Jahr ohne Winter - Lorenz Langenegger - E-Book

Jahr ohne Winter E-Book

Lorenz Langenegger

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Beschreibung

Jakob Walter läuft nicht schneller, liebt nicht tragischer und ist nicht klüger als andere. Zum Helden taugt er nur in seinem Alltag. Bis ihn eines Tages ein unerwarteter Anruf erreicht: Ursula ist krank, sie braucht dringend eine Stammzellenspende, und er, Jakob, muss ihre Tochter Edith finden. Dass Edith seine Exfrau ist und dass er seit fünf Jahren kein Wort mit ihr gewechselt hat, ist das eine Problem. Das andere: Sie ist in Australien, um an einer Schweigemeditation im Outback teilzunehmen. Und: Das Outback ist groß, Australien ist weit weg, und Jakob Walter fliegt nicht gern. Aber wie jeder andere träumt er manchmal davon, ein Abenteurer zu sein – und wer weiß, vielleicht rettet er ja nicht nur das Leben seiner ehemaligen Schwiegermutter, sondern auch seine verflossene Liebe.Es wäre ihm zu wünschen, denn liebenswert ist Jakob Walter, der Held wider Willen, unbedingt. "Menschenfreundlich? Literatur geht auch so? Herrlich!", schrieb der Spiegel zu Langeneggers erstem Roman. Das gilt bis heute.

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© 2019 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehaltenUmschlagbild: gettyimages / old fridge in outback landscape AustraliaUmschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-171-1

LORENZ LANGENEGGER

Jahr ohne Winter

Roman

Manchmal wünschte er sich, ein Abenteurer mit geballten Fäusten zu sein und Peter zu heißen.

Siegfried Kracauer, Ginster

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

I

Er will hier nicht sein. Viele tausend Kilometer von zu Hause entfernt, seinem Zuhause, das immer noch Bern ist, obwohl es in den letzten Jahren durchaus Gründe gegeben hätte, die Stadt zu verlassen.

Jakob Walter weiß, dass viele davon träumen, einmal im Leben nach Australien zu reisen, ein großes Auto mit Allradantrieb zu mieten, Zelt auf dem Dach, die Wasserschläuche voll, im Kofferraum gestapelte Konserven. Wochen oder gar Monate unterwegs zu sein, keine Menschenseele, nur Staub, Sand, bizarre Felsformationen und die Sonne, die glühend rot am Himmel steht. Manchem mag der Koala ein Symbol sein, das Herz hüpfen, wenn er ein Känguru sieht, eine Träne über die Wange rollen, wenn er an einem endlosen Strand den Wellenreitern zuschaut. Walter gehört nicht zu ihnen. Er hätte vor zweihundert Jahren kein Schiff bestiegen, um sein Glück zu versuchen, er glaubt nicht an die Versprechen der Neuen Welt.

Kurz nach seiner Ankunft im Strandhotel hat ihm ein Isländer erklärt, dass es kein größeres Glück gebe, als nachts die nackten Zehen im warmen Sand zu vergraben. Walter träumte als Kind vom Nordpol, zog fünf Pullover übereinander an und baute in der Zimmerecke ein Zelt, in dem er Eisbären auflauerte. Er mochte den Geschmack, wenn er auf dem Weg in die Schule den frisch gefallenen Schnee im Mund zergehen ließ.

Walter bestellt noch ein Bier und wartet, bis die Mücke sich auf seinem behaarten Unterarm in Position gebracht hat, um sie mit einem trockenen Klatschen zu erschlagen. Ein kleiner, viel zu roter Fleck bleibt auf seinem Arm zurück. Von wem stammt das Blut aus dem Verdauungstrakt der Mücke? Von dem braun gebrannten Holländer mit dem dicken Bauch, der am Strand eingeschlafen ist? Von der jungen Frau im Bikini, die mit dem ungestümen Hund des Managers spielt? Oder von dem Amerikaner, der im Sand Rumpfbeugen macht und stoßweise durch die zusammengepressten Zähne atmet?

