Jumper. Im Netz der Welten - Carolin Doupagne - E-Book

Jumper. Im Netz der Welten E-Book

Carolin Doupagne

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Beschreibung

**Rasant, rebellisch, romantisch** Vor langer Zeit standen die Tore der Welten offen und alle Wesen konnten sich frei zwischen ihnen bewegen. Nachdem jedoch Hass und Kriege die Völker entzweiten, wurden die Übergänge verschlossen. Um den Frieden zu sichern, sind nur noch wenige magisch Begabte befugt, die Grenzen zu überschreiten. Auch Ruby besitzt diese Fähigkeit und steht damit im Dienst der Geheimorganisation der Traveler. Ein neuer Auftrag führt sie geradewegs auf das Piratenschiff ihres ewigen Widersachers Neron. Obwohl dieser zunächst so arrogant und unnahbar ist wie immer, scheint irgendetwas anders. Bald wird klar: Neron will sich entgegen aller Vernunft mit ihr verbünden… //»Jumper. Im Netz der Welten« ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.//

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Carolin Doupagne

Jumper. Im Netz der Welten

**Rasant, rebellisch, romantisch** Vor langer Zeit standen die Tore der Welten offen und alle Wesen konnten sich frei zwischen ihnen bewegen. Nachdem jedoch Hass und Kriege die Völker entzweiten, wurden die Übergänge verschlossen. Um den Frieden zu sichern, sind nur noch wenige magisch Begabte befugt, die Grenzen zu überschreiten. Auch Ruby besitzt diese Fähigkeit und steht damit im Dienst der Geheimorganisation der Traveler. Ein neuer Auftrag führt sie geradewegs auf das Piratenschiff ihres ewigen Widersachers Neron. Obwohl dieser zunächst so arrogant und unnahbar ist wie immer, scheint irgendetwas anders. Bald wird klar: Neron will sich entgegen aller Vernunft mit ihr verbünden …

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Vita

Danksagung

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© privat

Carolin Doupagne lebt in einem kleinen Haus in NRW, ist jedoch schon seit ihrer Kindheit eher in fiktiven Welten zuhause und auf der Suche nach Hogwartsbriefen und Portalen nach Narnia. Wenn sie nicht gerade ihre Kaffeesucht stillt oder die Sterne beobachtet, bringt sie ihre eigenen Tagträume zu Papier. Die Zeit, die übrig bleibt nutzt sie, um sich auf ihrem Instagramblog: a_darker_shade_of_books mit anderen über ihre liebsten Bücher auszutauschen.

Für die Träumer und Rastlosen, auf der Suche

nach ihrem Platz auf der Welt …

1. Kapitel

Ruby

Sie starrte auf die Uhr über der Tür von Mr Crions Klassenzimmer und verfolgte die Zeiger und ihr Tick-Tick-Tack sehnsüchtig. In Gedanken war Ruby bereits auf dem Nachhauseweg. Für sie gab es nichts Unnötigeres als die Schule. Ihre Mutter und Großmutter bestanden jedoch darauf, dass sie jeden Tag hin ging Mal ganz abgesehen davon, dass die wenigsten Lehrer ihr Dinge erzählten, über die sie nicht längst alles in einer der vielen Bibliotheken des Hauptsitzes des Ordens gelesen hatte. Sie klapperte mit ihrem Stift ungeduldig gegen die Kante ihres Tisches, während sich die Sekunden zu Stunden dehnten. In ihrer späteren Karriere würde ihr diese Art von Bildung überhaupt nichts bringen. Niemand würde sie auf einer Mission Gleichungen oder geometrische Formeln abfragen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie schon vor Jahren Vollzeitunterricht im Quartier des Ordens erhalten sollen. Fechten und das Erkennen von vergifteten Lebensmitteln, solche Fähigkeiten würden ihr später weiterhelfen, könnten ihr sogar das Leben retten. Gleichungen eher weniger. Und auch wenn Englisch ihr Lieblingsfach war, konnte sie das Ende der Stunde kaum abwarten.

Mr Crion, ihr Englischlehrer, beobachtete sie mit seinen grauen Augen und stieß sich locker von seinem Pult ab.

»Also«, sagte er, »ich wollte, dass ihr für die heutige Stunde ein Zitat heraussucht, das euch besonders gefallen oder berührt hat.«

Demonstrativ hielt er seine Ausgabe von Peter Pan hoch. Kreideabdrücke zeichneten sich auf dem Schutzumschlag ab und an den demolierten Ecken des Romans war nicht schwer zu erkennen, dass ihr junger Lehrer das Buch bereits mehrere Male gelesen haben musste. Einige der Anwesenden hatten identische Ausgaben auf ihren Tischen liegen. Den anderen Schülern traute Ruby zu, dass sie die Bücher bereits verloren, verbrannt oder an ihre Hunde verfüttert hatten. Sie hob reflexartig ihren Arm und Mr Crion nahm sie dran. Nicht, dass er viel Auswahl gehabt hätte.

»›Zu sterben wäre ein furchtbar spannendes Abenteuer‹«, zitierte Ruby ein Stück aus ihrer Lieblingsstelle des Buchs und aus den Verfilmungen. Sie verließ sich darauf, dass Mr Crion das Gegenstück der Filmszene »Zu leben wäre ein furchtbar spannendes Abenteuer« selbst kannte.

»Sehr schön«, sagte er und wandte sich lächelnd wieder der Tafel zu, um den Satz aufzuschreiben.

Ariana und ihre zwei besten Freundinnen Liza und Kleo begannen hinter Ruby zu kichern und sofort breitete sich eine unangenehme Hitze in ihren Wangen aus. Sie war sich sicher, dass ihr Gesicht nun die Farbe ihrer rubinroten Haare angenommen hatte. Sie gab sich große Mühe, die Gruppe nicht zu beachten. Doch trotz aller Schutzschilde, die sie in den letzten Jahren errichtet hatte, traf jedes noch so leise geflüsterte Wort ihr Herz wie ein in Gift getränkter Pfeil.

Ignorier die einfach …, meldete sich Vyn in ihren Gedanken. Dabei wusste er nur zu gut, dass er eigentlich nicht auf diese Weise mit ihr kommunizieren durfte.

Andererseits konnte sie ihm in solchen Situationen dafür kaum böse sein, oder? Nicht, wenn er das einzige war, das ihr in diesem Moment Mut gab.

Ruby schloss die Augen, um alles für ein paar Sekunden auszublenden, die Scham zu betäuben.

Die anderen sollst du ignorieren, nicht mich! Seine Stimme war nicht stärker als ein Lufthauch, der gegen ihr Trommelfell wehte. Nicht stärker als das Wispern des kalten Frühlingswindes, der durch die Fenster des Klassenraums pfiff. Sie antwortete ihm trotzdem nicht. Wenn er gegen die Regeln des Ordens verstieß, war das eine Sache. Sollte sie das gleiche wagen, eine ganz andere.

»Ruby«, riss sie eine sanfte Stimme aus ihren Gedanken und fort von dem dunklen Ort in ihrem Bewusstsein, in dem sie sich mit Vyn verständigen konnte.

Als sie die Augen öffnete, erwiderte Mr Crion ihren perplexen Blick. Für ihn hatte es sicher so ausgesehen, als hätte sie ein kurzes Nickerchen gehalten. Seine akkurat geschnittenen tintenschwarzen Haare standen im starken Kontrast zu seiner blassen Haut.

»Tut mir leid, was haben Sie gesagt?«, fragte Ruby.

Mr Crion, dessen vollen Lippen sich besorgt zu schmalen Linien verzogen, sah stirnrunzelnd auf sie herab und tippte auf das Buch, das vor ihr lag.

