Bei 30 Grad im Schatten - Lorenz Langenegger - E-Book

Bei 30 Grad im Schatten E-Book

Lorenz Langenegger

4,8

Beschreibung

Noch einmal versucht der Held dieser einfühlsamen Erzählung, seinem alltäglichen Dasein zu entkommen: Er bricht auf, lässt sein Leben hinter sich (glaubt er) und kommt bis ans Ende der Welt. Fünf Jahre ist es her, dass Jakob Walter den Ausbruch aus seinem Leben wagen wollte. Zwei Tage später war er wieder zurück, und auch wenn er noch immer nicht wusste, was er eigentlich in Bern verloren hatte, er hatte immerhin eine sichere Anstellung: in der Steuerverwaltung. Und da war ja auch noch Edith, seine Frau. Die ihn nun nach zehn Jahren verlassen hat. Damit er nicht alleine zurückbleibt, geht er selbst auch, packt seinen Rucksack, wirft die Schlüssel in den Postkasten und - und weiter? Er macht sich auf den Weg, aber was sucht er? Haben es die anderen denn gefunden: Jonas zum Beispiel, der seine Arbeitslosigkeit zum Beruf macht, oder Natalia, die ein Hotel erbt, in dem es nur eine Toilette gibt? Aber hey, er hat immerhin einen Weggefährten - und er hat den mitfühlendsten, verständigsten und aufmerksamsten Begleiter wohl in Lorenz Langenegger selbst, der seinen Helden am Ende in Griechenland stranden lässt. Dort weiß man freilich erst recht nicht, ob man jetzt am Ende angekommen ist oder wieder am Anfang steht, wo noch einmal alles möglich ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 179

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
13
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bei 30 Grad im Schatten

Der Autor dankt Pro Helvetia, der AusserrhodischenKulturstiftung und den Autören.

© 2014 Jung und Jung, Salzburg und Wien© Umschlagbild: Gettyimages/Cosmo CondinaAlle Rechte vorbehaltenDruck: CPI Moravia Books, PohoreliceISBN 978-3-99027-048-6

LORENZ LANGENEGGER

Bei 30 Grad im Schatten

Roman

Die Welt ging unter am Zürichsee,bei dreißig Grad im Schatten.Und wir hatten uns nichts mehr zu sagen,es gab keine Antwort, denn es gab keine Fragen.Hildegard Knef

Inhalt

Zitat

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

I

Um halb zwei Uhr morgens ist es Gewissheit. Jakob Walter erhebt sich vom Sofa, schließt die Wohnungstür ab, zieht den Schlüssel aus dem Schloss und legt sich ins Bett. Edith kommt nicht nach Hause. Der letzte Zug aus Winterthur ist vor über einer halben Stunde im Berner Hauptbahnhof eingefahren. Der Streit am Frühstückstisch war kein reinigendes Gewitter, sondern ein endgültiger Bruch. Auch wenn Edith sich die Taxifahrt gespart hätte und zu Fuß die Altstadt hinunter und über die Kornhausbrücke in den Breitenrain gegangen wäre, hätte sie die Tür inzwischen hinter sich ins Schloss gezogen und ihm, der am Ende des Gangs stehen würde, einen prüfenden Blick zugeworfen. Er würde sich nicht trauen, ihr einen Kuss zu geben, nicht einmal auf die Wange. Er würde stehen bleiben und abwarten, was passierte. Wenn sie auf ihn zukäme und ihm eine Ohrfeige gäbe, könnten darauf eine Umarmung und Tränen folgen. Mit der Erleichterung, die ihnen das Weinen verschaffen würde, wären die Probleme der letzten Wochen nicht gelöst, aber vielleicht würde sich zwischen dem aufgestauten Frust und der zunehmenden Verbitterung eine Lücke auftun, in der sich die Möglichkeit einer Versöhnung zeigte. Sie würden sich, ohne die Verletzungen und Fehler des anderen zu vergessen oder zu verzeihen, noch einmal eine Chance geben. Beim Zähneputzen würde Edith ihn über den Umweg des Spiegels mit Schaum um den Mund anlächeln, und er hätte die Gewissheit, dass seine dummen Anwürfe vom Frühstück nicht zur äußersten Konsequenz führten. Vielleicht würde sie im Bett sogar mit einem Fuß nach ihm tasten, und mit einem Kitzeln in seiner Kniekehle würde beginnen, was sein Ende darin fände, dass sie auf ihm sitzend mit langsamem, rhythmischem Wiegen ihres Beckens diesem Sonntag, der gewittrig schwül gewesen war, zu einem Höhepunkt verhelfen würde.

