Julia Extra Band 303 - Jennie Lucas - E-Book

Julia Extra Band 303 E-Book

Jennie Lucas

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Beschreibung

WIE EIN LICHT AM HORIZONT von LAWRENCE, KIM
Wer ist die betörende Fremde, die in nur einer einzigen Liebesnacht das Dunkel seines Herzens erhellte? Cesare Brunelli befürchtet, es nie zu erfahren. Seit der Milliardär bei einem Unfall das Augenlicht verlor, lebt er völlig zurückgezogen. Wie soll er seine Geliebte je wiederfinden?

WILDE KÜSSE, WEITES LAND von HANNAY, BARBARA
Kate ist zurück in Australien! Jahre ist es her, dass Noah die schöne Engländerin zum letzten Mal sah - und zum ersten Mal küsste. Sofort sprühen wieder sinnliche Funken zwischen ihnen. Doch kann ausgerechnet eine Städterin wie sie ihm helfen, seine Farm im Outback zu retten?

ZURÜCK AUF DER INSEL DER LIEBE von PARV, VALERIE
Ein paradiesisches Inselreich im Pazifik: Hier begegnet die junge Kirsten zum ersten Mal dem faszinierenden Vicomte de Aragon. Wie magisch fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Dabei will sie ihn doch verabscheuen! Denn eiskalt brach der Playboy ihrer Schwester einst das Herz …

HEISSER KARNEVAL IN RIO von LUCAS, JENNIE
Die hübsche Ellie wird entführt - von ihrem eigenen Boss. Nach einer leidenschaftlichen Affäre beim Karneval in Rio verlangt der gefährlich attraktive Geschäftsmann Diogo Serrador plötzlich von ihr: Heirate mich! Aber von Liebe spricht er nicht …

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Seitenzahl: 679

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Kim Lawrence, Jennie Lucas, Valerie Parv, Barbara Hannay

Julia Extra, Band 303

IMPRESSUM

JULIA EXTRA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax: 040/347-25991
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Cheflektorat:Ilse BröhlProduktion:Christel Borges, Bettina SchultGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)Vertrieb:asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg Telefon 040/347-27013

© 2009 by Kim Lawrence Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gudrun Bothe

© 2009 by Jennie Lucas Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: SAS

© 2003 by Valerie Parv Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gudrun Bothe

© 2009 by Barbara Hannay Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Elke Schuller-Wannagat

Fotos: RJB Photo Library / shutterstock

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRABand 303 (11/1) - 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format im 03/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-504-6

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

KIM LAWRENCE

Wie ein Licht am Horizont

Vergeblich hat Cesare versucht, die verführerische Fremde wiederzufinden, die er in nur einer Nacht heiß lieben durfte. Bis sie plötzlich vor ihm steht – mit seinem Kind unter dem Herzen …

JENNIE LUCAS

Heißer Karneval in Rio

Nach einer leidenschaftlichen Affäre entführt der vermögende Unternehmer Diogo Serrador die hübsche Ellie nach Rio in seine Luxusvilla. Nur aus purer Lust? Verzweifelt wartet Ellie auf Worte der Liebe …

VALERIE PARV

Zurück auf der Insel der Liebe

Was kann Kirsten bloß tun gegen die magische Anziehung, die der Vicomte de Aragon auf sie ausübt? Denn wenn sie seinen verführerischen Küssen weiter nachgibt, entdeckt er womöglich ihr wohlgehütetes Geheimnis …

BARBARA HANNAY

Wilde Küsse, weites Land

Kann eine Adoption ihre Ehe retten? Duncan wünscht sich so sehr, dass seine geliebte Frau Reese ihr Lächeln wiederfindet, wenn sie erst ihr niedliches kleines Baby auf dem Arm hält …

Kim Lawrence

Wie ein Licht am Horizont

1. KAPITEL

Samantha ließ einen tiefen Seufzer hören. „Reiß dich jetzt bloß zusammen!“, ermahnte sie sich selbst, und steuerte entschlossen auf die junge Frau hinter dem gläsernen Empfangstresen zu, die mit ihrer platinblonden Mähne und den fraulichen Kurven genau der Typ war, von dem sich jeder Mann wie magisch angezogen fühlte.

Dagegen hatten rothaarige Kumpeltypen mit Sommersprossen natürlich nicht die geringste Chance – zumindest nach Sams Erfahrung. Obwohl sie eine Zeit lang wirklich geglaubt hatte, bei Will wäre das anders. Bis zu dem Tag, als sie nach Hause kam und ihren Verlobten mit einer dieser spektakulären Blondinen im Bett erwischte.

Normalerweise wurde Sam bei der Erinnerung daran von heftiger Übelkeit heimgesucht, wobei sich ihr sensibler Magen von innen nach außen zu stülpen drohte. Heute ausnahmsweise nicht. Allerdings nur, weil ihr Magen sich vor lauter Panik wie eine Faust zusammengeballt hatte.

Lange dichte Wimpern berührten ihre hohen Wangenknochen, als sie die Augen schloss und noch einmal tief durchatmete, um ihr wildes Herzklopfen zu mindern. Dann hob sie tapfer die Lider, reckte das Kinn vor und zwang sich zu einem Lächeln.

Mehrere Stunden lang hatte sie geübt, sich so zu verhalten, als sei es das Natürlichste auf der Welt, voller Dynamik in die Hauptzentrale eines multinationalen Konzerns zu rauschen und den Mann an der Spitze zu verlangen.

Ein flüchtiger Seitenblick auf ihr Konterfei, zurückgeworfen von einer deckenhohen Spiegelwand, belehrte sie eines Besseren. Sie hatte nicht die geringste Chance! Dennoch zwang sie das Lächeln energisch auf die Lippen zurück und räusperte sich.

Damit gelang es ihr endlich, die Aufmerksamkeit der rassigen Rezeptionistin auf sich zu ziehen. Allerdings nur eine Sekunde, weil sich in diesem Moment die gläsernen Fahrstuhltüren links neben ihnen öffneten und eine weitere atemberaubende Blondine in einem roten Minikleid den Lift verließ.

Das Mädchen hinter dem Glastisch starrte sie ebenso ungeniert an wie Sam und die Paparazzi, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und ein Foto nach dem anderen schossen. Die auffallende Schönheit schien völlig unbeeindruckt von dem Blitzlichtgewitter und der Fragenflut zu sein, mit denen die Reporter sie bombardierten. Sie präsentierte ihnen ihre strahlend weißen Zähne in einem hinreißenden Lächeln und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihr Handwerk immer noch perfekt beherrschte, auch wenn sie das Model-Leben inzwischen gegen eine Hollywoodkarriere eingetauscht hatte.

Begleitet wurde sie von zwei bulligen Bodyguards. Auf ihrem Weg durch das elegante Foyer blieb sie ab und zu stehen, um für die Fotografen zu posieren, während sie die am meisten gestellte Frage, ob Cesare und sie wieder zusammen seien, mit einem stereotypen „kein Kommentar“ beantwortete.

Während sich die gläserne, vollautomatische Eingangstür hinter dem Starlet und der Pressemeute schloss, hingen in der Luft immer noch der Duft ihres schweren Parfüms und die unbeantwortete Frage der Reporter.

Und Sam fühlte sich in ihrer bangen Ahnung bestätigt, dass sie sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt für ihr Kommen hätte aussuchen können als diesen Moment.

Was sie Cesare Brunelli zu sagen hatte, würde jeden Mann schockieren. Aber dann auch noch zu einem Zeitpunkt, wo er sich gerade wieder mit der Liebe seines Lebens ausgesöhnt hatte …

Sam seufzte und versuchte, das Bild der attraktiven Schauspielerin aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie hatte schließlich nicht die Absicht, mit ihr um die Aufmerksamkeit oder Gunst des Italieners zu konkurrieren. Und schon gar nicht interessierte sie sich für Cesares Liebesleben oder wollte etwa daran teilhaben! Das musste sie ihm als Allererstes klarmachen!

Sie würde ihm die Nachricht überbringen, auf dem Absatz umdrehen und gleich wieder gehen. Damit war der Ball übers Netz gespielt und auf seiner Seite. Und sollte Cesare Brunelli sich dafür entscheiden, ihn nicht anzunehmen … umso besser!

Also: Jetzt oder nie!

Sam verzog das Gesicht, als sich ihre neuen Designerschuhe schmerzhaft in Erinnerung brachten. Ein Schnäppchenkauf, aber bedauernswerterweise eine halbe Nummer zu klein. Doch das Selbstvertrauen, das ihr die mörderisch hohen Absätze verliehen, war nicht zu unterschätzen.

„Ich bin …“ Sie stockte bei dem Versuch, sich der betont kühl dreinschauenden Empfangsdame vorzustellen. Und schlagartig wurde ihr Selbstvertrauen von einer Panikwelle hinweggespült.

Ja, wie sollte sie überhaupt erklären, wer sie war?

Hallo, ich bin Sam. Aber das wird weder Ihnen noch Ihrem Boss etwas sagen, weil der meinen Namen auch nicht kennt. Er weiß vermutlich nicht einmal meine Augenfarbe oder dass ich von Sommersprossen förmlich übersät bin und mein Haar kupferrot ist. Aber angesichts der Umstände halte ich es zumindest für ein Gebot der Höflichkeit, ihm mitzuteilen, dass ich sein Kind unter dem Herzen trage …

Automatisch wurden Sam wieder einmal ihre unterschiedlichen Lebensumstände bewusst, die kaum krasser sein konnten.