»Ich habe gefragt, ob du uns das nächste Kapitel vorlesen könntest.«

Ruby zögerte und war sich der Aufmerksamkeit ihrer Mitschüler und vor allem von Ariana schmerzlich bewusst. Ihr Herz pochte bis in ihr Trommelfell.

»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sich Mr Crion.

Außer, dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wo die Klasse stehen geblieben war, nicht, nein. Ruby erwog ihren Lehrer anzulügen, irgendeine Ausrede zu erfinden, die sie nicht ganz so erbärmlich dastehen ließ. Allerdings fehlte ihr jegliches Talent zum Lügen. Ihre Großmutter wäre entsetzt, wenn sie davon erfuhr, und Ruby würde vor Scham in Grund und Boden versinken. Also verwarf sie die Idee genauso schnell, wie sie ihr gekommen war, und lieferte sich stattdessen einen stummen Anstarrwettbewerb mit ihrem Englischlehrer. Sie hoffte, dass Mr Crion ihr vom Gesicht ablesen konnte, dass er sich doch bitte jemand anderen zum Vorlesen aussuchen sollte. Doch bevor er sie verstanden hatte oder Ruby sich vor der Klasse blamieren musste, wurde sie von der Schulklingel erlöst. Die Stunde war zu Ende. Und als hätte jemand einen Fluch von den Schülern genommen, sprangen sie von ihren Plätzen auf, streiften sich ihre Jacken über, schulterten ihre Rücksäcke und stürzten sich murmelnd aus dem Klassenzimmer.

Mr Crions Blick lag immer noch auf Ruby. Erst nach einigen Sekunden wandte er endlich seine grauen Augen von ihr ab und begann, die vollgeschriebene Tafel zu säubern.

Kaum drehte er ihr den Rücken zu, beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig. Mr Crion war einer der wenigen Lehrer, die sich um ihre Schüler sorgten, und vermutlich der einzige, bei dem Ruby jemals in Erwägung ziehen würde, mit ihm über ihre Probleme zu sprechen … Woran das genau lag, konnte sie nicht sagen, aber sie wollte ihn unter keinen Umständen enttäuschen.

Nachdem der letzte ihrer Mitschüler den Klassenraum verlassen und sie den Reisverschluss ihres eigenen Rucksacks zugezogen hatte, der vor bunten Metallsteckern nur so überquoll, war das Wischen des Tafelschwamms das einzige Geräusch im Klassenzimmer. Mr Crion wischte gerade die Themen der Hausarbeiten für nächste Woche von ihr ab, als Ruby sich mit gesenktem Kopf an seinem Pult vorbei zur Tür stahl.

»Könnte ich dich einen Moment unter vier Augen sprechen?«, fragte Mr Crion.

Rubys Nackenhaare stellten sich auf. Sie umklammerte die Träger ihres Rucksacks, blieb jedoch nicht stehen.

»Wissen Sie … Ich will nicht unhöflich sein, aber ich habe wirklich keine Zeit, Sir«, rief sie mit einem kurzen Lächeln über ihre Schulter und trat über die Türschwelle.

»Setz dich, bitte«, sagte er in einem bestimmenden Ton.

Sie blieb im Türrahmen stehen.

»Ich habe wirklich keine …«

»Zeit«, unterbrach Mr Crion sie schmunzelnd.

Seine grauen Augen leuchteten verschmitzt hinter seinen großen Brillengläsern.

Er war mit etwa Mitte zwanzig ziemlich jung für einen Lehrer und unterrichtete erst seit Anfang des Jahres an ihrer Highschool, dennoch fiel es Ruby schwer, ihm zu wiedersprechen. Sie respektierte ihn, genau wie die anderen Schüler. »Na schön …«, sagte er mit gerunzelter Stirn.

Ruby machte auf dem Absatz kehrt.

»Aber wenn du etwas auf dem Herzen hast …« rief er ihr hinterher.

»Werde ich Ihnen davon erzählen«, antwortete Ruby.

»Versprochen?«

»Versprochen«, bestätigte sie. Eines Tages, wenn sie bereit sein würde, sich jemandem anzuvertrauen, würde sie vielleicht zu ihm gehen, aber dieser Tag war nicht heute.

Sie bemerkte noch den enttäuschten und erschöpften Blick ihres Lehrers, bevor sie endgültig auf den inzwischen menschenleeren Flur lief. Die Probleme in der normalen Welt, abseits des Ordens und der Aufträge in fernen Dimensionen, waren es nicht, die sie plagten. Sie wusste, dass ihre Mitschüler einfach intolerant waren und weigerte sich, sich für sie zu ändern. Was Ruby wirklich fertig machte, war, dass sie nirgendwo so richtig dazugehörte. Weder in die menschliche noch die magische Welt.

Ruby war nicht normal oder abnormal.

Nicht richtig oder falsch.

Sie befand sich dazwischen.

Und in diesem Dazwischen war sie, abgesehen von Vyn, ziemlich allein …

2. Kapitel

Ruby

»Wenn du nicht aufhörst mich im Unterricht zu kontaktieren, musst du ab morgen zu Hause bleiben«, sagte Ruby, als sie ihr Schließfach öffnete.

Über einem Bücherstapel, mehreren Notizblöcken und leeren Kaugummipapieren schwebte eine milchige Wolke, deren Konsistenz an Dampf erinnerte. Ein Schatten in der falschen Farbe. Was einer der Gründe für die Verbannung aus seiner eigenen Dimension war.

»Ich hatte Hunger. Und deine Großmutter verjagt mich ständig, wenn sie mich ohne dich in der Wohnung entdeckt«, sagte Vyn beleidigt.

An Tagen, an denen er nicht genügend Energie hatte, um sich zu manifestieren, war diese Wolke die einzige Erscheinungsform, die er zustande brachte. An guten Tagen, an denen zum Beispiel sein Zucker oder Koffeinspeicher voll waren, schaffte Vyn es sogar, wie ein gewöhnlicher Teenager auszusehen. Heute waren sie offenbar noch nicht aufgeladen worden.

Ruby stemmte ihren Rucksack ins Innere des Schließfachs und öffnete ihn, damit Vyn hineinschlüpfen konnte. Er machte jedoch keine Anstalten sich zu bewegen, schwebte nur stur über ihrem Rucksack.

Ruby blinzelte ungeduldig. Als Vyn sich immer noch nicht rührte, kramte sie stöhnend ein Haargummi aus ihrer Hosentasche und band sich ihre hüftlangen, rubinroten Haare zu einem Knoten zusammen. Dann öffnete sie ein Seitenfach des Rucksacks und zog einen dunkelroten Lippenstift daraus hervor, um die Zeit zu nutzen, die Vyn zu benötigen schien, um sich in Bewegung zu setzen.

»Musst du immer so eine Drama-Queen sein?«, fragte sie Vyn, während sie die geschwungenen Linien ihres Mundes nachzeichnete.

Ruby warf einen letzten Blick in den gesprungenen Spiegel der in ihrer Schließfachtür hing und verstaute dann den Lippenstift wieder an seinem Platz.

»Du weißt, ich würde nicht zulassen, dass Grams oder der Orden dich wegschicken.«

Ihr Freund antwortete nicht, seine schwache Erscheinung zitterte bloß, als würde ihn ein Blitz durchfahren.

»Vyn?«

»Ja … das weiß ich«, gab er kleinlaut nach. »Aber das letzte Mal, als ich mich im Schrank versteckt habe, hat sie mich auch gefunden.«

Die Sache war nämlich die, dass Vyn nicht offiziell zum Orden der Traveler gehörte. Und nur solange Ruby dafür sorgte, dass er sich an die Gesetze hielt, wurde er von diesem auf der Erde geduldet. Sie würden Ruby nicht für einen Verstoß bestrafen oder verbannen, dafür war sie zu wichtig. Zu unersetzlich. Aber was Vyn betraf … Sie war wahrscheinlich die einzige Person, die sich für sein Schicksal interessierte und ihn ebenfalls für unersetzlich hielt. Er war ein Schatten, der in einer Farbe geboren worden war, die in seiner Heimat als falsch angesehen wurde. Schon als Säugling war er verbannt und dem Orden übergeben worden. In der Zentrale einer der Lichtwelten waren sie sich das erste Mal begegnet und es hatte sich eine Verbindung zwischen ihnen geformt. Ruby hatte sich geweigert, die Zentrale ohne Vyn zu verlassen. Und seitdem waren sie unzertrennlich.

