Dorffrieden - Lorenz Langenegger - E-Book

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Lorenz Langenegger

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Beschreibung

Ist die Woche vorbei, kann sich Wattenhofer sagen: »Jetzt ist schon wieder nichts passiert«, und das ist gut so. Zwei mal zwei Kilometer misst der Flecken Idylle in der Provinz, wo er die Obrigkeit verkörpert und als Polizeiwachtmeister darüber wacht, dass nichts passiert. Doch eines Tages, just vorm Wochenende, erhält er einen Hinweis, under geht ihm nach. Gründlich. Und entdeckt einen Schlüssel zu einem Garderobenschrank im örtlichen Schwimmbad. Dieser Schlüssel führt ihn zu einer Sporttasche, und in dieser Sporttasche findet er ein Foto, zerrissen, und auf dem Foto erkennt er seinen Sohn. Auf einmal ist nichts mehr, wie es war, nicht in seinem Hoheitsgebiet und nicht in seinem Leben. Wie aus heiterem Himmel ist da ein Fall, der größer und größer wird, und plötzlich geht es um alles.

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Dorffrieden

LORENZ LANGENEGGER Dorffrieden

Roman

Der Autor dankt dem Straßenmagazin Surprise, dem Thomas-Mann-Kulturzentrum in Nida und den Autören.

© 2016 Jung und Jung, Salzburg und Wien Umschlagbild: © plainpicture/Ulf Philipowski Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-99027-090-5 eISBN 978-3-99027-152-0

für meine Eltern

1. Kapitel

Wattenhofer kippt die Rückenlehne seines Bürostuhls nach hinten und legt den Kopf in den Nacken. Der glatte Deckenverputz verschwimmt im Licht der Leuchtstoffröhre. Wattenhofer blinzelt und wartet darauf, dass die wohltuende Wirkung der Augentropfen einsetzt. Es ist Freitagnachmittag, und endlich ist Ruhe eingekehrt. Der geschwätzige Ladendieb, der ihm eine wilde Verschwörungstheorie zu Protokoll gab, um zu erklären, wie die gefrorenen Nordseegarnelen in seine Tasche geraten waren, ist erkennungsdienstlich erfasst und entlassen worden, und für betrunkene Jugendliche, die mit großmäuligem Übermut darauf warten, dass ihre Eltern Verantwortung für sie übernehmen, ist es noch zu früh.

Die Ursache für Wattenhofers schlechte Laune, die in den Räumen der Dienststelle hängt wie der säuerliche Schweißgeruch in der Garderobe nach einem Fußballspiel, ist der Anruf seiner Frau. Kurz nach dem zweiten Frühstück – eine Tasse Kaffee, ein Apfel, auf die Schokolade verzichtet er auf Anraten seines Arztes – schreckte ihn Helen mit der Nachricht auf, dass sein Apotheker überraschend gestorben sei. So lange sich Wattenhofer erinnern kann, macht ihm sein rechtes Auge Kummer. Es entzündet sich beim kleinsten Luftzug, es reagiert auf alle fliegenden Pollen, es fängt an zu jucken, wenn eine Katze seinen Weg kreuzt, und auf jeden Wetterumschwung reagiert das Lid mit nervösem Zucken. Dass seine Mutter ihn zwang, den Aufguss jedes einzelnen Kamillenteebeutels, den sie ihm aufs Auge legte, zu trinken, hat er ihr nicht verziehen. Seit er sein eigenes Geld verdient, vertraut er auf die Tropfen des Apothekers aus der nahen Stadt. Helen teilte ihm mit, dass der Nachfolger des Verstorbenen fortan auf die Mühe, Arzneien selbst zu kredenzen, verzichten wird und ganz auf die Produkte der chemischen Industrie setzt. Die Lagerbestände der Augentropfen, die Helen aufgekauft hat, bestehen aus drei Ampullen. Damit wird Wattenhofer, wenn es das Wetter gut mit ihm meint, durch den Frühling kommen. Er blinzelt noch einmal und spürt, wie das Jucken langsam nachlässt, als sich die dumpfen Schritte Binsmeiers seinem Arbeitsplatz nähern. Nicht jetzt, denkt Wattenhofer. Wenn er sich aufsetzt, und das wird er tun müssen, wenn sein Chef vor seinem Schreibtisch stehen bleibt, wird ihm die kostbare Flüssigkeit über die Wangen laufen, bevor das Brennen in seinem Auge nachgelassen hat. Das Jucken wird erneut einsetzen, und er wird die Behandlung noch einmal von vorne beginnen müssen. Wattenhofers innere Abwehrhaltung genügt nicht, um den Vorgesetzten an seinem Büro vorbeigehen zu lassen. Die Schritte verstummen. Der stets korrekt zugeknöpfte Binsmeier, Meier mit ei, Chef der Gemeindepolizei, räuspert sich. Es kann nichts Dringendes geben, denkt Wattenhofer. Nicht jetzt, nicht hier, in dieser reichen Seegemeinde, in die ihn der Zufall der Geburt vor einem halben Jahrhundert versetzt hat. Er ist hier zur Schule gegangen, er hat sich bei zwölf Grad minus auf einer Parkbank am Seeufer zum ersten Mal verliebt, und seit seiner feierlichen Vereidigung als Polizist tut er hier seinen Dienst. Er weiß, dass es in seiner Gemeinde nichts gibt, das nicht eine Minute warten kann, bis seine Augentropfen ihre volle Wirkung entfalten.

