wie vor der Bibliothek.

„Überwachst du neuerdings das Treppenhaus?“ Inzwischen hatte sie die Schlüssel wieder aufgehoben.

„Ich habe einen leichten Schlaf.“

Sie runzelte die Stirn, bevor sie den Blick zu seiner nackten Brust schweifen ließ. Ersteres hätte ihm mehr zu schaffen machen müssen als Letzteres, doch am meisten erschreckte ihn das heiße Prickeln, das ihn überlief.

„Ist es nicht normalerweise der Mann, der sich danach davonschleicht?“ Vielleicht lenkte es ihn ja etwas ab, wenn er das Thema wieder auf ihr Liebesleben brachte.

Als er den Ausdruck in ihren Augen bemerkte, wechselte er es jedoch schnell. „Ist dir denn noch gar nicht der Gedanke gekommen, dass ein Cop als Nachbar dich mit seiner Dienstwaffe begrüßen könnte, wenn er dich im Dunkeln herumschleichen hört?“

„Das Licht brennt. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Er hat dich aus seiner Wohnung geworfen, stimmt’s?“

„Woher rührt diese plötzliche Besessenheit von meinem Liebesleben?“ Forschend blickte sie ihn an. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich annehmen, dass es bei dir schon eine Weile her ist.“

Eine ganze Weile sogar, aber er konnte ohnehin nicht lange mit einer Frau das Bett teilen. Er war ein guter Liebhaber und stolz darauf, doch er wollte nicht mit seiner Partnerin in einem Bett schlafen, aus Angst, einzunicken und sich der Lächerlichkeit preiszugeben.

„Sorgst du dich, weil ich einsam sein könnte, Baby?“

Jo machte eine finstere Miene. „Nenn mich gefälligst nicht so!“

„Wenn du dir diesen Schuh anziehen willst …“

„Ich … Du …“ Sie atmete tief durch.

„Ist er nicht ein bisschen zu alt für dich?“

Für einige Sekunden trat ein unergründlicher Ausdruck in ihre Augen. Dann blinzelte sie und hob das Kinn. „Von wem redest du?“

„Von dem Typen, mit dem du im Bryant Park warst.“

„Von welchem Typen?“

Netter Versuch, aber so leicht hatte er noch nie aufgegeben. „Von dem, mit dem du gestritten hast, bevor du ihn in die U-Bahn-Station gezogen hast.“

„Hast du mir etwa nachspioniert?“

„Glaubst du, wenn ich Uniform trage, sollte ich ignorieren, was um mich herum passiert?“

Jo seufzte schwer und wandte sich dann ab. „Das wird mir jetzt zu anstrengend.“

„Heute ist Mittwoch. Lass uns nachher im Coffeeshop weiterreden.“

„Bestimmt nicht.“

Als sie die Tür öffnete, ließ sie die Schultern sinken, als wäre sie völlig erschöpft. Und das konnte nicht nur an ihrem langen Arbeitstag liegen. Daniel wusste es spätestens in dem Moment, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte.

Der Ausdruck in ihren Augen ließ ihn innehalten. Er hatte diesen Ausdruck in den Augen von Soldaten im Einsatz und von Polizisten gesehen, die ihren Job schon zu lange ausübten. Womöglich hätte er ihn auch bei sich bemerkt, wenn er sich in letzter Zeit genauer im Spiegel betrachtet hätte.

Unwillkürlich machte er einen Schritt auf sie zu, um etwas zu sagen, fand allerdings nicht die richtigen Worte. Bei den Männern, mit denen er zusammengearbeitet hatte, hatte es keiner Worte bedurft. Aber eine so lebenslustige Frau wie Jo sollte nicht …

Als sie leise die Tür hinter sich schloss, fasste Daniel einen spontanen Entschluss. Wenn sie in Schwierigkeiten steckte und seine Familie erfuhr, dass er nichts unternommen hatte, würden seine Angehörigen ihm die Hölle heißmachen.

Nachdem er ebenfalls tief durchgeatmet hatte, kehrte er in seine Wohnung zurück. Um sich kampfbereit zu machen, brauchte er noch einige Stunden Schlaf.

Bei Tageslicht würde er sich dann in das Gebiet des Feindes vorwagen.

3. KAPITEL

Wir wissen alle, dass ein neues Outfit die Stimmung heben kann. Aber oft betrachten wir einen Menschen in neuen Kleidern und fragen uns, ob mehr dahintersteckt.