Auf der einen Seite ein millionenschwerer italienischer Geschäftsmann, auf der anderen Seite ein junges Mädchen, das keinen Monat mit ihrem knappen Budget auskam. Wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen bisherigen Leben nicht so viel verdient, wie Cesare Brunelli innerhalb von fünf Minuten. Doch zumindest beruflich ging es für Sam momentan steil bergauf.

Vier langweilige Jahre war sie bei der Lokalzeitung einer schottischen Kleinstadt, ihrem Geburtsort, angestellt gewesen und hatte literweise Tee für die gesamte Belegschaft kochen müssen, ehe sie die Sparte „Hochzeiten und Kirchenfeste“ journalistisch betreuen durfte.

Und jetzt war ihre harte Arbeit endlich belohnt worden: Seit Kurzem hatte sie einen Job bei einer bekannten Londoner Tageszeitung. Ein ziemlich untergeordneter Job, aber immerhin!

„Heute bieten sich einem als Frau ganz andere Chancen als in meiner Jugend“, hatte ihr eine etablierte ältere Journalistin wie ein Geheimnis anvertraut. „Und du besitzt Talent, mein Kind.“ Sam war vor Stolz rot angelaufen. „Aber du musst immer mindestens hundert Prozent geben, wenn die Leute dich ernst nehmen sollen, und so ehrenwert Skrupel auch sein mögen, ist es weit besser, sich relativ … flexibel zu zeigen, wenn du verstehst, was ich damit meine …“

Nicht ganz sicher, ob sie wirklich verstehen wollte, hatte Sam langsam genickt und auch noch den letzten Rat der älteren Kollegin aufmerksam entgegengenommen.

„Ach ja … und wenn dir etwas an deiner Karriere liegt, dann mach nicht den Fehler, laut herauszuposaunen, dass du dich nach einer dauerhaften Beziehung oder gar einer eigenen kleinen Familie sehnst. Das wäre beruflicher Selbstmord.“

Und was ist mit einem Baby?

Sam hatte sich noch immer nicht ganz an die bevorstehende, radikale Veränderung in ihrem Leben gewöhnt, wobei es ihr aber nie in den Sinn gekommen wäre, das Baby aus irgendeinem Grund nicht haben zu wollen. Neben Angst und Panik vor dem, was auf sie zukommen würde, fühlte sich alles irgendwie richtig an.

Ein Gefühl, das der werdende Vater möglicherweise nicht mit ihr teilen würde … Doch egal, ob er sich für oder gegen das Baby entschied, er hatte ein Recht darauf, von ihrer Schwangerschaft zu erfahren. Sie selbst wusste auch erst seit zwei Wochen davon. Eine ziemlich kurze Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, bald Mutter zu sein. Irgendwie hatte die ganze Situation etwas Unwirkliches an sich.

Wahrscheinlich wurde es besser, wenn man erst das neue Leben in sich spüren konnte.

Gegen mögliche Schwierigkeiten von Cesare Brunellis Seite war Sam bereits gestählt. Egal, ob ihn vorrangig Ärger, Misstrauen oder Ablehnung bewegen würden, in ihrem Innern hatte sich eine gewisse Gelassenheit ausgebreitet, von der sie bisher nicht wusste, dass sie dazu überhaupt fähig war. Vielleicht war es ja auch nur eine Art Schocksyndrom? Egal, heute würde es ihr in jedem Fall helfen.

Die blonde Rezeptionistin schien den furiosen Abgang der Hollywood-Diva endlich einigermaßen verdaut zu haben, und räusperte sich nun ihrerseits, womit sie Sam aus ihren Tagträumen riss.

„Miss …?

„Ich bin … Samantha Muir und …“

„Achter Stock, erste Tür links.“

Sam runzelte verwirrt die Stirn. „Bitte?“

„Achter … erste links …“, wiederholte die Blondine akzentuierter, ohne Augenkontakt mit ihr aufzunehmen.

„Achter, erste links?“, echote Sam einigermaßen geschockt, weil sie sich weder ausweisen, noch einen Grund für ihren Besuch angeben musste. Die Frau wollte offensichtlich, dass sie einfach so, ohne Voranmeldung in das Büro des Chefs reinplatzen sollte. Was hielt sie also davon zurück?

Mit einem Anflug von Ungeduld wedelte die Rezeptionistin mit ihren blutrot lackierten Nägeln in Richtung der Fahrstühle und wandte sich dann dem Telefon zu, das in diesem Moment klingelte.

Das ist zu einfach! schoss es Sam durch den Kopf. Aber warum sollte sie zur Abwechslung nicht auch einmal Glück haben? Also hob sie das Kinn, zauberte erneut ein Lächeln auf ihr blasses Gesicht, schwebte mit dem Luxuslift lautlos zum achten Stock empor und marschierte, ohne anzuklopfen, durch die avisierte Tür.

Der Raum dahinter war viel kleiner als erwartet und ziemlich spärlich eingerichtet. Das einzige echte Büromöbel war ein schmaler Schreibtisch, der schräg in einer Ecke stand. Dann gab es nur noch einige schlichte Stühle, die an einer Wand aufgereiht standen.

Plötzlich öffnete sich eine weitere Tür neben dem Schreibtisch, und ein schlanker Mann in den Dreißigern, mit schütterem Haar, trat ein, legte einen Stapel Akten auf den Tisch und stutzte, als er Sam bemerkte.

„Sie sind eine Frau!“

Normalerweise wäre sie seinem Vorwurf, denn so hörte es sich an, mit einer launigen Bemerkung begegnet, da sie derartige Reaktionen auf ihren ungewöhnlichen Vornamen gewohnt war. Doch im Moment war Sam gar nicht danach. Stattdessen nickte sie nur knapp.

„Hallo, ich bin Sam Muir und würde gern …“

„Sam! Das erklärt natürlich den Irrtum. Und ich dachte, der Tag könnte nicht noch schlimmer werden!“

Sam, die inzwischen völlig verwirrt war, nickte noch einmal vage. „Ich bin hier, um mit Mr. Brunelli …“ Während sie sprach, tauchte ganz unverhofft das dunkle Gesicht des Italieners vor ihrem inneren Auge auf und brachte sie komplett aus der Fassung.

Im Nachhinein erschien es ihr sonderbar, dass sie nicht auf den ersten Blick ein Gefühl von Gefahr gespürt hatte, als sie die harten Züge des eindrucksvollen Mannes sah, der sie wie ein Turm überragte.

Seine unglaubliche Attraktivität hatte sie wie ein physischer Schlag auf den Solarplexus getroffen und ihr den Atem geraubt. Wie in Trance ergab sie sich der überwältigenden Woge wilder Leidenschaft, die unerwartet in ihr aufbrandete und alle selbst auferlegten Hemmungen hinwegschwemmte.

Gleichzeitig fühlte Sam sich seltsam distanziert, als geschehe das alles nicht ihr, sondern einer Fremden, auf die sie gar keinen Einfluss hatte. Ihr nüchterner Realitätssinn meldete sich erst wieder, als es längst zu spät war.

Solange sie mit Cesare zusammen war, konnte sie weder ihren rasenden Herzschlag kontrollieren, noch die fatale Schwäche in ihren Gliedern überwinden, und schon gar nicht das Feuer löschen, das ihre zarte Haut zu versengen drohte.

Selbst jetzt, zwölf Wochen später, ließ die Erinnerung an sein klassisch schönes, ausgesprochen markantes Gesicht ihr Blut wie heiße Lava durch die Adern rinnen. Doch inzwischen konnte sie ihre damalige, extrem heftige Reaktion schon etwas besser und objektiver beurteilen.

Ohne Frage, gegen Cesare Brunellis arrogante, maskuline Sexualität war wohl keine Frau immun – auch Sam nicht. Aber was an jenem Abend geschah, war wohl eher das Resultat extrem verrückter Umstände, gegen die jeder machtlos gewesen wäre.

Möglicherweise verklärte sie ihn ja auch nur in ihrer Erinnerung, um ihr Verhalten vor sich selbst zu entschuldigen, und Cesare erwies sich im Nachhinein als Durchschnittstyp ohne besondere Qualitäten.

Aber egal. So viel stand jedenfalls fest … sie hatte einen großen Fehler gemacht! Einem Moment der Schwäche nachgegeben. Und jetzt musste sie mit den Folgen leben. Entschlossen richtete Sam ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart.

Der dürre Mann mit den schütteren Haaren blätterte nervös einen Stapel Papiere durch und schüttelte wie abwehrend den Kopf. „Tut mir leid, aber es sieht danach aus, als wäre auch Ihr Lebenslauf einfach verschwunden. Lieber Himmel! Diese Frau war wirklich komplett unfähig!“ Er legte die Papiere zurück und lächelte Sam entschuldigend an. „Ist nicht Ihr Fehler.“

Wenn er sich da mal nicht täuschte!

Eine neue Welle von Scham und Verzweiflung überflutete Sam. Immerhin hatte sie Cesare zuerst geküsst! Einen völlig Fremden!

Die Erinnerung an diesen Moment hatte sich unlöschbar in ihr Bewusstsein gebrannt …

Alles stand ihr plötzlich wieder vor Augen. Sein markantes Gesicht, das von dem grellen Blitz beleuchtet wurde, der hinter der Fensterscheibe am schwarzen Himmel aufzuckte … der dumpfe Schmerz in ihrer Brust, als sie die Stumpfheit und Leere in der Tiefe seiner unglaublichen Augen sah … und den qualvollen Ausdruck der Erkenntnis auf den erstarrten Zügen.