- Frau Direktor Ramsauer hat angerufen.

Wattenhofer schießt hoch. Die Augentropfen verteilen sich über der Lokalzeitung, die auf seiner Tastatur liegt. Die Witwe! Es gibt nichts Dringendes, aber es gibt Frau Direktor Ramsauer. Wattenhofer versucht seinen Blick auf Binsmeier zu fixieren. Die Gesichtszüge seines Vorgesetzten, die nicht gerade von Scharfsinn zeugen, machen es seinen kleinen, blauen Augen nicht leicht, Halt zu finden.

- Sie weinen doch nicht, Wattenhofer?

- Mein Auge.

- Fliegen die Pollen schon wieder?

- Weshalb haben Sie die Frau Direktor nicht zu mir durchgestellt?

Niemand weiß genau, wie alt die Witwe des ehemaligen Gemeindepräsidenten, schwerreiche Alleinerbin eines Textilunternehmens, ist. Wer ihr Gesicht mit den unzähligen, fein verästelten Falten sieht, glaubt sofort, dass sie ein ganzes Jahrhundert erlebt hat. Ihr Geist aber ist wacher als der mancher Frühpensionistin. Die Wahrheit über ihr Alter dürfte irgendwo dazwischen liegen. Weil sie kinderlos geblieben ist und alle ihre Geschwister überlebt hat, spekuliert das halbe Dorf auf ihr Erbe. In den letzten Jahren sind ihr diverse Ehrenmitgliedschaften und Patronatsposten angetragen worden, die sie ausnahmslos abgelehnt hat. Die Ortspartei von Gemeinderat Kaiser, Nachfolger ihres Mannes, der es aus Mangel an Charisma bisher nur zum Präsidenten der Sicherheitskommission gebracht hat und damit Chef der Gemeindepolizei ist, hängt seit Jahren am Tropf ihrer Spenden. Dass Anrufe aus ihrer Villa mit besonderem Ernst und Zuvorkommen behandelt werden, versteht sich von selbst. Weil sie Binsmeier wegen seiner Armut an Phantasie nicht leiden kann, Felix, der junge Kollege, sie für eine schrullige Greisin hält und Bruno als Vertretung für den erkrankten Meyer, Meyer mit ey, die Hintergründe nicht kennt, ist es Wattenhofer, der sich um ihre Sorgen und Wünsche kümmert.

- Freitag, 20. März, 15.38 Uhr. Frau Direktor Ramsauer meldet: Unordnung am Fahrradständer vor dem Schulhaus.

- Unordnung am Fahrradständer. Verstanden.

- Sie nehmen sich der Sache an, Wattenhofer?

- Ich bin schon unterwegs.

Wattenhofer setzt sich seine Mütze auf, steckt das Fläschchen mit den Augentropfen ein und will das Büro diensteifrig verlassen, als er von seinem Vorgesetzten zurückgehalten wird.

- Es ist Freitag, Wattenhofer, fällt Ihnen etwas auf?