„Komm schon, Jack, nimm ab.“

Jo rieb sich die Stirn, weil sich starke Kopfschmerzen anbahnten. Nachdem sie ihr Handy ausgeschaltet hatte, legte sie es neben ihrem Computer auf den Tisch. Sie würde hingehen müssen, denn nur so würde sie erfahren, wo er steckte.

Seufzend nahm sie ihren Becher in die Hand und stellte fest, dass er schon leer war. Wenn sie das Pensum eines Arbeitstages in der Hälfte der Zeit schaffen wollte, brauchte sie mehr Koffein.

„So heißt er also, ja?“

Als sie beim Klang der vertrauten Stimme aufblickte, sah sie die Hand, die ihr einen neuen Becher reichte. „Hast du es dir zur Gewohnheit gemacht, andere zu belauschen?“

„Nennen wir es Berufsrisiko“, erwiderte Daniel. „Willst du den Kaffee jetzt oder nicht?“

Jo sah auf und ließ den Blick für einen Moment auf seiner Brust ruhen. Prompt erinnerte sie sich daran, wie muskulös sein Oberkörper war. Dann sah sie ihm in die blauen Augen. „Warum bringst du mir welchen?“

„Weil ich den Eindruck habe, dass du ihn gebrauchen könntest.“

„Du weißt doch nicht einmal, wie ich ihn trinke.“

„Aber der Typ am Tresen wusste es. Schließlich bist du hier Stammgast.“

Noch während sie überlegte, worauf sie sich einließ, wenn sie den Becher entgegennahm, zog Daniel den Stuhl ihr gegenüber hervor und setzte sich.

„Es gibt noch freie Tische“, bemerkte sie, doch er betrachtete sie nur schweigend, während er den Deckel von seinem Becher abnahm.

„Wir machen nicht da weiter, wo wir heute Nacht aufgehört haben, falls du das glaubst.“

„Heute Morgen, meinst du.“

„Ich habe mich nicht in deine Angelegenheiten eingemischt. Also tu mir bitte den Gefallen und halte dich auch aus meinen raus.“ Sie lächelte zuckersüß und versuchte dabei, den Becher zu ignorieren.

Daniel hob seinen hoch und atmete tief durch. „Nichts weckt die Lebensgeister schneller als ein Kaffee von Joe …“

Während sie die Augen zusammenkniff, tippte er mit dem Zeigefinger auf den Deckel des anderen Bechers. „Möchtest du wirklich nicht? Es wäre schade drum …“

„Was willst du, Daniel?“

„Immer noch ein Morgenmuffel? Vielleicht brauchst du mehr Koffein.“

Am liebsten hätte sie laut gestöhnt. Unwillkürlich beobachtete sie, wie er beinah geistesabwesend mit dem Finger über den Deckel strich. Es war eine der sinnlichsten Gesten, die sie je gesehen hatte, es war nicht nur der Kaffee, der sie in Versuchung führte. Ihre Fantasie ging mit ihr durch, und Jo fragte sich, wie es wäre, seinen Finger auf der nackten Haut zu spüren …

Schließlich wurde sie schwach. „Her damit.“

Doch Daniel zog den Becher zu sich heran. „Wie groß sind die Schwierigkeiten, in denen du steckst?“

„Wie bitte?“

„Los, beantworte meine Frage.“

„Warum sollte es dich überhaupt interessieren, wenn ich Probleme hätte?“ Jo zog die Brauen hoch. „Ich dachte, die Vorstellung, dass ich irgendwo auf der Straße liege, würde dir gefallen. Es wäre schließlich nicht das erste Mal.“

„Das ist nicht witzig.“

„Nein, aber ich kann dir Dutzende von Witzen über diese Phase in meinem Leben erzählen, wenn du welche hören möchtest.“ Trotzig hob sie das Kinn. „Was ist der größte Vorteil, wenn man sich mit einem obdachlosen Mädchen trifft? Man kann es überall absetzen.“

Daniel lachte nicht. „Schuldest du ihm Geld?“

„Wem?“

„Diesem Jack.“

„Nein.“

„Und was geht dann vor?“

Jo lachte zynisch. „Soll ich dir mein Herz ausschütten, nur weil du mir einen Kaffee spendierst?“

„Wenn du in Schwierigkeiten steckst, sag es mir jetzt, und …“

„Du hilfst mir?“ Da es schärfer klang, als sie beabsichtigt hatte, fügte sie etwas versöhnlicher hinzu: „Das kannst du nicht, und selbst wenn es so wäre, wärst du der Letzte, den ich um Hilfe bitten würde.“

Nun hatte er erst richtig Blut geleckt.