Allein in einer anderen, fremden Welt würde er nicht lange überleben. Vyn zählte zu den wenigen guten Geschöpfen der Dimensionen und es gab leider zu viele schlechte Gegenstücke, die seine Verletzlichkeit ausnutzen oder ihn sogar jagen würden.

»Dann halt dich an unsere Abmachungen und ich muss dich nicht zu Hause lassen.«

»Ich verspreche nichts, das ich nicht halten kann«, sagte er.

Ruby stöhnte frustriert. »Dann lüg mich wenigstens an und tu so, als würdest du dich an die Regeln halten.«

»Nein.«

Sie atmete tief durch, schloss die Augen und presste die Stirn gegen das kühle Metall ihres Schließfachs. Eine Minute. Sie brauchte bloß eine Minute lang eine Pause.

»Kommst du dann wenigstens langsam mal in die Gänge? Du bist nicht der einzige mit einem Bärenhunger«, seufzte sie und deutete einladend auf den bereitstehenden Rucksack.

»Ihre Kutsche, Mylord«, sagte sie und verbeugte sich.

Bei der Aussicht auf etwas Essbares zögerte Vyn nicht lange und stürzte sich kopfüber in ihre Tasche. Wie jeden Tag tauchte er zwischen ihren Notizen unter und machte es sich neben der alten Kamera ihres Großvaters gemütlich. Ruby zog den Reißverschluss zu, ließ aber einen Spalt offen, damit Vyn etwas Sonnenlicht abbekam und sich nicht zu verloren in der Dunkelheit fühlte.

Erleichtert über Vyns Kooperation rieb sie sich übers Gesicht. Ruby wickelte sich ihren grauen Wollschal mit Totenkopfmuster um den Hals und schlüpfte in ihren langen schwarzen Mantel.

»Wirst du dich jemals gegen sie wehren?«, fragte Vyn, als Ruby den Rucksack über ihre Schulter schwang und die Schließfachtür zuschmiss, sodass diese scheppernd ins Schloss fiel.

Sie behielt für sich, dass sich bereits bei der Vorstellung des Gekichers ihrer Klasse ihre Kehle spürbar zusammenzog – Vyn wusste auch so über ihren Schmerz Bescheid. Sie versuchte ihre zwei Leben gründlich voneinander zu trennen. Denn zwischen beiden herrschten gewaltige Unterschiede. In einem gab es Magie, in dem anderen nicht. In einem war sie etwas Besonderes, in dem anderen allein. Es gab das Leben, auf dem ihre Mum und ihre Großmutter bestanden, das Leben als gewöhnlicher Mensch. Und dann gab es das, auf dem der Orden bestand, das Leben als Traveler. Als Reisende zwischen den Welten.

Und als Erbin des Gens ihres Großvaters, das ihr eine Macht verlieh, die sie größtenteils weder verstand noch anwenden konnte. Das im Laufe der Aufzeichnungen der Weltengemeinschaft höchstens einmal pro Generation, manchmal auch nur pro Jahrhundert vorkam und noch nie zuvor in ein und derselben Blutlinie vorgekommen war.

Ihre Mum hatte versucht sie vor ihrem Schicksal zu bewahren, hatte zu verhindern versucht, dass der Orden überhaupt von ihrer Existenz erfuhr. Nach dem Tod ihres Großvaters hatte ihre Familie daher auf die Privilegien des Ordens verzichtet und war in eine kleine Wohnung gezogen, in der mittlerweile drei Frauen und ihre Persönlichkeiten kaum mehr Platz fanden, um sich zu entfalten.

Als gewöhnlicher Traveler hätte sie sich vielleicht noch verstecken können, doch als sie das erste Mal unabsichtlich einen Sprung durch die Welten gemacht hatte, hatte der Orden sie sofort aufgespürt und sie zu seiner Gallionsfigur erklärt. Und nun war Vyn das einzige, was ihre beiden Leben noch miteinander verband.

Ruby lief in Richtung Ausgang und senkte den Blick, um die Bewegungen ihrer Stiefel zu beobachten, wie sie sie über den gekachelten Boden des Schulflurs in Richtung Freiheit trugen.

Wie jeden Tag würde Vyn einschlafen, noch bevor die Hälfte des Nachhausewegs hinter ihnen lag. Ruby würde sich einen Kopfhörer ins Ohr stecken, um ihren Lieblingssong von Queen oder Hamilton zu hören, und mit dem anderen Ohr auf den Straßenverkehr achten, damit sie nicht von einem Fahrrad überrascht wurde. Sie würde den Verkäufer des Obstgeschäfts grüßen, der immer auf einem Klappstuhl vor seinem Laden Zeitungen las, und in weniger als dreißig Minuten das Apartment über dem Souvenirladen ihrer Großmutter erreichen. Die Routine war zwar tödlich langweilig, hatte aber auch etwas Vertrautes an sich, das sie zutiefst beruhigte.

Vor lauter Grübeleien hatte sie gar nicht richtig mitbekommen, dass Vyn ihr eine Frage gestellt hatte.

»Mh?«, horchte Ruby nach, als sie auf die grauen Betontreppe vor dem Schulgebäude trat.

»Ich habe gefragt, ob wir irgendwann mal gewinnen?«, wiederholte Vyn gähnend aus dem Innern ihres Rucksacks.

Ruby dachte darüber nach, während sie zwei Stufen auf einmal hinab hüpfte. Nicht weit entfernt hupten ein paar Autofahrer, die sich wegen eines Staus verspäteten, wild drauf los. Ein typischer New Yorker Nachmittag während des Berufsverkehrs.

»Naja … wir leben noch«, sagte sie. Betrachtete man die Umstände ihrer Missionen, hieß das, dass sie gewannen.

Ruby vergrub ihr Kinn und ihren Mund in ihrem Schal und marschierte den Bürgersteig entlang, vorbei an unzähligen kleinen Geschäften und Musikläden.

Sie war schon fast in dem Viertel angekommen, in dem sich ihr Apartment befand, als sie ein unverwechselbares Prickeln im Nacken spürte. Es rann ihr wie ein eiskalter Regenschauer den Rücken hinab.

Es war keine Einbildung. Und auch nicht das vertraute Kitzeln der Fingerspitzen, das sie jedes Mal durchfuhr, sobald sie eine elektrisierende Vibration in dem Spinnennetz wahrnahm, dass die Welten und verschiedenen Dimensionen miteinander verwob. Es war das Gefühl, das einen heimsuchte, wenn man sich allein in einem Raum aufhielt, aber den Eindruck nicht loswurde, beobachtet zu werden.

Ruby blieb stehen. Es war unmöglich, dass jemand sie hier angriff. Dafür war der Orden auf der Erde zu gut organisiert. Keine feindliche Partei würde an den Schutzwällen vorbeikommen. Nicht einmal die Crew von Schmugglern, die es besonders auf Ruby abgesehen hatte. Sie drehte sich widerwillig zur Straße um und entdeckte sofort die Quelle des merkwürdigen Gefühls. Zwischen einer Reihe von Taxis stand die Limousine der Präsidentin des New Yorker Ordens, der Zentrale der Weltengemeinschaft, die für die Erde zuständig war. Der purpurne Lack des Fahrzeugs stach zwischen den sonnengelben Autos hervor wie die erste Zahnlücke im Lächeln eines Kleinkindes. Vor der Limousine wartete Ravkan, der Fahrer, in seiner gewohnten dunklen Uniform, deren Mitte polierte Messingknöpfe säumten. Sein blasses Gesicht wurde größtenteils von einer ebenfalls purpurnen Kappe, einer verdunkelten Sonnenbrille mit kreisrunden Gläsern und einem ausgeprägten Schnurrbart verdeckt. Er hob seine behandschuhten Finger und winkte Ruby zu, während er mit der anderen Hand die Tür zum hinteren Teil der Limo öffnete.