Binsmeier hat das Prinzip der fürsorglich belehrenden Frage, das von der Polizei im Umgang mit dem Bürger gerne angewendet wird, so sehr verinnerlicht, dass er auch bei Kollegen nicht davon ablassen kann. Wattenhofer macht seinem Chef die Marotte nicht zum Vorwurf. Sie sind alle nur Menschen und weil sie es nicht geschafft haben, über die Anstellung in der Gemeindepolizei hinauszukommen, vermutlich nicht die cleversten und ehrgeizigsten Exemplare ihrer Spezies. Der Umstand, dass jedes karrierebewusste oder besonders schlaue Ekel innerhalb kurzer Zeit aus ihrer Dienststelle wegbefördert wird, trägt entscheidend zum guten Arbeitsklima bei. Dafür nimmt Wattenhofer die Fragen seines Chefs gerne in Kauf.

- Ganz richtig. Heute ist Freitag.

- Und was ist am Freitag?

Wattenhofer hat keine Ahnung, worauf Binsmeier hinaus will.

- Freitag ist Putztag. Papierkorb auf den Tisch!

Wattenhofer unterdrückt einen Seufzer. Bevor sich eine Spur von Schmutz in seinem Büro festzusetzen vermag, dreht die Putzkolonne die nächste Runde. Wir sind sauber. So lautet das erste Gebot im internen Papier, das Binsmeier verfasst hat und von allen seinen Mitarbeitern hat unterzeichnen lassen. Wattenhofer traut ihm zu, dass er damit nicht nur die Unbestechlichkeit, sondern auch die fleckenfreie Uniform und den Glanz der Bürotische meint. Wattenhofer hat es unterlassen zu fragen, ob Binsmeier seinen Mitarbeitern eigenmächtig einen Ehrenkodex abverlangen darf. Dass die Sache mit Gemeinderat Kaiser abgesprochen ist, glaubt er nicht. Kaiser interessiert an der Polizeiarbeit einzig, ob Frau Direktor Ramsauer zufrieden ist. Vermutlich hat Binsmeier nur deshalb wochenlang an den Formulierungen gefeilt, um der Langeweile zu entkommen, die über den Büroräumen der Dienststelle hängt wie das Messer einer Guillotine.

Wattenhofer steigt in seinen neuen Dienstwagen, mit dessen Elektronik er regelmäßig in Konflikt gerät. Kaum hat er sich mit einem Modell angefreundet, wird er ihm wieder weggenommen. Ist die Kilometerzahl erreicht, die in der Gemeindeverordnung festgeschrieben steht, hilft kein vernünftiges Argument und kein Bitten: Der Wagen wird ersetzt. Wattenhofer rollt rückwärts auf die Straße hinaus und versucht das Fiepen zu ignorieren, mit dem der Wagen ihn darauf aufmerksam macht, dass beim Fahren im Rückwärtsgang besondere Vorsicht geboten ist.

Polizeiwachtmeister mit besonderen Aufgaben, verantwortlich für Quartierdienst. Wer denkt sich so etwas aus? Gibt es jemanden, der eine böse Freude daran hat, dass er Tag für Tag in diesem Büro sitzt, wo alles nach neu und teuer riecht, wie es vermutlich noch fünfzig Jahre riechen wird, weil kein nasser Hund, kein Blut und schon gar keine Leiche daran etwas ändert? Wenn es sie gibt, diese Instanz, wenn irgendwo da oben einer sitzt – denn woanders als oben kann es nicht sein, denkt Wattenhofer –, muss es sich um einen lausigen Erzähler handeln. Die Inspiration einer mittelmäßigen Bestsellerautorin würde genügen, um ihm als Commissario das Brackwasser der Lagune oder als Chef de Police den Geruch von Trüffel in die Nase steigen zu lassen. Er hat so viele Kollegen, denkt Wattenhofer, in den letzten Jahren schossen sie wie Pilze aus dem feuchten Waldboden, und an Tagen wie heute sind sie alle Gift für ihn. Er rollt die Quartierstraße entlang und stellt sich vor, wie es ihm erginge, wenn sich ihm ein richtiger Autor annähme, einer, der mit beiden Füßen im korrupten Sumpf einer amerikanischen Großstadt steht und mit vollen Händen daraus schöpft. Er würde in einem Schlitten über den Highway gleiten, die Sonnenbrille in die Stirn geschoben, den Stern auf dem Hemd, ein Streichholz im Mundwinkel. Sein entzündetes Auge wäre nicht der Rede wert. Er würde mit billigem Whisky die Schmerzen von einem ausgeschlagenen Zahn betäuben. Sein letztes Hemd gäbe er, um die Blutung eines Bauchstichs zu stoppen. Mit sieben Jahren hätte er für die Ehre seiner Mutter den rechten Zeigefinger geopfert, mit zehn hätte er sich den ersten Revolver in den Hosenbund gesteckt, dessen Abzug er mit dem Mittelfinger bedient. Mit zwanzig würde er die Seiten wechseln und in den düsteren Straßenschluchten dem Unrecht furchtlos entgegentreten. Und wenn er im letzten Kapitel von Kugeln durchsiebt vor einem Mafiapaten zusammenbrechen würde, wäre es jede Seite davon wert gewesen.