Unfähig, ihm mit Worten Trost zu spenden oder das erstickte Aufschluchzen zu unterdrücken, das sich ihrer Kehle entrang, hatte sie die Arme ausgestreckt und ihre Hände auf seine Wangen mit den dunklen Bartschatten gelegt. Es war eine spontane Geste gewesen, über die sie nicht nachgedacht hatte, von der sie aber sofort wusste, dass sie falsch war, weil er erschrocken zurückzuckte. Und als Sam abbittend ihren weichen Mund auf seine festen Lippen presste, blieben die kalt und ohne Regung.

Einen umwerfend attraktiven Mann zu küssen, der das gar nicht wollte, mochten andere junge Frauen ihres Alters mit einem Achselzucken quittieren, sie konnte das nicht. Stattdessen glaubte sie, vor Verlegenheit und Scham sterben zu müssen.

Gerade setzte Sam zu einer stammelnden Erklärung an und wollte sich von ihm zurückziehen, da legte Cesare seine Hände auf ihre und presste sie gegen sein Gesicht.

Und wieder schlug Sams Herz bis zum Hals, als sie daran zurückdachte, wie er seine Finger mit ihren verflocht. Immer noch vermeinte sie das nervöse Spiel der Wangenmuskulatur unter der gebräunten Haut zu spüren, während er heiser ein paar Worte in seiner Muttersprache hervorbrachte. Und dann eroberte er ihre bebenden Lippen mit einem verzweifelten Kuss voller Wildheit und Verlangen …

Aber sie hatte damit angefangen!

Natürlich, wenn er sie nicht zurückgeküsst und der wütendeSturm den Strom nicht hätte ausfallen lassen … wäre wahrscheinlich auch gar nichts weiter passiert. Dann würde sie heute auch nicht hier stehen und versuchen, zu Cesare Brunelli vorgelassen zu werden, um ihm mitzuteilen, dass sie ein Kind von ihm erwartete.

Instinktiv legte sie eine Hand auf ihren noch flachen Bauch und schaute zur Tür. Sie konnte immer noch gehen …

„Ist Mr. Brunelli überhaupt im Haus?“, vergewisserte sich Sam bei dem Mann mit dem dunkelblonden Haar, der abrupt seine Suche nach ihren vermeintlich verloren gegangenen Papieren abbrach. Er nickte, seufzte tief und wies mit dem Kinn auf die Tür, durch die er gekommen war. Dann fiel ihm ein, dass er sich noch gar nicht vorgestellt hatte.

„Mein Name ist Tim Andrews. Nennen Sie mich einfach Tim.“

Nur zögernd ergriff Sam die dargebotene Hand, während sie wie hypnotisiert die Tür anstarrte, hinter der Cesare Brunelli sich offenbar verborgen hielt. Wenn sie sich jetzt einfach losriss und floh, konnte sie den Überraschungsmoment nutzen und verschwunden sein, ehe dieser freundliche Mann sich von seinem Schock erholt hatte.

„Sie zittern ja“, stellte Tim Andrews erstaunt fest.

Hastig zog sie ihre Hand zurück und schob sie in die Jackentasche. „Ich bin den ganzen Weg hierhergekommen, um mit Mr. Brunelli zu reden“, erklärte sie tonlos.

Tatsächlich waren es nur einige Stationen mit der U-Bahn gewesen, doch angesichts der … besonderen Umstände konnte es nicht schaden, die ganze Sache etwas dringlicher erscheinen zu lassen. „Und ich werde nicht wieder gehen, bevor ich ihn persönlich gesprochen habe“, fügte sie energisch hinzu und wünschte sich, sie würde sich nur halb so resolut fühlen, wie sich ihre Stimme anhörte.

„Ich verstehe …“, sagte Tim Andrews etwas reserviert und bedachte sie mit einem langen, forschenden Blick. „Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. Setzen Sie sich doch bitte solange.“ Er wies auf einen Stuhl und ging auf die Tür im Hintergrund zu. Nachdem er flüchtig angeklopft hatte, öffnete er sie und trat ein.

Von ihrem Platz aus konnte Sam nur die gedämpften Stimmen hören, aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Das heißt, eigentlich hörte sie nur eine Stimme.

Und der volle dunkle Klang katapultierte sie augenblicklich wieder in jene Nacht vor drei Monaten zurück. Vielleicht hätte sie doch nicht so unbedingt auf einem persönlichen Kontakt bestehen sollen. Ein Brief oder eine E-Mail hätten es sicher auch getan. Schließlich brauchte sie ja niemandem etwas zu beweisen.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, war sie aufgestanden und hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt, bis sie jetzt in der offenen Tür stand. Der Raum dahinter war riesig, doch Sam registrierte weder die kostbare Eichenvertäfelung, noch die deckenhohe Glaswand, die einen spektakulären Ausblick auf die Themse bot. Ihr Blick huschte nur flüchtig über den gelungenen Mix aus eleganten Designermöbeln und auserlesenen antiken Einzelstücken, bevor sie ihn auf den großen, breitschultrigen Mann heftete, der ihr den Rücken zugewandt hielt.

Als er den Kopf zur Seite drehte, präsentierte er ihr ein klassisch geschnittenes Profil mit hoher Stirn, römischer Nase und einem markanten, glatt rasierten Kinn.

Der Mann, mit dem sie die Nacht verbracht hatte, trug sein dunkles Haar so lang, dass es über den Kragen seines Polo-Shirts reichte, und einen stoppeligen Dreitagebart. Und als er sie liebte, tat er es ebenso wild und ungezügelt wie der Sturm, der draußen tobte.

Jetzt war das Haar kurz, und die verwaschenen Jeans hatte er gegen einen offensichtlich maßgeschneiderten Designeranzug eingetauscht. Ein Ausbund an maskuliner Eleganz und Unnahbarkeit.

Und plötzlich fühlte sich das Ganze für Sam nicht mehr wie eine höfliche Pflichtübung an, sondern wie ein echter Kardinalsfehler. Ihr Drang zu fliehen war jetzt noch viel stärker als zuvor, doch ihr widerspenstiger Körper wollte ihr nicht gehorchen.

„Soll ich die Tür schließen?“, fragte Tim Andrews. „Sie wartet draußen und …“

„Nein, auf keinen Fall! Candice hat das Prinzip, weniger ist mehr, nicht mal im Ansatz verstanden. Vor allem, wenn es um Parfum geht.“

Als Sam sah, wie er die aristokratische Nase rümpfte, fragte sie sich unwillkürlich, ob sich das in erster Linie auf den schweren exotischen Duft bezog, der in der Luft lag, oder die Person, die er im Geist damit verband. Waren es unangenehme Erinnerungen, die ihn mit dieser Candice verbanden, oder fühlte er ein schmerzhaftes Verlangen nach seiner Geliebten?

Sam gefiel weder der eine, noch der andere Gedanke. Seit sie in einem Klatschblatt von der Affäre der beiden gelesen hatte, fragte sie sich immer wieder, ob es das Gesicht der attraktiven Schauspielerin gewesen war, das er während ihres Liebesspiels vor seinem inneren Auge hatte.

„Hören Sie, es tut mir sehr leid wegen Candice, aber …“

„Wollen Sie sich etwa bei mir für ihr unmögliches Verhalten entschuldigen, Tim? Das ist nicht nötig. Wenn sie sich etwas vorgenommen hat, lässt sie sich von niemandem aufhalten. Ich nehme an, sie hat die Presse über ihren … Besuch hier informiert?“

„Ich befürchte, so war es tatsächlich …“, murmelte der Unglückliche. „Aber was das Mädchen da draußen betrifft, Cesare. Sie ist extra Ihretwegen hierhergekommen. Können Sie nicht wenigstens ganz kurz mit ihr reden? Sie müssen ihr den Job ja nicht wirklich geben.“

Endlich verstand Sam, warum sie entgegen ihrer Erwartung gleich weitergereicht worden war. Alle dachten offensichtlich, sie hätte sich hier um einen Job beworben! Fast hätte sie aufgelacht, doch der Impuls erstarb in dem Moment, als Cesare ein gereiztes Knurren ausstieß.

„Ich dachte, ich hätte mehr als deutlich gemacht, dass ich keinen weiblichen Assistenten haben will.“

„Nun, das konnten wir der Agentur so wohl schlecht sagen, oder?“, formulierte Tim vorsichtig. „Nicht, wenn wir nicht der sexuellen Diskriminierung beschuldigt werden wollen.“

„Und deshalb ist diese Frau auf der Liste? Sozusagen als Quotenweib?“

Tim Andrews hüstelte nervös, und Sam wollte sich gerade einschalten, als Cesare Brunelli sich plötzlich umdrehte, zum Schreibtisch ging und einen mattgrünen Stein mit irisierenden goldenen Streifen in die Hand nahm und betastete.

„Ist das Ihr Mitbringsel von unserem Himalaya-Treck?“, fragte Tim, um ein neues Thema bemüht.

„Ja.“ Cesares Kinnmuskulatur verhärtete sich, als erinnere er sich an etwas ganz Bestimmtes. Plötzlich wirkte er wie ein Mann, der grundsätzlich versuchte, seine Grenzen auszutesten, und auch gern mal darüber hinausging.

Sam fühlte einen kühlen Schauer über ihren Rücken rinnen.

Tim hingegen grinste breit. „Das war eine gigantische Sache, was? Leider habe ich es ja nicht ganz bis zum Gipfel geschafft, aber beim nächsten Mal werde ich nicht kneifen! Da bin ich auf jeden Fall dabei!“

„Ich aber nicht!“, sagte Cesare hart und legte den Stein wieder auf dem Tisch ab. In dem Moment, als die Worte heraus waren, hätte er sie am liebsten zurückgeholt. Wenn er irgendetwas hasste, dann war es Selbstmitleid. Erst recht, wenn es ihn betraf.