Dass sie ein Gesandter des Ordens mitten in der Stadt abholte, war in ihrem ganzen Leben nur wenige Male vorgekommen. Und dann auch noch im Privatfahrzeug der Präsidentin … Irgendetwas musste vorgefallen sein.

Ruby versicherte sich, dass Vyn tief und fest schlummerte und nichts Falsches sagen würde. Egal wie stark sie am Rucksack wackelte, er reagierte nicht. Gut.

Mit gespielt entspannter Miene ging sie auf die offene Tür der Limousine zu und stellte erleichtert fest, dass niemand darin auf sie wartete. Sie ließ sich auf den dunklen Ledersitzen nieder und nahm einen Atemzug des unverwechselbaren Dufts des teuren Autos. Ravkan schloss die Tür hinter ihr, begab sich in die Fahrerkabine und ließ den Motor dunkel schnurren, bevor er das Fahrzeug in den Verkehr einfädelte.

3. Kapitel

Corvux

Er beobachtete das Mädchen bereits seit einer Weile und folgte ihr mit einer ähnlich starken Passion wie dieser lästige Schatten, der an ihren Fersen haftete … und wegen dem er sich nicht zu nahe an sie heranwagen durfte.

Auch wenn jede Faser in seinem Innern danach verlangte, sie zu packen und sie all den Qualen auszusetzen, die er Edward gerne hätte leiden sehen.

Sollte ihr Großvater doch in der Hölle schmoren und Zeuge davon werden, wie er seine Liebsten vernichtete. Er würde ihnen nicht helfen können. Corvux hoffte, dass ein Leben nach dem Tod existierte und wenn es nur dazu diente, dass sein Feind den gleichen Schmerz spürte, der auch an Corvux’ eigenem Herzen nagte.

Er wollte Rache.

Und er würde seine Rache bekommen.

Seit er wieder in Freiheit war, lechzte er danach, war ein paar Mal kurz davor gewesen, das schäbige Apartment zu stürmen, das Edwards Frau mit ihrer Tochter und Enkelin bewohnte.

Doch wenn Corvux eines besaß, dann war es Geduld.

Sie war ihm in die Wiege gelegt worden.

Auch wenn sie ihm teilweise gestohlen worden war.

Die Teile, die von seiner Seele noch übrig waren und in Fetzen um sein Herz klafften, zogen sich schmerzhaft zusammen bei dem Gedanken an Edward und seinen Verrat.

Daran, was es Corvux gekostet hatte.

Dieses Mal würde nicht er die Konsequenzen zu spüren bekommen, nicht seine Welt bluten und leiden sehen, sondern all die restlichen.

Ruby …

Sie war der Schlüssel.

Ruby Monroe.

Sie glaubte fest zu wissen, was dieser Name, dieses Erbe bedeutete, doch Corvux würde sie eines Besseren belehren.

Ihr Dimensionen und Magie offenbaren, von denen sie nicht mal zu träumen wagte … und dann … dann würde er diese vor ihren hilflosen Augen in Flammen aufgehen lassen. Brennen lassen. Ihr die Philosophie des Todes und der Endlichkeit verinnerlichen und sie lehren, was der Begriff Untergang tatsächlich bedeutete.

4. Kapitel

Ruby

Der Hauptsitz des Ordens befand sich in einem alten, heruntergekommenen Industriegebiet außerhalb der Stadt. Die Gebäude und Fabriken waren teilweise so heruntergekommen, dass an vielen Stellen sogar die Backsteine aus den Mauern herausgebrochen waren und nicht einmal mehr Obdachlose in ihnen Schutz suchten. Kein Ort hätte sich besser als Versteck für eine Geheimorganisation geeignet als dieser.

Ruby stieg aus, nachdem Ravkan ihr die Autotür geöffnet hatte. Er führte sie jedoch nicht wie sonst bis zum Eingang der Fabrik, sondern setzte sich gleich wieder hinters Steuer und düste mit qualmenden Reifen davon.

Nach ein paar Sekunden des Zögerns marschierte sie zum Eingang des Hauptsitzes. Der Schotter knirschte unter den Sohlen ihrer Stiefel wie frischer Schnee. Ruby war diesen Weg schon so oft gegangen, hatte schon so oft die schweren Tore der großen Fabrik passiert, dass die Kameras und die dazugehörigen Sicherheitsangestellten sie bereits von Weitem erkannten. Die Türen öffneten sich automatisch für sie. Sie brauchte hier genauso wenig einen Schlüssel wie zum Reisen in andere Welten. Das war es, was sie so besonders machte, so nützlich für den Orden. Denn selbst diejenigen, die mit dem Traveler-Gen geboren wurden, brauchten Portale, die mit einem Schlüssel geöffnet werden mussten.

Ruby war keine normale Reisende … sie war eine Jumperin. Und das bedeutete, dass sie keine Schlüssel benötigte, um andere Dimensionen zu besuchen. Sie standen ihr alle offen. Zumindest in der Theorie. Ihren Vorgängern hatte meistens zumindest ein Tagebeuch oder Notizen des vorherigen Jumpers zur Verfügung gestanden. Ihr fehlte so etwas jedoch. Ihr Großvater hatte ihr keine Anweisungen hinterlassen. Und auch die Aufzeichnungen aus den vorherigen Zeitaltern wurden geheim gehalten oder waren längst verschollen. Und deshalb beherrschte sie das Reisen ohne Schlüssel nicht ausreichend, sodass es ihr jedes Mal viel zu viel Kraft raubte. Es machte sie schwach und verletzlich. Und auch die anderen Fähigkeiten, die ihr Großvater besessen hatte, fehlten ihr. Edward Monroe war dazu in der Lage gewesen, bis in Welten zu reisen, die selbst vom Orden längst vergessen worden waren. Er hatte dazu beigetragen, die Weltengemeinschaft zu vergrößern und den Frieden zu wahren. Die am besten ausgebildeten Jumper konnten sogar in die gefährlichsten, vom Orden verschlossenen Dimensionen reisen. Ruby hingegen erledigte die Aufträge des Ordens mit kleinen Tricks oder den üblichen Traveler-Fähigkeiten, aber damit hatte sich die Sache für sie dann auch schon erledigt. Das einzige, was ihr Großvater hinterlassen hatte, waren nicht etwa lehrreiche Notizen zu ihrer Magie oder gar ein Tagebuch, sondern lediglich eine Kamera. Es war ihr einfach zu riskant, mit Mächten zu experimentieren, die sie nicht richtig verstand.

Tief in Gedanken versunken lief Ruby die Gänge der Zentrale weiter entlang. Normalerweise saßen in der Eingangshalle Wachleute vor den Überwachungssystemen, huschten Agenten mit Akten unter den Armen über die Gänge und jemand geleitete sie zu der mächtigsten Frau ihrer Organisation. Heute war die Zentrale so gut wie leergefegt. Ein weiteres Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte.

»Präsidentin Eldem«, begrüßte Ruby die Frau hinter dem Schreibtisch, als sie das Büro im obersten Stockwerk betrat.

Elif Eldem stand hinter ihrem Schreibtisch und sortierte gerade einige Akten, die in losen Blättern darauf verteilt lagen. Seit Ruby sie als kleines Mädchen kennengelernt hatte, trug sie stets edle Hosenanzüge, die sich wie angegossen an ihren dünnen Körper schmiegten. Ihre kurzen schwarzen Haare waren im Laufe der Jahre allerdings schneeweiß geworden und die Haut über ihren ausgeprägten Wangenknochen eingefallen.