Wattenhofer hält an der ersten Kreuzung und gewährt einem Fahrradfahrer den Rechtsvortritt. Er ist nicht strafversetzt worden, denkt er, es ist seine eigene Entscheidung, dass er in dieser ruhigen Seegemeinde Dienst tut. Als er die Stelle antrat, wusste er, dass hier kein Schuss mehr fallen würde, weil die Armee den Schießplatz aus Spargründen zugesperrt hatte. Mit Blaulicht wurde nur gefahren, wenn die Ambulanz einen der greisen Villenbesitzer abholte, weil sein Herz aussetzte. Er hat sich für die Stelle entschieden, weil ihm schon damals klar war, dass er kein Junggeselle war, der die Herzen der Hausfrauen und jungen Mütter brach. Er fuhr an freien Tagen nicht in die nahe Stadt, um eine minderjährige Prostituierte zu besuchen, der er hoffnungslos verfallen war. Er hatte keine Geliebte, die er mit seinen am Hosenbund baumelnden Handschellen an den Heizkörper fesselte. Nein, er liebte Helen, seine Frau, und er liebt sie bis heute mit jedem grauen Haar, das in den Jahren seit der Hochzeit dazugekommen ist. Er liebt seinen Sohn, der vor einem Monat aus dem Elternhaus ausgezogen ist. Und er liebt seine Heimatgemeinde. Er plaudert mit den Nachbarn über den Gartenzaun hinweg. Er macht an der Kasse im Supermarkt einen Scherz, und es gelingt ihm, nicht nur die ungeduldigen Menschen in der Schlange hinter ihm, sondern auch die gestresste Kassiererin zum Lachen zu bringen. Er gehört in diese kleine Welt, die von sauber geschnittenen Thujahecken und farblich abgestimmten Primelrabatten begrenzt wird.

Natürlich wünscht er sich manchmal, ein anderer zu sein. Er stellt sich vor, wie es wäre, wenn ihm die Waffe lockerer im Halfter säße, wenn er die Faust nicht nur in der Hosentasche ballen würde. Helen liest in jeder freien Minute, und von denen hat sie ziemlich viele, seit Stefan ausgezogen ist, rasante amerikanische oder abgründige schwedische Kriminalromane. Es kommt vor, dass er in ihren Augen Mitleid für seine Existenz erkennt, wenn sie gerade aus einem Fall auftaucht, mit dessen Aufklärung keinerlei Gerechtigkeit wiederhergestellt wurde. Ja, er ist ein Polizeiwachtmeister, dessen besondere Aufgabe im Quartierdienst liegt. Daran ist nichts Glamouröses, aber auch nichts Verwerfliches, im Gegenteil. Er ist überzeugt, dass er in seiner Rolle mehr Gutes bewirken kann als in jeder anderen. Das einzige übergeordnete Interesse, dem er sich beugen muss, sind die Anrufe von Frau Direktor Ramsauer. Weder die große Politik noch die korrumpierende Wirtschaft mischen sich in seine Arbeit ein. Er leistet einen wichtigen Beitrag für das gute Zusammenleben in der Gemeinde. Er besucht die Schulen, um den Kindern die Werte zu vermitteln, auf denen der Wohlstand beruht, den sie von ihren Eltern und Großeltern erben.