Die Dämmerung hat eingesetzt, der Wind bringt etwas Abkühlung. Das Meer ist nicht mehr so glatt wie tagsüber, die Wellen brechen sich einige Meter vor dem Strand. Hätte er erkannt, wo er hier gelandet ist, bevor er dem jungen Mann an der Rezeption zu den fünfzig Dollar weitere fünfzig zugeschoben und seinen Bungalow bezogen hat, er hätte das Strandhotel auf der Stelle verlassen, sich ein Taxi genommen und in dem heruntergekommenen Bau neben dem Busbahnhof, von dem im Reiseführer abgeraten wird, ein Zimmer gemietet.

Seit zwei Stunden sitzt Walter in einem zerknitterten Hemd auf einem Korbstuhl aus Plastik unter einer Palme. Er hat die Schuhe nicht ausgezogen, dafür die Hose hochgekrempelt. Nach dem ersten Bier, auf das ihn der Manager eingeladen hatte, bestellte er einen geeisten Fruchtsaft, der so zähflüssig war, dass er den Strohhalm, der darin steckte, bald beiseitelegte. Der Holländer blieb neben ihm stehen und lächelte ihn wissend an. Er stellte sich vor, Theo war sein Name. Walter bestätigte das Offensichtliche: Er sei soeben angekommen. Nein, nicht aus Sydney, das war nur der letzte Zwischenstopp. Aus der Schweiz? Bloody hell, eine weite Reise, er müsse müde sein. Walter zuckte mit den Schultern. Er fühlte sich verschwommen. Sein Körper war ihm fremd, nicht ganz zu ihm gehörig, aber wie er das auf Englisch hätte sagen können, fiel ihm nicht ein, also schwieg er. Der Holländer blieb noch einen Moment stehen, gab Walter die Gelegenheit, das Gespräch fortzusetzen, dann klopfte er ihm auf die Schulter wie einem alten Bekannten und legte sich am Strand auf sein bunt gemustertes Tuch.

Walter trinkt ein zweites Bier, aber es hilft nichts, er fühlt sich hier kein bisschen wohler als nach seiner Ankunft. Auf der Reise sind ihm nicht nur Tag und Nacht durcheinandergeraten, sondern auch die Jahreszeiten. Er ist aus dem Winter in den Sommer geflogen. Und obwohl es in den letzten Wochen ungewöhnlich mild war (das Wasser in der Kinderbadewanne, die im Schildkrötengehege auf seinem Balkon den Teich ersetzt, war nie gefroren), kommt ihm die Hitze unerträglich vor. Das Unbehagen geht nicht vorbei, wenn er nur lange genug hier sitzen bleibt. Er kennt sich mit den Regeln und Codes der Rucksacktouristen und Weltenbummler, die in diesem Strandhotel absteigen, nicht aus. Er hat offensichtlich nicht die gleichen Wünsche wie viele andere Gäste, die es nach ihrer Abreise so gut bewertet haben, dass es in der Empfehlungsliste ganz oben stand. Einer dieser Wünsche war ein Einzelzimmer. Der junge Mann am Empfang strahlte Walter an, als er, kaum hatte er für die erste Nacht bezahlt, wieder vor ihm stand.

– How can I help you?

Erst jetzt erkannte Walter, dass der geschwungene Schriftzug auf dem Poloshirt des jungen Mannes kein modisches Detail war, sondern eine Aufforderung: My name is Rob. Ask me! Walter legte ihm den Schlüssel hin und entschuldigte sich für das Missverständnis. Er hätte gerne ein Einzelzimmer.

– A single room? We just have bungalows.

Ja, oder einen Bungalow, das sei ihm einerlei. Rob zeigte auf den Schlüssel. Aber er habe doch einen Bungalow. Er verstand Walters Problem nicht.

– A single bungalow?

Nein, das gebe es nicht. Sie hätten kleine und große Bungalows, die großen boten Platz für vier, die kleinen für zwei Personen. Walter überlegte nicht lange. Auf die Frage, ob er einen Rabatt bekomme, wenn er den kleinen Bungalow alleine beziehe, zuckte Rob mit den Schultern. Das müsse er den Chef fragen. Er zeigte auf den Mann, der in einem offenen Hemd über der Badehose mit einem Netz den Swimmingpool reinigte.