Sie streiten immer nur über Nichtigkeiten, denkt Walter. Er liegt nackt auf dem Bett. Das Fenster steht offen. Die Nachtluft fällt unter dem Vorhang hindurch ins Zimmer und trocknet ihm den Schweiß des Tages von der Haut. Er weigert sich, Bagatellen aufzubauschen, bis sie als grundsätzliche und unüberwindbare Differenzen zwischen ihnen stehen. Auch der Streit von heute Morgen war kleinlich, kein Grund, nicht nach Hause zu kommen. Ein Ohr der Tür zugewandt, wartet er weiter auf ihre Schritte im Treppenhaus, obwohl er weiß, dass es dafür zu spät ist. Vielleicht hat Edith im Zug eine ehemalige Schulfreundin getroffen, die sie seit Jahren nicht gesehen hat. Er stellt sich vor, wie die beiden an der Kreuzung stehen, an der sich ihre Wege trennen. Stoßweise berichten die Freundinnen aus ihren Leben, weil sie wissen, dass es höchste Zeit ist, ins Bett zu kommen, aber auf jeden Satz der einen drängt es die andere zu einer Erwiderung. Abwechselnd unternehmen sie Versuche, das letzte Stück Heimweg einzuschlagen, nur um sich mit einem Lachen noch einmal, diesmal wirklich zum letzten Mal, einander zuzuwenden. Bern ist zu klein, um sich für Jahre aus den Augen zu verlieren, denkt Walter. Es müsste sich um eine Schulfreundin handeln, die zum Studieren nach Neuseeland ausgewandert ist und sich erst vor wenigen Wochen eingestanden hat, dass ihr Versuch, in der Fremde eine glückliche Existenz aufzubauen, nach zwanzig Jahren gescheitert ist. Genug zu erzählen gäbe es in diesem Fall, aber eigentlich, auch das weiß Walter, war schon der letzte Zug, den er im Fahrplan nachgeschlagen und dessen Eintreffen er abgewartet hat, nur eine theoretische Möglichkeit. Er kann sich nicht erinnern, dass Edith in den zehn Jahren, die sie seit Kurzem verheiratet sind, auf dem Heimweg von ihren Eltern ein einziges Mal mit diesem Zug gefahren wäre.

Was es für eine Beziehung bedeutet, wenn Streit immer nur von Nichtigkeiten ausgelöst wird, überlegt Walter. Er würde sich wünschen, dass er und Edith, wenn sie sich schon in die Haare gerieten, über weltanschauliche Differenzen debattierten, dass sich ihre Meinungsverschiedenheiten an Grundsatzfragen entzündeten, die im Kleinen zu Zerwürfnissen und im Großen zu diplomatischen Krisen oder Kriegen führten. Alles, was er mit Edith an Streit zustande bringt, ist hässliches Gezänk. Seit Wochen machen sie einander Vorhaltungen wegen unliebsamer Angewohnheiten, alter Zeitungen unter dem Sofa, in der Badewanne liegen gebliebener Zehennägel, beim Abwasch vorsätzlich vergessener Töpfe auf dem Herd. Meistens reagieren sie mit Schweigen auf die Vorwürfe des anderen, manchmal bricht ein Streit auf, der von den zwei, drei immer gleichen Charakterzügen genährt wird, die sie aneinander kritisieren. Dass Edith beim Frühstück das Messer fallen ließ, aufstand und wortlos aus der Küche ging, war ein weiterer Beweis dafür, dass ihr Streit keinem von beiden neue Erkenntnisse brachte, was ihr Zusammenleben oder das Leben im Allgemeinen betrifft. Walter erschrak über ihre Reaktion, obwohl die latente Anspannung bereits vor zwei Tagen zu einem Ausbruch gekommen war. Er hasste es, laut zu werden, aber die Verachtung, die ihm von Ediths Seite für seinen Lebensentwurf entgegenschlug, dass sie ihm seine Zufriedenheit als Trägheit anlastete und seine Bescheidenheit als selbstgefällige Arroganz hinstellte, konnte er nicht unwidersprochen lassen. Vielleicht hielt er die angespannte Ruhe, in die sie sich in letzter Zeit immer häufiger zurückzogen, beim Frühstück nicht aus, weil der Ärger über diese Angriffe noch in ihm gärte. Er brach das Schweigen mit einer unnötig bösartigen Bemerkung zu Ediths Mutter, die Edith, seit ihr Vater vor fast einem Jahr gestorben war, jeden Sonntag besuchte.