„T…ut mir leid“, stammelte der arme Tim mit brandrotem Kopf. „Offenbar kann ich nicht den Mund aufmachen, ohne …“

„Ohne mich daran zu erinnern, dass ich blind bin?“, ergänzte Cesare rau. „Keine Bange, neben der erfreulichen Tatsache, dass Ihr schuljungenhaftes Aussehen unseren Gegnern und Konkurrenten ein völlig unangebrachtes Gefühl von Sicherheit vermittelt, ist genau das der Grund, warum ich Sie überhaupt in meiner Nähe ertrage. Sie sind die einzige Person, die nicht plötzlich auf Zehenspitzen um mich herumschleicht.“

Das stimmt nicht ganz, dachte Cesare im nächsten Moment. Es hatte da noch jemanden gegeben …

Er kniff die Augen zusammen, aber das löschte nicht die Stimme in seinem Kopf aus, die ihn Tag und Nacht verfolgte. Zwischendurch hatte er sich sogar eingeredet, die geheimnisvolle Fremde sei nur ein Produkt seiner überschäumenden erotischen Fantasie gewesen, doch dann würde er sich nicht an jedes noch so winzige Detail ihres Zusammenseins erinnern können. Oder an ihren zarten Duft …

Und sie hatte ihm Dinge an den Kopf geworfen, die sonst niemand wagen würde, ihm ins Gesicht zu sagen. Seine sorgfältig errichteten Mauern, hinter denen er sich vor der Welt verschanzte, hatte sie mit einer stürmischen Aktion zu Fall gebracht und ihn damit dem Schmerz ausgeliefert, vor dem er sich hatte schützen wollen.

Der Pein, sich der Realität stellen zu müssen …

Aber jedes ihrer Worte und jede noch so rüde Anschuldigung entsprachen der Wahrheit. Und der Sex mit ihr war eine ganz besondere Erfahrung gewesen. Eine, die er trotz der qualvollen Begleitumstände gern wiederholt hätte …

Um Cesares herben Mund spielte ein schwaches Lächeln, das Sams Herz sofort höher schlagen ließ.Woran er wohl gerade dachte?

„Das ist nicht erst seit Ihrer Erblindung so“, behauptete Tim gelassen und brachte damit gleich zwei Zuhörer abrupt in die Wirklichkeit zurück. „Seit ich Sie kenne, tritt jeder in Ihrer Gegenwart so geräuschlos wie möglich auf. Die meisten Menschen fürchten sich vor Ihnen zu Tode.“

„Wollen Sie mir auf diesem Weg schonend beibringen, dass ich schon immer ein Monster war?“, fragte Cesare sarkastisch.

„Ich will damit sagen, dass Sie ein Mensch sind, der sich selbst hohe Ziele steckt und schier Unglaubliches abverlangt und dasselbe natürlich auch von anderen erwartet. Nur leider hat nicht jeder Ihr Potenzial, Cesare.“ Das klang fast tröstend, und der hochgewachsene Mann lachte hart auf.

Es kostete ihn wirklich einiges, seine Dämonen zu bekämpfen und zu überwinden, nachdem er sein Augenlicht verlor. Aber das hatte sein unerschrockener Berater wahrscheinlich gar nicht gemeint, dieser unverschämte Kerl!

„Um noch mal auf das Mädchen zurückzukommen …“

„Überspannen Sie den Bogen nicht, Tim!“, warnte Cesare und trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Schreibtischplatte. „Sie kennen meine Meinung. Also, warum meine Zeit verschwenden und die jener Frau?“

„Sie ist eigentlich gar nicht von der Agentur geschickt worden, sondern eher irrtümlich hier gelandet. Ihr Name ist Sam …“ Er schluckte trocken, angesichts der unnachgiebigen Miene seines Arbeitgebers und nahm sich vor, nur noch einen allerletzten Versuch zu wagen. „Sie müssen sie doch nicht mehr als ein, zwei Minuten sehen und …“ Entsetzt über seinen Fauxpas brach er ab. „Ich meine natürlich …“

„Ich weiß genau, was Sie meinen, Timothy!“, unterbrach Cesare ihn grob, doch in seiner Stimme schwang ein Funken Amüsement mit. „Ich wünschte nur, Sie würden endlich aufhören, so krampfhaft zu versuchen, meine Gefühle zu schonen. Das wäre für mich sehr viel erholsamer, glauben Sie es mir. Okay, ich werde sie zwar nicht sehen, aber ihr für eben jene ein, zwei Minuten gnädig mein Ohr leihen. Endlich zufrieden, Sie Quälgeist?“

„Ja, Sir … Sie werden es bestimmt nicht bereuen.“

„Ah, Sie sind also wirklich der Meinung, diese eine Frau

2. KAPITEL

„Keine Angst, ich werde mich nicht in Sie verlieben!“

Sam fühlte sich sehr sicher bei diesem Statement, was nicht der Fall gewesen wäre, hätte er von Lust geredet. Denn die hatte sie in der Sekunde überfallen, und zwar mit aller Macht, als sie Cesare Brunelli zum ersten Mal gegenüberstand.

Aber Liebe hatte nichts mit dem sinnhaften Rausch zu tun, der einen in den Fängen hält und den Verstand ausschaltet, bis die verzehrende Sehnsucht des Körpers endlich gestillt war. Liebe war keine Sache von Hormonen oder der unerklärlichen Chemie zwischen zwei Menschen, sondern ein starkes ruhiges Gefühl, das langsam wächst und ein Leben lang anhält. Im Idealfall!

Lust war dagegen aus einem viel fadenscheinigeren Material gestrickt. Es hatte nichts Solides, nichts Bleibendes an sich. Und genau deshalb konnte Sam bei Cesares Anblick auch an nichts anderes denken als …

Lieber Himmel! Sie war doch nicht hierhergekommen, um …

Ihr spröder Kommentar hatte beide Männer dazu veranlasst, sich ihr zuzuwenden, und Sam war gezwungen, ihre mehr als verwegenen Fantasien in den Hinterkopf zu verdrängen, um sich auf das zu konzentrieren, weshalb sie Cesare Brunelli unbedingt hatte sprechen wollen.

Obwohl sie wusste, dass er blind war, schien es so, als wolle er sie mit seinen unglaublich blauen Augen förmlich durchdringen. Sams Herz klopfte so heftig, dass sie es im Hals spürte. Er sah so anders aus – abweisend und unzugänglich.

Sie gab sich einen Ruck. „Ich bin nicht wegen eines Jobs hier, Mr. Brunelli“, stellte sie klar.

Erneut hatte sie den Eindruck, direkt angeschaut zu werden, doch diesmal schien sein Blick bis in ihre geheimsten Gedanken vordringen zu wollen.

Lieber nicht! dachte Sam in einem Anflug von Panik.

Cesares Körper war bis in die letzte Muskelfaser angespannt, seine Hände zu Fäusten geballt, nachdem die unverwechselbare, leicht heisere Stimme ihn wie ein Schlag ins Gesicht getroffen hatte.

Sie war hier! Er hatte sie gefunden, oder besser, sie hatte ihn gefunden!

Wochenlang hatte er nach der Frau gesucht, die sein Leben wie ein glitzernder Komet gestreift hatte und nichts weiter hinterließ als ihren betörenden Duft auf seinen Laken. Der einzige Beweis, dass er nicht geträumt hatte.

Cesares Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und in seinen Lenden breitete sich heißes Begehren aus. Es war mit ihr verschwunden gewesen und jetzt …

„Lass uns allein, Tim.“

Tim, der gerade einen Schritt auf Sam zugemacht hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Cesare konnte seine Irritation förmlich spüren, ging aber nicht darauf ein.

„Allein lassen?“, echote er verständnislos. „Mit ihr?“

„Ja.“ Das klang eine Spur arrogant und sehr endgültig.

Sams Unsicherheit verstärkte sich. Sie hatte sich mental auf alles Mögliche vorbereitet, aber nicht darauf! Cesare hatte sich nicht nur äußerlich verändert.

„Wenn ich in Gefahr sein sollte, werde ich Sie rufen.“

„Wie Sie wünschen, Sir …“

Cesare lächelte versteckt. „Einen Moment noch, Timothy“, befahl Cesare, und Tim blieb stehen. „Wie sieht sie aus?“

„Pardon?“

„Ist sie eine blauäugige Blonde oder eine braunäugige Brünette …?“

Cesare wusste nur, dass ihr Gesicht ungefähr auf Höhe seines Herzens war, wenn sie dicht vor ihm stand. Sie war schlank, sportlich, mit dezenten Kurven und einer samtigen Haut. Eine schmale Nase, ein kleines, festes Kinn und dieser großzügige weiche Mund …

Die Erkenntnis, wie häufig er in den letzten Wochen in Gedanken wieder und immer wieder ihr zartes Gesicht betastet hatte, traf ihn wie ein Schock. Und stets hatte es in einem Gefühl von Frustration geendet, weil er es nicht vermochte, seinem Bild von ihr Farbe zu verleihen.

„Sie hat blaue Augen … tiefblaue, leuchtende Augen und kupferrotes Haar“, repetierte Tim aus dem Gedächtnis und drehte sich dann erst zu Sam um. „Sorry“, murmelte er leise, doch sie schüttelte nur lächelnd den Kopf.

„Es sind nicht Ihre Manieren, die zu wünschen übrig lassen“, beruhigte sie ihn.

