Julian und Birke - Lorenz Langenegger - E-Book

Julian und Birke E-Book

Lorenz Langenegger

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Beschreibung

Heute ist Julians Geburtstag, der beste Tag des Jahres. Doch dieses Jahr ist alles anders. Julian hat seine Nachbarin Frau Materski eingeladen, mit ihm und seinem besten Freund Bela in den Zoo zu gehen, denn Frau Materski hat am selben Tag wie Julian Geburtstag. Doch vor einem Monat verwandelte sich die nette alte Dame über Nacht in eine bösartige Hexe. Keinen Schritt macht sie mehr vor die Tür, ihr Garten ist mit einem Zaun versperrt und wird von einem kläffenden Hund bewacht.Julian versteht die Welt nicht mehr. Als er sich dann auf den Weg zu Bela macht, taucht hinter ihm aus dem Nichts ein Geist auf. Auch das noch! Birke folgt Julian auf Schritt und Tritt. Kein Versuch, den Geist loszuwerden, scheint zu funktionieren. Bis sich herausstellt, dass Birke aus einem bestimmten Grund da ist: Mit seiner Hilfe schaffen es Julian und Bela pünktlich zur Geisterstunde über den Zaun, vorbei am zähnefletschenden Hund bis zu Frau Materskis Wohnung. Dort erwartet sie eine schlimme Überraschung: Max, der verschwunden geglaubte Sohn von Frau Materski, hält seine Mutter gefangen und die Jungen müssen rasch handeln, um die alte Dame zu befreien.

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Seitenzahl: 139

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Lorenz Langenegger

Julian und Birke

Roman

atlantis

»Die im tiefsten Erdinneren verborgenen Geister beschließen, auf die Welt zurückzukommen. Sie sind weder Unsterbliche noch Gespenster, sondern schlicht Geister.«

 

Frédéric Pajak, Ungewisses Manifest 1

PrologDer Papierflieger

Es ist noch fast dunkel. Am Himmel hängen dicke graue Wolken. Die Tage werden zwar wieder länger, sind aber immer noch viel zu kurz. Auch bei schönem Wetter geht die Sonne erst nach dem Frühstück auf und verschwindet hinter den Häusern, bevor die Schule aus ist.

Julian schleicht vorsichtig durch die Hecke. Er tastet sich voran. Der Boden ist feucht und kalt. Mit der Hand stützt er sich auf etwas Schleimigem ab. Eine Nacktschnecke? Er riecht an den Fingern und verzieht das Gesicht. Ein verfaulter Pilz. Er wischt die Hand so gut es geht an den Haselzweigen sauber, die er zur Seite biegt. Mit einem großen Schritt erreicht er den Zaun. Durch den Maschendraht sieht er das Haus, das Küchenfenster, den Balkon und die Treppe, die in den Garten führt. In der Küche brennt eine Lampe über dem Tisch. Ein heller Lichtkegel fällt auf die Eckbank, die rot-weiß karierte Tischdecke und den Stuhl.

Frau Materski sitzt mit dem Rücken zum Fenster. Die alte Frau verschwindet fast hinter der Stuhllehne. Obwohl Julian weiß, dass sie ihn nicht sehen kann, hält er den Atem an, als sie aufsteht und langsam zum Fenster kommt. Er trägt eine schwarze Hose zu seiner schwarzen Jacke. Nur das Weiß seiner Augen blitzt unter der Skimütze hervor.

Frau Materski schaut in den Garten. Sie sieht gar nicht böse aus, denkt Julian, eher traurig und müde. Eine Krähe stößt sich mit den Beinen ab und fliegt tief über der Wiese davon. Vom Hund fehlt jede Spur. Vermutlich schläft er noch in seiner Hütte, die auf der anderen Seite des Hauses zwischen dem Eingang und dem Gartentor steht. Im Kräuterbeet ist die Zerstörung zu sehen, die er anrichtet. Es gleicht einem Acker. Die Wiese ist ein Minenfeld aus Hundehaufen. Jeden Tag kommen neue dazu und niemand macht sich die Mühe, sie aufzunehmen. Langsam dreht die alte Frau den Kopf und wendet sich vom Fenster ab. Mit kleinen Schritten geht sie aus der Küche und löscht hinter sich das Licht.