„Das ist mir klar“, meinte Daniel ausdruckslos.

„Und warum fragst du mich dann aus?“

Als sie darüber nachdachte, musste Jo sich eingestehen, dass es schlichtweg an seinem Beruf lag. Für ihn war sie nur eine Bürgerin von vielen. Und er fühlte sich ihr gegenüber verpflichtet, weil sie mit seiner Schwester befreundet war. Sie schüttelte den Kopf.

„Sag mir, was los ist, Jo.“

Sein Tonfall richtete mehr Schaden an als alles, was er in jenen fünfeinhalb Jahren getan oder zu ihr gesagt hatte, und dafür hasste sie ihn.

Vor allem deswegen, weil dabei ein sanfter, beinah mitfühlender Ausdruck in seine Augen getreten war.

Und wie immer, wenn jemand eine ihrer Masken zu durchschauen drohte, ging sie in die Offensive. „Ich erzähle es dir, wenn du mir verrätst, warum du nachts nicht schlafen kannst.“

Diesmal verbarg Daniel seine Reaktion geschickter als beim ersten Mal. Als seine Augen jedoch eisig zu funkeln begannen, bereute sie ihre Worte sofort.

„Wie kommst du darauf, dass ich nicht schlafen kann?“

„Weil du mitten in der Nacht aufwachst. Und du siehst immer noch müde aus.“

„Ich arbeite im Schichtdienst. Und das ist nicht besonders gesund“, erwiderte er prompt. Dann stellte er den Becher neben ihren Laptop. „Jetzt bist du dran.“

„Wie lange bist du jetzt schon Cop? Acht Jahre?“

Er nickte. „Ungefähr. Worauf willst du hinaus?“

„Und wie lange braucht man, um sich wieder einzugewöhnen?“

„Ich war sieben Monate im Ausland und bin jetzt seit vier Wochen wieder hier.“

„Und was ist dort passiert?“

„Wir sind unter Beschuss geraten.“ Ohne den Blickkontakt zu unterbrechen, hob er seinen Becher an die Lippen und trank einen Schluck. „Du kannst ruhig von dir ablenken, aber wir wissen beide, dass ich es auch ohne dich herausfinden kann. Ich fange mit Liv an.“

„Deine Schwester wird dir nichts erzählen.“

„Das heißt, sie weiß Bescheid.“

„Das heißt, dass sie Geheimnisse für sich behalten kann.“

Daniel lächelte schief. „Du kennst meine Familie. Wenn sie glauben, irgendetwas stimmt nicht, mischen sie sich sofort ein. Und ich sagte ja, ich würde mit Liv anfangen …“

„Wie kommst du darauf, dass du nicht der Einzige bist, der es nicht weiß?“, hakte Jo nach.

„Wenn das der Fall ist, hast du es mir gerade leichter gemacht.“

Blut war dicker als Wasser. Sie hatte seine Botschaft verstanden. Aber seine Familie würde ihr in einer Notlage sofort zu Hilfe eilen. Die Brannigans waren alle integer, loyal und hilfsbereit und besaßen viele andere positive Eigenschaften, denen sie in ihrer Familie nie begegnet war. In ihren Augen waren die Brannigans die ideale Familie. Deswegen hatte sie auch nie nachvollziehen können, warum Daniel es so wenig zu schätzen wusste.

Aber offenbar zog er es vor, seine Dämonen allein zu bekämpfen.

Jo trank einen Schluck Kaffee. „Du solltest ihnen von deinen Schlafproblemen erzählen. Vielleicht können deine Brüder dir Tipps geben.“

Daniel lächelte selbstgefällig. „Vielleicht solltest du mir erzählen, was los ist, bevor es zu schlimm wird. Die nächste Runde geht übrigens an dich. Ich trinke meinen Kaffee schwarz.“

Entnervt seufzte sie. „Du gibst nicht auf, stimmt’s?“

„Das ist nicht mein Ding.“

„Wenn ich mich nicht irre, hast du meine Frage noch nicht beantwortet.“

Als er schwieg, stellte sie ihren Becher weg und arbeitete weiter. Während sie auf einige Kommentare in ihrem Blog antwortete, nahm er die Zeitung vom Nachbartisch und begann darin zu lesen.