»Miss Monroe, gut, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte die Präsidentin kühl und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.

»Sie haben einen Auftrag für mich?« Ruby ließ ihren Blick durch das Büro schweifen, das sie schon tausend Mal gesehen hatte. Normalerweise war es blitzblank aufgeräumt und die Vorhänge vor den Fenstern zurückgezogen. Heute war das Gegenteil der Fall. Denn nicht nur auf dem Schreibtisch der Präsidentin lagen lose Akten verteilt. Auch die weißen Designermöbel und die Teppiche waren unter zahllosen Dokumenten begraben.

»Einen von größter Bedeutsamkeit. Auch wenn alle meine Agenten auf Extremsituation vorbeireitet sind, denke ich, sind Sie am besten für diese Mission geeignet.«

Ruby wurde hellhörig. In ihr schlummerte zwar eine besondere Magie, aber die Präsidentin wusste nur zu gut, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie sie einsetzen sollte. Und ihre Fähigkeiten als Traveler waren eher durchschnittlich. Es gab sicher eine Menge Agenten, die besser für den Auftrag und die erwähnte Extremsituation geeignet wären. Rubys Verwirrung spiegelte sich scheinbar in ihrer Mimik wider.

»Sagen wir, der Auftrag ist spezieller Natur«, erklärte die Präsidentin und versuchte sich mit einem zaghaften Lächeln zu retten. Wenn Elif Eldem lächelte, erinnerte das eher an einen Raubvogel, der sich als hilfloses Küken tarnte, als dass es einen zuversichtlich stimmte.

»Spezieller Natur?«, fragte Ruby.

»Es wurde ein Relikt in der Nähe von Osenia gefunden, das dort nicht hingehört. Es wird Ihre Aufgabe sein, es bei denjenigen abzuholen, die es gefunden haben und sicherzustellen, dass es bei uns in der Zentrale aufgenommen wird.«

Ruby stutzte. Das einzige, was sie meistern konnte, war es, ohne Schlüssel durch verschiedene Welten zu reisen. Zu einer so nahen Welten wie Osenia gab es ausreichend Schlüssel und Portale, die jeder x-beliebige Traveler hätte nutzen können.

»Und ich bin die einzige für den Job?«, fragte sie.

Präsidentin Eldem lief um ihren Schreibtisch herum auf sie zu und rümpfte die Nase. Wie ein Kommandant, der eine Armee befehligte. Seit ihrer Kindheit wusste Ruby, dass dies eine Person war, der man besser Respekt zollte. Die Präsidentin war auf der Erde das höchste Mitglied des Ordens.

»Nicht im Geringsten, die meisten meiner Agenten sind momentan jedoch mit anderen Aufträgen beschäftigt«, erklärte sie mit einem gereizten, ungeduldigen Unterton in der Stimme.

»Aber …«

»Es geht hierbei um Diskretion und Treue gegenüber dem Orden, Miss Monroe«, unterbrach sie Ruby, bevor sie protestieren konnte.

Elif Eldem schluckte sichtlich angespannt und atmete tief ein und aus. Ein geschulter Blick in die blassen, ausweichenden Augen der Präsidentin reichte Ruby aus, um zu verstehen, was hier tatsächlich vor sich ging. Osenia war nicht nur eine Welt, die dem Orden seit einigen Jahren abgeschworen hatte, sondern auch die Dimension, in der die rote Gräfin herrschte. Die Person, die ihr am gefährlichsten werden konnte.

Ruby konnte es einfach nicht fassen. Wut sammelte sich wie Lava in ihrer Magengrube und drohte aus ihr heraus zu sprudeln. Sie schluckte ihren Ärger herunter, der sich sofort mit einem bitteren Beigeschmack der Angst vermischte, und bemühte sich einen ruhigen Tonfall zu bewahren.

»Seit wann machen wir gemeinsame Sache mit der Gräfin?«, fragte sie so gesittet, wie es sich für eine Unterhaltung mit der Präsidentin gehörte.

»Nicht mit der Gräfin! Niemals!«, fuhr diese sie an.

Sie riss die dunkel geschminkten Lider weit auf und wirbelte zu ihrem Schreibtisch herum, griff nach einem Kugelschreiber und ließ ihren Unmut an diesem aus.

Eine Vorgesetzte zu beleidigen oder ihr zu unterstellen mit Feinden des Ordens zusammenzuarbeiten, galt als schweres Vergehen, für das selbst ein Jumper bestraft werden konnte.

Die Präsidentin schnaubte. »Die Gräfin weiß nichts davon. Das ist ein Handel zwischen … ihren Dienern und dem Orden … und er ist einmalig!«

»Ihre Diener sind Piraten, die unter ihrer Flagge segeln! Sie machen nichts, was sie nicht abgesegnet hat. Sie muss etwas damit zu tun haben. Es … es ist bestimmt eine Falle«, beharrte Ruby.

»Niemand von uns ist begeistert über diese Begebenheiten. Aber wenn ich den Handel abgelehnt hätte, dann wäre ein weiteres kostbares Relikt in die Hände der roten Gräfin gefallen und das kann ich nicht verantworten. Schon gar nicht in solch kritischen Zeiten …«

Die rote Gräfin gehörte zu den Herrschern, die sich offen gegen den Orden stellten. Es gab jede Menge Gründe, dies zu tun. Die Gräfin tat es aufgrund ihrer Gier danach, unsterblich zu werden und, jedem Gesetz der Natur zum Trotz, nicht zu altern. Dies schaffte sie bereits teilweise, indem sie die Magie aus Relikten oder Wesen heraussaugte, die ihre Diener ihr brachten. Relikte waren normale Gegenstände, die durch klitzekleine Portale in Welten gerutscht waren, in die sie nicht gehörten und eine eigene Art von magischer Energie entwickelt hatten.

Zu den treuesten Untergebenen der Gräfin gehörte eine Gruppe von Schmugglern, die mit einem Schiff durch die Welten reiste. Nicht nur, dass sie sehr erfolgreiche Schmuggler waren, das schlimmste war, dass die gesamte Crew aus Travelern bestand, die die rote Gräfin noch vor dem Orden aufgespürt und für sich verpflichtet hatte. Manche standen sogar freiwillig in ihrem Dienst. Mit ihrer Loyalität gegenüber der Gräfin verrieten sie alles, für das die Weltengemeinschaft stand.

»Was … was für ein Handel? Was hat er als Bedingung genannt, dafür, dass er das Relikt uns statt seiner Herrin überlässt?«, fragte Ruby.

Er war der Captain der Piratencrew und treuester Diener der Gräfin. Seine begehrteste Beute war seit Jahren Ruby selbst. Bei dem Gedanken daran, in den Klauen der Gräfin landen zu können, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Sie spürte bereits die tropische Sonne auf ihrer Haut, die in Osenia brannte.

Die Präsidentin seufzte erneut und senkte den Blick. »Der Handel beinhaltete doppelte Bezahlung und …«

Rubys Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen. Die Idee, ihr den Auftrag zu überlassen, stammte also gar nicht von ihrer Vorgesetzten.

»Und, dass ich die Agentin bin, die das Relikt abholt«, schlussfolgerte Ruby.

Ein kalter Schauer rann ihr durch die Glieder. Sie musste an die bisherigen Begegnungen mit seiner Crew denken. Zum ersten Mal war sie dem Captain und der Crew der Wolkenklaue vor drei Jahren bei einem Auftrag begegnet und seither spürten die Piraten sie immer häufiger auf. Das letzte Mal war es ihnen beinahe gelungen, sie an ihre Herrin auszuliefern. Dieses letzte Aufeinandertreffen hatte so einiges verändert und Ruby war sich nicht sicher, ob sie schon bereit war den Captain nach so kurzer Zeit wiederzusehen. Der Hass, den sie sonst für ihn empfunden hatte, wurde durch Gefühle abgeschwächt, die vorher nicht da gewesen waren und die Ruby einfach nicht verstand.