Vorsichtig zieht Julian den Papierflieger aus seiner Schultasche. Er hat ihn gestern Abend gefaltet und in seinem Zimmer getestet. Der Zaun ist hoch. Über den letzten Maschen sind zwei Reihen Stacheldraht angebracht. Auch wenn er hochspringt, kann er den Flieger nicht über den Zaun werfen. Es gibt rund um den Garten keinen Baum, der stark genug ist, dass er hinaufklettern könnte, nur Sträucher und Büsche. Julian braucht also einen Flieger, den er hoch in die Luft werfen kann, bevor er langsam bis auf den Küchenbalkon segelt. Obwohl es vom Balkon nur wenige Stufen hinuntergeht, hat Julian Frau Materski seit einem Monat nicht mehr im Garten gesehen. Dabei war sie immer so stolz auf ihre Kräuter. Wenn sie überhaupt noch nach draußen geht, dann nur auf den Balkon. Dort muss der Flieger landen.

Julian atmet tief durch und konzentriert sich. Der Papierflieger riecht nach dem Parfüm seiner Mutter. Er hat ihn rundherum eingesprüht, damit der Hund ihn nicht frisst. Die Faltanleitung hat er aus einem Buch, das er von seinem Vater bekommen hat. Es gibt darin fast fünfzig verschiedene Modelle. Er suchte sich den Papierflieger mit den besten Flugeigenschaften für seine Mission aus: hoch musste er fliegen, und weit genug. Die Anleitung war furchtbar kompliziert, er zerknüllte viele Bögen Papier, riss wütend falsch gefaltete Versuche entzwei, fast wollte er aufgeben, dann aber klappte es.

Jetzt hat Julian nur eine Chance. Er steckt den linken Zeigefinger in den Mund und hält ihn dann in die Luft. Es ist fast windstill. Gut so. Er zielt, holt aus und wirft den Flieger in die Luft. Nicht zu viel Schwung, nicht zu wenig. Steil steigt er auf, etwa einen Meter über dem Zaun hat er die maximale Flughöhe erreicht. Die Spitze kippt nach unten und nach einem kurzen Sturzflug geht der Papierflieger in die Gleitphase über. Elegant segelt er auf das Haus zu.

»Komm, komm, komm, noch ein Stück, noch ein … nein, nein, nein, ja, nein, ja … Ja!«

Julian ballt die Faust. Der Papierflieger ist gegen die Hauswand geprallt und auf der obersten Treppenstufe liegen geblieben. Wenn ihn nur der Wind nicht davonweht …

1. KapitelGeburtstag

Heute ist ein guter Tag. Heute ist der beste Tag des Jahres. Und jetzt, wo die Schule aus ist, kann er nur noch besser werden. Julian hat Geburtstag. Er wird zwölf Jahre alt. Zehn war noch ein bisschen besser, das war sein erster runder Geburtstag. Elf war auch okay, elf ist eine Schnapszahl. Und er freut sich schon auf seinen dreizehnten Geburtstag. Die wilde Dreizehn, das wird ein Jahr! Dreizehn ist Julians Glückszahl.

Seine große Schwester Mara hat ihm beim Mittagessen erklärt, dass er sich schon jetzt, also ab heute, im dreizehnten Jahr befindet. Er verstand erst, was sie meinte, als sie bis zu seinem ersten Jahr rückwärts gezählt hatte.

»Und wie alt warst du da?«, fragte Mara.

Julian schaute sie so komisch an, dass sie lachen musste. Ihre Rechnung hatte in seinem Kopf ein schreckliches Durcheinander angerichtet. Fast so schlimm wie in seinem Zimmer, wenn seine Mutter ihm die frische Wäsche vor die Tür legte, weil sie den Schrank nicht mehr erreichte.

»Aber ich kann doch nicht null Jahre alt gewesen sein«, protestierte er.

»Genau das warst du in deinem ersten Jahr. Null!«

»Aber null ist nichts. Wie soll das gehen?«

Mara packte seinen Kopf und wuschelte ihm durch die Haare.

»Du warst eine halbe Portion.«

Eigentlich hasste Julian es, wenn sie seinen Kopf packte, und er wehrte sich, indem er sie in die Seite kniff, damit sie ihn losließ. Vor ein paar Wochen aber hatte er seine große Schwester zum ersten Mal mit anderen Augen gesehen. Genauer gesagt waren es die Augen seines besten Freundes. Bela hatte Mara damals überhaupt zum ersten Mal gesehen.