– Mit deiner übersteigerten Anteilnahme lullst du sie ein. So wird sie nie über den Verlust hinwegkommen.

Edith schaute Walter verständnislos an. Weshalb bediente er sich ihrer Mutter, um sich für die Anwürfe zu rächen, mit der sie am Freitagabend seine zufriedene und bescheidene Existenz in Frage gestellt hatte? Es störte ihn nicht, dass Edith ihre Sonntagnachmittage in Winterthur verbrachte, im Gegenteil, er genoss die Zeit, die er für sich hatte, die Ruhe, dass die Wohnung einen Tag in der Woche ihm allein gehörte. Statt ihre Beziehung zur Mutter hätte er ihren Ehrgeiz anprangern müssen, den Frust, der sich in ihr aufstaute, weil sie auf der Karriereleiter nicht weiter hinaufkam. Ob es daran lag, dass sie eine Frau war, wie sie meinte, oder weil sie keinen Studienabschluss vorweisen konnte, wie er vermutete, spielte letztlich keine Rolle. Sie war unzufrieden, dass sie sich Männern unterzuordnen hatte, die weniger als sie von der Sache verstanden und im Umgang mit Angestellten mangelndes Gespür an den Tag legten. Ediths Schweigen stachelte Walter an, einen weiteren Pfeil abzuschießen.

– Du hältst sie in ihrer Trauer fest, damit sie dich braucht, damit du dich gebraucht fühlst.

Was auf diesen Satz folgte, war ein böser Traum, aus dem er bis jetzt nicht erwacht ist, denkt Walter. Auf dem Funkwecker, den er wie jeden Tag auf sieben Uhr stellt, bevor er das Licht löscht, blinkt der Doppelpunkt zwischen den Ziffern. Er tut es nur, damit er sieht, wie die Zeit vergeht, denkt Walter, Zeit, die für Ediths Rückkehr um 1:43 Uhr längst abgelaufen ist.