So saßen sie eine Weile da, bis Jo plötzlich ein Prickeln verspürte. Als sie aufblickte, stellte sie fest, dass Daniel sie forschend betrachtete. „Was ist?“

„Wo hast du deine Brille gelassen?“

„Ich habe sie zu Hause vergessen. Aber wenn du dir Sorgen um meine Sehkraft machst, kann ich die Schrift vergrößern.“

Nachdem er einen Moment geschwiegen hatte, fragte er: „Was für einen Look verkörperst du heute?“

„Man nennt es Gothic Chic.“

Zumindest hatte man es in der Zeitschrift so bezeichnet. Von allen Outfits, die sie bisher getragen hatte, war es das eigenartigste.

Da sie beim Aufstehen allerdings das Bedürfnis verspürt hatte, der Welt etwas selbstsicherer gegenüberzutreten, und diese Aufmachung genau das erforderte …

„Vergiss nicht, dass Vampire das Sonnenlicht scheuen“, bemerkte Daniel trocken.

„Heißt das, ich soll auch Weihwasser, Knoblauch und Kreuze meiden?“

Er nickte. „Und Cheerleader mit Holzpflöcken.“

Jo drehte sich zur Seite und streckte die Beine aus. „Gefallen dir meine Stiefel etwa nicht?“

Stirnrunzelnd betrachtete er die Schuhe. „Kannst du in diesen Dingern gehen?“

„Frauen tragen solche Stiefel nicht, weil sie bequem sind.“

Sie beugte sich hinunter und strich beinah zärtlich über das schimmernde Leder. Das Haar fiel ihr über die Schulter, als sie den Kopf wandte und Daniel ein vielsagendes Lächeln schenkte, was sie noch nie zuvor getan hatte.

„Hatten wir nicht darüber gesprochen, dass Leute bestimmte Sachen tragen, weil sie ihnen ein gutes Gefühl vermitteln?“

Geflissentlich ignorierte sie das warnende Funkeln in seinen Augen. Er kannte sie wirklich schlecht.

Daniel presste die Lippen zusammen, als Jo über den anderen Stiefel strich und sich dann aufsetzte und dabei das Haar zurückwarf.

Als sie lächelte, folgte er ihrem Blick zu dem Mitarbeiter am Tresen, der ihr Lächeln erwiderte.

Derjenige, der gewusst hatte, wie sie ihren Kaffee trank.

Wütend funkelte Daniel ihn an, doch sein Zorn galt nicht dem Italiener, der sich sofort wieder auf seine Arbeit konzentrierte. Was ihm zu schaffen machte, war, dass ihr Ablenkungsmanöver funktioniert hatte.

Sein Körper hatte heftig auf den Anblick dieser Stiefel und des Streifens nackter Haut unter dem kurzen knappen Rock reagiert.

Und seit er ihr gegenüber Platz genommen hatte, hatte er sich bemüht, sich nicht von ihrer engen schwarzen Bluse irritieren zu lassen. Aber falls Jo glaubte, sie könne ihn lange von seinem Ziel abhalten, hatte sie sich getäuscht.

Er war ein Marine, zum Teufel! Das Motto Mut zur Wahrheit hätte genauso gut auf seinen Rücken tätowiert sein können.

„Sag mir, was los ist“, verlangte er deshalb.

Als sie die Augen verdrehte, stützte er die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu ihr hinüber, wobei er sie unverwandt ansah. Ihre Augen waren wirklich spektakulär – vielleicht etwas zu groß, aber von einem so dunklen Braun, dass man nicht wusste, wo die Iris anfing.

Das war ihm vorher noch nie aufgefallen.

Nachdem Jo ihn eine Weile betrachtet hatte, fragte sie leise: „Sag mir, warum du es wissen willst.“

So konnten sie den ganzen Tag weitermachen. Wenn keiner von ihnen nachgab, würde sich nichts ändern. Und das legte die Frage nahe, ob er überhaupt wollte, dass ihr Verhältnis zueinander sich änderte. Aber da es anscheinend schon der Fall war …

„Ich kenne den Ausdruck, der heute Morgen in deinen Augen lag, bevor du die Tür geschlossen hast.“

„Und, was hast du gesehen?“, flüsterte Jo, sodass er sich noch weiter zu ihr hinüberbeugen musste.