Mara wohnt in einer eigenen Wohnung und kommt nur selten nach Hause. Sie ist einundzwanzig und studiert Philosophie an der Universität. Ihr Leben ist vorbei. Als sie vor einem Jahr auszog, ließ sie alles Wichtige zurück und nahm nur ihre Kleider, die Matratze und ein paar Bücher mit. Sie arbeitet in einer Restaurantküche und riecht immer nach Pommes. Was ist das für ein Leben?, denkt Julian. Studieren und arbeiten? Wenn sie nicht auf einer harten Holzbank an der Universität sitzt, steht sie in der großen Küche zwischen riesigen Töpfen. Mara lachte, als Julian sie fragte, ob ihr neues Leben Spaß machte. »Ich lebe nachts. Das macht noch viel mehr Spaß!«

Julian überlegte, ob ihre Mutter davon wusste, und beschloss, ihr nichts zu sagen. Wenn er nicht ins Bett wollte, sagte sie immer: »Die Nacht ist zum Schlafen da.«

Als Bela Julians Schwester zum ersten Mal sah, konnte er überhaupt nicht mehr aufhören mit Anschauen. Erst als Mara wieder aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, erwachte er aus seiner Starre und sagte zu Julian, dass er auch einmal von Mara gepackt und gewuschelt werden möchte. Julian schaute ihn verständnislos an. Bela senkte den Blick und sagte leise, dass er noch nie in seinem Leben eine so schöne Frau gesehen hatte. Julian musste sich beherrschen, um nicht laut zu lachen.

Bela war erst seit einem Jahr in der Stadt. Wenn er sprach, suchte er sich die Worte einzeln zusammen. Es klang immer alles furchtbar ernst, was er sagte. Diesmal aber meinte er es auch so. Und als Mara das nächste Mal zu Besuch kam, sah Julian sie mit anderen, mit Belas Augen. Er wehrte sich zwar immer noch, wenn sie ihn packte, aber er musste auch daran denken, was sein Freund über sie gesagt hatte.

Julian ist nicht der Einzige, der heute Geburtstag hat. Als er das herausfand und voller Erstaunen seiner Mutter erzählte, lachte sie.

»Wie viele Menschen leben in unserer Stadt?«, fragte sie.

»Viele«, antwortete Julian. Er wusste nicht genau, wie viele, aber wenn er von dem Hügel auf die Stadt hinunterschaute, breiteten sich die Häuser in alle Richtungen aus.

»Und wie viele Tage hat das Jahr?«

»Auch viele.«

»Das weißt du genauer.«

Julian überlegte. Wenn er eine Faust machte, konnte er die Monate einteilen. Alle auf den Knöcheln hatten einunddreißig, die dazwischen dreißig Tage. Außer der Februar, der hatte nur achtundzwanzig, wenn nicht gerade ein Schaltjahr war. Schon schwirrten ihm die Zahlen durch den Kopf und er verlor den Überblick.

»Ein Jahr hat 365 Tage«, half ihm seine Mutter. »Das ist viel, aber viel weniger als es Menschen in unserer Stadt gibt. Wenn wir davon ausgehen, dass an jedem Tag ungefähr gleich viele Menschen geboren werden, feiern mit dir noch über fünftausend andere Geburtstag.«

Jetzt schwirrte Julians Kopf endgültig. Fünftausend andere? Das war mehr als die ganze Schule. Plötzlich war es nicht mehr besonders erstaunlich, dass er und Frau Materski am gleichen Tag Geburtstag hatten. Er wunderte sich vielmehr, dass er sonst niemanden kannte. Er nahm sich vor, abends im Bett bis fünftausend zu zählen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie viele das waren. Kurz vor tausend schlief er ein.

 

Frau Materski war natürlich nicht am genau gleichen Tag wie er auf die Welt gekommen, sondern viele Jahre früher. Als er sie fragte, wie viele, lachte sie und sagte: »Das darf man eine Dame nicht fragen.«

Er verstand zwar nicht, weshalb man das nicht fragen durfte. Seine Lehrerin behauptete immer, dass es keine dummen Fragen gab und man alles fragen durfte. Trotzdem war er ganz froh, dass Frau Materski ihm keine Antwort gab, so musste er nicht ausrechnen, wie alt sie war. Rechnen war nicht seine Stärke. So hatte es seine Lehrerin beim Elterngespräch formuliert. Er hasste Rechnen.