Nach seinem zweiten Streich stand sie auf und verließ wortlos den Frühstückstisch. Es gab nichts zu erwidern. Walter wusste, dass ihr Schweigen nicht bedeutete, dass sie seine Argumente auf ihren Gehalt prüfte, sondern dass er sie verletzt hatte. Wenn sie etwas gesagt, ihrer Empörung Luft verschafft hätte, hätte er seine Worte zurücknehmen können. Solange sie schwieg, hatte er keine Möglichkeit, das Quäntchen Wahrheit, das vielleicht in seinen Sätzen lag, herauszuschälen. Natürlich war es wichtig, dass Ediths Mutter ihr Leben nicht an den Sonntagen und den Besuchen der Tochter ausrichtete. Sie musste einen eigenen Antrieb finden, etwas, das ihr Freude bereitete, mit dem sie ihr Leben füllte oder wenigstens den einen und anderen langen Nachmittag. Das wusste nicht nur Walter, das war Edith und ihrer Mutter ebenso klar. Für Walter war es nichts Ungewöhnliches, länger keinen Kontakt mit seiner Mutter zu haben. Er war ein Einzelkind, und seine Eltern hatten sich getrennt, als er in den Kindergarten kam. Er und seine Mutter hatten fünfzehn Jahre lang zu zweit gelebt, mit Ausnahme weniger Wochen, in denen ein Olaf aus München sich am Frühstückstisch bemühte, die Verlegenheit zu überspielen und gute Laune zu verbreiten. Zwischen ihm und seiner Mutter gab es keine Missverständnisse. Ein Wiedersehen nach Wochen, manchmal auch nach Monaten, diese Überzeugung hielt er Ediths Befürchtungen entgegen, würde von keinerlei Ressentiment getrübt. Edith verstand ihn nicht. Sie drängte ihn, dass er sie zum Muttertag anrief, dass er sie einlud oder zu ihr fuhr. Jeden ihrer Versuche wehrte er mit noch mehr Gelassenheit ab. Das war einer der Gründe für ihren Streit, denkt Walter. Er wollte ihr beweisen, dass er mit seiner Mutter, obwohl er sie nicht sah, ein normaleres Verhältnis pflegte als sie, die ihrer Mutter wöchentlich Besuche abstattete.

In ihrer leichten Sommerjacke und mit der Handtasche über der Schulter warf Edith, bevor sie aufbrach, einen Blick in die Küche, wo Walter von seinem Honigbrot abbiss, ohne Appetit, aber das wollte er sich und Edith nicht eingestehen, weshalb er umso herzhafter kaute. Sie schaute ihn an und gab ihm mit ihrem Zögern, in dem sich ihre Blicke trafen, noch eine Chance zurückzunehmen, was er ihr verächtlich hingeworfen hatte. Walter wollte etwas Versöhnliches sagen, zumindest legte er sich die Situation im Nachhinein so zurecht. Er war drauf und dran, sich zu entschuldigen, aber erst musste er den eingespeichelten Bissen Honigbrot schlucken, der langsam wie ein Kloß durch seine Speiseröhre glitt, und als er die engste Stelle endlich passiert hatte, war es zu spät.

– Du könntest ewig so weitermachen. Du würdest mich nie verlassen. Sogar dafür bist du zu träge.

Edith sprach mit ruhiger, gefasster Stimme. Walter stand auf, traute sich aber nicht, auf sie zuzugehen.

– Also muss ich es tun.

Die Wohnungstür fiel hinter ihr ins Schloss, bevor er sie zurückhalten konnte.