„Resignation.“

Starr blickte sie ihn an und blinzelte dann. „Wenn du mich so gut kennen würdest, wie du glaubst, wäre dir klar …“

„Was wäre mir klar?“, hakte Daniel nach, als sie die Stirn runzelte.

„Warum ich nicht darüber reden möchte.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Normalerweise hat man einen triftigen Grund dafür, wenn man ein Geheimnis für sich behalten will.“

Als sie weiterzuschreiben begann, wurde ihm bewusst, dass die Gelegenheit vertan war und Jo nicht nur von sich sprach. Aber wenn sie wusste, warum er so schlecht schlief, warum hatte sie dann nicht nachgehakt?

Während er seinen Becher vom Tisch nahm, den Blick nach draußen gerichtet, überlegte er, was er an ihrer Stelle getan hätte. Genau dasselbe, wie er sich eingestehen musste.

Er wusste, dass etwas nicht stimmte, und gab ihr die Gelegenheit, es ihm zu erzählen. Aber sie weigerte sich.

Nummer vier auf seiner Liste: keine Gemeinsamkeiten.

So viel dazu …

„Möchtest du noch einen Kaffee?“, fragte Jo.

Aus den Augenwinkeln betrachtete er ihren Becher. „Hast du das Zeug etwa inhaliert?“

„Ich wollte nur neuen Vorrat holen, für den Fall, dass es länger dauert.“

Daniel schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich gehe jetzt ins Revier und suche in der Verbrecherdatei nach Fotos von Jack, bevor meine Schicht beginnt.“

Sie seufzte schwer, als er aufstand. „Tu das. Aber lass dir gesagt sein, dass es für dich nur einen Weg gibt, es herauszufinden, und der steht dir nicht offen und wird es auch nie.“

„Du forderst mich also wieder heraus …“

Er machte einen Schritt auf sie zu und stützte die Hand mit dem Becher neben ihrem Computer auf den Tisch und die andere auf ihre Lehne. Als sie das Kinn hob, beugte er sich zu ihr hinunter und lächelte sie genauso an, wie sie es bei ihrer Nummer mit den Stiefeln getan hatte.

„Wenn ich etwas will, bekomme ich es auch“, erklärte er betont sanft. „Und wenn du mir Steine in den Weg legst, will ich es noch mehr und gebe mir doppelt Mühe. Also tu, was du nicht lassen kannst, aber behaupte nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

Als sie ihn erschrocken ansah, wandte er sich ab. Sie konnte seine Worte deuten, wie sie wollte. Wenn sie zu dem Ergebnis kam, dass er nicht nur ihr Geheimnis meinte, lag sie vielleicht sogar richtig.

Gothic Chic würde ihr entweder zum Verhängnis werden oder ihr eine Nacht im Gefängnis bescheren. Ihre Füße brachten sie noch um, aber hätte sie gewusst, dass sie die ganze Gegend, in der sie früher gewohnt hatte, auf der Suche nach Jack abklappern musste, hätte sie sich vorher umgezogen.

Und selbst wenn man sie verhaftet hätte, weil sie zu lange an einer Stelle stand, wäre es vielleicht sicherer gewesen, in einem Streifenwagen zu sitzen.

Als Jo sich umblickte und hinter sich jemanden im Dunkeln wähnte, der ihr folgte, beschleunigte sie das Tempo.

Hätte Daniel sie in diesem Moment gesehen, hätte er ihr sicher einen Vortrag gehalten. Er konnte nicht gemeint haben, was sie vermutete. Noch mehr machte ihr allerdings ihre Reaktion zu schaffen. Statt wütend zu werden oder ihm ins Gesicht zu lachen, hatte sie heißes Verlangen verspürt. Ihr Herz hatte wie wild gepocht, und ihre Brustwarzen waren hart geworden. Noch nie hatte sie so stark auf einen Mann reagiert.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken und zwang sie, wieder über die Schulter zu blicken. Dann atmete sie jedoch tief durch und verdrängte ihre Paranoia.