Als Julian herausfand, dass er und Frau Materski am gleichen Tag Geburtstag hatten, lud er sie ein, dieses Jahr mit ihm und Bela in den Zoo zu gehen. Seit er denken kann, seit etwa sieben oder acht Jahren also, wünscht sich Julian zu jedem Geburtstag einen Ausflug in den Zoo. Letztes Jahr wollte er eigentlich ins Kino, aber da hatte er sich gerade mit Bela angefreundet. Und weil dieser noch nie im Zoo gewesen war, blieb es beim Ausflug in den Zoo. Frau Materski bedankte sich herzlich. Sie freute sich über die Einladung. Sie war schon viel zu lange nicht mehr im Zoo gewesen. Ob es die Giraffen noch gebe, wollte sie wissen, mit den Futterkrippen, die oben unter der Decke hingen. Natürlich gab es die Giraffen noch. Julian lachte. Sie konnten ja nicht weggehen. Sie waren eingesperrt.

Frau Materski kennen alle in ihrem Stadtviertel. Sie ist sehr beliebt. Das zeigte sich, als sie letzten Sommer unglücklich stürzte und sich den Oberschenkelhals brach. Sie schimpfte: »Typisch, im Winter passe ich auf und taste mich ganz vorsichtig über den Schnee und das Glatteis. Und im Sommer passiert es!«

Im Krankenhaus bekam Frau Materski so viele Blumen, dass die Schwester Vasen aus anderen Stationen organisieren musste. Kurz nachdem sie entlassen worden war, traf Julian sie zufällig an, wie sie mit zwei Händen und unsicheren Schritten versuchte, gleichzeitig den Rollator zu schieben und den Einkaufswagen zu ziehen. Julian half ihr und begleitete sie nach Hause. Eine Woche später stellte er fest, dass alte Menschen zwar den lieben langen Tag und die ganze Woche Zeit hatten, um einzukaufen, aber sehr an Gewohnheiten hingen. Darüber hinaus sind sie auch pünktlich. Frau Materski kauft nicht nur immer am Donnerstagnachmittag ein, sondern auch immer zur gleichen Zeit. Und weil Julians Stundenplan auch jede Woche gleich ist, hilft er Frau Materski jetzt jeden Donnerstag, ihre Einkäufe nach Hause zu bringen. Um genau zu sein, half er ihr bis vor einem Monat. Dann passierte etwas Unerklärliches. Aus der nettesten alten Dame der Stadt wurde eine bösartige Hexe. Die Verwandlung passierte über Nacht. Niemand hatte etwas bemerkt, bis sie das Ergebnis sahen. Frau Materski ging nicht mehr aus dem Haus. Wer ihren Garten betrat, wurde mit Schimpf und Schande davongejagt. Es dauerte keine Woche, dann rückte eine Baufirma an und stellte einen hohen Zaun auf. Und kaum war die letzte Rolle Maschendraht befestigt, drehte der bösartige Köter seine Runden um das Haus und knurrte jeden wütend an, der sich dem Zaun näherte.

Als Julian seiner Mutter davon erzählte, lächelte sie traurig: »Weißt du, Frau Materski ist alt, das kann passieren.«

Sie klopfte gegen Julians Stirn.

»Das Gehirn ist eine furchtbar komplizierte Maschine. Plötzlich gibt es da oben eine neue Verbindung, die aus einem Menschen einen ganz anderen macht.«

»Kann man das nicht rückgängig machen?«, wollte Julian wissen.

»Frau Materski war ihr Leben lang gut und freundlich«, sagte seine Mutter. »Vielleicht hat sich das Böse, das es in jedem Menschen gibt, in ihr angesammelt und jetzt, im Alter, ist es plötzlich zu viel geworden. Oder sie will einfach ihre Ruhe haben. Das ist ihr gutes Recht.«

Julian aber ließ die Veränderung von Frau Materski keine Ruhe. Er erkundigte sich bei anderen Leuten. Die Blumenhändlerin, der Musiker auf der Brücke, die Verkäuferin der Straßenzeitung vor dem Supermarkt, niemand konnte ihm erklären, was mit Frau Materski passiert war.

»Sie ist verrückt geworden«, glaubte die Verkäuferin.