Am nächsten Morgen kann sich Walter nicht an die Uhrzeit erinnern, die er zuletzt vom Wecker abgelesen hat. Er steht nackt am Fußende des Betts. Es wird ein heißer Tag werden. Das Gewitter ist ausgeblieben. Obwohl er weiß, dass Edith nicht nach Hause gekommen ist, befremdet ihn der Anblick des leeren Betts, das unbenutzte Kissen zur Linken, die gefaltete Sommerdecke. Der Abdruck auf der Matratze bezeugt, dass er sich nicht ausgebreitet, sondern auf seiner Seite geschlafen hat. Das Bild einer Waldlichtung und das Plätschern eines Bachs drängen sich in sein Bewusstsein. Er hat von Edith geträumt, einen jener unangenehmen Träume, in denen er voll schlechten Gewissens eine andere Frau begehrte. Die Bürokollegin, die er in wachem Zustand weder gut aussehend noch anziehend findet, ließ sich in einer seltsamen Szenerie, die an ein Picknick auf einem Schulausflug erinnerte, auf ihn ein und grub sich mit ihrer Hand zärtlich in seine Hose. Sein letzter Gedanke vor dem Aufwachen galt Edith und dem Widerwillen gegen diese Hand an seinem Glied. Walter senkt den Blick und schließt die Augen, um sicherzugehen, dass von den Bildern der Nacht nichts als eine Erektion geblieben ist, dann nimmt er eine Unterhose aus dem Schrank und geht ins Badezimmer. Mit dem leeren Bett will er sich nicht weiter beschäftigen, nicht vor dem ersten Kaffee. Während er in der Badewanne versucht, mit den Füßen dem kalten Wasser auszuweichen, bis das Warmwasser den langen Weg aus dem Boiler im Keller zu seiner Duschbrause gefunden hat, erinnert er sich daran, dass er sich am Freitag vorgenommen hat, am Montag eine halbe Stunde früher im Büro zu sein, um eine Tabelle fertigzustellen und auszudrucken, damit er seine Kollegen nicht auf die Teamsitzung der nächsten Woche vertrösten muss. Die fertige Tabelle würde ihm erlauben, mit geringem Einsatz einen guten Eindruck zu machen. In seiner wachsenden Sorge um Ediths Fernbleiben hat er vergessen, den Wecker vorzustellen. Wenn er sich beeilt, und es gibt keinen Grund, es nicht zu tun, das Frühstück mit Edith fällt aus, er wird ihr keinen Tee kochen, keine Kiwi schälen, kommt er früh genug im Büro an, um die Zahlen bis neun Uhr zu übertragen. Beim Einseifen stellt er fest, dass er sich die Eile zwar vornimmt, aber nicht fähig ist, entsprechend zu handeln. Seine Bewegungen sind verlangsamt. Es ist ihm, als ob das Wasser träger als üblich über seinen Körper fließt. Er stört mit dem großen Zeh den kleinen Strudel am Abfluss. Er lässt das Wasser über seinen Arm rinnen und hebt die Hand, damit seine Finger zu kleinen Wasserfällen werden, mit denen er Haare und Flausen von der Wannenwand spült. Als er sich endlich trockengerieben hat und mit dem Handtuch über der Schulter in die Küche kommt, ist es fast acht. Eine Stunde ist vergangen, seit der Wecker geläutet hat. Die erste Stunde ohne Edith, denkt Walter. Er setzt sich auf den Küchenstuhl, und was am gestrigen Abend noch ein diffuses Gefühl, eine Ahnung von Endgültigkeit war, die sich wegschieben ließ, ist plötzlich eine Tatsache. Sie ist gegangen, ohne sich zu verabschieden, und sie kommt nicht zurück. Nicht zu ihm. Natürlich wird sie in die Wohnung zurückkehren, es war ihre Wohnung, bevor sie zur gemeinsamen wurde, aber sie erwartet, dass er die Wohnung verlässt, dass er sie verlassen haben wird, wenn sie zurückkommt.

Walter weiß nicht, was ihn mehr betrübt, dass sich seine Frau von ihm getrennt hat oder dass es ihn so wenig berührt. Er ist erschrocken, ja, erschrocken darüber, dass er nach zehn Jahren Ehe einfach so verlassen werden kann. Weshalb hat er nicht damit gerechnet? Die letzten Monate sind schwierig gewesen. Der Weihnachtsurlaub am Roten Meer, den Edith sich wünschte, um sich nach dem überraschenden Tod ihres Vaters, dem Umzug der Mutter und dem Verkauf des Elternhauses zu erholen, brachte nicht die erhoffte Ablenkung und Entspannung. Er zog sich zurück. Sie stürzte sich in Arbeit. Die Geduld, die sie füreinander aufbrachten, wurde immer weniger. Dass sie an diesem heißen Sonntag im August endgültig aufgebraucht war, verstand Walter erst, als Edith nicht nach Hause kam. Dieses Mal war es anders als die vielen Male davor. Seine Provokation wurde nicht übergangen. Sie hatte Konsequenzen. Dieses Mal war das letzte Mal. Es gab einen Moment des Unglaubens, der der Trägheit geschuldet war, dem Vertrauen in die Beständigkeit. Walter rieb sich die Augen, aber sobald er wieder klar sah, akzeptierte er die Tatsache als solche. Edith und er würden künftig getrennte Wege gehen. Ihre Freunde würden die Entscheidung treffen müssen, wem sie näher stehen. Dass sie verheiratet sind, macht die Sache etwas komplizierter. Ganz ohne fremde Hilfe würden sie nicht auseinandergehen können.