Sie konnte gut auf sich selbst aufpassen. Bevor sie Liv begegnet war, hatte sie sich ohnehin nur auf sich selbst verlassen können.

Nachdem sie ihren langen schwarzen Mantel zusammengezogen hatte, blieb sie stehen und betrachtete kurz das Neonschild, bevor sie die Tür öffnete. Wenn sie Jack hier auch nicht antraf, dann war er diesmal ganz auf sich allein gestellt.

„Oh, hallo, meine Schöne! Komm her und …“

Wütend funkelte Jo den Mann an, der vor ihr auftauchte. „Ich habe Pfefferspray und keine Hemmungen, es auch zu benutzen.“

„Mikey, lass die Lady in Ruhe“, ließ sich im nächsten Moment eine Stimme von der Bar her vernehmen. „Sie ist ein paar Nummern zu groß für dich.“

Jo ging zur Bar und lächelte den Mann dahinter an. „Hallo, Ben.“

„Hallo, Jo.“ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. „Wie geht es meinem liebsten Mädel?“

„Gut. Ist er hier?“

Ben nickte. „Im hinteren Raum.“

„Was ist er dir schuldig?“

„Wir haben doch eine Abmachung mit dir, oder?“

„Danke, Ben.“

Jo bahnte sich einen Weg an den anderen Gästen vorbei. Hätte sie eher Schluss machen können, wäre es noch nicht so spät und sie hätte nicht versuchen müssen, Jack nach Hause zu tragen. Sie seufzte schwer.

Nun würde wieder eine endlose Diskussion folgen, ob es schon Zeit war zu gehen oder nicht. Sie wusste genau, was er sagen würde und zu wie vielen Fremden sie höflich sein musste, während sie die Zähne zusammenbiss. Sie hatte dieses Szenario unzählige Male erlebt.

Sosehr sie sich auch bemühte, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, Jack würde sie immer an ihre Wurzeln erinnern.

Und dass Daniel das genauso vermochte …

Jo verdrehte die Augen. Sie durfte nicht so viel an ihn denken, denn schon jetzt schien es ihr fast, als würde er sie auf Schritt und Tritt begleiten.

Daniel lehnte sich an die Wand und runzelte die Stirn. Seine Schuldgefühle legten sich, gleich nachdem Jo ihr Ziel erreicht hatte.

Wo, zum Teufel, war sie da hineingeraten?

Er wartete ab, ob sie auch diese Bar genau wie die sieben vorherigen nach zwei Minuten wieder verlassen würde.

Als sie nach zwanzig Minuten immer noch nicht erschienen war und er gerade überlegte, ob er die Straße überqueren sollte, wurde die Tür geöffnet.

Der Mann taumelte nach hinten, als sie ihm in den Mantel half. Offenbar hatte er weitaus mehr Zeit in der Bar verbracht als sie. Nachdem sie sich seinen Arm um die Schultern gelegt hatte, stützte sie ihn und lotste ihn den Fußweg entlang.

Was hatte sie mit einem Typen wie diesem zu tun? Er war bestimmt doppelt so alt wie sie. Außerdem sollte sie nicht mit einem Mann zusammen sein, den sie in irgendwelchen Bars suchen musste.

Daniel war zutiefst enttäuscht von ihr. Eine Frau mit ihrem Aussehen und ihrer Intelligenz, die einen Mann so erregen konnte, wie …

Daniel spielte mit dem Gedanken, die nächste U-Bahn-Station zu suchen. Was interessierte es ihn überhaupt, was sie machte? Aber im nächsten Moment taumelte der Mann zur Seite, sodass sie gegen eine Hauswand stieß.

Nachdem er seine Dienstmarke, die er an einer Kette um den Hals trug, unter dem Pullover hervorgezogen hatte, blickte er nach links und rechts und rannte dann über die Straße.

Sobald er vor den beiden stand, legte er dem Mann die Hand auf die Schulter und schob ihn ein Stück zurück. „NYPD … stellen Sie sich dahin.“ Mit dem Zeigefinger deutet er auf Jo. „Und du rührst dich nicht von der Stelle.“

Fassungslos blickte sie ihn an. „Verfolgst du mich jetzt?“

„Ich bin ein Cop, falls du es vergessen hast. Und du kannst von Glück reden, dass du in den letzten Stunden einen Bodyguard hattest. Hast du eine Ahnung, wie viele Schießereien es in dieser Gegend gibt?“ Als ihr Begleiter nach vorn taumelte, funkelte Daniel ihn an. „Das würde ich an deiner Stelle nicht tun, Kumpel.“

„Sie … dürfen nicht mit meiner …“, lallte der Mann.