Am Rückspiegel von Wattenhofers Dienstwagen hängt ein Wimpel des örtlichen Fußballclubs. In seiner Freizeit trainiert er die E-Junioren. Für den kommenden Sommer droht ihm die Versetzung zu den F-Junioren, weil er mit seinen fünfzig Jahren trotz feiner Technik mit den Zehnjährigen nicht mehr mithalten kann. Ausbildungschef Knup machte bei der letzten Trainersitzung eine abtastende Bemerkung, Wattenhofer ließ sich nichts anmerken. Ungekränkt wird er sich nicht abschieben lassen. Bis vor fünf Jahren hat er die D-Junioren trainiert. Als er sich im Laufduell mit der kosovarischen Stürmerhoffnung, von der die Welt noch hören wird, darüber ist sich der Trainerstab einig, ganz ohne Fremdeinwirkung das Außenband im rechten Fuß riss, ließ er sich von Knup überzeugen, dass es Zeit war kürzerzutreten. Die kosovarische Familie ist inzwischen eingebürgert worden, ihr Sohn Beqir ist mit der Nachwuchsauswahl zur Europameisterschaft gefahren und spielt in der zweiten Mannschaft des Stadtclubs. Er ist der Stolz der Gemeinde. Um seine Schnelligkeit ranken sich Legenden. Einmal soll er den Bus, der ihm vor der Nase wegfuhr, drei Stationen später eingeholt haben. Bei einer anderen Gelegenheit soll er mit einem klingelnden Telefon quer durchs Schulhaus und über den Pausenplatz gesprintet sein, um es dem Hausmeister in die Hand zu drücken, bevor der Anrufbeantworter ansprang.

Auf den Straßen der Gemeinde gibt es am Freitagnachmittag etwas mehr Fußgänger als an anderen Wochentagen. Den Menschen, die ihren Arbeitsplatz in der Stadt früher verlassen haben, um den überfüllten Pendlerzügen auszuweichen, ist die Freude aufs Wochenende anzusehen. Wattenhofer fährt in demonstrativer Langsamkeit durch die Gemeinde. Wir sind Vorbilder. Punkt zwei auf Binsmeiers Kodex. Wenn es nach Wattenhofer geht, sollte im Dorf kein Auto schneller fahren dürfen, als Beqir laufen kann. Verkehrsunfälle mit angefahrenen Schulkindern gehören definitiv nicht zu den Aufregungen, die er sich für seinen Alltag wünscht. Als bei der letzten Gemeindeversammlung über den Bau einer Verkehrsberuhigung vor dem Kindergarten diskutiert wurde, fuhren zwei, drei wildgewordene Bürger mit Vergleichen auf, die glauben machten, ihre elementarsten Freiheiten würden beschnitten, wenn sie gezwungen wären, am Fußgängerstreifen vor dem Kindergarten ihre Fahrt auf Schritttempo zu reduzieren. Dass es diese Bürger gibt, erstaunt Wattenhofer nicht, er ist auf der Straße Tag für Tag mit ihnen konfrontiert. Dass aber eine knappe Mehrheit der Stimmberechtigten ihren Argumenten folgte, machte ihn betroffen. Er hat keine Ahnung, wie er diesen Entscheid im Kindergarten bei der nächsten Stunde Verkehrskunde erklären soll.

Vor dem Supermarkt hält Wattenhofer kurz an, um den Jugendlichen, die auf dem Brunnen sitzen, klarzumachen, dass das Auge des Gesetzes über sie wacht. Sein Rollstopp soll sie daran erinnern, dass eine Lehrstelle der sicherere Weg zum Leasingvertrag fürs erste Auto ist als Sportwetten oder Kurierdienste für zwielichtige Auftraggeber. In den Einkaufstaschen der Hobbyköche und Hausfrauen warten Filetstücke darauf, bei niedriger Temperatur gegart zu werden. Die Pensionisten strömen zur Freitagsrunde ins Kirchgemeindehaus. Guido Montale hat vor seinem Laden einen Stand mit Kostproben neuer Salamivariationen aufgebaut und gibt sich Mühe, dem Bild zu entsprechen, das man von einem italienischen Spezialitätenhändler erwartet. Die Lehrtochter von Apotheker Alpiger verteilt Luftballone und Traubenzucker an die Kinder. An der Tankstelle fährt Wattenhofer zwischen den Zapfsäulen hindurch und winkt Clara. Die Überfälle auf Tankstellenshops, von denen in den Medien mit zunehmender Häufigkeit berichtet wird, bereiten ihr Sorgen. Wattenhofer hat bereits seine allererste Tankfüllung an ihrer Kasse bezahlt. Clara weiß immer, wie es um die Gemeinde steht, wer nur halb voll tankt, weil der Monat im Verhältnis zum Gehalt wieder einmal zu viele Tage hat, wer eine Wohnung sucht oder ein Kinderbett verkauft, und ihr Bauchgefühl, das auf einen beträchtlichen Umfang zurückgreifen kann, ordnet die Informationen meistens richtig ein.