Walter stellte sich neben ihn und wartete, bis der Manager einen ertrunkenen Gecko aus dem Wasser gefischt hatte. Das tote Tier trieb neben dem gluckernden Abfluss, er brauchte die ganze Länge der Teleskopstange und einiges an Fingerspitzengefühl. Als es ihm endlich gelungen war, den Gecko aus dem Wasser zu holen, lächelte er Walter mit dem naiven Stolz eines Jungen an, der eine besonders schwierige Aufgabe bewältigt hatte.

– How can I help you?

Walter trug sein Anliegen vor. Die Begeisterung, mit der ihm der Manager zuhörte, war genauso groß wie sein Bedauern darüber, dass nichts zu machen war. Wenn Walter einen Bungalow für sich alleine haben wollte, musste er den doppelten Preis bezahlen. Der Manager machte ein Gesicht, als ob ihm die abschlägige Antwort körperliche Schmerzen bereitete.

– But have a drink, please!

Er führte Walter zur Bar und zapfte ihm persönlich ein großes Bier. Theo und der Isländer sprachen ihn mit derselben herzlichen Offenheit an wie Rob und der Manager. Sie gingen davon aus, dass er aus dem gleichen Grund hier war wie alle anderen. Walter aber ist nicht auf der Suche nach einem unvergesslichen Urlaubserlebnis, er will keine fantastische Zeit in Down Under verbringen. Den Zettel mit den Angeboten für die Tauchkurse hat er Rob dankend zurückgegeben, er hat keine Dschungelwanderung gebucht.

Walter ist irritiert, weil die Männer über die Abwehr in seiner Haltung nicht gutgelaunt hinwegsahen. Sie ignorierten das gequälte Lächeln auf seinem Gesicht nicht, nein, sie nahmen es gar nicht erst zur Kenntnis. Am Strand von Cairns gibt es keine schlechte Laune. Und spielt das Wetter einmal nicht mit, verspricht eine Tafel über der Bar, dass jede Regenstunde eine Happy Hour ist. When life gives you lemons … Mit dem gleichen Spruch hatte am Flughafen in Singapur ein Schnellimbiss geworben.

Wenn es eine Hölle gibt, denkt Walter, wird er die ewige Verdammnis in einem Strandhotel absitzen, um ihn herum nichts als Sonne, feuchte Hitze, gute Laune und die Sommerhits der letzten zwanzig Jahre in Endlosschleife. Der Sand ist der heimliche Herrscher. Anfangs nur in Schuhen und Socken, findet er bald seinen Weg in die Hosentasche, die Unterhose und die Ohrmuschel. Es gibt kein Entkommen, der Sand lagert sich auf dem Bierschaum ab, das Clubsandwich knirscht zwischen den Zähnen.

Walter schlägt die Speisekarte zu. Ein drittes Bier schafft er nur, wenn er dazu etwas isst. An der Bar wird er vom Manager persönlich bedient. Der pfeift seinen Hund heran, während er das Bier zapft, aber eigentlich, so vermutet Walter, pfeift er der jungen Frau nach. Als er bezahlt, schlägt der Manager mit der flachen Hand auf die Theke. Das volle Bierglas schwappt über. Die andere Hand legt er auf Walters Schulter.

– I’m Mike! I hope you enjoy your stay.

Walter ist irritiert. Erkennt er ihn nicht wieder? Hat er schon vergessen, dass sie vor zwei Stunden über den Preis für den Bungalow verhandelt haben? Die junge Frau geht an ihnen vorbei, Mike versucht, sie auf einen Drink einzuladen. Sie winkt lachend ab. Walter geht zurück zu seinem Stuhl.

Ein erster Stern funkelt über dem Meer im nachtblauen Himmel. Die letzten Badegäste rollen ihre Strandmatten ein, klopfen ihre Sandalen aus und gehen zu ihren Bungalows. Ob sie sich fürs Abendessen umziehen?