»Präsidentin Eldem, das ist eine Falle.«

»Wenn Sie in einer Stunde nicht wieder hier sind, schicke ich einen Suchtrupp los.«

»Er ist ein Traveler. Sie werden mich nicht finden, wenn er es nicht will. Ein Suchtrupp wird vollkommen nutzlos sein.«

»Er ist ein Traveler und Sie sind eine Jumperin«, sagte die Präsidentin plötzlich wieder gefasst und so undurchdringlich wie massiver Beton. »Es ist an der Zeit, dass Sie den Unterschied begreifen und Ihre Kräfte meistern. Wir werden sie vielleicht früher benötigen als gedacht … Das wäre dann alles, Miss Monroe.«

»Aber …«, stotterte Ruby.

»Das wäre dann alles. Bis heute Abend erwarte ich das Relikt in unserer Datenbank«, unterbrach Präsidentin Eldem sie und verscheuchte sie mit einer Handbewegung aus ihrem Büro, bevor sie sich wieder ihren Unterlagen widmete.

5. Kapitel

Ruby

Vyn beobachtete Ruby dabei, wie sie kopfschüttelnd und die Hände in die Hüften gestemmt in der schmalen Gasse auf und ab lief. Trotz ihres Auftrags hatte sie darauf bestanden, dass sie vorher noch wie geplant etwas essen gingen. Es würde keinem der Beteiligten guttun, wenn sie diese Mission mit leerem Magen beginnen würden. Durch die Energie, die Vyn durch den fettigen Donut erhalten hatte, den sie sich gekauft hatten, war es ihm wieder möglich, sich zu manifestieren. Als Ruby also stehen blieb und ihn Hilfe suchend anfunkelte, blickte sie nicht länger einen unförmigen Schatten an, sondern in die himmelblauen Augen eines blassen Teenagers mit weißen Haaren, die ihm verwuschelt zu allen Seiten seines eckigen Kopfs abstanden und in dem spärlichen Sonnenlicht beinahe silbern glänzten.

Auf Ruby wirkte er in dieser Form mehr wie aus einer fernen Welt als in seiner Form als sprechende Wolke. Aber das behielt sie lieber für sich.

Vyn biss sich auf die Unterlippe und sprang von dem mit Graffiti besprühten Müllcontainer hinunter, auf dem er es sich zuvor gemütlich gemacht hatte. Ruby überragte ihn um wenige Zentimeter, auch wenn seine dünnen Beine länger waren als ihre.

»Müssen wir das denn tun?«, fragte er leise. Er blieb ganz nah vor Ruby stehen. Ihre dunkelroten Haare standen im krassen Kontrast zu seinen. Nur ihre Kleidung hatte die gleiche Farbe. Schwarz.

Ruby überkreuzte die Arme vor der Brust und seufzte. »Du kannst hierbleiben, wenn du willst.«

Sie mussten gar nichts tun. Ruby musste es, sie hatte keine Wahl. Es war egoistisch, dass sie Vyn jedes Mal mitnahm, als wäre seine Anwesenheit auf ihren Missionen selbstverständlich. Dabei könnte er verletzt oder gefangen werden oder Schlimmeres …

Vyn zog seine Hand aus der Hosentasche und ergriff Rubys. Er starrte auf ihre verschränkten Finger, während seine Berührung ihr unwillkürlich kalte Schauer über den Rücken jagte. Er tat es nicht mit Absicht, aber sein Körper war eine Illusion und deshalb immer eiskalt.

Vyn runzelte die Stirn. »Du weißt, dass ich dich nicht alleine gehen lassen kann«, sagte er mit glasigem Blick.

Er könnte. Aber er würde nicht.

»Ich habe auch ein schlechtes Gefühl dabei«, entgegnete Ruby.

Und es stimmte. Auch wenn die Präsidentin sie für mächtig genug hielt, um sich im Notfall gegen die Crew der Wolkenklaue und die Gräfin zur Wehr setzen zu können, roch dieser ganze Handel doch verdammt nach einer Falle. Ruby kannte die Männer der roten Gräfin besser als so manch anderer Agent mit langjähriger Diensterfahrung. Sie gehörte schließlich zu ihren Zielobjekten. Für diese jungen Männer und Frauen war sie nicht viel mehr als eine Ware, die sie an ihre kaltblütige Herrin liefern wollten. Damit diese ihr ihre Magie und ihre Lebenskraft aussaugen konnte … Ruby schüttelte es und sie spürte, wie ihr Herz gegen ihren Brustkorb pochte, als wäre sie einen Marathon gelaufen. Vyn verstärkte seinen Griff.

»Aber …«, fuhr Ruby mit einer Zuversichtlichkeit fort, die sie nicht im Geringsten verspürte, »aber wenn der Orden Bescheid weiß, wird er sich benehmen.«

Sie glaubte ihren eigenen Worten nicht, aber es war das, was Vyn hören und sie aussprechen musste. Die Gemeinschaft der Traveler konnte nicht riskieren sie zu verlieren. Die Präsidentin persönlich hatte eine schwierige Zeit angedeutet, ihr Büro glich einem Schlachtfeld und die Zentrale war ihr wie eine Geisterstadt erschienen. Und auch wenn Ruby den Grund dafür nicht kannte, wusste sie, dass der Orden sie brauchte. Sie würden sie keiner Bande Piraten überlassen. Nicht jetzt.

»Aber das letzte Mal«, stammelte Vyn unbeholfen, beendete den Satz jedoch damit, dass er sich auf die Lippe biss.

»Ich weiß. Das wird nicht nochmal vorkommen«, versuchte Ruby Vyn zu beruhigen.

Das letzte Mal hatte die Crew der Wolkenklaue es fast bis zur Hauptstadt von Osenia geschafft. Ruby gefesselt und Vyn in seiner Schattengestalt in einem Teeservice gefangen. Es war mehr als knapp gewesen und sie konnten nur durch einen Umstand fliehen, den sie bis heute nicht nachvollziehen konnte. Die Verstärkung des Ordens wäre zu spät gekommen. Es wäre vielleicht wirklich weiser, Vyn in ihrer Welt zu lassen. Allerdings war er Rubys einziger Verbündeter und sie musste sich eingestehen, dass sie zu feige war, um allein zu reisen.

Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blinzelte sie mit seinen großen blauen Augen an. »Deine Großmutter wird nicht besonders begeistert davon sein, dass der Orden dir solche Aufträge zuteilt.«

»Dann sollte meine Großmutter das auch mit dem Orden klären und nicht mit mir«, entgegnete Ruby.

Sie konnte sich das Gespräch schon genau vorstellen. Ihre Großmutter würde schreien und sie würde zuhören und sich Mühe geben, nicht zu abwesend zu wirken. Falls sie denn von ihrem Auftrag wiederkam.

»Wirst du ihr das auch so ins Gesicht sagen?«, fragte Vyn mit hochgezogenen Brauen.

Ruby zog ihre Hände aus seinem Griff und schlenderte langsam zum Ende der Sackgasse. Sie spähte zur Straße, in der die kleine Seitengasse mündete. Während ihrer Unterhaltung hatte sie niemand gestört und die Fußgänger, die vorbei gelaufen waren, hatten größtenteils auf ihre Handys gesehen und sie nicht bemerkt.

Ihre Großmutter war ein ziemlich zwiegespaltenes Wesen. Einerseits wollte sie, dass Ruby mächtiger wurde und die Fähigkeiten ihres verstorbenen Mannes erlernte. Anderseits hasste sie den Orden und betrachtete alles, was die Präsidentin entschied, mit Argwohn.