Wenn Frau Direktor Ramsauer nicht angerufen hätte, würde sich Wattenhofer einfügen in die fröhliche Gesellschaft, die sich aufs Wochenende vorbereitet. Er würde die Partie Patience beenden, seinen Computer herunterfahren und den obersten Hemdknopf öffnen. Er würde seine Frau anrufen, um sie zu fragen, ob beim Wochenendeinkauf etwas vergessen gegangen ist. Er würde an den Rahmen der Tür zu Binsmeiers Büro klopfen, die Hand zum Gruß heben und sich beim Hinausgehen von Patrizia erzählen lassen, in was für Abenteuer sie sich in ihrer zweiten Identität als Elfe am Wochenende stürzen würde. Weil aber ein Anruf von Frau Direktor Ramsauer nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf, bremst Wattenhofer neben dem Fahrradständer vor dem Schulhaus und stellt den Dienstwagen ins Halteverbot. Was ist heute nur mit ihm los? Weshalb bereitet ihm dieses Privileg, auf das er gewöhnlich verzichtet, eine diebische Freude?

Der Fahrradständer ist schon fast leer, nur die älteren Kinder beugen sich um diese Zeit noch über Rechenaufgaben. Es ist häufig nicht ganz einfach herauszufinden, was der Grund für eine Meldung von Frau Direktor Ramsauer ist. Die wenigen Fahrräder sind ordentlich festgekettet, in ihren Reifen ist Luft, von einem Vandalenakt ist nichts zu erkennen. Der Mülleimer quillt nicht über. Abgesehen von seinem Wagen steht kein anderes Auto im Halteverbot oder im angrenzenden Parkverbot. Auf der Wiese sprießt das erste Grün. Er weigert sich, die zerknüllte Zigarettenschachtel aufzuheben, das ist nicht seine Aufgabe. Dazu werden vorlaute Schüler an ihrem freien Nachmittag mit Greifzange und Müllsack ausgerüstet. Er umkreist den Fahrradständer in größer werdendem Abstand, entdeckt aber nichts Verdächtiges. Keine Unordnung, kein fremder Gegenstand, kein fehlender Schachtdeckel, nicht einmal ein loser Randstein, der für Stolpergefahr sorgt. Stolpern, ausrutschen, abknicken, das Hinfallen in all seinen Varianten ist die größte Angst alter Menschen, das hat er von Frau Direktor Ramsauer gelernt. Ein Sturz auf der Straße ist der schnellste Weg ins Grab. Aus Mangel an Alternativen – mit leeren Händen darf er nicht zurück in die Dienststelle kommen – bleibt Wattenhofer nichts anderes übrig, als sich noch einmal mit der Zigarettenschachtel zu beschäftigen. Vielleicht ist sie nicht ganz unverdächtig.