Walter ist auf diese Reise nicht vorbereitet. Niemand hat ihm gute Ratschläge mit auf den Weg gegeben. Er hat keine Liste mit Orten, die er auf keinen Fall verpassen darf, keine Restaurantempfehlungen. Den Reiseführer hat er erst am Flughafen gekauft, nach der Hälfte des Kapitels Land und Leute ist er eingeschlafen. Abgesehen von seinem Nachbarn, seinem Chef und Amir, der ihn bei der Arbeit vertritt, hat er niemanden über seine Abreise informiert, nicht einmal Lena oder seine Eltern. Er hat einen Auftrag und ein Rückflugticket, und wenn alles gut geht, wird er in wenigen Tagen zurück in Bern sein.

Der leere Strand, das Meer, der Stern. Walter lacht über seinen Widerwillen.

II

Walter konnte sich nicht erklären, weshalb sein Telefon klingelte. Gewöhnlich schaltete er es aus, bevor er sich frühmorgens ins Bett legte, er musste es vergessen haben. Hätte es nicht geklingelt oder wenigstens nur vibriert, er hätte kein Flugzeug bestiegen, er wäre nicht um die Welt geflogen, er säße nicht hier an diesem Strand. Vor ein paar Tagen aber (wie lange ist es her?) riss ihn der gezupfte Dreiklang seines Klingeltons kurz nach acht unsanft aus der ersten Tiefschlafphase. Er griff auf den Nachttisch, kein Telefon. Er stieg aus dem Bett. Ein Spatz saß auf dem Fensterbrett, da, wo er manchmal ein paar Körner hinlegte, und schaute ins Zimmer. Das Telefon steckte noch in der Hosentasche. Er nahm die Jeans vom Stuhl, ein Bein war verdreht, die Naht rot, durch den dünnen, weißen Stoff der Tasche leuchtete der Bildschirm. Es dauerte, bis er die richtige Öffnung fand, um hineinzugreifen, und er wunderte sich über seine Hektik, wo er doch gar nicht telefonieren wollte, am wenigsten mit einer unbekannten Nummer. Er wischte über den Bildschirm und meldete sich mit seinem Nachnamen.

– Ich bin es.

– Ja?

– Bist du es?

Walter erkannte die Stimme der Frau nicht. Sie war dünn und kraftlos.

– Wer ist da?

– Jakob, erkennst du mich nicht?

– Es tut mir leid.

– Ich bin es. Ursula.

Walter trat ans Fenster, der Spatz flog auf. Weshalb rief Ediths Mutter ihn an? Er hatte sie vor fast fünf Jahren zum letzten Mal gesehen. An jenem Sonntagnachmittag kurz vor dem Scheidungstermin, weil Edith ihn darum bat, dass sie ihre Mutter noch einmal gemeinsam besuchten, wie sie es zehn Jahre lang in loser Regelmäßigkeit getan hatten. Sie lebten damals schon seit Monaten getrennt, aber Edith erklärte ihm, dass ihre Mutter sich von ihm verabschieden wollte, bevor sie endgültig auseinandergingen. Er sei ein wichtiger Teil gewesen, auch in ihrem Leben. Verabschieden, als ob er sterben würde, hatte Walter damals gedacht. Oder sie.

– Wie geht es dir?

Ursula war eine resolute Dame, Walter konnte nicht glauben, dass die brüchige Stimme zu ihr gehörte. Es musste schlecht um sie stehen, dachte er, weshalb würde sie ihn sonst anrufen? Vor fünf Jahren hatte sie einen Kuchen gebacken, Apfel mit Zimt. Walter erinnerte sich noch gut, wie Edith ihre Mutter nach dem ersten Bissen vorwurfsvoll angeschaut hatte. Rosinen, inzwischen musste sie doch wissen, dass Walter keine Rosinen mochte. Aber noch während sie kaute, wurde ihr bewusst, dass es keine Rolle mehr spielte, was ihr Mann mochte, weil er in wenigen Tagen ihr Exmann sein würde, und sagte nichts.

Wie alt war Ursula jetzt? Drei Jahre älter als seine Mutter. Neunundsechzig. Er passte die Lautstärke seines Telefons an, um sie besser zu hören.

– Hast du wieder Arbeit gefunden?