Walter nimmt den Schlüssel zum Dachboden aus dem Putzschrank und steigt die Treppe hinauf. Die Sonne scheint durch die kleinen Fenster, und der Staub glitzert in der Luft. Er ist schon eine Weile nicht mehr unter dem Dach gewesen. Die Leinen für die nasse Wäsche werden seltener benutzt, seit im Keller neben der Waschmaschine ein Trockner steht. Er mochte den Geruch nach Waschmittel, Staub und Holz, gerade im Sommer, wenn die Luft unter den Dachziegeln aufgeheizt war und er beim Aufhängen der Wäsche ins Schwitzen geriet. Wenn die Nachbarin ihre Kleider zum Trocknen aufgehängt hatte, ging von der Absichtslosigkeit, mit der die spitzenbesetzte Unterwäsche an der Leine hing, ein angenehmer Reiz aus, den Walter noch steigern konnte, wenn er sich etwas zu wenig tief duckte, so dass der feine Stoff sein Gesicht streifte. Er schließt das Vorhängeschloss auf. Ediths Skistöcke haben sich in der Tür zu ihrem Abteil verkeilt. Walter braucht Geschick und Geduld, um die Tür ohne Gewalt zu öffnen. Sein Rucksack liegt da, wo er ihn vermutet. Er klopft ihn aus. Die Farbkombination aus Grün und Violett verrät das Jahrzehnt, aus dem er stammt. Walter fuhr im Sommer, als er siebzehn wurde, mit dem Zug in Begleitung seines besten Freundes Marcel durch den Norden Europas. Das war vor einem halben Leben, denkt er, während er Ediths Skiausrüstung verräumt, damit sie niemandem in die Quere kommt, bis der nächste Schnee fällt, und von diesem halben Leben hat er einen Großteil mit Edith verbracht. Zurück in der Wohnung stellt er den Rucksack im Schlafzimmer ab. Die Uhr sagt ihm, dass er sich unverzüglich auf den Weg machen muss, wenn er pünktlich zur Teamsitzung im Büro sein will, und obwohl Walters Gehirn die Uhrzeit und die damit verbundene Information korrekt verarbeitet, setzt er Wasser für einen zweiten Kaffee auf. Er nimmt die Thermosflasche, das Taschenmesser und sein Campingbesteck aus dem Küchenschrank und stellt alles auf den Tisch. Aus der Truhe im Arbeitszimmer holt er seinen Schlafsack, der noch ein paar Jahre älter ist als der Rucksack und ihn an kurze Nächte in einem Mehrbettzimmer im Skilager, an verbotenen Mädchenbesuch und versteckte Bierdosen erinnert. Aus dem Schrank sucht er das Nötigste an Wäsche und Kleidern heraus. In den wenigen Minuten, bis das Kaffeewasser kocht, hat er eingepackt, was er für ein paar Tage braucht. Während er den Kaffee trinkt, steht der Rucksack neben der Tür bereit. Walter mustert immer wieder sein Telefon, ob nicht doch eine Nachricht von Edith gekommen ist. Die Beschränkung auf hundertvierzig Zeichen hilft, die Kommunikation wieder aufzunehmen. Er hat Edith gestern Nachmittag, als er den Ernst der Lage noch nicht erkannt hatte, eine Nachricht geschickt, in der er sich entschuldigte, zumindest beschwichtigte, an die genauen Worte erinnert er sich nicht. Dass sie nicht antwortet, macht deutlich, dass ihr Entschluss nicht unüberlegt, sondern wohl durchdacht war. Auf was für ein Zeichen hofft er? Edith hat entschieden, und sie ist keine, die Entscheidungen trifft, um sie gleich wieder umzustoßen. Der gepackte Rucksack ist keine Übertreibung, keine Handlung im Affekt, sondern das, was Edith von ihm erwartet. Erst als die Teamsitzung beginnt, schaltet er sein Telefon aus. Er hat genügend Sitzungen miterlebt, um zu wissen, wie sie ablaufen. Drei Minuten nach neun betritt der Abteilungsleiter das Besprechungszimmer, wünscht allen einen guten Morgen, mustert die Runde und nickt der Sekretärin zu, worauf diese sich erhebt und in ihr Büro geht, um jene anzurufen, die in der Runde noch fehlen. Unpünktlichkeit, so die Überzeugung des Abteilungsleiters, ist eine Respektlosigkeit gegenüber den Kollegen. Mehr als drei Minuten gesteht er seinen Mitarbeitern nicht zu.