»Vielleicht nicht genau mit diesen Worten …«

Vyn stellte sich neben Ruby vor die kahle Betonwand und starrte auf die ungleichmäßig verputzte Mauer.

Ruby bereitete sich darauf vor, ein Portal zu öffnen. Sie schloss die Augen und hob beide Hände an. In jeder ihrer zaghaften Bewegungen erkannte man ihre Unsicherheit. Sie durfte nicht zittern, verdammt. Das letzte, was sie diesen Kriminellen gegenüber zeigen durfte, war Schwäche. Und wie sehr sie sich vor ihnen und ihrer Herrin fürchtete. Wie sehr sie Ruby bei ihrem letzten Aufeinandertreffen tatsächlich verängstigt hatten. Sie atmete tief durch. Ein Pflaster. Sie musste diesen Auftrag behandeln wie ein Pflaster. Auch wenn es schmerzhaft werden würde, gab es nur einen Weg, es zu schaffen. Augen zu und durch.

»Sie haben Schwerter und Pistolen … Ich glaube, es wäre besser, wenn wir die Augen geöffnet lassen«, sagte Vyn.

Das brachte Ruby zum Schmunzeln, verhinderte jedoch nicht, dass sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. Wortlos hob sie die Hände und konzentrierte sich auf die Schwingungen des Netzes, welches die Welten miteinander verwob. Nach dem Gespräch mit Präsidentin Eldem war sie in die Halle der Türen gegangen, um einen Schlüssel nach Osenia anzufordern, allerdings wurde ihr dort erklärt, dass bereits alle an andere Agenten vergeben worden waren. Die Präsidentin erwartete also ernsthaft, dass sie nicht wie ein Traveler, sondern wie ein Jumper reiste. Nach Osenia würde sie es schon schaffen, die Dimension der Gräfin lag relativ nah an der Erde, es würde ihr dennoch eine Menge Kraft rauben.

Ruby schluckte und tastete nach der Wolkenklaue, dem Schiff der Crew, die sie seit drei Jahren verfolgte. Es würde ihr nichts bringen, nach den Gewässern Osenias zu tasten oder nach einem Punkt auf dem Festland. Sie würde in den Ozean stürzen, das Deck verfehlen oder Tage auf das Eintreffen der Crew am Hafen warten müssen. Nein, wie ein Pflaster. Schnell. Hin und wieder zurück, ohne groß über die Gefahren zu grübeln.

Ruby ignorierte Städte, Dörfer und Lebewesen, achtete nicht auf ihre Namen, sondern nur auf die Vertrautheit der Wolkenklaue. Sie verband viele Erinnerungen mit diesem Schiff. Keine davon war gut. Die Taubheit in ihrer Schulter, nachdem die Crew sie mit gefesselten Händen und Füßen auf das feuchte Holz geworfen hatte, die wacklige Planke und der Geruch nach Algen, Salz und billigem Alkohol. Die Erinnerungen reichten aber aus, um ein Portal zu öffnen, das sie direkt neben dem Hauptmast ausspucken würde. Obwohl sie in Wirklichkeit noch neben Vyn in der Gasse stand, geriet Ruby bereits von dem starken Wellengang ins Wanken.

»Bereit?«, fragte sie mit zugeschnürter Kehle.

Vyn schüttelte den Kopf, legte ihr aber trotzdem die Hand auf die Schulter. Ihre Kraft reichte gerade mal aus, um sich und eine weitere Person durch ein Portal springen zu lassen, und das auch nur, wenn die andere Person sie berührte. Jeder vorherige Jumper war dazu in der Lage gewesen, mit der bloßen Kraft ihrer Gedanken ganze Armeen zu transportieren. Mit der Geburt eines Jumpers wurde ein neues Zeitalter eingeleitet, da sie derart mächtig waren. Alle bis auf Ruby. Eines Tages würde ihr ihre Unfähigkeit noch das Leben kosten.

Sie holte tief Luft und im gleichen Moment, in dem sie ausatmete, formte sich ein symmetrisches Symbol aus violetten Lichtstreifen um ihre ausgestreckte Hand. Das Portal öffnete sich. Nun gab es kein Zurück mehr, ganz egal, wie heftig ihr Herzschlag in ihren Ohren pochte. Die Lichter der Magie breiteten sich zu einem Mandala aus, vermischten sich mit blauen und grünen Streifen, bis sie Ruby und Vyn umgaben und sich bis an die Feuertreppe des Hauses vor ihnen erstreckten. Sie verwoben sich miteinander, wie die Maschen von Rubys Schal, wie etwas Lebendiges. Ein unendlicher Faden aus Magie, der einen Anfang hatte und nach einem Ende suchte.

Als sich die Lichter miteinander verbunden hatten, ähnelte das Portal einem Türrahmen. Ruby begegnete Vyns Blick. Er presste den Kiefer aufeinander, um das Klappern seiner Zähne zu verbergen, doch seine Augen zeigten deutlich, was er empfand. Ruby ging es nicht besser. Sie nickten sich zu und traten durch das Portal.

6. Kapitel

Ruby

Sie hob den Fuß in ihrer Welt und setzte ihn in einer anderen auf. In der New Yorker Gasse hatte es nach Stadt gerochen, nach gebratenem Essen, Abgasen und Abwasser. Als sich das Portal in ihrem Rücken schloss, ließen sie das Raunen von Motoren, ein Orchester von Autohupen und Schreie wütender Fahrer ebenso hinter sich wie das kühle Klima des Frühlings. Keine kalten Windböen, fröstelnden Hände und roten Nasen mehr. Keine nörgelnden Fußgänger, die einen auf dem Bürgersteig anrempelten, keine Elektrizität, keine Satelliten … Rubys Handy wurde mit dem Verlassen ihrer Dimension zu einem nutzlosen Stück Plastik.

Sie blinzelte einen Moment lang grellen Sonnenstrahlen entgegen. Sekunden, in denen ihr jemand den Bauch aufschlitzen oder Fesseln hätte anlegen können. Doch langsam gewöhnten sich ihre Sinne an die neue Atmosphäre. Die Hitze war drückend wie in den Tropen und kein Lufthauch spendete Ruby auch nur die geringste Abkühlung. Ruby packte Vyn am Arm und zog ihn hinter ein paar gestapelte Fässer, die in einer entlegenen Ecke in der Nähe der Kapitänskajüte standen. Noch hatte sie niemand entdeckt und wenn es nach ihr ging, konnte das auch für ein paar Sekunden noch so bleiben. Sie entfernte den Totenkopfschal von ihrem Hals und schälte sich danach den schwarzen Mantel vom Leib. Als sie beide Kleidungsstücke über ihren Arm faltete, bereute sie, dass sie auch heute ihre Lieblingsfarbe trug.

Sie hatten ihr Ziel nicht verfehlt. Vyn und sie waren direkt auf der Wolkenklaue gelandet. Ruby ließ ihren Blick über das Deck gleiten. Die wenigen Mitglieder der Crew, die sie sah, sausten von einem Ende des Schiffs zum anderen und schenkten ihrem Versteck wenig Beachtung. Es war aber doch völlig unmöglich, dass sie ihre Ankunft nicht mitbekommen hatten. Sie hatten ihr Eintreffen sicherlich erwartet, schließlich war es Teil des Deals, den ihr Captain mit der Präsidentin geschlossen hatte. Ruby zweifelte also nicht daran, dass die Crew angewiesen worden war Ruby nicht zu beachten oder anzugreifen, und sie würden sich den Anweisungen ihres Captains niemals widersetzen. Nicht einmal der junge Mann, der gerade die Planken des Schiffs schrubbte, sah in ihre Richtung. Dabei befand sie sich direkt in seinem Blickfeld und er hätte nur aufschauen müssen. Die Ignoranz der Crew war zu auffällig, um natürlich zu sein.