„Halt die Klappe, Jack.“ Mit finsterer Miene wandte Jo sich an Daniel. „Wie kannst du es wagen …?“

„Du erzählst mir jetzt, was los ist, und zwar entweder hier oder auf der nächsten Wache.“

„Du kannst mich nicht festnehmen. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“

Er nickte. „Na gut, dann verhafte ich ihn. Er kann die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen.“

Als er sich abwandte, umfasste sie seinen Arm.

„Nicht.“ Sie riss sich zusammen, bevor sie leise hinzufügte: „Ich muss ihn nur nach Hause bringen.“

Er hätte sie lieber mit auf die nächste Wache genommen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Jo war immer noch wütend, doch er spürte, dass sich mehr dahinter verbarg. Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, musterte er Jack von Kopf bis Fuß und traf dabei eine Entscheidung. „Wie weit ist es?“

„Vier Straßen.“

„Du gehst vor. Ich helfe ihm, und wenn wir da sind, werden wir uns unterhalten.“

„So, glaubst du?“

Während er ihr nachblickte, umfasste er den Arm ihres Begleiters, bevor dieser das Gleichgewicht verlor. „Wenn du mich vollkotzt, verhafte ich dich trotzdem.“

Er brauchte ungefähr doppelt so lange wie unter normalen Umständen. Zunehmend ungeduldiger erstickte er dabei alle Versuche des Mannes, ein Gespräch zu beginnen, im Keim.

Sobald sie die spärlich möblierte Einzimmerwohnung erreicht hatten, schob Jo den Mann ins Bad.

Daniel ging unterdessen in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Dabei fiel ihm plötzlich etwas ins Auge.

Er blieb vor einem Bücherregal stehen und nahm einen Rahmen mit einem Dokument heraus – das Zeugnis aus der sechsten Klasse von Jorja Elizabeth Dawson. Als Nächstes entdeckte er ein Foto, das an einem Stapel Bücher lehnte. Es zeigte Jack in jüngeren Jahren vor einem Riesenrad, die Arme um ein dünnes Mädchen mit langen dunklen Zöpfen und einem strahlenden Lächeln gelegt.

Sofort erkannte Daniel seinen Irrtum und fühlte sich im nächsten Moment wie der größte Idiot auf Erden. Als er in Richtung Flur blickte, stellte er fest, dass Jo ihn schweigend betrachtete.

„Er ist dein Vater“, stellte er fest.

„Richtig.“

„Du hättest es mir sagen sollen.“

„Das hätte ich auch getan, wenn du mich gefragt hättest.“

Nachdem er das Zeugnis wieder ins Regal gestellt hatte, wandte er sich zu ihr um und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. „Wie lange trinkt er schon?“

„Es wäre einfacher, dir zu sagen, wann er nicht getrunken hat.“ Sie zuckte die Schultern und befeuchtete sich die Lippen, wobei sie seinen Blick mied. „Einen Monat im Jahr ist es immer besonders schlimm. Jetzt ist es gerade wieder so weit.“

Als sie ihn dann ansah, fühlte er sich so elend wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Daniel atmete tief durch. „Jo …“

Im nächsten Moment wurde die Tür zum Bad geöffnet, und Jack erschien. Auf unsicheren Beinen ging er von Wand zu Wand, bis er schwankend stehen blieb. Daraufhin machte Daniel einen Schritt auf ihn zu.

„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“ Er schüttelte ihm die Hand. „Daniel Brannigan. Ich bin ein Freund Ihrer Tochter.“

Jo, die rechts von ihm stand, schnaufte verächtlich. „Ein bisschen übertrieben, findest du nicht?“

„Ich habe mir Sorgen um sie gemacht.“

„Seit wann?“

Da er es vermutlich nicht anders verdient hatte, erwiderte er nichts und sah ihr in die Augen, als er hinzufügte: „Ich dachte, sie wäre in Schwierigkeiten.“

„Meine Jo … bestimmt nicht“, erklärte Jack mit schwerer Zunge. „Sie ist ein braves Mädchen.“ Dann kniff er die Augen zusammen. „Sind sie ein Cop?“