Walter zieht seine bequemsten Turnschuhe und die Allzweckjacke gegen Wind und Regen an, obwohl der Wetterbericht für die kommenden Tage hohe Temperaturen und eine abnehmende Gewitterneigung vorhersagt. Er schultert den Rucksack und verlässt die Wohnung. Die Enttäuschung, dass Edith es nicht für nötig hält, sich bei ihm zu melden, ihm wenigstens ein Zeichen zu geben, führt dazu, dass er in einem Akt von Entschlossenheit seinen Wohnungsschlüssel durch den Schlitz in den Briefkasten wirft und sich damit den Weg zurück versperrt. Er hat eingepackt, was er braucht, es gibt keinen Grund, vor Edith zurückzukommen.

Nach den ersten Schritten auf der Straße gerät sein entschlossener Aufbruch ins Stocken. Er hat die Wohnung, das Treppenhaus, die Eingangstür und den Tisch im Vorgarten, der auf Ediths Anregung von allen Mietparteien gemeinsam angeschafft wurde, hinter sich gelassen, auf der Straße aber ist nicht mehr entscheidend, was hinter, sondern was vor ihm liegt. Früher hätte er in einem solchen Moment Rolf besucht, aber Rolf ist tot, und aus seiner Kneipe ist ein Chinarestaurant geworden. Einige der alten Stammgäste sind dem Lokal treu geblieben und haben sich mit Besitzer Hu angefreundet. Zwei-, dreimal ist Walter noch da gewesen. Er ist von Hu freundlich begrüßt worden, kannte das eine oder andere Gesicht, aber er ertrug die Mischung aus Erinnerungen und Essstäbchen nicht. Die Gäste saßen an den gleichen alten Holztischen. Hu hatte die Lampen durch solche ersetzt, die für den Westen typisch chinesisch waren, wie er lachend erklärte. An den Wänden hingen Luftansichten der Großen Mauer. Auf der Eckbank neben der Tür, wo Walter früher oft gesessen war, thronte Frau Hu. Sie war so dick, dass sich niemand zu ihr an den Tisch setzen konnte. Die eine Seite füllte sie aus, und ihr gegenüber war kein Platz, weil der Tisch wegen ihres Körperumfangs ganz an die Bank geschoben werden musste. Vor ihr stand eine kleine Kanne mit Tee und eine Schale mit Reiscrackern. Damit sie die Füße abstellen konnte, stand unter dem Tisch ein kleiner Schemel, den sie jedes Mal, wenn sie ihr hustendes Lachen schüttelte, was nicht selten vorkam, umkippte, worauf sich ihr Mann, der sich im Gegensatz zu ihr elegant bewegte, im Vorbeigehen unauffällig bückte, um ihn wieder aufzustellen. Auf einem Rechnungsblock trug Frau Hu für jeden Tisch die Bestellungen ein, die von Herrn Hu aufgenommen wurden, und bevor die Gäste das Lokal verließen, rechnete sie ihnen vor, was sie zu bezahlen hatten. Walter war gleichzeitig eingenommen und eingeschüchtert von der dicken Frau, die über ein außergewöhnliches Gehör verfügen musste. Scheinbar mühelos, als ob sich ihre Gehörgänge gleich hinter dem Mittelohr verästelten, konnte sie die Sprachfetzen von den einzelnen Tischen in eine verständliche Ordnung bringen. Es kam vor, dass sie sich mit einer, wie die Reaktionen belegten, treffenden Bemerkung in eine auf Chinesisch geführte Diskussion einmischte, um gleich darauf in schallendes Gelächter auszubrechen, weil an einem anderen Tisch in breitem Dialekt eine Anekdote zum Besten gegeben wurde.