Machte sie sich immer noch Sorgen um ihn? Er war aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden, nachdem Edith ihn verlassen hatte. Nicht ganz freiwillig: Er war mehr als zwei Wochen nicht zur Arbeit erschienen, ohne sich zu entschuldigen. Auch nachdem er aus Griechenland zurückgekommen war, hatte er keine Lust auf lange Erklärungen. Bochsler, der ihn schätzte, war es zu verdanken, dass er nicht fristlos entlassen wurde. Sie einigten sich, das Dienstverhältnis in gegenseitigem Einvernehmen aufzulösen. Seinen Urlaub hatte Walter bereits aufgebraucht, danach war er mehrere Monate auf Arbeitssuche.

– Schon lange.

– Gut.

Walter war nach einem halben Jahr, in dem er ohne Erfolg viele Bewerbungen geschrieben hatte, in einem Arbeitsintegrationsprogramm untergekommen. Es gab keine Stellen, für die er als Studienabbrecher mit fünfzehn Jahren Berufserfahrung nicht über- oder unterqualifiziert gewesen wäre. Als der Laufbahnberater vorschlug, ihn für die Betreuung der bewachten Fahrradstation am Bahnhof anzumelden, war Walter sofort einverstanden. Er wollte arbeiten, etwas zu tun haben, der geregelte Tagesablauf fehlte ihm. Er vermisste das Gefühl von Feierabend, ja sogar das Fiepen des Weckers um halb sieben, obwohl er sich nie ans frühe Aufstehen gewöhnt hatte.

Die ersten Wochen seiner Arbeitslosigkeit war er mit Wohnungssuche und Übersiedlung beschäftigt. Es dauerte eine Weile, bis er sich in seinem Leben ohne Edith zurechtfand. Die Gewohnheiten, die sich in zehn Jahren gefestigt hatten, verschwanden nicht von einem Tag auf den anderen. War es möglich, dass er die letzten Jahre nie Toilettenpapier gekauft hatte? Als er sich in den Finger schnitt, weil er keinen Sparschäler besaß, stellte er fest, dass seine Hausapotheke aus nichts als einer Packung Aspirin bestand. Er musste erst wieder lernen, alleine zu sein und die neu gewonnenen Freiheiten zu genießen. Außer seinem Laufbahnberater gab es niemanden, der ihm sagte, was er zu tun hatte.

Der Herbst war mild. Walter saß häufig und lange auf seinem Balkon und beobachtete das Treiben auf der Straße oder seine Nachbarn, die in den angrenzenden Gemeinschaftsgärten Gemüse ernteten. Er schlief, so lange er wollte. Er entdeckte die Welt der Serien und verbrachte die Nächte vor dem Bildschirm. Zum Frühstück weichte er keine Flocken mehr ein, verzichtete auf den Apfel und tauchte das Messer tief in den Schokoladeaufstrich, den er auf knusprigem Weißbrot verteilte. In einem Geschäft für Tabakwaren ließ er sich vom Inhaber ausführlich beraten und entschied sich schließlich für eine handgefertigte Bent-Pfeife. Nachdem er sich durch die verschiedenen Tabakmischungen getestet hatte, musste er sich eingestehen, dass ihm keine schmeckte.

Welche Lücke hatte er in Ediths Leben hinterlassen? Sie stand vor ihm auf und kam fast immer später als er von der Arbeit nach Hause. Oft hatte er dann bereits Wasser aufgesetzt und den Salat gewaschen. Rückte das Wochenende näher, nahm sie gerne eine Flasche Wein aus dem Regal. Wer stieß mit ihr an? Wer hörte zu, wenn sie sich über ihre Mitarbeiter ärgerte?

– Wie geht es Edith?

– Gut. Glaube ich.

Als die Tage auch bei schönem Wetter zu kalt waren, um auf dem Balkon zu sitzen, wurde Walter ungeduldig. Er war noch keine vierzig Jahre alt, viel zu jung, um mit einer Wolldecke über den Knien auf die Straße hinunterzuschauen. Er ließ sich vom Hinweis des Laufbahnberaters, dass die Arbeit in der Fahrradstation ihm bei künftigen Bewerbungen auf bessere Stellen schaden könnte, nicht beirren. Er war sich der Zufälle bewusst, die ihn bisher durchs Leben begleitet und dahin gebracht hatten, wo er war. Er wusste, welche Glücksfälle ihn nach oben gebracht und welche Unglücksfälle ihn zurückgeworfen hatten. Er fühlte sich niemandem überlegen, und wenn ihn jemand spüren ließ, dass er sich für etwas Besseres hielt, reagierte Walter mit Nachsicht.