Es gibt nach seinen Informationen nur noch einen rauchenden Lehrer an der Schule. Dieser wagt es nach der letzten Intervention besorgter Eltern allerdings nicht mehr, sich in Sichtweite von Kindern eine Zigarette anzuzünden, geschweige denn eine Schachtel auf den Boden fallen zu lassen. Hausmeister Flückiger raucht ohne Unterlass, aber Gauloises und filterlos. Die Petition, die einige Neuzuzüger gegen seine Vorliebe starteten, wurde vom Gemeinderat zurückgewiesen. Flückiger ist eine Institution im Dorf. Als bei der Gemeindeversammlung über die Petition diskutiert wurde, trat Flückiger selbst ans Mikrofon und tröstete die erfolglosen Unterschriftensammler damit, dass es ihn, wenn die Versprechen auf den Packungen zuträfen, ohnehin nicht mehr lange geben würde. Wattenhofer bückt sich nach der Schachtel. Sie ist feucht und schwer, zu schwer für eine leere Zigarettenschachtel. Er schüttelt sie an seinem Ohr und ärgert sich über die investigative Miene, die er dazu aufsetzt. Eine leere Zigarettenschachtel gehört in den Müll, das ist alles, mehr ist da nicht. Nur weil ihn Frau Direktor Ramsauer hierher geschickt hat, tut ihm die Schachtel nicht den Gefallen und explodiert in seinen Händen. Das Klacken, das aus ihrem Inneren dringt und so gar nicht nach aufgeweichten Zigaretten klingt, macht Wattenhofer nun aber doch neugierig. Er öffnet die Schachtel und vergisst beim Hineinschauen, was er von seiner Miene hält. Er kippt sich den Inhalt auf die Handfläche und erkennt auf den ersten Blick, dass es sich um den Schlüssel zu einem Garderobenschrank im örtlichen Schwimmbad handelt. Oft genug hat er Stefans Betteln nachgegeben und sein empfindliches Auge dem ätzenden Chlor ausgesetzt, damit sein Sohn hundert Runden über die Rutsche drehen konnte. Was hat ein Garderobenschlüssel in einer Zigarettenschachtel auf der Wiese vor dem Schulhaus verloren? Das ist ein Hinweis, dem er nachgehen kann.

2. Kapitel

Wattenhofer klopft mit dem Garderobenschlüssel in der Hand an die Glastür. In der kleinen Kammer mit Blick über das Schwimmbecken befindet sich alles, was man als Bademeister braucht. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Rettungsring, ein Erste-Hilfe-Kasten und ein Ständer mit Bademode in allen Größen. Durch die gläsernen Wände hat man Aussicht auf den Planschbereich mit Rutschbahn und das Fünfundzwanzig-Meter-Becken. Eine Treppe, deren Stufen wegen der Sturzgefahr besonders rau beschichtet sind, führt hinunter an den Beckenrand. Wattenhofer wird freundlich begrüßt. Nicole Götz ist vor sieben Jahren als Sportstudentin aus Süddeutschland zugezogen. Inzwischen ist sie von der schwimmbegeisterten Teilzeitkraft zur leitenden Bademeisterin aufgestiegen. Sie bietet Wattenhofer einen wässrigen Kaffee aus dem Automaten an, den er bei seinen Besuchen mit Stefan zu schätzen gelernt hat. Natürlich wäre er lieber ein Feinschmecker, der sich seine Bohnen bei einer kleinen Familienrösterei bestellt und seinen Kaffee jeden Tag frisch mahlt. Zu Hause füttert er seine Kaffeemaschine schon seit Jahren mit Aluminiumkapseln. Beim ersten Schluck aus dem Plastikbecher überkommt ihn eine wehmütige Erinnerung an den Filterkaffee, den er aufbrühte, bevor die vollautomatische Maschine in der Küche stand. Erstaunt stellt er fest, dass er das Pfeifen des Wasserkessels, das Aufschäumen des Pulvers und den Geruch nach frischem Kaffee, der sich im ganzen Haus breitmachte, vermisst.

- Was führt dich her?

- Ich habe einen Schlüssel gefunden.

- Das muss ja ein besonderer Schlüssel sein, dass du damit zu mir kommst.

- Es ist ein Garderobenschlüssel.

- Ich verstehe nicht, weshalb sich so viele weigern, das gelbe Band zu benutzen, mit dem sie ihn ums Hand- oder Fußgelenk binden können.

- Der Bändel fehlt.

- Wo hast du ihn gefunden? Normalerweise verstopfen mir die verlorenen Schlüssel die Filter.

Sie setzen sich hinter der großen Glasscheibe an einen Tisch. Götz achtet darauf, dass sie das Schwimmbecken im Auge behält. Wenn er sie ablenken würde, wenn er jenes unwiderstehliche Mannsbild wäre, das sie mit einem Blick und zwei Sätzen verführt, ihr in der Damengarderobe den Mund zuhält, um ihre Lustschreie zu ersticken … würde dann ein Kind ertrinken, das wäre eine Geschichte, denkt Wattenhofer. Das würde Ermittlungen nach sich ziehen. Nicht nur das, er wäre gezwungen, seine Beteiligung an dem Unglück zu vertuschen, um den Schein des treuen Ehemanns und zuverlässigen Polizisten zu wahren.