An diesem Punkt hielt Tim Andrews es für angebracht, den Ort des Geschehens so schnell wie möglich zu verlassen. Als die Tür mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel, atmete Sam noch einmal tief durch. „Ich bin …“

„Ich weiß, warum du hier bist, cara“, nahm Cesare ihr den Wind aus den Segeln. „Du scheinst Timothy ziemlich beeindruckt zu haben“, stellte er mit einem leichten Unterton in der dunklen Stimme fest. „Ein blauäugiger Rotschopf also …“

„Ich glaube kaum, dass die Farbe meiner Augen oder Haare in irgendeiner Hinsicht wichtig ist.“

„Mag sein, aber da wir bereits auf einer sehr intimen Ebene miteinander verkehrt haben …? Tja, ich glaube, offiziell vorgestellt wurden wir einander allerdings noch nicht. Sam also …?“

Nach Cesares Auffassung war ein Jungenname für eine derart weibliche Frau völlig unpassend.

„Woher wussten Sie, dass ich es war“, fragte Sam. „Sie können doch gar nicht … außer …?“ Sie schaute Cesare forschend in die Augen, und für ihr Empfinden schien er ihren Blick zu erwidern. Aber was sollte dann das Theater mit Tim?

„Ich bin blind, aber nicht dumm, cara.“

Hatte er etwa ihre Gedanken gelesen? Sam fröstelte und schlang wie beschützend die Arme um ihren Oberkörper. Gut, dass er ihre Verlegenheitsgeste nicht sehen konnte!

„Also, wie?“, beharrte sie dennoch.

„Deine Stimme ist sehr einprägsam“, sagte er rau und mit einem sexy Unterton, der Sam noch mehr frösteln ließ. Diesmal aber aus anderen Gründen.

„Es gibt eine Menge Leute mit schottischem Akzent“, versuchte sie hastig abzulenken.

„Und dann dein Parfum …“ Er blähte leicht die Nasenflügel, und Sam beobachtete fasziniert das Spiel seiner Kiefermuskulatur, als er die Lippen zusammenpresste und heftig schluckte.

„Ich benutze gar kein Parfum“, murmelte sie heiser.

Cesare war langsam näher gekommen und stand inzwischen so dicht vor ihr, dass sie sich nur noch auf die Zehenspitzen heben und leicht hätte vorbeugen müssen, um ihn auf das markante Kinn zu küssen. Der Wunsch, diesem sehnsüchtigen Drang nachzugeben, wurde fast übermächtig.

„Und?“, fragte Cesare mitten in ihre Verwirrung hinein. „Hat dieser geheimnisvolle Rotschopf auch noch einen anderen Namen als Sam?“

Die Art, wie er die drei dürren Buchstaben über die Zunge rollen ließ, verursachte ihr ein seltsames Kribbeln im Magen.

„Samantha, aber jeder nennt mich Sam.“

„Ich bin nicht jeder, Samantha.“

Während sie noch überlegte, was sie darauf sagen sollte, streckte Cesare die Hand aus. Sam schloss die Augen, als er mit den sensiblen Spitzen seiner langen gebräunten Finger ganz sanft die Rundung ihrer Wange abtastete.

„Du bist wirklich da und kein Trugbild meiner Fantasie …“ Seine Stimme klang leicht erstaunt und sehr zufrieden.

Sam spürte, wie sie errötete. „Natürlich fragen Sie sich, was mich veranlasst hat, so einfach hier einzudringen …“

„Eigentlich nicht“, unterbrach er sie mit einem schiefen Lächeln. „Aber da du es so förmlich ausdrückst, fürchte ich dann doch, einem bedauerlichen Irrtum erlegen zu sein, wenn ich gehofft hatte, es wäre wegen meines Körpers …?“

Sam brauchte einen Moment, um sich zu fassen. „So toll sind Sie dann auch wieder nicht!“, konnte sie sich nicht verkneifen und hoffte inständig, er möge die dreiste Lüge nicht entlarven.

„Das hast du beim letzten Mal noch ganz anders gesehen“, erinnerte er sie gnadenlos. „Perfekt, absolut perfekt lautete dein Urteil, wenn ich mich recht erinnere. Außerdem schienst du auch von meinen Qualitäten als Liebhaber außerordentlich angetan gewesen zu sein. Wie hast du es noch ausgedrückt …?“

„Ein Gentleman würde so etwas niemals erwähnen!“

„Bin ich nicht.“

Sam schob die Brauen zusammen. „Nicht was?“

„Ein Gentleman, zumindest nicht in dieser Interpretation, cara. Aber es waren ja auch nicht unbedingt meine geschliffenen Manieren, die dir im Bett …“

„Ich kann es nicht fassen, dass ich jemals auch nur einen Funken Mitleid für dich empfunden habe!“, platzte es aus ihr heraus.

Cesare zuckte zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. „Dann hast du also nur aus Mitleid mit mir geschlafen?“, fragte er mit gefährlich leiser Stimme.

Sam spürte plötzlich ein heftiges Pochen hinter den Schläfen, als Cesare genau den wunden Punkt berührte, den sie selbst noch nicht zu ihrer Zufriedenheit hatte entschlüsseln können.

„Ehrlich gesagt, kann ich mir selbst nicht erklären, warum ich das getan habe“, konfrontierte Sam ihn unverblümt mit der Wahrheit. „Dabei bin ich normalerweise ein extrem zurückhaltender Typ.“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Es war eine absolut verrückte Situation, aber ich wusste, was ich da tat.“ Sie schien jetzt nur noch zu sich selbst zu sprechen. „Und ich wollte es …“

Während er ihren holperigen Ausführungen lauschte, verschwand der angespannte Ausdruck von Cesares Gesicht.

„Es kam dir so natürlich und unvermeidbar vor wie der nächste Atemzug?“, half er ihr weiter.

„Stimmt!“, rief sie erstaunt aus. „Wie kannst du das wissen?“ Noch während sie das sagte, hatte Sam das Gefühl, sich Cesare gegen ihren Willen auszuliefern. „Trotzdem bleibt es dabei, dass ich keinen Funken Mitleid für dich empfinde!“, tat sie vorsichtshalber noch einmal kund.

Sein raubtierhaftes Lächeln verursachte ihr eine wohlige Gänsehaut. Ein absurdes Empfinden, das sie sogleich weit von sich wies.

„Über der launigen Plauderei hätten wir fast die Formalitäten vergessen, Samantha. Also, ich bin Cesare, was dir natürlich inzwischen bekannt ist, sonst wärst du ja nicht hier.“ Er deutete eine höflich korrekte Verbeugung an. „Als Nächstes drängt sich mir natürlich die Frage auf, warum bist du hier?“

Genau das hatte sich auch Sam, besonders in den letzten zehn Minuten, dringlicher gefragt denn je. „Ich … ich wusste nicht, wer du bist, als wir …“

„Zusammen im Bett waren, weil du so überwältigt warst vor Mitleid, was du allerdings bewundernswert zu kaschieren verstandest …“

„Oh, da habe ich dich keineswegs bemitleidet“, unterbrach sie ihn nüchtern. „Erst später, als ich dein Bild in der Zeitung sah.“

Nicht für einen Moment hatte sie geglaubt, dass es sich bei dem Mann, der in dem Artikel als größtes Finanzgenie der Gegenwart beschrieben wurde, um den gleichen Mann handelte, mit dem sie eine heiße Nacht verbracht hatte. Dann las sie den kurzen Abschnitt über seinen Unfall, der ihn das Augenlicht gekostet hatte, und die nachfolgende Auflösung seiner Verlobung mit einer berühmten Schauspielerin.

„Lass mich raten. Ganz plötzlich hast du noch viel tiefer gehende Gefühle für mich entwickelt?“ Seine Stimme troff förmlich vor Sarkasmus.

„Nein, ich …“

„Und bereust es bitterlich, mich einfach so verlassen zu haben, während ich schlief“, fuhr Cesare erbarmungslos fort.

Scham und Schuldgefühl trieben heiße Röte in Sams Wangen. „Schon, weil …“

„Kein Grund für weitere Erklärungen, ich verstehe vollkommen!“

„Das bezweifle ich“, erwiderte Sam trocken.

„Glaub mir, ich weiß aus Erfahrung, wie schnell sich das Verhalten der Leute ändert, sobald sie wissen, dass ich nicht unvermögend bin.“

Was hatte das denn mit ihrem Problem zu tun?

Sam brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, worauf Cesare überhaupt anspielte, doch dann stieg heiße Empörung in ihr auf.

„Nur zu deiner Information, dein Geld interessiert mich absolut nicht!“

„Natürlich nicht!“, konterte er höhnisch und spürte gleichzeitig einen feinen, ziehenden Schmerz in der Brust.

Für One-Night-Stands hatte Cesare, anders als viele seiner Geschlechtsgenossen, nie viel übrig gehabt, und es noch dazu als einen Mangel an guten Manieren empfunden, sich morgens klammheimlich davonzustehlen. Und er sah keinen Grund, die gleichen Maßstäbe auch Frauen gegenüber anzulegen.

Dass sie einfach so gegangen war, hatte ihn anfangs fast verrückt gemacht, doch sobald sein nüchterner Verstand wieder einsetzte, musste Cesare sich eingestehen, dass sie ihm nur etwas gegeben und dafür absolut nichts im Gegenzug verlangt hatte. Und das ließ Samantha, zumindest in seiner Welt, ziemlich einzigartig erscheinen.

Doch wie es jetzt aussah, hatte er sich auch darin getäuscht.