Die Arbeit in der Fahrradstation gefiel ihm vom ersten Tag an. Seine Kollegen, es waren fast ausschließlich Männer, kamen aus aller Welt, und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen. Er freundete sich mit Amir an, der zwei Jahre zuvor in Sfax ein Schlauchboot bestiegen hatte. Auf Walters Frage, wie lange die Überfahrt gedauert hatte, grinste er und zeigte seine Zahnlücken. Zu lange.

Sie standen ein halbes Jahr nebeneinander unter dem Vordach hinter dem Bahnhof, füllten die Formulare aus, wenn jemand einen Standplatz mieten wollte, und führten auf Wunsch kleinere Reparaturen aus. Es wurde Winter und wieder Frühling, neue Kollegen kamen und gingen. Anton, ein Bankberater, wurde schon nach wenigen Wochen gezwungen, eine Stelle anzunehmen, obwohl er sich weigern wollte, in die Privatwirtschaft zurückzukehren. Er hatte das Spiel von Umstrukturierung und Effizienzsteigerung oft genug mitgemacht, am Ende standen alle außer die Beraterfirma als Verlierer da. Die eigensinnigen Kollegen, meist ältere, wurden entlassen, weil sie dem neuen Anforderungsprofil nicht entsprachen, Erfahrung und Menschenkenntnis wurden durch Betriebsabläufe und Verhaltensregeln ersetzt. Die verbliebenen Mitarbeiter rieben sich in den neuen Strukturen auf, die Kunden verzweifelten, weil niemand mehr für sie zuständig war. Wenn es nach Anton ging, war der zweite Arbeitsmarkt trotz beschränkter Aufstiegschancen und bescheidenen Löhnen die bessere Wahl.

Saskia mit den grünen Haaren verloren sie nach wenigen Wochen an den Alkohol, obwohl sich alle rührend um die junge Frau kümmerten, über ihre Unzuverlässigkeit hinwegsahen und ihre schroffe Ablehnung nicht persönlich nahmen. Walter traf sie fast ein Jahr später bei Lena am Kiosk wieder, wo sie, wenn die Jackentasche zu schwer wurde, ihre erbettelten Münzen gegen Noten tauschte. Wenn das Geschäft lief und sie guter Dinge war, ließ sie sich von Walter auf einen Kaffee einladen.

Rosa, eine ältere Dame, die über dreißig Jahre lang Chefsekretärin eines Spitzenbeamten gewesen war, schaffte es als Erste, das Büro der Fahrradstation in Ordnung zu bringen. Weil sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Arbeit erschien und am gleichen Morgen eine Frau von der Kornhausbrücke gesprungen war, machte das traurige Gerücht die Runde, Rosa habe nur nach außen fröhlich gewirkt, umso tiefer und dunkler sei der Abgrund in ihr gewesen. Keiner schenkte dem Dementi des zuständigen Sozialarbeiters Glauben. Amir stellte eine elektrische Friedhofskerze ins Fenster neben ihren Arbeitsplatz, die zwei Wochen lang künstlich flackerte, bis eine Ansichtskarte ihrer ehemaligen Kollegin aus Kanada im Briefkasten lag.

Wenig später bekam Walter die Zusage für eine feste Anstellung als Kurier. Der Leiter der Fahrradstation war zufrieden. Er hatte Walter schon beim Erstgespräch klargemacht, dass er nicht die Absicht hatte, ihn lange zu beschäftigen: Bevor der Winter vorbei sei, wolle er ihn hier nicht mehr sehen. Was für Walter wie eine Drohung klang, war für den Leiter ein Erfolg. Nicht die Zufriedenheit der Mitarbeiter zählte für ihn, sondern die Quote der Vermittlungen in den ersten Arbeitsmarkt. In Zukunft würde Walter nachts mit einem Lieferwagen durch die Stadt fahren, Zeitungsbündel in der Druckerei abholen und sie an die Kioske und Zusteller in ganz Bern verteilen.