»Der Arzt hat ihr im Krankenhaus die falschen Medikamente gegeben«, vermutete der Musiker.

»Es ist furchtbar, aber wir können ihr nicht helfen«, sagte die Blumenhändlerin. »Ich stand schon dreimal vor ihrem Haus. Jedes Mal hat sie mich zum Teufel gejagt.«

Der Verlust schmerzte alle. Frau Materski hatte nicht nur ihre Freundlichkeit verloren, sondern auch ihre Großzügigkeit. Julian war nicht der Einzige, der für seine Hilfe mit den Einkäufen ein Trinkgeld bekam. Immer wenn sie über die Brücke ging, lobte sie den Musiker, wie schön er das Akkordeon spielte, und legte eine Münze, manchmal sogar eine Geldnote in seinen Hut. Die Blumenhändlerin erkundigte sich besorgt, ob die Blumen schon verwelkt waren, wenn Frau Materski einen neuen Strauß kaufte. Sie schüttelte den Kopf: »Aber jetzt, wo der Küchentisch so schön ist, fällt auf, wie nackt der Tisch im Wohnzimmer ist.«

Die Zeitungsverkäuferin erinnerte Frau Materski daran, dass sie diese Ausgabe schon hatte und die neue erst in zwei Tagen erschien. Die alte Dame kaufte die Zeitung trotzdem und behauptete, dass sie ihre verloren hatte und den Artikel über die Fußballweltmeisterschaften der Obdachlosen unbedingt noch lesen wollte.

Ihr Leben lang hatte Frau Materski als Biologielehrerin am Gymnasium gearbeitet. Sie bekam eine ordentliche Rente. Der Kredit für ihr kleines Haus war längst abbezahlt. Und wenn einmal ein Ziegel auf dem Dach ersetzt werden musste, ruinierte sie das auch nicht. Sie sparte nicht. Sie gab ihr Geld aus und unterstützte damit das ganze Viertel.

So einig sich die Leute über ihre Großzügigkeit waren, so widersprüchlich waren die Angaben zu ihrem Alter. Julian war nicht der Einzige, der nicht wusste, wie alt sie war.

»Nächstes Jahr wird sie siebzig«, sagte der Musiker.

»Fünfundsiebzig«, schätzte die Blumenhändlerin.

»Letztes Jahr hat sie eine Glückwunschkarte vom Bürgermeister bekommen, also muss sie mindestens achtzig sein«, war die Zeitungsverkäuferin überzeugt.

Einen Mann gab es in Frau Materskis Leben nicht. Sie war nur einmal im Leben verliebt gewesen. »Schön war er, Augen hatte er, und einen Mund!«, schwärmte sie noch heute, wenn sie sich an den Taugenichts erinnerte, den sie kurz nach ihrem siebzehnten Geburtstag kennengelernt hatte. Ebenso schnell, wie er in ihrem Leben aufgetaucht war, verschwand er wieder. Frau Materski hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, zu bemerken, dass sie schwanger war.

Ihren Sohn zog sie alleine groß. Sie nahm ihn mit an die Universität. Und als sie mit fünfundzwanzig Jahren die jüngste Lehrerin am Gymnasium wurde, war er schon groß genug, dass er selbst zur Schule ging.

»Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt, aber nicht mit den Männern«, sagte Frau Materski und lachte.

Ihr Sohn packte in der Nacht, als er achtzehn Jahre alt wurde, einen Seesack und fuhr per Autostopp zum nächsten Hafen. Er heuerte als Matrose auf einem Frachtschiff an. Ein paar Wochen später bekam Frau Materski eine Ansichtskarte aus Trinidad. Die hängt bis heute in der Küche an der Wand. Obwohl das Bild schwarz-weiß und vergilbt war, glaubte Julian die türkise Farbe des Meeres zu sehen. Die Palmen bogen sich lang und dünn über den Sandstrand. Als er Frau Materski das erste Mal die Einkäufe nach Hause brachte, las Julian, was auf der Rückseite stand.

 

Liebe Mutter, mach Dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Das Leben ist aufregend. Die Welt ist groß. Wenn ich bedenke, dass mir nur noch fünfzig bis sechzig Jahre bleiben, glaube ich nicht, dass ich in Zukunft Zeit haben werde, Dir zu schreiben. Liebe Grüße aus dem Paradies, danke für alles, Dein Sohn