„Wie auch immer“, unterbrach Sam leicht gereizt seine Grübeleien. „In jener Nacht hatte ich weder eine Ahnung, wer du bist, noch, ob du Geld hast oder nicht. Und wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre es mir lieber, immer noch nichts darüber zu wissen. Doch leider ist mir im Zuge einer Recherche dieser Artikel mit deinem Foto in die Finger geraten …“

„Recherche?“

Angesichts der Skepsis in seiner Stimme reckte Sam kampflustig ihr Kinn vor. „Nun, ich arbeite für den Chronicle“, informierte sie ihn so kühl wie möglich, obwohl sie innerlich hoffte, er würde sich genauso beeindruckt zeigen wie die meisten Leute, wenn sie erwähnte, dass sie bei dieser renommierten Zeitung beschäftigt war.

Doch Cesare hätte kaum weniger beeindruckt sein können. „Du bist Journalistin?“

„Ja.“ Sam ärgerte sich über den verteidigenden Ton in ihrer Stimme. „Und ich bin sehr gut in meinem Job!“, fügte sie steif hinzu.

„Das bezweifele ich nicht im Geringsten.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass er damit kein Kompliment aussprach.

„Hast du etwa Probleme mit Journalisten?“

Cesare lachte hart auf. „Ich würde sagen, es ist auf jeden Fall ein erstrebenswerter Beruf für Menschen, die keine Skrupel haben!“

Er dachte an den Reporter, der die Eltern des verletzten Kindes interviewt hatte, das von ihm aus dem brennenden Wagen gezogen worden war. Der passte jedenfalls exakt in jene Kategorie. Er war nicht einmal davor zurückgeschreckt, das in Angst und Schmerz um ihr lebensgefährlich verletztes Kind erstarrte Paar auch noch zu fragen, ob sie sich verantwortlich für Cesares Erblindung fühlten.

Sam, die sich durch Cesares pauschale Verurteilung verletzt fühlte, presste verstimmt die Lippen zusammen.

„Ich versuche durchaus, nicht alle über einen Kamm zu scheren“, fuhr Cesare fort, als habe er schon wieder ihre Gedanken gelesen. „Wahrscheinlich würden sogar die meisten deiner Berufskollegen davor zurückschrecken, mit ihrer Zielperson zu schlafen, nur um eine gute Story zu bekommen. Dabei hätte ich es wirklich besser wissen müssen …“

Keine Sekunde später hörte er ein klatschendes Geräusch und spürte gleichzeitig einen brennenden Schmerz auf seiner Wange. Die Wucht des Schlages war so groß, dass sein Kopf zur Seite flog.

Entsetzt und voller Scham presste Sam beide Hände auf ihr wild hämmerndes Herz. Plötzlich hatte sie nur noch rot gesehen. Selbst wenn sie für Cesare nur ein bedeutungsloses Intermezzo unter vielen gewesen war … musste er ihre gemeinsame Nacht denn unbedingt derart in den Dreck ziehen und billig aussehen lassen?

Der Schock ließ Sam am ganzen Körper haltlos zittern. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie jemanden geschlagen. Das lag einfach nicht in ihrer Natur. Es war dieser Mann! Als Cesare die Demütigung auch noch komplett machte, indem er sie auslachte, stiegen ihr vor Frustration heiße Tränen in die Augen.

„Findest du das etwa lustig?“

Mit einer Hand seine brennende Wange reibend, hob er die breiten Schultern und ließ sie wieder fallen. „Da habe ich schließlich doch noch eine Frau gefunden, die keine Rücksicht auf meine Behinderung nimmt“, stellte er mehr für sich fest. „Und wenn du nicht gleichzeitig eine gefühllose, berechnende kleine Hexe wärst, würdest du dich ziemlich gut für den Posten als meine neue Assistentin eignen … oder als meine Geliebte.“

„Wenn das der ausgeschriebene Job sein soll, ist es kein Wunder, dass du Schwierigkeiten hast, ihn zu besetzen!“, schoss Sam mit beißender Ironie zurück. „Ebenso wenig, dass sich deine Verlobte von dir getrennt hat!“

Cesare neigte den Kopf leicht zur Seite, doch seine Miene blieb ausdruckslos. Er ließ sich weder anmerken, ob sie ihm mit der Ohrfeige ernsthaft wehgetan hatte, noch, was er über ihre letzte Äußerung dachte. Aber Sam fühlte sich auch so schrecklich schuldbewusst und unwohl in ihrer Haut.

„Das stand nämlich in dem Artikel, den ich gelesen habe“, erklärte sie fast trotzig. „Übrigens war ich zufällig im Foyer, als dieses aufregende Exmodel mit einer Meute von Paparazzi an den Fersen das Gebäude verließ und …“ Sie brach ab, als ihr auffiel, dass sie sich schon wie eine eifersüchtige Geliebte anhörte. „Ich nehme an, die Missverständnisse zwischen euch beiden sind wieder ausgeräumt?“

Doch so leicht, wie sie es gehofft hatte, schnappte Cesare nicht nach dem ausgelegten Köder.

„Berufliches oder privates Interesse?“, fragte er zynisch.

„Dein Liebesleben interessiert mich weder beruflich noch sonst irgendwie“, behauptete Sam schnippisch. „Und auch, wenn es mir leidtut, dass sie dich verlassen hat, kann man ihr kaum einen Vorwurf deswegen machen. Denn, blind oder nicht, du bist und bleibst ein Schuft! Und ich wünschte nur, ich hätte tatsächlich wegen einer Story mit dir geschlafen, dann käme ich mir jetzt nur halb so bescheuert vor!“

„Wenn nicht wegen einer Story, warum bist du dann mit mir ins Bett gegangen?“

Sam ignorierte die Frage. So, wie sie es sich selbst gegenüber bereits seit zwölf Wochen tat.

„Du glaubst doch nicht wirklich, ich würde über … so etwas schreiben, auf die Gefahr hin, damit meine Familie und meine Freunde zu verletzen? Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! Das einzige Gefühl, das mich seither beherrscht, ist Scham.“

Cesare neigte den Kopf zur Seite. „Du hältst Sex für etwas, dessen man sich schämen muss?“

„Nur den Sex mit dir! Ich … ich hatte schon andere Beziehungen … und ich war verlobt!“

„Verlobt?“ Aus einem unerfindlichen Grund störte Cesare diese Eröffnung enorm. Warum, darauf konnte er sich allerdings keinen Reim machen.

„Ja, verlobt! Und ich habe ein ausgesprochen gesundes Verhältnis zu Sex, falls dich das interessiert! Auf keinen Fall bin ich eine frustrierte, zimperliche …“

Ganz knapp konnte Sam sich noch bremsen, ehe sie sich aus lauter Wut und Frust um Kopf und Kragen redete.

„Jungfrau?“, half Cesare ihr bereitwillig aus und dachte plötzlich an Sams erstaunten Aufschrei, dessen Echo immer noch in seinem Kopf nachhallte. Doch da diese Erinnerung Gefühle in ihm wachrief, denen er sich nicht stellen wollte, hatte er sie rasch wieder verdrängt. Bis jetzt …

3. KAPITEL

Diesmal war es allerdings ein erstickter Protestlaut, der sich Sams Kehle entrang. Und damit hatte Cesare seine Bestätigung, wenn er noch eine gebraucht hätte.

„Du hast gedacht, ich würde es nicht merken?“, fragte er kühl.

„Eher gehofft …“, murmelte sie tonlos.

„Um dir selbst vorzumachen, es sei gar nichts geschehen, damit du für immer als professionelle Jungfrau auftreten kannst?“, spottete er. „Bevor du mir das nächste Mal mein chauvinistisches Verhalten vorhältst und gute Ratschläge erteilst, cara, erinnere dich daran, dass du es bist, die anonymen Sex mit einem Fremden vorzieht, anstatt mit dem eigenen Verlobten ins Bett zu gehen.“

„So war es doch gar nicht!“

„Aah … dann wusstest du also doch, wer ich bin!“

„Nein!“, presste Sam zwischen zusammengepressten Lippen hervor. „Ich verstehe nur nicht, warum du das Ganze so hoch aufhängst. Wenn man dich reden hört, könnte man denken, ich hätte dich quasi gezwungen, mit mir zu schlafen! Es ist nun mal passiert, und ich habe nicht vor, mir deshalb graue Haare wachsen zu lassen!“

Na, das hört sich ja sehr erwachsen und abgeklärt an! dachte Sam und musterte dann wütend Cesares undurchdringliche Miene.

„Nur zu deiner Information“, fuhr sie in dem Gefühl, völlig missverstanden zu werden, fort. „Es lag nicht an mir, dass Will und ich nicht …“

„Dass ihr nicht miteinander geschlafen habt?“ Cesare dachte an ihren warmen, weichen Körper, der sich ihm bereitwillig entgegengebogen hatte, als …

„Er hat sich in eine andere verliebt“, erklärte Sam hastig. „Außerdem geht dich das alles nichts an!“

„Dann verrate mir wenigstens, was ich von der ganzen verrückten Aktion halten soll. Oder von dir. Du tauchst einfach aus dem Nirgendwo auf, gibst dich als Putzfrau aus und versuchst, dich in meinem Kopf einzunisten.“

„Glaub mir, der letzte Platz, wo ich sein möchte, ist dein Kopf!“

„Das hast du auch von meinem Bett gesagt und bist trotzdem dort gelandet. Willst du etwa behaupten, das sei nicht geplant gewesen?“

Seine völlig ungerechtfertigte Anschuldigung entlockte Sam einen erneuten Protestlaut. „Natürlich nicht! Es … es war einfach eine Art Unfall! Sex aus Mitgefühl.“ Es war heraus, bevor sie es verhindern konnte. Eine Lüge, gefolgt von einem erstickenden Schuldgefühl.