Rubys Herzschlag beschleunigte sich, als sie die wichtigste Person, die, nach der sie von Anfang an Ausschau gehalten hatte, einfach nicht ausfindig machen konnte. Falle. Falle. Falle. Das war das einzige, an was sie denken konnte, als sie dort stand und darauf wartete, dass das Schicksal mit seinen unbarmherzigen Fängen zuschnappte.

Sollen wir gehen? Wir können gehen, oder?, fragte Vyn alarmiert.

Ruby betete, dass er sich nicht vor den Augen der Piraten zurück in einen Schatten verwandeln würde. Dass sie ihn nochmal einfingen, durfte sie nicht zulassen. Und dass er sich wieder in ihren Kopf mogelte, half auch nicht unbedingt dabei, mit den Nachbeben ihrer Reise zurechtzukommen. Auch ohne die Wellen, die das Schiff hin und her schaukelten, hätte Ruby genug mit dem Schwindel zu kämpfen gehabt, der sie jedes Mal erfasste, nachdem sie ihre Jumper-Kräfte genutzt hatte.

Ruby befeuchtete ihre Lippen und sah über die Reling hinaus auf den türkisen Ozean. Weit und breit war keine Küste in Sicht. Bevor sie sich aus ihrem Versteck begab, ließ sie ihre Hand zu ihren Füßen wandern. Sie tastete gerade ihren Stiefel nach dem darin verborgenen Klappmesser ab, das sie benutzen würde, falls die Piraten beschlossen den Handel zu brechen, als ein Schatten über sie fiel. Eine große Gestalt, die das Sonnenlicht abfing und sich direkt vor ihr kleines Versteck stellte. Vyn sprang wie von der Tarantel gestochen hinter ihr in Deckung. Ruby schaute ihrem Gegenüber ruhig in die Augen und bemühte sich unbeeindruckt auszusehen, indem sie die Schultern durchdrückte und ihr Kinn reckte. Sie kniff die Augen auf die gleiche Weise zusammen, wie es ihre Großmutter immer tat, und starrte den Mann mit derselben Intensität in Grund und Boden. Vor Ruby stand der Steuermann der Wolkenklaue. Bei Crystal Pollux handelte es sich um das grimmigste Geschöpf, das ihr jemals begegnet war. Und ihr waren eine Menge grimmiger Geschöpfe begegnet. Wenn Blicke töten könnten, wäre Pollux sicher ein Massenmörder. Seine Augen waren immer halb geschlossen, so als wäre er gerade erst aufgestanden oder in seinem Leben noch nie nüchtern gewesen. Er hatte sich den Männern der roten Gräfin angeschlossen, nachdem seine Familie ihn aus seiner Welt verbannt hatte. Alles, was Ruby sonst noch über ihn in den Archiven des Ordens herausgefunden hatte, war, dass er sein Elternhaus wohl derart in Ungnade gestürzt hatte, dass er nur auf eigene Gefahr in seine Dimension zurückkehren konnte. Alles, was für Ruby in diesem Augenblick zählte, war die Tatsache, dass Vyn sich von allen Crewmitgliedern vor Crystal Pollux am meisten fürchtete. Er war das komplette Gegenstück zu dem bleichen Schatten. Pollux stammte ursprünglich aus einer Zuckerwelt namens Sakhari. Dort sah es genauso aus und roch es genauso, wie man es sich bei einer Zuckerwelt vorstellte. Ruby erinnerte sich noch genau daran, wie sie das erste Mal eine dieser Welten betreten hatte. Es war ihr vorgekommen, als hätte sie eine goldene Eintrittskarte zu Willy Wonkas Schokoladenfabrik gewonnen. Aber ebenso ungewöhnlich wie die drei Zuckerwelten selbst waren auch ihre Bewohner. Verbannt oder nicht. Denn so sehr Pollux seine Herkunft auch zu verbergen versuchte, gab es doch eine Kleinigkeit, die ihn sofort verriet: Seine Haare. Typisch für einen Bürger der Zuckerwelten hatten sie eine grelle Farbe, die man auch auf Cupcakes oder Kuchen fand. In Pollux’ Fall war diese Farbe ein sattes Pink, das zwischen den erdigen Haarfarben seiner Crewmitglieder hervorstach wie ein Leuchtfeuer. Niemand konnte diese Farbe ganz mit dem Wesen des Steuermanns in Verbindung bringen und Pollux hasste dieses Detail seines Aussehens mehr als alles andere. Und nur wer den Wunsch hegte, Gliedmaßen oder sein Leben zu verlieren, sprach ihn darauf an. In seinen ausdruckslosen Augen konnte man jedoch immer erkennen, dass er wusste, wenn sein Gegenüber an nichts anderes als seine Haarfarbe denken konnte.

Der Steuermann der Wolkenklaue war nicht viel älter als Ruby, vielleicht achtzehn oder neunzehn. Seine Haut war durch die Reisen auf See und die Sonnenstrahlen, vor denen er sich auf Deck nicht schützte, gebräunt. Seine Ohrmuscheln schmückte verschiedenster Silber- und Goldschmuck und seine Nase durchbohrte ein breiter Metallring, ähnlich denen, wie sie Ochsen trugen. Ein langer Krummsäbel baumelte, offen zur Schau gestellt, von dem Gürtel an Pollux’ Hüfte.

Ruby schluckte ihre Nervosität hinunter, während sie seinen herausfordernden Blick noch immer erwiderte. Vyn kauerte weiterhin hinter ihr. Bei ihrer letzten Begegnung war es Pollux gewesen, der ihn in seiner Schattengestalt gefangen und in der Teekanne eingesperrt hatte. Ruby konnte ihrem Freund die Angst nicht verübeln, konnte es sich allerdings auch nicht leisten, ihre eigene so offen wie er zur Schau zu stellen.

»Pollux«, begrüßte sie ihr Gegenüber auf eine geschäftliche Art und Weise.

Pollux ließ mit seinen Haufischaugen einen Blick über ihren Körper wandern, die rechte Hand auf dem Knauf seines geschärften Säbels gebettet. Er ließ sich einige Sekunden Zeit, blickte dann abrupt übers Wasser in die Ferne und spuckte in der nächsten Sekunde aufs Deck, direkt vor Rubys Füße. »Springerin«, erwiderte er dunkel.

»Ich nehme an, du weißt, wieso ich hier bin?«

Vielleicht könnte sie die ganze Angelegenheit mit Pollux regeln. Vielleicht würde sie ihm bei diesem Handel gar nicht begegnen. Es gab zwar bessere Geschäftspartner als Pollux, aber auch welche, die Ruby noch weniger leiden konnte.

Er hob emotionslos eine Braue. »Für eine kostenlose Seefahrt?«

»Sehr witzig. Ich bin mir sicher, dass ich euch wegen mindestens der Hälfte aller Gegenstände auf diesem Schiff verhaften lassen könnte«, erklärte Ruby und setzte erneut den Gesichtsausdruck auf, den sie so oft bei ihrer Großmutter gesehen hatte und der selbst den tapfersten Mann in die Flucht schlagen konnte. Starren, ohne zu blinzeln, die Zähne fest aufeinandergepresst und den Kopf stolz angehoben.

Pollux reagierte nicht.

»Wie viel davon ist Schmuggelware für eure Herrin?«, fuhr Ruby fort und beobachtete wie die Muskeln an seinem Hals zuckten.

Am liebsten hätte sie alles mitgenommen, sodass der Gräfin kein einziges Relikt blieb, aus dem sie Magie saugen konnte. Doch selbst wenn es nur ein Gegenstand war, den sie hierbei ihren Klauen entreißen konnte, war es das Risiko wert, sich in ihre Nähe, ihre Welt zu wagen.