Die Tage waren wärmer und länger geworden, die Berichte, dass die Anzahl der Boote im Mittelmeer sprunghaft stieg, häuften sich. Amir machte sich Sorgen um seinen kleinen Bruder. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er einen Freund in Tanger besuchen wollte. Zum Beweis hatte ihm sein Bruder ein Foto geschickt, auf dem er mit seinen Kollegen eine Wasserpfeife rauchte. Amir glaubte nicht, was er auf dem Foto sah.

Ob er diese Frau kenne. Amir stieß Walter mit dem Ellbogen in die Seite. Auf dem Gehsteig hatte sich eine Frau nach ihnen umgedreht. Amir nickte ihr zu und klopfte sich eine Zigarette aus der Schachtel. Die Frau war verunsichert. Woher kannte sie Walter? Walter lächelte und hob die Hand zum Gruß, es war eine Kollegin von Edith. Erleichtert lächelte sie zurück, aber in die Freude, dass sie ihn erkannte, mischte sich sogleich peinliche Betroffenheit. Sie winkte verlegen und ging schnell weiter. Amir blies den Rauch aus. Und? Eine Kollegin seiner Exfrau.

Walter überlegte, weshalb ihr die Begegnung unangenehm war. Er erinnerte sich an ein Sommerfest, bei dem sie zu später Stunde nebeneinander saßen und sich einig waren, dass sie zusammen nach Hause gehen würden, wenn Walter nicht mit Edith verheiratet wäre und sie sich nicht vor kurzem verlobt hätte. Und jetzt stand Walter in einem blauen Arbeitsmantel vor der bewachten Fahrradstation neben einem jungen Tunesier. Schämte sie sich für ihn? Für Edith? Oder für sich selbst?

– Weshalb rufst du an?

– Ich bin krank.

Also doch, dachte Walter. So alt hatte Ursula in den letzten fünf Jahren nicht werden können, dass ihre Stimme, mit der sie ihr halbes Leben lang den Turnverein organisiert hatte, kaum mehr zum Telefonieren reichte.

– Ich brauche deine Hilfe.

III

Nach dem Sandwich bricht Walter zu einem Spaziergang auf. Der leere, nächtliche Strand gefällt ihm besser als das Treiben tagsüber. Das Mondlicht spiegelt sich auf dem Wasser, die Wellen rauschen, ein lauer Wind bläst ihm von hinten die Haare ins Gesicht. Er tritt in den Wehrturm einer Sandburg, die von den Wellen schon halb geschliffen ist, das Tagwerk eines Kindes.

Er weiß nicht, ob er müde ist. Er ist einen Tag und eine Nacht lang im Flugzeug gesessen und kurz nach elf Uhr morgens gelandet, für ihn, der nur widerwillig fliegt, eine Ewigkeit. Als er in Zürich an Bord gegangen war, konnte er sich nicht vorstellen, dass er jemals ankommen würde. Er staunte, wie schnell er die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und den ständigen Lärm der Motoren akzeptierte. Nachdem er das Magazin der Fluggesellschaft durchgeblättert hatte, bekam er ein Abendessen serviert, das besser war als erwartet. Er klickte sich durch die verschiedenen Filme des Unterhaltungsprogramms und war mit keinem zufrieden. Er klappte den Sitz nach hinten, legte sich die Decke über die Schultern, schaute aus dem Fenster und überlegte, zu welcher Stadt die Lichter gehörten, die weit unter ihm kreisförmig angeordnet waren. Wie ein Schweif fransten sie in eine Richtung aus. Vielleicht eine Bucht entlang? Oder in ein Tal hinein?

Als die Frühstücksvorbereitungen ihn weckten und das Licht in der Kabine anging, konnte er nicht glauben, dass der Kapitän schon bald den Sinkflug nach Singapur einleiten würde. Nach dem Umsteigen begann alles noch einmal von vorne, einige Passagiere erkannte er wieder. Auch jetzt war kein Film interessant genug, dass er auf dem kleinen Bildschirm seine Aufmerksamkeit fesselte, nach einer halben Stunde schaltete er Ewige Jugend