„Ganz bestimmt, cara“, pflichtete Cesare ihr spöttisch bei, und Sam konnte es kaum fassen, als sie sah, wie sich seine Lippen amüsiert kräuselten. „Rede dir das nur weiter ein, wenn es hilft.“

„Denk doch, was du willst!“, giftete sie ihn an. „Vor einer Minute habe ich noch wegen einer Story mit dir geschlafen, jetzt, weil du unwiderstehlich bist, ja? Vielleicht war ich einfach nur neugierig. Immerhin war ich noch nie mit einem blinden Mann im Bett.“

„Du warst überhaupt noch nie mit einem Mann im Bett, cara“, erinnerte er sie spöttisch.

„Na, wie schön für dich! Dann gibt es doch erst recht keinen Grund, sich zu beschweren, oder? Du brauchtest offensichtlich jemanden, und ich war da. Basta!“

Cesare schob die dunklen Brauen zusammen bei der Erinnerung an das seltsame Gefühl in seiner Brust, als sie beide erschöpft, atemlos und eng aneinandergeschmiegt dalagen und ihm noch einmal bewusst wurde, dass er der erste Mann im Leben dieser geheimnisvollen Fremden war. Die Erkenntnis hatte ihn schockiert und gleichzeitig unglaublich erregt.

„Mag sein“, bestätigte er gelassen. „Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich in jenem Moment ebenso brauchtest wie ich dich. Wirst du das, der Ehrlichkeit halber, auch in deine Reportage mit einflechten? Ist dies möglicherweise nur ein Höflichkeitsbesuch, um mich von der bevorstehenden Veröffentlichung deiner Lovestory zu unterrichten? Falls es so ist …“

„Ach, geh zur Hölle!“

Cesare lachte. „Also zurück an den Ort, aus dem du mich, dank deines willigen warmen Körpers, gerettet hast? Ein nicht uninteressanter Aspekt … aber leider muss ich dich enttäuschen. Für mich hast du einfach nur guten, entspannenden Sex bedeutet, nicht meine Erlösung.“

„Glaub mir, das möchte ich auch nie sein!“

„Was bist du dann?“

„Schwanger!“, platzte Sam am Ende ihrer mentalen Kräfte hervor. „Exakt seit zwölf Wochen!“

Cesare gefror zur bewegungslosen Statue. Sekundenlang hatte Sam den Eindruck, er habe sogar aufgehört zu atmen.

„Schwanger?“

„So ist es. Und glaub mir, für mich war es ein ebenso großer Schock.“

„Bist du dir auch ganz sicher?“

Sam spürte, wie ihr Adrenalinspiegel stieg. „Würde ich es sonst sagen?“, fragte sie mit bebender Stimme. „Und ob ich mir sicher bin!“

„Weinst du etwa?“, fragte er misstrauisch.

„Nein, tue ich nicht!“, behauptete sie und wischte wütend mit der Faust über die feuchten Augen. „Ich weiß so gut wie nichts über dich, aber ich denke, sinnlose Spekulationen über das Wie und Warum bringen uns jetzt keinen Schritt weiter.“

„Wir wissen doch beide nur zu gut, warum, cara …“

Sam errötete und biss sich auf die Lippe. „Hör zu“, sagte sie hastig. „Ich will gar nichts von dir, falls du etwas in der Art befürchtest. Ich dachte nur, du würdest es vielleicht wissen wollen. Und jetzt, da ich es dir gesagt habe, werde ich gehen …“ Energisch schulterte sie ihre Tasche und wandte sich zur Tür.

„Du gehst?“

„Ja.“

Cesare schüttelte den Kopf. „Die ganze Situation ist … völlig surreal.“

Sam seufzte und empfand plötzlich so etwas wie Mitgefühl für den Vater ihres Kindes. „Ich weiß, was du meinst! Ein bisschen viel auf einmal, was? Ich lasse dir einfach meine Handynummer da, im Fall, dass du irgendwann Kontakt zu mir aufnehmen willst.“

„Wer bist du …?“, fragte Cesare eindringlich.

Sam stutzte. „Das weißt du doch … Sam Muir.“

Ungeduldig schüttelte er den Kopf. „Ich meine nicht deinen Namen! Wer bist du? Warum bist du an jenem Abend dort aufgekreuzt? In einem kalten, zugigen Schloss in Nirgendwo!“ Die Kälte hatte Cesare allerdings erst gespürt, nachdem sie gegangen war. „Die Frau, mit der ich am nächsten Tag gesprochen habe …“

Sam seufzte. „Meine Schwägerin Clare! Dabei hatte ich sie doch instruiert, nicht zu sagen …“

„Wo ich dich finden könnte?“, fragte er hellsichtig.

„Selbst wenn ich sie nicht gebeten hätte, diskret zu sein, würde sie einem Fremden niemals vertrauliche Auskünfte über ihre Angestellten weitergeben.“

„Diskret? Die Frau hat mir irgendeine verrückte Lügengeschichte über eine Epidemie erzählt.“

„Das war keine Lüge!“, verteidigte Sam ihre Schwägerin, doch Cesare schien sie gar nicht zu hören.

„Dann bist du also mit den Besitzern von Armuirn Castle verwandt?“

Sam nickte, bis ihr einfiel, dass Cesare sie ja gar nicht sehen konnte.

„Ja. Clare ist die Frau meines Bruders, der an jenem Abend, wie einige der Angestellten, mit einer schweren Grippe im Bett lag. Deshalb bin ich auch als Putzfrau eingesprungen.“

„Dann ist Ian, der Mann den du damals mir gegenüber erwähnt hast, also dein Bruder?“

„Ja“, bestätigte Sam, obwohl sie sich nicht erinnerte, mit Cesare über Ian gesprochen zu haben. „Er und Clare können es sich leider nicht leisten, selbst mit ihren kleinen Zwillingssöhnen im Schloss zu wohnen. Aber das kann dich doch alles nicht wirklich interessieren?“

„Warum setzt du dich nicht endlich irgendwohin?“, fragte Cesare gereizt, als spüre er ihren kaum zu unterdrückenden Fluchtinstinkt.

„Ich stehe lieber.“

„Dann setze ich mich eben“, murmelte er, nahm mit grimmiger Miene am Schreibtisch Platz, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch das dichte, dunkle Haar und legte den Kopf in den Nacken. Das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich in quälender Länge aus. Schließlich gab Cesare sich einen Ruck, beugte sich vor und legte die Hände flach auf die Schreibtischplatte.

„Das ist wirklich kein Scherz, oder? Du bist tatsächlich schwanger?“

„Ja.“ Sam betrachtete sein attraktives Gesicht und stellte fest, dass Cesare plötzlich ziemlich blass unter der gebräunten Haut war. Angespannt wartete sie darauf, was als Nächstes folgen würde.

„Hast du das geplant?“

Augenblicklich versteifte sie sich. „Wie bitte? Das denkst du doch nicht wirklich?“

„Wieso? Möglich ist alles“, behauptete er und wusste, noch während er sprach, wie unsinnig seine Behauptung war.

„Wenn das dein Ernst ist, bereue ich es fast, hierhergekommen zu sein. Dabei erschien es mir nur höflich und fair zu sein, dir zu erzählen, dass du Vater wirst.“

„Höflich?“, echote er schwach.

„Wenn ich natürlich geahnt hätte, was du dir in deinem verschrobenen Gehirn zurechtfantasierst, hätte ich mir den Weg gespart!“, brachte Sam aufgebracht hervor. „Und jetzt lass mich dir noch etwas sagen! Von meiner Warte aus gesehen, bist du keinesfalls der Hauptgewinn, für den du dich offenbar selbst hältst! Es sei denn, man steht auf engstirnige, zynische, sich selbst überschätzende Widerlinge! Und wenn ich mir einen Vater für mein Kind aussuchen könnte, ständest du ganz bestimmt nicht auf der Liste! Also denk von mir, was du willst, ich bin ohnehin gleich verschwunden!“

„Heirate mich.“

„Was?“ Sam, die bereits einen Schritt in Richtung Tür gemacht hatte, fuhr so vehement herum, dass sie fast gestrauchelt wäre. „Einen Moment lang dachte ich tatsächlich, du hättest mir einen Heiratsantrag gemacht!“

„Mir ist nicht nach albernen Spielchen zumute. Du hast mich sehr wohl verstanden, Samantha.“

Sam schluckte heftig. „Ist das wirklich dein Ernst?“

„Ist es nicht genau das, was du von mir hören wolltest?“

Angesichts derartiger Arroganz und Überheblichkeit war Sam sprachlos. Aber nicht länger als ein paar Sekunden. „Nicht in einer Million Jahre!“, behauptete sie vehement und ließ dabei gnädig die verrückten Fantasien außer Acht, die sie in den zumeist schlaflosen Nächten der letzten Wochen heimgesucht hatten.

„Hör zu, Cesare …“, sagte sie rau und wunderte sich, wie leicht ihr der klangvolle italienische Name über die Lippen kam. Das lag wahrscheinlich daran, dass sie ihn in eben jenen Nächten immer wieder vor sich hingeflüstert hatte – mal sehnsüchtig, mal anklagend, dann wieder lasziv, verrucht oder voller Wut und Frustration. „Ich weiß nicht, ob du dir nicht nur einen Spaß mit mir erlaubst, aber …“

„Das ist wahrlich kein Thema zum Spaßen.“

„Vielleicht reagierst du einfach etwas über?“

„Bei einer so trivialen Tatsache wie der, dass du mein Kind unter dem Herzen trägst?“, fragte er zynisch.