- Sonst noch etwas?

Andererseits wäre er gezwungen, an der Tür der Eltern zu klingeln und ihnen die schreckliche Nachricht zu überbringen. Das würde er nicht übers Herz bringen. Er würde zittern und schluchzen, bevor er einen Ton herausbrächte.

- Mich interessiert, was sich in dem Schrank befindet, der zum Schlüssel gehört.

Wattenhofer ist froh, dass sich seine Ermittlungsarbeit auf Nachforschungen im Schwimmbad beschränkt. Er taugt nicht für Schlagzeilen und Filmstoff. Es macht ihm nichts aus, dass Götz ihn belächelt. Er tut seine Pflicht und fahndet nach dem Inhalt eines Garderobenschranks.

- Wenn wir die Kästchen abends nicht ausräumen würden, hätten wir spätestens nach einer Woche kein freies mehr. Möchtest du das Lager mit den Fundgegenständen sehen?

Wenige Minuten später öffnet Götz ihm die Tür zu einem Kellerraum, der so niedrig ist, dass er darin nicht aufrecht stehen kann. Das Kreuz schmerzt ihn schon, bevor er ihn betritt. Neben ihm plätschert die Maschine, die das Wasser filtert und mit Chlor versetzt. Der Kellerraum wird zur Hälfte von einem Regal ausgefüllt. Es ist vollgestopft mit vergessenen und verlorenen Kleidungsstücken und Gegenständen. Götz nickt Wattenhofer zu.

- Vermutlich ist es ein Vorteil, dass du nicht weißt, was du suchst. Ich habe es noch nicht erlebt, dass hier jemand etwas Bestimmtes gefunden hat.

Die Bademeisterin zieht sich auf ihren erhabenen Posten im Glashaus zurück, und Wattenhofer beginnt damit, sich durch muffige Socken, Unterhosen, Pullover und Jacken zu wühlen. In Anbetracht der Masse an zurückgelassenen Kleidungsstücken, die sich hier angesammelt haben, muss er davon ausgehen, dass jeder zweite Besucher vergisst, sich nach dem Schwimmen wieder anzuziehen. Wattenhofer nimmt eine Schachtel vom obersten Regalbrett. Jemand, vielleicht die kräftige Hand von Götz, hat mit einem Filzstift einen Schuh darauf gemalt. Als Vorbote dessen, was ihn erwartet, kippt ein Paar Kindergummistiefel, das oben auf der Schachtel liegt. Mit der reflexschnellen linken Hand wehrt Wattenhofer den ersten Stiefel ab, fängt den zweiten mit der rechten auf, verfehlt daraufhin den Griff der Schachtel und ist deshalb gezwungen, ihren Sturz mit seinem Gesicht zu stoppen. Ein schreiender Schmerz sticht ihm vom Nasenbein in die Stirnhöhlen. Er spürt, wie ihm die Tränen in die Augen und das Blut in die Nasenlöcher schießt. Er springt zurück, die Schachtel platzt auf, und ihr Inhalt ergießt sich über den Fußboden. Wattenhofer hält sich die blutige Nase, lehnt sich mit angewinkelten Knien gegen die Wand und lässt sich langsam zu Boden sinken. Er starrt in die enge Leere vor sich und versucht den Schmerz unter Kontrolle zu bekommen. Genau das tun seine Kollegen, wenn sie einen Verdächtigen nach einer atemberaubenden Verfolgungsjagd gestellt haben. Dass er gezwungen ist, nach dem Kampf mit einem Paar widerspenstiger Gummistiefeln zu Boden zu gehen, ist eine Demütigung. In Wattenhofers leerem Blick spiegelt sich nicht die Ernüchterung, dass es in einer verkommenen Welt keine Gerechtigkeit gibt, auch wenn dem Recht zur Durchsetzung verholfen wird, sondern die Erkenntnis, dass der Schmerz der gleiche ist, egal ob ihm die Nase von einer Schachtel voll vergessener Schuhe oder von der tätowierten Faust eines Auftragskillers gebrochen wird.