„Unser Kind“, verbesserte Sam automatisch und spürte, wie sich beim Klang dieser beiden Worte ein warmes Gefühl in ihrem Körper ausbreitete.

Cesare zuckte nur unwillig mit den Schultern. „Ich habe eben eine sehr traditionelle Vorstellung von Familienleben.“

„Ich bin sicher, dazu hat deine Verlobte auch noch etwas zu sagen. Glaub mir Cesare, ich nehme die Sache wirklich nicht auf die leichte Schulter, sondern versuche nur, realistisch zu sein und keine unvernünftigen Forderungen an dich zu stellen.“

„Das solltest du aber!“, knurrte er gereizt.

Sam bemühte sich gar nicht erst, einen Sinn in dieser kryptischen Äußerung zu suchen. „Ich bin Candice unten im Foyer über den Weg gelaufen“, informierte sie Cesare so gelassen wie möglich.

„Candice braucht dich nicht zu interessieren.“

Sam lachte verblüfft auf. „Meinst du nicht, dass sie auch von deinen spontanen Heiratsplänen unterrichtet werden müsste?“

„Wieso? Was hat das mit ihr zu tun?“

„Oder mit mir?“, fragte Sam sarkastisch. „Bist du wirklich so exzentrisch und selbstherrlich, dass du glaubst, allein dein Wille zählt?“

Cesare schüttelte den Kopf, als wolle er etwas Unangenehmes loswerden. „Sei nicht albern!“

„Ich, albern?“, echote Sam empört. „Ich habe kein Wort über Heirat verloren! Grundgütiger! Bis vor wenigen Minuten wusstest du nicht einmal meinen Namen!“

„Aber ich weiß eine Menge anderer Dinge über dich, Samantha …“

Das samtene, fast wollüstige Timbre in seiner tiefen Stimme trieb Sams Puls in schwindelnde Höhen. „Du kennst mich kein bisschen!“, warf sie ihm vor und presste beide Hände gegen ihre brennenden Wangen.

„Warum wehrst du dich eigentlich so sehr gegen den Gedanken, mich zu heiraten?“, wollte Cesare wissen. „Denkst du vielleicht, ein Blinder kann keinen vollwertigen Vater abgeben?“

Die Frustration bei der Vorstellung, auf was er alles in Zusammenhang mit seinem Kind verzichten musste, weil er nicht sehen konnte, machte seine Brust ganz eng.

„Deine Blindheit hat nicht das Geringste damit zu tun. Heißt es nicht, Frauchen suchen sich instinktiv Alphatypen als Vater ihres Kindes? Wenn dem wirklich so ist, bin ich wohl das beste Beispiel dafür. Denn du bist in meinen Augen die Inkarnation eines …“

„Du redest von einem Mann, der sein Kind nicht einmal sicher über eine Straßenkreuzung führen kann, weil er selbst Begleitung braucht“, unterbrach er sie dumpf.

Sam betrachtete stumm seine gequälte Miene und versuchte, ihr Herz zu wappnen. Doch es wollte ihr nicht gelingen, Angst, Qual und Unsicherheit, die sich auf Cesares Gesicht widerspiegelten, zu ignorieren.

„Blind zu sein, macht dich weder zu einem schlechten Vater, noch zu einem negativen Vorbild für dein Kind“, erklärte sie so unbefangen und überzeugend wie möglich. „Außerdem hat das nichts mit der Situation zu tun, in der wir uns momentan befinden, obwohl …“ Und wieder war es Sams bodenständige Aufrichtigkeit, die sie zum nächsten Fauxpas anstiftete. „Obwohl wir wahrscheinlich gar nicht miteinander geschlafen hätten, wenn du nicht blind wärst.“

Cesare schob die dunklen Brauen zusammen. „Du meinst, weil ich dann kaum in diesem einsamen Schloss in Schottland gelandet wäre?“

„Ich meine, dann hättest du gleich gesehen, dass ich überhaupt nicht deinem Typ entspreche“, gestand sie schonungslos ehrlich.

4. KAPITEL

Es begann in dem Moment zu regnen, als das Taxi am Fahrbahnrand anhielt. Sam brauchte nur wenige Sekunden, um es zu erreichen, doch bis sie die Wagentür hinter sich geschlossen hatte, war ihr Haar klatschnass – trotz der Handtasche, die sie sich schützend über den Kopf gehalten hatte.

Während sie aus dem Fenster aufs trübe, graue London schaute, wanderten ihre Gedanken zu dem Wochenende in Schottland zurück, an dem es genauso geschüttet hatte wie heute. Damals hatte sie in den drohend schwarzen Wolken am Himmel nichts Unheilvolles gesehen und erst recht nicht geahnt, dass sich ihr Leben in den nächsten achtundvierzig Stunden radikal verändern würde. Dabei hatte sie nur ihrer überlasteten Schwägerin zu Hilfe eilen wollen …

Als sie an jenem Wochenende ihren Landrover auf dem mit Kies bestreuten Rondell vor Armuirn Castle parkte, wurde Sam von einem einzigen Wunsch beherrscht: so schnell wie möglich ein entspannendes, heißes Bad zu nehmen. Nie hätte sie gedacht, dass die Reinigung von acht kleinen Cottages so anstrengend sein könnte. Aber vor den anderen zugeben würde sie das auf keinen Fall, um das Vorurteil ihres Bruders, sie sei eine verweichlichte Stadtpflanze geworden, nicht noch zu bestätigen.

Bevor sie ausstieg, schaute sie kurz zu dem hohen grauen Turm des eindrucksvollen Schlosses auf. Ein markanter Blickfang und Wegweiser in der rauen, naturbelassenen Umgebung, den man schon Meilen entfernt ausmachen konnte. Hier in Armuirn Castle war ihre Schwägerin aufgewachsen, doch inzwischen lebten Clare und Ian auf einer der umliegenden Farmen und vermieteten das Hauptgebäude und die kleinen Pächter-Cottages an Touristen.

Sam dachte daran, wie sie vor etlichen Stunden, bewaffnet mit einem Eimer voller Putzmittel und einem Staubwedel, den sie zum Schutz vor dem Regen unter ihre gewachste Outdoor-Jacke gesteckt hatte, aus dem Landrover gekletterte war und ins erste Cottage gehastet war, um ihren neuen Job anzutreten. Bei der Vorstellung, wie wenig ihre Aufmachung zu dem erträumten Wellness-Wochenende passte, das sie ursprünglich geplant hatte, musste sie grinsen. Aber wie hätte sie sich entspannen können, während Clare versuchte, den Laden allein zu schmeißen, weil Ian und der größte Teil des Personals mit einer Grippe im Bett lagen?

Sam war schon froh, dass sie nur putzen und sich nicht um ihre kleinen Neffen kümmern musste! Sie liebte die Zwillinge heiß und innig, aber der Herausforderung, das lebhafte und absolut furchtlose Pärchen für mehr als eine halbe Stunde zu hüten, fühlte sie sich einfach nicht gewachsen.

Stattdessen betätigte sie sich eben als Putzfrau und musste jetzt nur noch im Haupthaus die bestellten Lebensmittel abliefern und neue Bettwäsche aufziehen. Clare hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, der Mann, der das Schloss für den ganzen Sommer gemietet habe, wünsche keine Haushaltshilfe, sondern lege absoluten Wert auf seine Privatsphäre.

„Was ist er denn für ein Typ?“, hatte Sam neugierig nachgehakt.

„Frag mich nicht! Weder Ian noch ich haben ihn bisher zu Gesicht bekommen. Die Buchung ist via Internet erfolgt.“

„Aber irgendjemand muss ihn doch gesehen haben.“

„Hamish meinte, er hätte den Hubschrauber landen sehen, als er mit einer Wandergruppe unterwegs war.“

„Und?“

„Nichts weiter. Unser geheimnisvoller Gast stieg aus, und Hamish meinte, er sei sehr groß.“

Sam seufzte. „Nicht besonders aufschlussreich, oder?“

Clare nickte. „Tja, er scheint das Schloss nie zu verlassen. Die Lebensmittel lässt er sich aus dem Dorf anliefern. Wenn wir die Handtücher oder Bettwäsche wechseln, liegt immer eine Einkaufsliste bereit.“

„Vielleicht ist er ja ein Verbrecher, der sich vor der Polizei versteckt. Oder ein Star, der in einen Sex-Skandal verstrickt ist und deshalb für eine Weile untertauchen muss“, fabulierte Sam drauflos.

„Wohl eher ein gestresster Geschäftsmann, der hier nur einen einsamen Angelurlaub verleben will. Aber, wer immer er auch sein mag, Sam, mach bitte einen weiten Bogen um ihn. Der Mann hat Armuirn Castle für sechs ganze Monate gemietet und auch noch im Voraus bezahlt! Dafür kann er unsichtbar bleiben, solange es ihm gefällt.“

„Hat der Unsichtbare denn wenigstens einen Namen?“, ließ Sam nicht locker.

„Ich erinnere mich nicht mehr. Irgendetwas Ausländisches … spanisch oder italienisch.“

Als Sam jetzt mit der frischen Bettwäsche und den bestellten Lebensmitteln auf das altehrwürdige Gebäude zueilte, war es bereits nach sechs, und ihr Interesse an dem geheimnisvollen Fremden hatte erheblich abgenommen. Sie hatte zwanzig Betten neu bezogen, etliche Teppiche gesaugt oder ausgeschlagen, ganz zu schweigen vom Fensterputzen und dem Wespenstich, den sie sich dabei einfing!

Jetzt wollte sie nur noch auf schnellstem Weg zurück zur Farm ihres Bruders.